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Amnesia

Wenn die Erinnerung streikt
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So meine lieben Leserinnen und Leser!
Herzlich willkommen zum letzten Kapitel.
Es folgt nur noch ein Epilog, dann ist die Story vorbei.
Vielen Dank an die Leute, die fleißig kommentiert haben und die, die meine Story mitverfolgt haben.
Das letzte Kapitel gibt euch ziemlich viele Einblicke und schließt den Kreis wieder. Es gibt die Antwort auf ein paar - noch - ungeklärte Fragen und zeigt auch kleine Details auf, die am Anfang der Story vorgekommen sind, die man vielleicht sonst überlesen hat, die aber nun Sinn ergeben. Vielleicht findet ihr ja welche beim Lesen.
Ich wünsche euch viel Spaß und frohe Ostern.
LG dani Komplett anzeigen

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Kapitel 39

~Aoi POV~
 

Die Kieselsteine unter meinen Schuhsolen knirschten leise, als ich aus dem Leihauto stieg und die Tür zufallen ließ. Das Hochgefühl, das mich durchflutete, war unglaublich. Ich war mit dem Auto gefahren – ohne in Panik auszubrechen und ohne einen Unfall zu bauen. Nachdem das Zittern und das Angstgefühl nach den ersten paar Kilometern nachgelassen hatten, hatte es tatsächlich Spaß gemacht verbotenerweise mit 150 Sachen über die Autobahn zu rasen. Mit einem verhaltenen Lachen drückte ich die Schließen-Taste auf dem Autoschlüssel. Das Licht der aufblinkenden Scheinwerfer erhellte die Dunkelheit für einen kurzen Moment. Der Parkplatz war so voll, dass ich mich wunderte überhaupt eine Parklücke in der Nähe des Eingangs gefunden zu haben. Als ich nun darauf zuging erbebte der Boden von den dunklen Basstönen und dem kreischenden Gitarrensound. Ich war spät dran, doch das tat meiner Euphorie keinen Abbruch. Da noch immer Fans, die keine Karten ergattern konnten, hoffnungsvoll vor dem Eingang der Halle herumlungerten und darauf warteten ein Mitglied ihrer Lieblingsband zu sehen, hielt ich mich weit davon entfernt und schlenderte in der Dunkelheit auf den Türsteher zu, der am Hintereingang darauf aufpasste, dass keine ungebetenen Gäste die Halle betraten. „Hey! Du kannst gleich wieder umdrehen! Kein Zutritt für Unbefugte!“, schallte mir eine dunkle Stimme entgegen, kaum dass ich in Sichtweite kam. Sie war mir seltsam vertraut. Für einen Japaner war der Kerl, der breitbeinig vor der Tür stand, riesig. Er zog an seiner Zigarette und stemmte seine muskelbepackten Arme in die Seiten. Ein goldener Ohrring blitzte im Licht der schwachen Außenbeleuchtung auf. „Sitzt du auf den Ohren? Kein Zutritt für dich!“ Unbeirrt setzte ich meinen Weg fort, was ihn definitiv wütend machte. „Diese verdammten Jugendlichen, man hat nichts als Ärger mit denen!“ Er warf die Zigarette weg, trat sie aus und kam mir mit schweren Schritten entgegen. „Ich will einen angenehmen Abend haben und in Ruhe meinen Job machen. Solche Typen wie dich kann ich absolut ni- Ich glaub ich träume, Aoi?“
 

Ich zuckte etwas verlegen mit den Schultern. „Hallo.“ Der Mann begann zu lachen und schüttelte den Kopf. „Unglaublich, ich habe nicht damit gerechnet, dass du uns einen Besuch abstatten würdest!“ „Na dann ist die Überraschung wohl gelungen! Uruha hat mich eingeladen. Er meinte ich sollte mal vorbeisehen, wenn ich es einrichten kann.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber das musste er ja nicht wissen. Gemeinsam schlenderten wir zum Eingang hinüber. Er warf mir immer wieder verstohlene Blicke zu, so als wäre ich ein Geist und würde verschwinden, wenn er mich nicht im Blick behielt. „Du siehst gut aus!“ Das war eine Feststellung und keine Frage, daher nickte ich nur leicht und zuckte vage mit den Schultern. „Wie ist das Konzert?“ „Bis auf den letzten Platz ausverkauft, was aber kein Wunder ist, nachdem ihr so lange Zeit keines mehr gegeben habt. Das erste Set ist beinahe zu Ende, soweit ich weiß.“ Mit einem Ruck zog er die Tür auf und ließ mich eintreten. Ein dunkler, schmaler Gang führte in das Innere der Konzerthalle. An den Wänden stapelte sich ein Karton auf dem anderen. Das Licht flirrte. „Gemütlich hast du’s hier“, meinte ich sarkastisch, was ihn zum Lachen brachte. „Tja, es gibt Schlimmeres, aber das muss ich dir wohl nicht erzählen.“ Er gab mir eine knappe Wegbeschreibung und trat anschließend wieder nach draußen. Noch bevor sich die Tür geschlossen hatte, folgte ich dem schmalen Gang bis zu einer dicken Eisentür, durch die ich schließlich den Haupttrakt der Halle betrat. Es war, als würde man in eine andere Welt eintauchen. Die Decke war höher, die Gänge breiter und an den Wänden hingen teure Gemälde. Es war still, weshalb ich davon ausging, dass das erste Set tatsächlich vorbei war. Etwas unsicher lief ich den Gang hinunter und wandte mich nach Links. Mit jedem Schritt spürte ich, wie die Aufregung in mir wuchs. Es machte mir etwas Angst nicht zu wissen, wie die anderen wohl auf mein Erscheinen reagieren würden. Sie hätten Grund genug wirklich wütend auf mich zu sein. Dennoch war das Verlangen Uruha zu sehen stärker und drängte mich dazu weiterzugehen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Garderobe blieb ich schließlich stehen. Mit laut pochendem Herzen klopfte ich an und griff nach der Klinke, um die Tür zu öffnen. Das Erste, was ich sah, war ein langer, weißer Tisch, auf dem Schminksachen, Haarspray, Tassen, Flaschen, Handys und sonstiger Kleinkram lagen. An der Wand darüber hingen fünf große, kippbare Spiegel, an deren Seiten schwenkbare Lampen eingebaut waren. Der Boden darunter wurde von einem großen Teppich bedeckt. Über den weißen Stühlen, mit roter Polsterung hingen Jacken. Stille schlug mir entgegen. Ich schob die Tür weiter auf und stieg über ein Shirt, das vor mir auf dem Boden lag. Überrascht sah ich mich um. An der Längsseite des Raumes, direkt neben dem Schminktisch befanden sich ein Kühlschrank, sowie ein Waschbecken und eine Theke, auf der zwei Kaffeemaschinen und ein Wasserkocher standen. Ein geräumiges, rotes Ecksofa nahm den Platz an der gegenüberliegenden Wand der Theke ein. Es war so positioniert, dass eine Seite mitten in den Raum ragte und somit den Schminkbereich und diesen Bereich abtrennte. Der Raum, der überwiegend in den Farben Rot und Weiß gehalten war, war leer. Jetzt fiel mir auch auf, dass ich keinem der Staffleute begegnet war, obwohl hier vor allem in der Pause ein riesen Trubel herrschen sollte. Mit gerunzelter Stirn lief ich weiter und wäre beinahe über Uruhas Chucks gestolpert. Das war also definitiv der Aufenthaltsraum. Ich warf einen Blick in den Spiegel, als ich daran vorbeilief. In dem grellen Licht wirkte ich blass, was den dunklen Lidschatten noch mehr betonte. Es war wohl eine gute Idee gewesen meine Deckhaare wieder Pink zu färben. Das bisschen Farbe ließ meine Gesichtszüge weicher wirken. Die schwarze Jeans, deren zahlreiche Schlaufen und Bänder mit Silberschnallen befestigt waren, hing locker an meinen Hüften, während sich der schwarz-weiße Pulli eng an meinen Oberkörper schmiegte.
 

