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Mesmerize Me!

The Play of Snake and Lion
von

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Vorübergehende Ruhe

„Die Welt mag untergehen, wenn ich mich nur rächen kann.“
 

Cyrano de Bergerac, Vorreiter der französischen Aufklärung
 

Sergej war direkt nach Hause gefahren und hatte direkt seinen Sohn Victor zu sich gebeten. Victor Camorra, der 24 Jahre alt und zugelassener Anwalt war, kam äußerlich ganz nach seinem Vater und selbst die Ausstrahlung eines abgebrühten Geschäftsmannes hatte er geerbt. Er war ein ambitionierter junger Mann mit demselben Geschäftssinn wie sein alter Herr. Obwohl Victor Jura studiert hatte und das Gesetz vertrat, sah er sehr zu seinem Vater auf und wusste um die Opfer, die dieser für ihn gebracht hatte und zwischen den beiden herrschte ein sehr enges familiäres Verhältnis. Als Victor das Arbeitszimmer seines Vaters betrat (er selbst trug wie immer einen Anzug), war ihm die Besorgnis anzusehen und nachdem er kurz seine Brille zurechtgerückt hatte, fragte er „Du wolltest mich sprechen, Dad?“

Victor wusste bereits von der Diagnose und es war für ihn ein schwerer Schlag gewesen, genauso wie für seine Stiefschwester Lucy, die derzeit noch im Ausland studierte. Diese Idee hatte sie nicht direkt selbst gehabt, sondern war viel mehr von Sergej darauf gebracht worden. Nach dem Tod seiner zweiten Frau, die auch Lucys Mutter war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu beschützen und dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht in die Mafiageschäfte reingezogen wurde. Und seit er wusste, dass Shen es auf ihn abgesehen hatte und er ihn nicht mehr lange durch Geschäftsbeziehungen im Schach halten konnte, hatte er Lucy ein Studium in Italien ermöglicht, wo sie Verwandte in der Nähe hatte und wo sie sich möglichst weit entfernt von der Triade befand. Er war eben auch ein besorgter Vater, dem das Wohl seiner Kinder am Herzen lag. Seinen Sohn hatte er erst vor sechs Jahren gefragt, ob er bereit wäre, eines Tages das Mafiageschäft zu übernehmen. Nun, da er sonst keine eigenen Kinder hatte, wäre es so oder so dazu gekommen, dass dieser die Nachfolge übernehmen würde, aber Sergej wollte seinem Sohn auch die Chance geben, die Entscheidung selbst zu treffen. Als guter Vater konnte er ihn nicht dazu zwingen, ins Mafiageschäft einzusteigen, wenn er es nicht wollte. Doch Victor war fest entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und hatte, bis es mit dem „Amtswechsel“ so weit sein würde, Jura studiert, um Strafverteidiger zu werden. Seine Begründung: wenn sein Vater in Schwierigkeiten geraten sollte, würde Victor ihn schon wieder rausboxen. In solchen Momenten war Sergej wirklich stolz auf seinen Sohn.

„Victor, ich möchte, dass du offen und ehrlich zu mir bist.“

Sergej wies seinen Sohn an, sich zu setzen und dieser Aufforderung kam der 24-jährige auch nach.

„Ich habe mich stets bemüht, mir trotz meiner zeitintensiven Arbeit genug Zeit für dich und auch für deine Stiefschwester zu nehmen, um euch ein guter Vater zu sein. Und ich habe immer dafür gesorgt, dass es euch an nichts mangelt und euch nichts passiert. Du weißt, das Mafiageschäft ist hart und grausam. Es ist ein rücksichtsloses Geschäft, in dem nur die Rücksichtslosen überleben können. Ich frage dich deshalb, Victor: bist du wirklich bereit dafür, meinen Platz einzunehmen, wenn ich nicht mehr da bin?“

Es geschah selten, dass Victor solche Worte von seinem Vater hörte. Er kannte ihn als unbeugsamen Geschäftsmann, der nie zögerte und nie etwas bereute. Und doch wirkte er jetzt sehr nachdenklich und sein Blick ließ vermuten, dass ihn die ganze Sache belastete. Immerhin würde er bald sterben und seinen Sohn zurücklassen, genauso wie seine Stieftochter, um die er sich seit dem Tod seiner zweiten Frau liebevoll gekümmert hatte. Es tat ihm weh, daran zu denken, doch es war die bittere Realität. Doch Victor wusste, dass es nicht nur das war, was seinen Vater belastete.