Auf dem niedrigen Tischchen, das vor dem Ecksofa stand, befand sich neben zahlreichen Gummibärchentüten, einem Tank Top (vermutlich von Reita) und zwei Kaffeetassen auch ein kleiner Fernseher, dessen Bildschirm abwechselnd die Bühne und die Fans zeigte. Es war ein überwältigender Anblick. Die Halle war zum Bersten voll. Überall Menschen, die mit erwartungsvollen Gesichtern auf die leere Bühne starrten und hofften, dass es bald weiterging. Noch während ich über die Sofalehne gebeugt die Videobilder betrachtete, wurde die Tür geöffnet. Ertappt zuckte ich zusammen und biss mir auf die Unterlippe. „Aoi?“ „Chirac-san?“ Sie schüttelte den Kopf und kam sofort auf mich zugetippelt. „Oh, mon Dieu! Lass dich ansehen, mon polisson!“ Ihre offensichtliche Freude, mich wiederzusehen, erleichterte mich. „Schlingel? Ich habe doch nichts angestellt!“, verteidigte ich mich schmunzelnd, was sie mit einer entschlossenen Handbewegung abtat. „Non, hast du nicht? Du bist doch einfach so gegangen ohne au revoir zu sagen! Das macht man nicht mit einer Dame!“ Meine Wangen brannten heiß. Ich hatte nicht nur ihr nicht auf Wiedersehen gesagt. Sie musterte mich und begann dann gutmütig zu lächeln. „Geht es dir besser?“ Mit einem Nicken ging ich um das Sofa herum und setzte mich. „Ja, danke. Ich bin eigentlich hier, weil ich die anderen sehen wollte. Wo sind sie denn?“ Mit einem Mal wurde ihr Gesichtsausdruck düster. „Der junge Mann, der für dich eingesprungen ist, hatte einen accident, als er die Bühne verlassen wollte.“ „Einen Unfall?“ Sie stieß die Luft aus und setzte sich auf die Sofalehne. „Oh oui! Er ist die Treppe runtergefallen, die zur Bühne hoch geht.“ Mitfühlend verzog ich das Gesicht. „Er sagt er wäre geschubst worden und weißt du was? Es würde mich nicht wundern, wenn jemand den Drang dazu hatte. Dieser junge Mann est impossible. Absolument gar keinen respect pour rien ni personne!!“ Je mehr sie sich aufregte, desto mehr verfiel sie in ihre Muttersprache. Allerdings konnte man wohl deutlich raushören, dass sie meinen Nachfolger nicht sonderlich gut leiden konnte. „Hat er sich verletzt?“ Sie machte eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. „Ich glaube am linken Arm. Dr. Sugita kümmert sich um ihn.“ Ah ja. Dann war er wohl in guten Händen. Der Arzt war immer dabei, wenn wir Konzerte hatten oder auf Tour gingen. Ich hatte mich auch von ihm mehrmals durchchecken lassen und er hatte auf mich immer sehr kompetent gewirkt. Das Klingeln ihres Handys riss mich aus den Gedanken. Sie sagte nicht viel, doch ihr Blick blieb währenddessen auf mich gerichtet. „Ich muss los. Du kannst gerne hier warten und dir über den Bildschirm das Konzert ansehen. Bis später dann!“ Ich kam gar nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn schon schloss sich die Tür hinter ihr.
 

Da mir nicht viel anderes übrig blieb, beschloss ich tatsächlich sitzen zu bleiben und mir das Konzert auf dem Bildschirm anzusehen. Hinter der Bühne wäre ich vermutlich nur im Weg und ich wollte niemanden von der Arbeit ablenken. Als von draußen lautes Gekreische zu hören war, richtete ich meinen Blick wieder auf den Bildschirm. Kai und Reita betraten die Bühne. Sie wirkten konzentriert, aber dennoch konnte ich die Freude in ihren Gesichtern erkennen. Sie waren glücklich wieder auf der Bühne zu stehen und ich gönnte ihnen dieses Glück von Herzen. Reita zupfte an seinem weißen Oberteil und legte sich schließlich den Bassgurt um, während das Gekreische an Lautstärke zunahm. Dann begannen die beiden dem Publikum ordentlich einzuheizen. Die dunklen Basstöne ließen mein Herz schneller klopfen. Selbst hier vibrierte der Boden. Als schließlich Uruha die Bühne betrat konnte ich meinen Blick gar nicht mehr von ihm abwenden. Der Stoff der Hose schmiegte sich eng an seinen Arsch, als er die E-Gitarre aus der Halterung nahm. Verdammt, der Kerl sah in den engen Hosen und dem Netzoberteil, das mehr enthüllte, als es verbarg unglaublich heiß aus. Er wirkte aufgekratzt, aber glücklich, als er liebevoll über die harten Stahlsaiten strich und schließlich in den Rhythmus einstieg. Mir war noch nie aufgefallen, wie filigran seine Finger waren - bis jetzt, als ich zusah, wie er der Gitarre scheinbar mühelos diese harmonischen Klänge entlockte. Mein Herz machte einen doppelten Rückwärtssalto, als er seinen Kopf in den Nacken legte und sich über die vollen Lippen leckte. Oh Gott, wie hatte ich nur glauben können auch nur eine Woche ohne ihn zu überstehen? Unruhig rutschte ich auf dem Sofa herum und biss mir auf die Unterlippe. Mein Schwanz zeichnete sich bereits sehr deutlich in meiner Hose ab. Es war eindeutig Verlangen, das mich durchströmte. Seine fließenden Bewegungen ließen in mir den Wunsch entstehen meine Hände über seinen Körper streicheln zu lassen. Ich wollte ihn an mich ziehen, seine Haut an meiner spüren. In meiner Phantasie schlichen sich meine Finger unter sein Shirt und zogen es ihm über den Kopf. Dann öffnete ich den Gürtel, ließ meine Finger ganz langsam unter den Bund seiner Hose schlüpfen, während ich meine Lippen über seinen Hals streifen ließ. Ich würde meine Finger um seinen Sch- Schluss! Ich musste damit aufhören! Jetzt sofort! Mein Atem ging schneller, ich zitterte. Um mich abzulenken wandte ich den Blick ab und griff in eine der Tüten mit den Gummibärchen, wodurch Reitas Tank Top vom Tisch fiel. „Verflucht!“ Ich hob es wieder auf und warf es aufs Sofa hinüber. Erst jetzt fiel mir die kleine Rolle mit dem roten Seidenband auf, die zusammen mit Uruhas Handy auf dem Tisch lag.
 

Neugierde durchströmte mich, als ich danach griff. Ich zögerte. Eigentlich ging mich das gar nichts an. Trotzdem drängte es mich an den roten Bändchen zu ziehen. Sie lösten sich und schon war ich dabei das Papier auseinanderzurollen. „Oh wow!“ Fasziniert starrte ich darauf hinunter. Das waren ja Uruha und ich. Zuerst hielt ich es aufgrund der vielen winzigen Details für ein Foto. Doch als ich mit den Fingern darüberstrich bemerkte ich die feinen Bleistiftlinien. Unglaublich. Wer auch immer das gezeichnet hatte, er war mehr als nur gut darin. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Bild selbst zu. Es musste wohl ein Auftritt sein. Wir standen auf der Bühne - Rücken an Rücken, die Gitarren in den Händen. Es schien, als würden wir gerade auseinander gehen. Obwohl unsere Körper einander zugeneigt waren, schwangen unsere Haare in einer Vorwärtsbewegung nach vorne. Mein Lachen war fröhlich, beinahe euphorisch. Uruha wirkte gelöst – richtig glücklich. Seine Augen glänzten vor Freude. Sein Lachen war leise. Es war heiß auf der Bühne. Die Menge in der Halle tobte. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schloss meine Augen. Die Scheinwerfer waren so grell, dass ich sie nicht offen halten konnte. „YUU BREMSEN!!!“ Die Kopfschmerzen kamen so plötzlich und mit solcher Heftigkeit, dass ich kaum wusste, wie mir geschah. Schwindel erfasste mich. Ich spürte, wie ich vom Sofa rutschte. Die Zeichnung brannte sich tief in meinen Kopf ein. Ein anderes Bild erschien. Uruha lehnte am Türrahmen und sah zu mir hinüber. Plötzlich begann das Bild zu flackern. Ich hörte meine eigene Stimme. „Wie lange beobachtest du mich schon?“ Argwöhnisch musterte ich ihn. Er begann zu grinsen. „Lange genug. Du warst so in die Noten vertieft, ich wollte dich nur ungern aus deiner Trance reißen.“ Er betrat den Raum. Erst jetzt fiel mir auf, dass er zwei Platten trug. „Du hast Abendessen gemacht?“ Ich war überrascht. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass wir etwas bestellen würden. „Du hattest noch ein bisschen was im Kühlschrank.“ „Hmmm …“ Ich warf einen Blick auf die Noten und zuckte zusammen, als Uruha einfach den Teller draufstellte. „Aoi, wirklich! Du solltest mal eine Pause machen, wir werden Cassis schon bis zum Ende der Woche fertig bekommen.“
 

Ein anderes Bild legte sich über das Erste. Reita und Uruha standen an der Holztheke einer Bar. Beide hatten ein Glas in der Hand und schienen sich über etwas zu unterhalten. Sie Stroboskoplichter blitzten auf. Rockmusik erklang im Hintergrund. „Hey ihr beiden!“ Ich stellte mich zu ihnen und verlangte nach einem Bier. Seltsamerweise schien ich meinen Blick nicht klar fokussieren zu können, irgendwie war alles seltsam verschwommen. „Heyyyyyy Aooooiiiii!“ Uruha legte seinen Arm um mich und hielt mir seinen Vodka hin. „Probier das Mal!“ Reita verdrehte die Augen. „Ihr beiden solltet nach Hause gehen! Ihr seid doch schon ganz dicht!“ Seltsamerweise fanden wir beide das irre witzig und prusteten los. „Hast du gehört? Wir sind ganz dicht!“, lallte Uruha und stützte sich an meiner Schulter ab. Ich runzelte die Stirn und griff nach der Bierflasche, die mir der Barkeeper hinhielt. „Heißt das nicht eigentlich anders?“ Reita entwand mit die Flasche. „Bist du noch ganz dicht? Die gehört mir!“ Uruha neben mir begann wieder zu kichern. „Ja genau … so heißt das!“ Reita fluchte leise und zeigte auf den Ausgang. „Seht zu, dass ihr nach Hause kommt!“ Das Bild verblasste und schon trat ein Neues an dessen Stelle. Uruha lag auf der Couch – einen Arm auf seinem Bauch, den anderen über die Armlehne. Sein Blick wirkte entrückt. Seine Haare waren zerzaust, so als ob er bereits mehrfach hindurchgefahren war. Das Make-up war etwas verwischt und er sah müde aus. Er blinzelte träge zu mir hoch, als ich langsam über ihn kletterte. Seine Augen weiteten sich. „Aoi, was … was hast du vor?“ Ich wusste es nicht. Gott ich hatte keine Ahnung, was ich gerade machen wollte. Ich stützte meine Hände neben seinem Kopf ab und beugte mich über ihn. Er hob seine Arme an, legte sie an meine Brust. Ich spürte einen sanften Druck, ließ mich davon aber nicht abhalten. Entschlossen überbrückte ich die letzten Zentimeter und presste meine Lippen auf seine. Er erstarrte unter mir. Dann jedoch krallten sich seine Finger in mein T-Shirt und er begann meinen Kuss zu erwidern. Er schmeckte nach Vodka und Zigaretten und nach … hmmm … Uruha. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt, als ich über seine Unterlippe leckte. Sofort nutzte ich die Gelegenheit und ließ meine Zunge in seine Mundhöhle gleiten. Er zögerte keine Sekunde, sondern kam mir entgegen. Seine Zunge tanzte keck um meine, neckte sie an der Spitze und strich hart über deren Mitte. Ein heißeres Stöhnen entkam mir, als wir den Kuss vertieften. Niemand hatte mich je so geküsst wie er. Erneut verblasste das Bild und wich einem weiteren. Wir lagen beide im Bett. Uruha schien friedlich zu schlafen. Seine Lippen waren zu einem zufriedenen Lächeln verzogen, seine Hand lag an meiner Schulter, so als versuchte er mich festzuhalten. Ich hob meine Hand und streichelte zärtlich über die weiche, glatte Haut seines Oberarms. Überrascht stockte ich als er mit einem leisen Schnurren die Augen aufschlug. Er blinzelte träge und ein glückliches Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er mich neben sich wahrnahm. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. Er war … wunderschön! „Guten Morgen … äh … geht es dir gut?“, fragte ich etwas verlegen, was dazu führte, dass er erschrocken die Augen aufriss und knallrot anlief. „Wir … haben wir … gestern-“ „Hast du das ernst gemeint?“, unterbrach ich sein Stammeln. Er wandte betreten den Blick ab. „Was genau meinst du denn?“ Mir entkam ein leises Knurren. Diese Antwort würde ich nicht gelten lassen. Er würde gefälligst mit mir reden! Deshalb krabbelte ich über ihn, legte meine Hand sanft an seine Wange und verhinderte damit, dass er mir erneut auswich. „Die drei Worte, die du gestern immer wieder gerufen, gestöhnt und gehaucht hast, während ich dich in den Himmel gevögelt habe!“ Er wurde mit einem Mal blass, dann wurden seine Wangen feuerrot. „Nein, Kouyou, sieh mich an! Hast du sie ernst gemeint?“ Die Zeit schien still zu stehen. Niemand von uns beiden bewegte sich. Ich traute mich nicht einmal mehr zu atmen, da ich Angst hatte, den Moment zu verlieren. Dann hob er seinen Blick und sah mir offen und ernst in die Augen. „Ja … ich liebe dich.“
 