„Natürlich will ich das“, sagte er sofort. „Und ich habe nie schlecht von dir gedacht, Dad. Nun gut, es hat mich damals ganz schön vom Hocker gehauen, als du mir erzählt hast, womit du dein Geld verdienst und ehrlich gesagt würde ich viel lieber etwas anderes nehmen als den Menschenhandel.“

„Es steht dir auch frei, die Familie neu zu gestalten, wie du es für richtig hältst, wenn du der neue Boss bist. Der Grund, warum ich mich mit diesem Milieu befasse, ist der, dass…“

„Ich weiß schon“, unterbrach Victor ihn. „Du hast Geschäfte mit Shen gemacht, damit Lucy und ich in Sicherheit sind und damit du Araphel helfen kannst. Sei ehrlich, du machst dir wegen ihm Sorgen, nicht wahr?“

Das leugnete der Boss der Camorra-Familie durchaus nicht und er gab es auch zu. Victor wusste, dass Sergej Araphel als sein drittes Kind ansah und dass er auf ihn aufpasste. Doch helfen konnte er ihm nicht, denn Sergej konnte die Sicherheit seiner eigenen Kinder nicht aufs Spiel setzen. Und solange es keine berechtigten Gründe gab, wäre Shens Ermordung gleichzeitig der Todesstoß für die Camorra-Familie. Dann würde die Triade unbarmherzig Jagd auf die Camorras machen, um sie für den Tod ihres Bosses bluten zu lassen. Sergej hatte sich lange darüber Gedanken gemacht und überlegt, was er tun konnte und ob er überhaupt etwas tun konnte. Und seit er seine Diagnose hatte, wusste er nun, was zu tun war.

„Ja, ich mache mir wirklich Gedanken. Zwar hat er jemanden an seiner Seite, der ihm an Ahavas Stelle Halt gibt, aber ich glaube nicht, dass er es trotzdem schaffen wird, es alleine mit Shen aufzunehmen.“

„Und was genau hast du vor?“

„Ich werde tun, was nötig ist, um die Camorras und die Masons zu einer Einheit zusammenzuschließen, damit sie gemeinsam gegen die Triade vorgehen können. Ich werde einen Grund für solch ein Bündnis liefern und dafür sorgen, dass dieser gierigen Schlange ein für alle Mal das Maul gestopft wird. Victor, ich werde dir für den Ernstfall genaue Anweisungen hinterlassen, die du zu befolgen hast. Ich werde sie dir aber noch in Ruhe erklären, also hör zu: ich habe einen Umschlag mit wichtigen Unterlagen in meinem Schließfach bei der Bank hinterlegt. Diesen gibst du Araphel. Ich möchte dich bitten, ihn so gut es geht zu unterstützen.“

„Ja aber…“, warf Victor ein. „Wenn ich Araphel direkt unterstütze, wird das aussehen, als würden wir mit den Masons sympathisieren und das Geschäftliche mit Persönlichem mischen!“

„Da mach dir mal keine Gedanken drum“, beruhigte Sergej ihn. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass es eine rein geschäftliche Sache bleiben wird und du Araphel problemlos unterstützen kannst. Es ist nur wichtig, dass du dich an die Anweisungen hältst, die ich dir noch genauer erläutern werde. Aber…“ und hier legte er seine Hände auf Victors Schultern und sah ihm tief in die Augen. Es lag nichts Kaltes und Berechnendes mehr in seinem Blick, sondern einzig und allein väterliche Besorgnis.

„Pass gut auf deine Schwester auf, Victor. Und versprich mir, nicht denselben Fehler zu machen wie ich und zu leichtsinnig zu sein. Dein Großvater als auch dein Onkel sind an derselben Krankheit gestorben, wie ich es bald werde. Ich habe mich zu sicher gefühlt und die Warnungen ignoriert. Mach nicht den gleichen Fehler und achte auf deine Gesundheit. Es ist leider so, dass der Petrow-Familienzweig dieses gewisse Risiko hat und insbesondere so eine Krankheit wird oft viel zu spät erkannt. Darum möchte ich dir wirklich ans Herz legen: behalte das im Hinterkopf und lass dich untersuchen.“

„Versprochen, Dad.“

Sergej breitete seine Arme aus und umarmte seinen Sohn. Es tat ihm weh, seine Kinder zurücklassen zu müssen und sie so früh zu verlassen. Er hätte gerne noch länger gelebt, um mitzuerleben, wie sein Sohn Victor ein nettes Mädchen kennen lernen und heiraten würde. Er würde nicht miterleben, wenn Victor oder Lucy eine Familie gründen würden und natürlich machte er sich auch Sorgen. Zwar sagte er oft genug, dass er erst Unternehmer und dann ein Mensch war, aber das war nur die halbe Wahrheit. Bevor er überhaupt Unternehmer war, war er nämlich Vater. Und das Wohl seiner Kinder lag ihm da mehr am Herzen als die Zukunft seiner Mafia-Familie. Auch wenn er ein Schwerverbrecher war, so hatte er sich immer bemüht, sich die Zeit zu nehmen, um für seine Kinder da zu sein. Er hatte ihnen bei den Hausaufgaben geholfen, war mit ihnen in den Zoo gegangen und er hatte sie ihr unbeschwertes Leben leben lassen so gut es ging. Natürlich hatte er auch gewusst, dass sie eine Zielscheibe für andere Mafiagruppen waren und hatte aus diesem Grund Leute engagiert, die auf seine Kinder aufpassten, sie aber nicht in ihrem Alltag einschränkten. Wenn sein Sohn nachts als kleiner Junge Angst gehabt hatte, da hatte er ihn in den Arm genommen, nachdem die Mutter kurz nach seiner Geburt verstorben war. Jahrelang war er allein erziehend gewesen, doch es war ihm gelungen, sowohl seinen Job als Boss als auch seine Vaterpflichten unter einem Hut zu bringen. Zurückblickend konnte er sagen, dass er seine Sache gut gemacht hatte und er auf ein Leben zurückblicken konnte, in welchem er die meisten seiner Entscheidungen richtig getroffen hatte. Und nachdem er auch sein Testament bereits gemacht hatte, waren sowohl Victor als auch Lucy finanziell abgesichert. Lucy würde ihr Studium über Anthropologie weiterführen können und sie hätte ein Zuhause, in welches sie zurückkehren konnte. Und auf seine Verlobte konnte er sich verlassen, dass diese sich gut um Lucy und Victor kümmern würde, immerhin hatte sie einen sehr guten Draht zu ihnen. Victor hatte er längst in seine Geschäfte eingewiesen und er hatte auch mehr als oft unter Beweis gestellt, dass er es konnte, da machte sich Sergej keine Sorgen. Und Victor würde schon ein gutes Auge auf Lucy haben. Schließlich löste er sich wieder von seinem Sohn und ein warmherziges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Ich bin wirklich stolz auf euch beide. Ihr werdet das schon schaffen und du weißt, dass Rachel da ist, wenn ihr Schwierigkeiten habt. Und wenn du mit der Familie Probleme hast, wende dich am besten an Dimitrij, meinen Berater. Er ist schon seit der Schulzeit ein enger Freund und ich vertraue ihm. Ich werde auch mit ihm sprechen, dass er dir unter die Arme greifen soll. Finanziell habe ich auch genug zur Seite gelegt, dass ihr alle gut versorgt seid.“

„Dad…“

Sergej atmete tief durch und fing sich wieder. Insbesondere als er den traurigen Blick seines Sohnes sah, der fast schon wirkte, als würde er in Tränen ausbrechen.

„Hey, ein Mann weint nicht so einfach. Noch bin ich nicht fort, also gibt es keinen Grund zum Weinen. Ich habe mit Dimitrij geredet. Für die nächsten zehn Tage wird er die Geschäfte weiterführen und ich brauche auch mal eine Auszeit. Ich habe mir überlegt, dass wir in die Toskana fliegen könnten und Lucy überraschen. Wir könnten wieder einen gemeinsamen Familienurlaub verbringen und für eine Zeit lang diese ganzen Sorgen vergessen. Was hältst du davon?“

Überrascht sah Victor ihn an. Für gewöhnlich machten sie nur ein Mal im Jahr einen Familienurlaub und dieser war bereits. Außerdem hatten sie schon länger keinen mehr gemacht, seit Lucy im Ausland studierte und sowohl sie als auch Victor erwachsen waren. Aber der 24-jährige verstand, was es mit dieser Idee auf sich hatte. Sein Vater wollte wenigstens noch einen letzten Urlaub mit seiner Familie verbringen.
 