Ein weiteres Bild tauchte auf und noch eines. Immer mehr Bilder stürmten auf mich ein. Wie Puzzleteilchen fielen sie auf ihren Platz und bauten sich zu einem großen Gesamtbild zusammen. Der Surfunfall, die Streitereien mit meinem Vater, das erste Treffen mit Ruki, Uruha und Reita, die Proben, unser erster Auftritt, die durchzechten Nächte, der Plattenvertrag, Uruha und ich beim Ausarbeiten von Melodien, unser erster Kuss, der Unfall …

In meinem Inneren herrschte ein einziges Chaos. Ich wusste nicht mehr, ob ich nun traurig, euphorisch, entsetzt, ängstlich, ärgerlich, am Boden zerstört oder glücklich sein sollte. Immer wieder wechselten sich die Empfindungen ab, sodass ich vermutlich gleichzeitig lachen und weinen hätte können. Doch davon war ich meilenweit entfernt. Überwältigt von den stechenden Kopfschmerzen konnte ich nichts anderes tun, als zuzulassen dass mich die Bilder überschwemmten, bis selbst das letzte Teilchen an seinem Platz war. Mein Atem war nur ein angestrengtes Keuchen, ein verzweifelter Versuch meines Körpers genug Luft in die Lunge zu bekommen. Den Versuch die Augen zu öffnen gab ich sofort wieder auf, als eine neuerliche Schmerzwelle über mich hineinbrach. Die Geräusche um mich herum schienen seltsam verzerrt. Nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönte beinahe meine angestrengten, unregelmäßigen Atemzüge. Ich drückte meine Stirn auf den kühlen Boden, während ich darum kämpfte die Herrschaft über meinen Körper zurückzuerlangen. Ungelenk versuchte ich eine bequemere Position zu finden. Selbst meine Finger, die ich auf meinen Schädel gepresst hatte, fühlten sich steif an, als ich sie aus den Haaren löste. Jede noch so kleine Bewegung beschwor eine weitere Schmerzwelle herauf, die mir den Atem raubte. Mir wurde schlecht, weshalb ich es aufgab und hilflos und vor Pein zitternd auf dem Boden liegen blieb. Als die Tür geöffnet wurde, wäre ich vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen. „Los, rein da!“ Die unterschwellige Wut in der Stimme ließ mich meinen Hilferuf hinunterschlucken. Ein Rumpeln war zu hören, dann ein Stöhnen. Die Tür fiel mit einem lauten Klicken ins Schloss, was den Männchen in meinem Kopf den Startschuss gab meine Gehirnwindungen mit dem Hammer zu bearbeiten. Ein weiteres Poltern drang an meine Ohren. Schwere Schritte, die plötzlich vom Teppich verschluckt wurden. Krampfhaft versuchte ich ein gequältes Stöhnen zu unterdrücken, als sich mein Magen aufgrund der immer schlimmer werdenden Kopfschmerzen umdrehte. „Ich glaube wir beide haben da ein kleines Problem!“ In meinem Kopf sprang ein Lämpchen an. Ich kannte diese Stimme, konnte sie aber niemanden zuordnen. Die Schreie der Fans wurden lauter, weshalb die gestammelte Antwort unterging.
 

„Was hast du gesagt?“ Aufgrund der unverhohlenen Drohung in der Stimmlage, begann der andere Mann erneut zu stottern. „Bitte … nicht … ich … ich habe-“ Er würgte, so als würde ihm jemand die Luft abdrücken. „Ich habe dir ausdrücklich gesagt, was du tun sollst. Ich dulde keine Fehler!“ Mich fröstelte. Der Mann begann keuchend nach Luft zu schnappen und schien an der Wand hinunterzurutschen. „Bitte … ich … ich kann doch nichts … nichts dafür … einer … einer hat sich ja verletzt!“, presste er heißer heraus. „EINER? Du verdammter Idiot, das war der Falsche!“, fuhr er ihn an, sodass ich zusammenzuckte. „Ich sagte doch du sollst das so drehen, dass sich Ruki den Hals bricht!“ Entsetzt schnappte ich nach Luft und riss die Augen auf, was den Schmerz hinter meiner Stirn erneut zum Explodieren brachte. Selbst meine Ohren klingelten. Seine Stimme klang seltsam dumpf, als er weitersprach. „Gazette ist nur so gut, weil das Arschloch alles im Blick hat. Ohne ihn können sie gleich zusammenpacken! Und du hast es versaut!“ Bei dem dumpfen Schlag und dem Schmerzenslaut, der darauf folgte, presste ich die Lippen aufeinander und versuchte krampfhaft etwas durch den weißen Schleier, der sich über mein Sichtfeld gelegt hatte, zu sehen. „Nein! N-nein bitte!“ Pfeifend stieß er den Atem aus. „Wie würde es dir gefallen, wenn morgen die Fischer deine Leiche aus dem Wasser ziehen?“ „Nein! Oh mein Gott! Nein, bitte … bitte nicht!!“ „Ja, da hast du Recht. Solange du mir mein Geld schuldest, bin ich dein Gott! Aber ich habe eine andere Idee mit der du deinen Fehler wieder gut machen kannst. Wenn du sie erfolgreich ausführst erlasse ich dir sogar deine Schulden!“ Eine unheimliche Ruhe war die Antwort auf sein Versprechen. Selbst auf der Bühne herrschte Stille. … „Was muss ich tun?“ Kai begann wieder auf das Schlagzeug einzudreschen. Ein zufriedenes Lachen war zu hören. „Gut. Sehr gut. Ich wusste doch, dass wir uns gleich verstehen! Deine Stolperfalle war ja nicht ganz umsonst! Der Gitarrist hat sich an der Hand verletzt und so wies aussieht kann er nicht mehr spielen! Da sie das Konzert nicht unterbrechen wollen, haben sie sich dazu entschieden es Playback fortzusetzen. Da wir dummerweise keine Aufnahme mit der fehlenden Gitarrenstimme haben, wird die ganze Band unplugged spielen.“ Langsam verschwand der weiße Schleier vor meinem Sichtfeld – ich konnte die Tischbeine vor mir sehen. Meine Kopfschmerzen dröhnten jedoch im Rhythmus der Basslines weiter. „Du wirst sie vor den ganzen Fans auffliegen lassen! Dieser Vertrauensbruch wird sie endgültig ruinieren!“ Sein düsteres Lachen hallte im Raum wieder, während sich in meinem Magen ein eiskalter Klumpen bildete.
 