Sam hatte den ganzen Tag damit verbracht, seine Sachen auszupacken, sich um Sokrates zu kümmern und mit den anderen Bewohnern wie zum Beispiel Asha oder Yin warm zu werden. Er half Christine ein wenig in der Werkstatt, während Araphel arbeitete und so verging der Tag recht entspannt und am nächsten bemerkte er, dass allgemein eine recht gelöste Stimmung herrschte und es sogar kein Problem darstellte, das Haus zu verlassen. Selbst Araphel schien kein Problem darin zu sehen, dass auch Sam mal rausging und da fragte der Detektiv natürlich auch nach. Wie er erfuhr, war etwas Ruhe in Boston eingekehrt, weil Shen und seine wichtigsten Berater nach Shanghai abgereist seien, weil dort dringende Angelegenheiten zu klären seien. Und da er weg war, gab es auch deutlich weniger Bedrohung durch die Triade, was für eine deutliche Erleichterung sorgte. Morphius teilte schließlich mit, dass Shen knapp drei Wochen weg bleiben würde und dass Sergej auch überraschend einen Urlaub mit seiner Familie plane. Keiner konnte sich erklären, warum auch noch der Patriarch verreisen wollte, doch Sam wusste Bescheid, sagte aber nichts dazu. Immerhin hatte er Sergej versprochen, über seine Diagnose Stillschweigen zu bewahren.

Schließlich aber, als Araphel am nächsten Tag recht früh mit seiner Arbeit fertig war, bestellte er Sam zu sich. Dieser war zu dem Zeitpunkt in der Werkstatt und ließ sich von Christine ein paar Tricks bei der Reparatur zeigen und erfuhr durch Asha, dass der Mafiaboss nach ihm verlangte. Er wurde von dem etwas tollpatschigen aber dennoch herzensguten Mechaniker in Araphels Privatzimmer gebracht. Dort gab es ein großes Bücherregal mit mehrsprachiger Literatur, es fanden sich ein paar Fotos wieder, die ihn, seinen Adoptivvater und seine Schwester zeigten. Auf manchen war auch noch eine Frau zu sehen, die wahrscheinlich Mrs. Mason war. Araphel selbst hatte sich gegen den Billardtisch gelehnt und betrachtete gedankenversunken ein Foto.

„Du wolltest mich sehen?“ fragte er, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Langsam trat er näher heran und fragte sich, was Araphel wohl von ihm wollte. Der Mafiaboss betrachtete immer noch das Foto, welches ihn und seine Schwester als Kinder zeigte. Er selbst sah da nicht älter als zehn aus.

„Was denkst du über mich?“ fragte Araphel schließlich und legte das Foto beiseite. „Was siehst du in mir, dass du darauf kommst, Gefühle für mich zu entwickeln?“

Tja, das war eine gute Frage und ganz sicher war sich Sam auch nicht. Aber dennoch versuchte er, die passenden Worte zu finden und erklärte „Ich glaube nicht, dass du durch und durch ein schlechter Mensch bist. Du hast auch eine sanfte Seite und ich weiß, dass du deine Schwester sehr geliebt hast und du unbedingt Gerechtigkeit für ihren Tod willst. Du nimmst so viel auf dich, um Christine und die anderen zu beschützen und sogar mich hast du beschützt.“

Araphel schwieg und er wirkte sehr nachdenklich. Sam erklärte „Ich glaube, dass du tief in deinem Herzen ein Beschützer bist. Und das ist es, was ich an dir mag.“

Wieder ein längeres Schweigen, während Araphel tief nachdachte. Schließlich aber fragte er „Kann ich dir genug vertrauen, wenn ich dir eine persönliche Geschichte erzähle?“

„Klar!“ versicherte Sam. „Momentan bin ich eh mehr ein Gast als ein Detektiv.“

Wieder schaute er auf das Foto, auf dem er und Ahava zu sehen waren. Seine Schwester musste auf dem Foto drei Jahre alt sein. Sie war als kleines Mädchen wirklich bezaubernd gewesen, während ihr Bruder hingegen den Eindruck erweckte, als würde er niemanden an sie heranlassen wollen.

„Ich verlor meine Eltern durch einen Bombenanschlag der Palästinenser, als ich vier Jahre alt war. Danach kam ich in ein Waisenhaus in einem Vorort von Jerusalem. Dort waren die Kinder aber mehr billige Arbeitskräfte und wir wurden oft geschlagen, wenn wir ungehorsam waren. Ich lief weg, als ich sechs war und lebte auf der Straße. Irgendwie konnte ich durch Betteln und kleine Diebstähle gut überleben. Schließlich kam es zu einem offenen Feuergefecht radikaler Muslime, die der Ansicht waren, dass das Land ihnen gehöre und ich war zu dem Zeitpunkt ebenfalls vor Ort. Ich war knapp sieben Jahre alt, als ich in diesen Schusswechsel geriet und es war auf einem öffentlichen Marktplatz. Es gab mehrere Tote und Verletzte, ich war mitten in diesem Chaos und wusste nicht wohin. In dem Gedränge wäre ich fast gestürzt und totgetrampelt worden. Ein Ehepaar hat mir hochgeholfen und mich gerettet. Sie kannten mich nicht, genauso wenig wie ich sie kannte und doch halfen sie mir ohne zu zögern und nahmen mich zu ihrem Auto mit, um mich aus der Gefahrenzone zu holen. Als wir drin waren, schoss einer der Radikalen und tötete die beiden. Ich hatte mich hinten auf der Rückbank versteckt und mich hingelegt, was mir letzten Endes das Leben gerettet hatte. Ich blieb dort liegen und hatte Angst um mein Leben. Dann aber bemerkte ich das Baby neben mir. Es schrie und weinte, weil es durch den Lärm aufgeschreckt wurde und Angst hatte. Mir wurde klar, dass es das Baby des Ehepaares war, das mich gerettet hatte und ich nahm es daraufhin mit, stieg aus dem Wagen und rannte davon. Diese Menschen hatten mir das Leben gerettet, obwohl sie mich nicht kannten und sie hätten vielleicht überlebt, wenn sie es nicht getan hätten. Ich sah es deshalb ein Stück weit als meine Pflicht an, mich wenigstens um das zu kümmern, was sie zurückgelassen haben. Ich wollte dieses Baby beschützen, so wie sie mich beschützt hatten und ihnen auf dieses Weise meine Schuld zurückzuzahlen.“

Araphel sprach nicht weiter, doch Sam konnte sich so langsam denken, was das bedeutete. Und umso unglaublicher war die Story, dass er sie nicht zu glauben vermochte.

„Das… das Baby war… Ahava? Dann war sie gar nicht deine leibliche Schwester?“

„Nein und ich habe ihr es auch nie gesagt“, gestand der Mafiaboss und ihm war anzusehen, dass er diese Geschichte schon sehr lange mit sich herumtrug und sie wahrscheinlich nie jemandem erzählt hatte. Für Sam war das alles kaum vorstellbar. Wie hatte es ein Siebenjähriger geschafft, sich um ein fremdes Kind zu kümmern? Als er das fragte, erfuhr er, dass Araphel durchaus Hilfe bekommen hatte. Nämlich von ein paar älteren Straßenkindern. Er hatte eine Zeit lang mit ihnen zusammengelebt und sie hatten sich gemeinsam um das Baby gekümmert. Und da Araphel es nie aus den Augen gelassen hatte und sich mit Leib und Seele darum kümmerte, hatten sie dem Baby den Namen Ahava gegeben. Denn das bedeutete im Hebräischen „Liebe“.

„Zwischen Ahava und mir hat schon von Anfang an eine Bindung existiert, die weitaus tiefer war als bei normalen leiblichen Geschwistern, eben weil ich mich schon seit meiner Geburt um sie gekümmert habe. Als der Krieg damals immer schlimmer wurde, beschloss ich, dass es an der Zeit war, Israel zu verlassen und einen Ort zu suchen, an dem wir eine bessere Zukunft hatten. Als ich zehn war, stahl ich einem Soldaten eine Pistole und schlich mich mit Ahava zusammen an Bord eines Flugzeugs. Mein Plan war es, unentdeckt mitzufliegen und dann ebenso unentdeckt wieder auszusteigen. Und um zu verhindern, dass sie wieder umkehren und uns nach Israel zurückbringen könnten, hatte ich die Waffe dabei. Als wir also damals an Bord waren und uns versteckt hatten, fanden uns die Insassen der Maschine und ich richtete die Waffe auf sie wobei ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass ich Israel verlassen wollte. Mein Englisch war noch sehr dürftig, reichte aber aus, um mich sehr grob zu verständigen. Die Männer wollten mich erschießen und die Situation wäre eskaliert, wenn da nicht ein Mann gekommen wäre, der das alles diplomatisch regelte und Verständnis für uns hatte. Er war beeindruckt, dass ich es geschafft hatte, zusammen mit Ahava an Bord der Maschine zu gelangen, ohne entdeckt zu werden und versprach mir, sich um uns zu kümmern und uns ein Zuhause zu geben. Das war Stephen Mason.“