„Ich habe es so satt ihnen ihre versnobten Ärsche hinterherzutragen! Und noch mehr hasse ich es Morishitas scheiß Anweisungen auszuführen! Jetzt ist ein für alle Mal Schluss damit.“ „Aber … aber sie sind doch sowas wie das Gesicht des Labels!“ „Dann sind sie eben das Aushängeschild des Labels. Na und? Das ist mir scheißegal! Schade, dass es nicht schon beim ersten Versuch geklappt hat! Sonst müsstest du jetzt nicht die Drecksarbeit für mich machen!“ „B-beim ersten Mal?“ „Natürlich beim ersten Mal, oder was glaubst du wer eigentlich für den Autounfall von Aoi und Uruha verantwortlich war? Nur schade, dass sie nicht abgekratzt sind.“ Ich erstarrte unfähig dazu einen klaren Gedanken zu fassen. Mit diesem einen Satz schien die ganze Welt stehen zu bleiben. Der Unfall! Dieser Kerl hatte mit dem Unfall zu tun? „Wie?“ Sein Lakai stellte die Frage, die mir auf der Zunge lag. Er stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Ich habe ihnen beim Meeting ein Mittelchen ins Glas gemixt. Es ist nicht nachweisbar, hat aber den Effekt, dass sich die Pupillen weiten. Der Unfall war nur eine Frage der Zeit.“ Ich umschlang meinen Oberkörper mit den Armen und krallte die Finger in den Pullover um das unkontrollierte Zittern, das mich erfasst hatte in den Griff zu bekommen. Dieser Kerl hatte versucht uns umzubringen! Panik stieg in mir hoch, als ich wieder die gleißend hellen Lichter vor mir sah und Uruhas Angstschreie in meinem Kopf wiederhallten. Dieses Arschloch war dafür verantwortlich, dass unser Leben auseinandergebrochen war! Ihm hatte ich monatelangen Krankenhausaufenthalt und Reha zu verdanken. Mein Körper krümmte sich, als meine Kopfschmerzen eine neue Dimension erreichten. Dennoch schaffte ich es keinen Laut von mir zu geben. „A-aber warum die beiden und nicht Ruki?“ Wieder waren ein dumpfes Poltern sowie ein Schmerzenslaut zu hören. „Weil es Aoi, dieser selbstgerechte Wixxer, verdient hat! Er hat wohl schon vorher etwas gemerkt und mich nicht mehr aus den Augen gelassen. Es geschieht ihm nur recht. Das einzig Positive ist, dass er das Gedächtnis verloren hat und ich seine Visage hier nicht mehr sehen muss, auch wenn ich nur zu gerne auf seinem Grab getanzt hätte.“ Mein Atem stockte. Noch nie hatte ich solch abgrundtiefen Hass in der Stimme eines anderen Menschen gehört. Ich fuhr erneut zusammen, als die Tür geöffnet wurde. „Ah, hier sind Sie! Kommen Sie bitte!“ „Ich bin sofort da!“ Die Tür wurde wieder geschlossen. „Du weißt, was du zu tun hast! Enttäusche mich kein zweites Mal, das würde dir wirklich leidtun!“
 

Erst als sich die Tür erneut schloss, traute ich mich wieder durchzuatmen. Ich blieb für ein paar Sekunden liegen, begann dann aber mich mit zitternden Armen in die Höhe zu stemmen. Die Augen hielt ich geschlossen. Dennoch überkam mich ein heftiges Schwindelgefühl, weshalb ich mich matt gegen das Sofa lehnte. Immer wieder begann sich der Raum zu drehen, wenn ich versuchte meine Augen zu öffnen. Hilflose Wut erfasste mich. Wie sollte ich meinen Freunden helfen, wenn ich hier herumsaß und mit den Kopfschmerzen um die Herrschaft über meinen Körper rang? Es kostete mich übermenschliche Kraft die Kopfschmerzen auszublenden und auf die Beine zu kommen. Schwankend stolperte ich auf die Tür zu und trat auf den Gang hinaus. Um das Gleichgewicht zu halten, legte ich meine Hand an die Wand und zwang mich dazu weiterzulaufen. Ich wusste wo die Bühne war. Ich kannte diese Halle. Meine Schritte wurden fester, je weiter ich den Gang entlanglief. Die Musik nahm an Lautstärke zu, schien mir mehr Sicherheit zu geben, bis ich schließlich an den verdutzten Roadies vorbeieilte. Ich wusste nicht genau nach wem ich Ausschau hielt, bis ich unseren Manager zusammen mit Tsukoyomi-san am Bühnenaufgang stehen sah. „Aoi!“ Die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Dann jedoch weiteten sich seine Augen und er griff hastig nach meinem Oberarm. „Hey, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst schlimm aus! Willst du dich hinlegen?“ Entschlossen schüttelte ich den Kopf, wurde aber schon von Tsukoyomi-san und ihm in einen kleinen Nebenraum gezerrt, in dem ein Sofa stand. Ein Wasserglas wurde mir in die Hände gedrückt. Während ich es leerte erzählte ich von dem Sabotageversuch. Zweifelnd sah mich der Manager an. „Aoi, bist du dir sicher, dass du dir nicht den Kopf gestoßen hast? Ist dir schwindlig? Sollen wir Doktor Sugita holen?“ Ich unterdrückte den Fluch, der mir auf den Lippen lag. „Himmel nochmal, behandle mich nicht wie ein kleines Kind! Das kannst du mit deinem Sohn machen!“ Erneut presste ich meine Handflächen an die Schläfen. Meine Sicht verschwamm und ich musste mich hinlegen, als der Schwindel zurückkam. Auf der Bühne begann bereits das nächste Stück. Die Zeit lief uns davon. Irgendwie musste ich ihm die Situation begreiflich machen können. „Hast du erkannt, wer es war? Hast du jemanden gesehen?“ Träge versuchte ich den Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln. Er glaubte mir? So plötzlich? „Nein, aber ich kenne die Stimme. Ich bin mir sicher, dass ich sie irgendwo schon mal gehört habe, aber ich kann mich nicht erinnern wo genau das war.“ „Kann es sein, dass-“ Er wurde durch das laute Hämmern an der Tür unterbrochen. „Ja?“ Einer der Bühnentechniker kam in den Raum gestürzt. Die Musik wurde lauter. „Wir haben ein Problem! Inugami-san hat sich alleine im Regieraum eingeschlossen!“ Wir stöhnten gleichzeitig auf. Verflucht. „Können wir irgendwie in den Raum gelangen?“ Der Techniker schüttelte den Kopf. „Wir haben schon alles versucht! Er hat die Tür von innen verbarrikadiert und ignoriert uns. Aber … ich verstehe nicht … was hat er denn vor?“ Ich spürte den ernsten Blick unseres Managers auf mir. „Er will die Band ruinieren, indem er einen Skandal provoziert!“
 