Sam betrachtete Araphel schweigend und versuchte sich das alles vorzustellen. Und so langsam erkannte er auch den wahren Charakter des Mafiabosses und verstand ihn auch endlich. Er hatte mit seinen Ansichten Recht gehabt: Araphel war ein Beschützer. Er kämpfte für andere, auch wenn er behauptete, dass es allein für ihn selbst war. Er legte unglaublich großen Wert darauf, seine Schuld zurückzuzahlen und sein Wort zu halten. Die Rolle des Mafiabosses hatte er angenommen, weil er Stephen Mason dankbar war, dass dieser ihn und Ahava adoptiert hatte und er wollte sowohl seine als auch Ahavas Zukunft sichern, indem er für Stephen der Sohn wurde, den dieser brauchte. Er war bereit, alles zu tun, um jene zu beschützen, die ihm wichtig waren. Und dafür war er auch bereit, mit all seiner Kraft zu kämpfen und zu tun, was nötig war.

Er war wirklich in jeder Hinsicht ein Löwe.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wollte unbedingt eine kurze Familienszene mit Sergej machen und zeigen, dass er nicht nur der abgebrühte Geschäftsmann ist, als der er sich gibt. Er ist ein treusorgender Familienvater, der tut, was nötig ist, um die Sicherheit seiner Kinder zu gewährleisten. Genauso wie Araphel damals Mafioso geworden ist, damit er und Ahava eine Familie haben. Ehrlich gesagt hat mich die Szene mit Sergej und seinem Sohn mitgenommen, vielleicht liegt es auch daran, weil ich selbst meine Großmutter durch Krebs verloren habe und damals mein Vertrauenslehrer ebenfalls an Krebs erkrankt ist.

Die überraschende Wendung, dass Ahava gar nicht Araphels Schwester ist, hat sicherlich viele von euch überrascht. Aber nun kann man auch verstehen, warum die beiden so eine enge Bindung zueinander hatten und warum Araphel so sehr an ihr hing. Und dass er Sam dieses Geheimnis erzählt, was er noch nie jemandem erzählt hat, ist ja eigentlich der beste Beweis dafür, wie sehr er ihm inzwischen vertraut. Insbesondere seit der Sache mit Shen. Und wahrscheinlich ist er auch froh darüber, dass er sich endlich mal jemandem anvertrauen kann und er dieses Geheimnis erzählen konnte, was er so lange für sich behalten hat. Aber wenigstens kehrt erst mal ein wenig Ruhe im Haus der Masons ein. Shen hat in Shanghai zu tun und die Triade verhält sich ruhig, da kann Araphel auch mal an etwas anderes denken als an seinen Rachefeldzug.

Um die Beziehung zwischen Ahava und Araphel nach der Flucht vom Slave Shipping Service zu verstehen und die Zeitspanne vor ihrem Selbstmord (und damit die geschwärzten Seiten in ihrem Tagebuch), empfehle ich euch den Song "Let it Die" von Starset. Und lasst mich ruhig eure Interpretation hören!

https://www.youtube.com/watch?v=gEhyeWU_tJU Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Mei2001
2015-09-01T13:47:20+00:00 01.09.2015 15:47
Super Kapi!!
Von:  San-Jul
2015-09-01T12:35:55+00:00 01.09.2015 14:35
Ein Tolles Kapitel,
vor allem, dass man etwas mehr über den Patriarchen und seine Familie erfahren hat. Schön, dass er erst Vater und dann, der rest ist;)
Auch finde ich gut, dass man mehr über Aphrael erfahren hat. Das seine Schwester nicht seine leibeliche Schwester ist, fand ich echt überraschen;)
Ganz liebe Grüße
San-Jul
Von:  ruehrbesen
2015-09-01T07:20:28+00:00 01.09.2015 09:20
Hui... du hast recht, der Teil mit Sergej und seinem Sohn ist ziemlich rührend. Das hast du klasse rübergebracht!

Und ja, ein bisschen überrascht war ich über die Sache mit Araphel und seiner Schwester - obwohl ich vorher schon irgendwann mal gedacht hatte, ob er nicht etwas mehr für seine "Schwester" empfindet als üblich. Was über Geschwisterliebe hinausgeht. War es jetzt, wo man weiß dass sie keine Geschwister sind, wohl tatsächlich so?

Das Lied dazu ist genial - musikalisch wie textlich!
Ich habe spontan daran gedacht, dass Araphel, nachdem er Ahava gerettet hat, mit aller Macht versucht hat sie zurück ins "Leben" zu holen, sie innerlich wieder zusammenzuflicken, sie das jedoch nicht wollte, sondern einfach nur den Wunsch hatte, von all dem erlöst zu werden, was man sowieso kaum je wieder hätte reparieren können. Vielleicht hat sie Araphel tatsächlich oder auch nur gedanklich darum gebeten, sie, wenn er sie wirklich liebt - sei es nun geschwisterlich oder anders -, sterben zu lassen. Weil er das aber nicht wollte, nicht konnte, hat sie sich letztlich das Leben genommen, und damit ein großes Loch in sein Leben gerissen.
So in etwa spielt sich das in meinem Kopf ab... In dem Sinne einfach perfekter Song!
Antwort von:  Sky-
01.09.2015 09:45
Nun, es ist wirklich eine berechtigte Frage, ob Araphel mehr für sie empfunden hat und sie mehr geliebt hat, als eine Schwester. Die Liebe, die er für sie empfunden hat, war definitiv tiefer als zwischen Bruder und Schwester, aber nicht auf sexueller Ebene, weil er sie trotz allem als seine Schwester angesehen hat und so etwas für ihn nicht infrage gekommen wäre.

Ja, du hast mit der Interpretation wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Araphel wollte Ahava um jeden Preis retten und ihr ihren Lebenswillen zurückgeben, aber sie hatte sich selbst schon längst aufgegeben und wollte nicht mehr mit diesen schrecklichen Erinnerungen und dieser Behinderung weiterleben. Und wahrscheinlich wollte sie auch ihn erlösen, weil sie wusste, dass er sich schwere Vorwürfe macht und immer leiden würde, wenn er sie sieht. Man bedenke, dass sie sich erschossen hat, als er nicht da war. Das könnte bedeuten, dass sie extra den Zeitpunkt abgewartet hat, damit er nicht mit ansehen musste, wie sie sich selbst von ihrem Leid erlöst und sie hat sich mit seiner Waffe erschossen, damit er es nicht selber tun muss, weil sie wusste, dass er es nie übers Herz gebracht hätte, sie zu töten, egal wie sehr sie ihn angefleht hätte. Und dass er sie ins Leben zurückholen will, kann man einerseits für die Zeit sehen, wo er versucht hat, sie wieder aufzubauen, bevor sie starb. Aber man kann es auch indirekt auf Christine und Sam beziehen, denn da Araphel bis heute von seiner Schuld verfolgt wird, versucht er unterbewusst immer noch, seine Schwester zu retten. Und so beginnt er Christine wie Ahava zu behandeln und kümmert sich auch immer mehr um Sam, weil er auf die Weise versucht, seine Fehler ungeschehen zu machen.
Antwort von:  Sky-
01.09.2015 09:54
Aber letzten Endes ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt, denn er weiß selbst, dass seine Schwester nie wieder zurückkommen wird, egal wie sehr er auch versucht, sie auf andere Personen zu projizieren, wie zum Beispiel auf Christine, die ja ähnliches durchlebt hat. Und diese versucht ihn ja aufzuwecken, indem sie ihm klar macht, dass sie nicht Ahava ist. Mann, diese Geschichte geht einem echt unter die Haut. Allein bei dem Gedanken kommen mir echt die Tränen in die Augen.
Antwort von:  Mewney
07.09.2015 12:31
Wo kann man denn in 10 oder 12 Semestern Jura studieren? Auf jeden Fall jedoch höchstes Lob für die super spannende Fanfic. Bin begeistert.


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