Als die Musik endete, setzte mein Herzschlag für einen kurzen Moment aus. Da die Fans, jedoch weiterjubelten, war ich mir sicher, dass nur das Stück zu Ende war. Die Vermutung bestätigte sich gleich darauf, als Ruki den nächsten Song ansagte. Entschlossen stellte ich das Glas auf dem Boden ab und erhob mich schwankend um aus dem Raum zu taumeln. „Aoi? Wo willst du hin?“ „Etwas unternehmen!“ Die beiden liefen neben mir her, versuchten aber nicht mich aufzuhalten. „Was genau hast du vor? Wenn du einen Plan hast, dann rede mit uns!“ Beinahe hätte ich gelacht. „Einen Plan? Ich war selten so planlos wie jetzt gerade, aber ich kann nicht rumsitzen und zusehen, wie so ein eifersüchtiger, intriganter Mistkerl die Träume meiner Jungs zerstört, für die sie mehr als nur hart gekämpft und gearbeitet haben!“ Mit langen Schritten lief ich den Weg zur Bühne hinunter. „Und deshalb läufst du jetzt zur Bühne? Um was genau zu tun?“ Ich wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. „Sie dort runterholen! Dann ist die Sache doch gegessen!“ „Nein, er kann genauso die Musik laufen lassen.“ „Himmel, dann haben wir eben eine CD eingelegt um die Fans zu bespaßen! Im Nachhinein kann uns niemand nachweisen, dass es Playback war und darum geht es doch, oder?“ Das schien auch den beiden einzuleuchten, denn sie folgten mir, ohne einen weiteren Einwand vorzubringen. Wir liefen gerade unter der Bühne hindurch um zum vorderen Aufgang zu gelangen, als plötzlich die Musik aussetzte. Ich stolperte, konnte mich aber gerade noch fangen. Die Fans johlten. „Licht aus!“ Unser Manager schaltete sich ein. Tatsächlich schien ihn jemand gehört zu haben, denn auf der Bühne wurde es schlagartig stockdunkel, was bei den Fans nur noch größeren Jubel auslöste. Unter den Roadies jedoch brach ein Tumult aus. Auf der Suche nach einem Ausweg ließ ich meinen Blick durch die Gegend schweifen. „Guten Abend liebe Gazette-Fans!“ Als die Stimme sich über die Lautsprecher einschaltete zögerte ich keine Sekunde mehr. Ich entriss einem der Männer, die gerade vorbeiliefen, eine Gitarre. Als ich das Funk-Übertragungsset in die Klinkenbuchse schob bemerkte ich, dass diese eine meiner Gitarren war. Ich zerrte mir den Gurt über den Kopf und trat auf die Vorrichtung für die Hebebühne. „Hoch!“ Als niemand reagierte wirbelte ich zum Manager herum. „Zum Teufel, fahr mich hoch!!“ Er schien wohl etwas in meinem Blick gesehen zu haben, denn er nickte nur und gab jemanden ein Zeichen. Die Bühne wackelte unter meinen Füßen und hob sich dann langsam.
 

„Wir haben euch einen ganz besonderen Abend versprochen! Einen Abend, den ihr nie mehr wieder vergessen werdet.“ Der ruckartige Stopp der Hebebühne zeigte mir an, dass ich oben angekommen war. Der Saal erstreckte sich in völliger Dunkelheit vor mir. Nur schemenhaft ließ sich die Menge erkennen, die vor Begeisterung über die Ankündigung eines unvergesslichen Abends zu kreischen begann. Meine Finger waren eiskalt, fühlten sich steif an, als ich ich sie um das Plektrum legte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Blick schweifen ließ. Selbst in der Dunkelheit ließ sich erahnen wie groß diese Halle wirklich war. Und … sie war ausverkauft. „Deshalb haben wir eine ganz besondere Überraschung für euch!“ Meine Finger, die das Plektrum krampfhaft festhielten wurden mit einem Mal locker, als ich die linke Hand an die kalten Stahlsaiten der Gitarre legte. Sie fühlten sich gut an unter meinen Fingerspitzen. Ich hielt den Atem an und ließ ihn dann wieder langsam entweichen. Die Nervosität legte sich durch die Atemübung ein bisschen. Dennoch fühlte ich mich, als würde ich unter Strom stehen, als ich ein paar Schritte nach vorne trat, sodass ich wahrlich im Rampenlicht stehen würde. „Der Moment, auf den Ihr alle gewartet habt-“ In der Hoffnung die Stimme übertönen zu können, ließ ich das Plektrum über die Saiten kratzen. Der Sound, der aus den Lautsprechern hallte war gewaltig. Gleißend helles Licht explodierte um mich herum. Das Kreischen der Fans erreichte ein neues Level, während ich meine Finger über die Saiten tanzen ließ und der Gitarre Klänge entlockte, die ich mir vor ein paar Wochen niemals hätte erträumen lassen. Das Lampenfieber war verschwunden. Ich dachte nicht an die grellen Lichter, nicht an die Fans und auch nicht daran, dass ich seit Monaten Probleme hatte einer Gitarre auch nur einen einzigen Akkord zu entlocken. Selbst die Kopfschmerzen traten für diesen einen Moment in den Hintergrund. Das Einzige, das zählte war jetzt auf der Bühne zu stehen und alles zu geben. Das zu tun, was ich liebte. Mein Vater hatte gesagt, dass ich ohne die Musik nicht leben konnte und in dem Moment, als ich die Saiten anschlug merkte ich, dass er damit recht gehabt hatte. Das hier war mein Leben. Die Bühne. Die Fans. Meine Band! Mein Körper begann sich von selbst im Klang der Musik zu bewegen. Die Scheinwerfer blendeten mich und verstärkten die Kopfschmerzen nur noch mehr, weshalb ich es tunlichst vermied ins Licht zu sehen. Dennoch begann ich bereits um jeden Ton zu kämpfen. Ich warf den Kopf in den Nacken, als ich den letzten Akkord spielte und die Saiten zu einem Vibrato verzog.
 

Genau in diesem Moment setzte eine weitere Gitarre ein. Uruha übernahm so leicht, als wäre es tatsächlich einstudiert gewesen. Seine Melodie wirkte viel sanfter als meine und doch schienen sie hervorragend aufeinander abgestimmt zu sein. Ich überließ ihm die Führung, untermalte sein Spiel mit dem Rhythmus und konzentrierte mich darauf gegen die Kopfschmerzen anzukämpfen, die mich immer mehr in die Knie zwangen. So leicht es mir vorher gefallen war zu spielen, desto schwieriger wurde es je länger ich auf der Bühne stand, da sich meine Finger um das Griffbrett herum versteiften. Ich wurde langsamer, was Uruha wieder ausglich, in dem er plötzlich unterstützende Elemente einbaute. Ein starker Rücken lehnte sich an meinen, hielt mich aufrecht, als ich taumelte. „Das ist kein Traum, oder? Du bist tatsächlich hier!“ Unglaube schwang in seiner Stimme mit. „Ich bin hier“, flüsterte ich, während ich meinen Kopf nach hinten auf Uruhas Schulter legte. Als sich die Halle zu drehen begann, schloss ich die Augen und vertraute darauf, dass Uruha weiterhin mein Fels in der Brandung sein würde. Der Bass setzte ein, rettete uns, indem er den Übergang zum Pre-Chorus schuf, in den Kai und Ruki gleichzeitig einstiegen. Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wie ich es schaffte den Song zu beenden. Obwohl mein Kopf bereits in anderen Sphären schwebte, landeten meine Finger bis zum letzten Ton treffsicher auf den Saiten und Bünden. Der Applaus und das Gebrüll der Menge drangen nur gedämpft zu mir hindurch. Das Licht ging wieder aus. Starke Arme legten sich um meinen Oberkörper. In dem Moment, in dem Uruha mich an seine Brust zog, um mich heftig zu umarmen und seine Lippen auf meine zu pressen, gaben meine Beine nach. Ein leiser Fluch perlte über seine Lippen. Dann verlor ich den Boden unter den Füßen. Meine Muskeln spannten sich an, warteten auf den Aufprall, doch meine Stirn sank nur gegen Uruhas Schulter, während er mich von der Bühne trug. Automatisch schlang ich meinen Arm um seinen Nacken und drückte meine Lippen an seinen Hals. „Kou? Es tut mir leid!“ Er stockte kurz, stieg dann aber die Treppen weiter nach unten. „Wovon sprichst du?“ Mir entkam ein Laut, der halb Lachen halb Schnauben war. „Von allem. Ich war kein sonderlich toller Partner im letzten Jahr … ich hätte dich sogar beinahe gehen lassen! Dabei war unsere Beziehung das Einzige, das ich niemals bereut habe.“ Ich spürte, wie er unwirsch den Kopf schüttelte. „Es ist egal! Jetzt bist du ja hier!“ So etwas konnte auch nur er sagen. Dieser liebevolle Idiot. Er war viel zu gut für mich. „Kou? Ich glaube … wir sollten doch mal in einen Onsen gehen“, nuschelte ich. Als die heilende Dunkelheit erneut ihre Arme ausbreitete, ließ ich mich, im Wissen, dass Uruha auf mich aufpassen würde, hineinfallen.
 

Ein seltsamer Druck um meinen Arm und das darauffolgende Piepsen ließ mich langsam wach werden. „Der Puls ist in Ordnung. Es scheint wohl alles ein bisschen viel gewesen zu sein. Aber das ist wohl kein Wunder!“ Das Ratschen eines Klettverschlusses drang an mein Ohr, dann wurde mein Arm angehoben. „Er sollte in der nächsten Stunde schon wieder fit sein. Falls nicht, ruft ihr mich nochmal!“ Eine Tür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Schritte waren zu hören, ein Stuhl scharrte über den Boden. „Du bist dir wirklich sicher, dass sein Gedächtnis zurückgekommen ist, Uruha?“ Rukis Stimme kam von irgendwo links neben mir. Eine Hand legte sich auf meine Wange. „Ja, schon. An diesem Solo haben wir beide vor dem Unfall gearbeitet und dann hat er noch ein paar Dinge gesagt, die nur so Sinn ergeben.“ Mir entkam ein heißeres Stöhnen. „Aoi? Hey! Wach auf!“ Jemand tätschelte meine Wange, bis ich erschöpft die Augen öffnete und direkt in Uruhas dunkle Seelenspiegel blickte. „Hey, da bist du ja!“ Wieder hörte ich das Schaben von Stühlen, dann tauchten plötzlich die Gesichter meiner Bandkollegen in meinem Blickfeld auf. Sie alle wirkten besorgt. „Wie fühlst du dich?“ Mein Blick ging zu Ruki, der bei mir auf dem Sofa saß und mich eingehend musterte. „Als hätte mich ein Bus überfahren!“ Nicht, dass ich einen Vergleich hätte. Ich versuchte mich aufzusetzen, unterließ es aber sofort wieder, als mir schwindlig wurde. „Mann, guckt nicht alle so. Wir sind hier nicht auf einer Beerdigung!“ Kai beugte sich über das Sofa und schüttelte den Kopf. „Du siehst aber gerade mehr wie eine Leiche aus. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ „Du solltest fürs Erste etwas liegen bleiben. Dr. Sugita meinte die Erinnerungen hätten dich erschlagen!“ Naja so konnte man das natürlich auch bezeichnen. „Unser Manager hat uns alles erzählt. Du hast uns den Arsch gerettet, da oben!“ Reita streckte mir seine Faust entgegen. Ich hob meinen Arm und stieß unsere Knöchel zusammen. „Das war das Mindeste, nachdem ich euch hängen gelassen habe. Das tut mir verdammt leid, Leute!“ Ruki hob die Augenbrauen. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“ „Äh…“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was wollte er denn noch hören? Wollte er einen Seelenstriptease haben? „Du zahlst den nächsten Bowlingabend! Dann sind wir wieder quitt“, meinte er dann nur trocken und griff nach seiner Teetasse. Ergeben hob ich meine Arme. „Alles, was ihr wollt. Aber, heißt das, dass ich wieder dabei bin? Was ist denn mit meinem Ersatz?“, hakte ich nach. Kai verdrehte die Augen. „Wir sind ehrlich froh, dass wir ihn los sind! Für dich gibt es keinen Ersatz.“ Oh Mann, jetzt wurde es aber wirklich sentimental.
 

Doch bevor ich etwas erwidern konnte, wurde die Tür lautstark aufgerissen. Die Klinke knallte gegen die Wand. „DUUUU!!!“ Erschrocken wirbelte ich herum, hatte aber keine Gelegenheit mehr zu erkennen, wer den Raum betreten hatte, da bereits der Fußboden auf mich zukam. Ich überschlug mich, schaffte es aber, mich auf den Rücken zu rollen. Entsetzensschreie hallten um mich herum. „Ich bring dich um! Du verfluchter, scheiß Bastard!“ Zwei starke Hände schlossen sich um meine Kehle. „Hören Sie auf!“ Kais Stimme hallte durch den Raum. Meine Finger bohrten sich in die Hände des Angreifers, doch der Griff wurde nicht lockerer, nicht einmal, als ich mich unter ihm zu winden begann und ihm mein Knie ins Kreuz rammte. „Ich war so nahe dran! So nahe! Und dann … du schon wieder!“ Vor meinen Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen. Ich bekam keine Luft, musste atmen! „Dafür wirst du bezahlen! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Wenn ich in die Hölle komme, dann nehme ich dich mit!!“ Plötzlich verschwand das Gewicht von meiner Brust. Röchelnd zog ich die Luft in meine Lunge und setzte mich auf. „NEIN! Lasst mich! Loslassen!!“ „Yuu!“ Eine Hand legte sich auf meinen Rücken. „Alles klar bei dir?“ Uruha musterte mich besorgt – schon wieder. Als ich den Blick hob, erstarrte ich. „Sie?!“ Sotooka-san wehrte sich heftig gegen zwei der Securitymänner, die ihn mit vereinten Kräften in Schach hielten und versuchten ihn aus dem Aufenthaltsraum zu schieben. „Du hättest sterben müssen.“ Sein Blick bohrte sich in meinen. „Ihr hättet beide sterben müssen!!“ Uruha erstarrte neben mir. „Was meinen Sie damit?“ Seine Stimme war fest, doch ich spürte das Zittern seiner Finger auf meinem Rücken. Sutooka-sans Blick war irre als er in ein lautes Lachen ausbrach. „Bei dem Autounfall hättet ihr beide draufgehen müssen!“ Dann fiel die Tür ins Schloss.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2016-03-28T17:14:32+00:00 28.03.2016 19:14
yay aoi erinnert sich wieder *--* da freut sich uru sicher auch :3 gut das yuu endlich wieder gitarre spielen kann <3
schade das es das letzte kapitel ist die ff war echt toll *o*
Antwort von:  dani
28.03.2016 19:17
Vielen Dank für dein Kommi.
Tja es kommt ja noch der Epilog, dann ist aber wirklich schluss.
Aber ich hoffe, es hat dir gefallen.

LG dani
Von:  Kai-san
2016-03-28T09:55:27+00:00 28.03.2016 11:55
Hallo :3

Oh man, jetzt kommt nur noch der Epilog und dann aus? Q. Q Ich hoffe doch wir bekommen bald wieder was von dir zu lesen :3

Kann mir vorstellen, daß Aoi von den ganzen Puzzleteilchen erschlagen wurde, die ganzen Eindrücke, wie er in die Band kam, er mit Uruha zusammen kam der Unfall und alles. Und dann war dieser auch noch von Sotooka-san geplant?! Ich hoffe echt dieses miese Arsch bekommt noch seine gerechte Strafe!!!!Ò.ó

Oh ja, Aoi hat Ihnen echt den Arsch gerettet da oben, bin heil froh das er es rechtzeitig geschafft hat und das alles so gut verlaufen ist. Gebe Kai vollkommen recht, niemand kann Aoi ersetzen und ich bin froh wenn er jetzt wieder mit den anderen zusammen auf der Bühne steht.

Dir auch schöne Ostern und lass dich die Woche nicht ärgern, bis nächsten Sonntag <3

Antwort von:  dani
28.03.2016 12:18
Hi Kai-san!

Danke für dein liebes Kommi. Ja du hast Recht - total schade. Ich hätte euch gerne noch ein paar mehr Kapitelchen hochgeladen, aber dann wäre die Story zu viel geworden und das sollte nicht so sein. Es muss ein gutes Ende haben und nicht mit aller Gewalt weitergeführt werden.
Zu Sotooka-san werden wir im Epilog noch ein bisschen was hören, aber nicht mehr sonderlich viel.
Aoi ist im Moment genau da, wo er auch sein will und wo ihn die anderen brauchen. Wie gesagt - ich bin selbst ein riesen Fan von Happy Ends.... Drama ok, solange es nur während der Story geschieht und da habe ich euch doch einiges geboten *lacht*
Ich wünsche dir eine schöne Woche.
Bis demnächst

LG dani
Von:  TheNamelessLiberty
2016-03-27T22:18:28+00:00 28.03.2016 00:18
Dieser miese kleine...****!!!!!!!!
Ich wusste das da noch was kommen musste...der war mir am Anfang schon so komisch vorgekommen und da Aoi ja auch nicht so recht wusste wieso er ihn nicht leiden konnte, war irgendwie klar das er noch eine wichtige Rolle spielen würde.
Aber das er sogar hinter dem Unfall steckte...meine Güte ey...ich kanns immer noch nicht lauben.
Welch ein Glück hat Aoi sich wieder erinnern können und den Abend und auch die Band gerettet!

Hach und nun nur noch der Epilog...was mach ich denn jetzt ohne diese FF ohne Aoi und Uruha? *geht weinen*

Bis nächste Woche..und dir auch frohe Ostern =)

Lin
Antwort von:  dani
28.03.2016 12:15
*kicher*
Au ja ... ich hab da ziemlich nen Dreh draus gemacht - aber wenn du von vorne ließt, merkst du wirklich (wenn man das Ende kennt) dass da etwas nicht ganz so stimmt *zwinker*
Tja ... ich lass meine Charas gerne leiden ... aber eigentlich gibt es immer ein Happy End. Ich mag es, auch wenn es hin und wieder recht kitschig ist *lach*

Ja, nur noch der Epilog und die Story ist vorbei. Ich kann aber sagen, dass ich bereits an ner neuen bastle ... aber ob und wann ich sie hochladen werde, steht noch in den Sternen. Ich werde dich aber gerne darüber informieren, wenn du das möchtest ... Aber vielleicht gibt es ein paar kleine OneShots *zwinker*

Vielen Dank für die Osterwünsche. Bis nächste Woche

LG dani
Antwort von:  TheNamelessLiberty
28.03.2016 12:54
Ja damit hast du vollkommen recht..ich werde eh alles noch einmal lesen sobald der Epilog da ist =)

Oh Gott wenn du wirklich schon was im Hinterköpfchen hast wäre das genial! Und ja du darfst mich darüber gerne informieren. Ich liebe diese FF und deine Art zu schreiben..das liest sich alles wie ein gutes Buch das niemals Enden soll *~*
Antwort von:  dani
28.03.2016 13:02
*lach* Uii noch eine Von-vorne-Leserin =)
Es würde mich freuen, wenn du die Story auch weiterempfehlen würdest

*lach* ja ich habe da was im Hinterlöpfchen, allerdings nicht mehr mit Aoi und Uruha (als Story) was OneShots angeht ... da hab ich auch so ein, zwei Gedanken *zwinker*
Und natürlich informiere ich dich gerne darüber =)


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