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Amnesia

Wenn die Erinnerung streikt
von

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Kapitel 33

~Aoi POV~
 

Hohe Wellen, strahlend blaues Meer, wolkenloser Himmel und die wärmenden Strahlen der goldenen Sonne auf der Haut. Was begehrte ein Surferherz mehr? „Yuu! Träumst du, oder was?“ Kazuya sah mich abwartend an. In seinen dunklen Augen blitzte Vorfreude auf. Mein perfekter Bruder, der besonnene Medizinstudent, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, war hibbelig wie ein kleines Kind seitdem wir beschlossen hatten surfen zu gehen. Zugegeben, mir ging es nicht anders. Viel zu lange hatte ich nicht mehr auf einem Surfbrett gestanden. Ganze 14 Stunden! „Jaja ich komme schon!“, erwiderte ich und klemmte mir mein Shortboard unter den Arm. Eine schwache Brise begrüßte uns und wirbelte meine Haare nach hinten, als wir die paar Meter zum Ufer hinunter rannten. Dort legte ich das Surfbrett ab und griff nach der Boardleash, um sie mit dem Klettverschluss an meinem Knöchel festzumachen. Mein Blick blieb jedoch auf das Meer gerichtet. „Unglaublich, diese Wellen heute!“ Kazuya nickte mir grinsend zu und hob plötzlich den Arm um einem der Rettungsschwimmer zuzuwinken. „Guten Morgen Noguchi-kun! Lange nicht mehr gesehen!“ „Ahh die Shiroyama-Brüder! Ruft euch das Meer schon wieder?“ Kazuya lachte leise und gab ihm ein High Five. „Klar! Du weißt doch: Wer rastet, der rostet.“ „Und das wollen wir ja nicht!“, fügte ich etwas sarkastisch hinzu, was die beiden zum Lachen brachte. „Du nimmst doch dieses Jahr am Wettbewerb teil, oder Yuu?“ „Ja. Aber im Kitesurfen nicht im Wellenreiten!“, steuerte ich etwas zum Gespräch bei. „Oh ja! Und er wird alle fertig machen. Nicht wahr, Brüderchen?“ Kazuya legte seinen Arm um meine Schultern und stützte sich auf mir ab. „Ich werde es versuchen. Das heute ist nur Spaß, kein Training!“ Darum war ich heute mit dem Shortboard unterwegs und trug weder einen Surfanzug noch eine Prallschutzweste. Bei den Geschwindigkeiten, die man beim Kitesurfen erreichte, war diese notwendig um sich vor schlimmeren Verletzungen zu schützen. „Tja, auch Spaß muss mal sein, oder? Genießt die paar Stunden noch, in denen das Meer so friedlich ist.“ „Die paar Stunden?“, hakte ich nach und runzelte die Stirn. „Es gab eine Unwetterwarnung für die gesamte Ostküste! Passt auf euch auf, Jungs und geht kein Risiko ein. Ihr wisst ja, Safety first!“ Unwetterwarnung für die gesamte Küste? „In dem Fall beeilen wir uns lieber.“ Kazuya schob mich weiter. „Man sieht sich Noguchi-kun!“ Ich konnte mich eines Schmunzelns nicht erwehren. „Gott, warum hast du es so eilig? Wir sind jeden Tag hier. Du tust ja beinahe so, als würdest du die nächsten 100 Jahre nicht mehr dazukommen dich auf ein Surfbrett zu stellen!“ „Tja, wer weiß?“
 

Nachdem ich mir den ganzen Nachmittag über seinen letzten Satz den Kopf zerbrochen hatte, konnte ich nicht länger so tun, als wüsste ich nicht, was genau damit gemeint war. „Sag mal Kazuya … möchtest du wirklich nach Tokyo gehen um an der ‚Universität Tokyo’ zu studieren?“ Ich saß auf dem Shortboard und ließ die Beine ins Wasser hängen. Es war kalt. Die Sonne war schon lange hinter dichten Wolken verschwunden und der Wind wurde laufend stärker. Wir sollten langsam wieder raus paddeln, doch im Moment genoss ich es viel zu sehr auf dem Meer zu sein. Vor allem erleichterte es mir, ihm die Frage zu stellen, die mir schon den ganzen Tag auf der Zunge lag. Etwas überrascht sah mich mein Bruder an. „Wo hast du das denn aufgeschnappt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mum hat gestern so was angedeutet.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und nickte dann vage. „Die Fakultät ist weltweit sehr bekannt und es gibt auch die besseren Professoren dort. Ich denke ich kann dort mehr lernen als an der Uni, an der ich im Moment immatrikuliert bin.“ Er war so ein verdammter Streber. Kazuya hatte immer schon Kinderarzt werden wollen. Nicht nur irgendein Kinderarzt. Er wollte der Beste sein. Daher war es eigentlich nicht verwunderlich, dass er an die beste Uni wollte. Vater war auch immens stolz auf ihn und auch auf Nami, die bereits ein Praktikum bei einem renommierten Rechtsanwalt in der Tasche hatte. Ich selbst war für ihn wohl eher eine Enttäuschung, das Schwarze Schaf der Familie. Das Einzige in dem ich gut war, war Kitesurfen und Gitarrespielen. Und selbst dort hatte er immer etwas zum Aussetzen. Ich hatte nicht vor zu studieren und eine Ausbildung wollte ich erst recht nicht machen. Laut ihm standen meine Berufsaussichten als Profisurfer oder Gitarrist in einer Band äußerst schlecht, weshalb er mich dahingehend nicht unterstützte und auch keine Gelegenheit ausließ zu betonen wie dämlich diese Träume doch waren. Aber ich würde niemals ein Bürohengst werden, wie Vater es für mich vorgesehen hatte.
 

„Hast du dich schon beworben?“ Mein Board hob sich, als die nächste Welle angerauscht kam. „Ich wurde bereits aufgenommen.“ Oh Mann! Gab es denn etwas, was er nicht zugeworfen bekam!? „Aber hey … sei nicht traurig, Brüderchen. Du kannst mich ja besuchen kommen, sobald ich mich ein bisschen eingelebt habe! Außerdem ist es ja nicht so, dass ich gleich morgen die Koffer packe und weg bin. Bis zum Ende der Sommerferien bleibe ich auf jeden Fall hier.“ Er hatte Recht! Was machte ich mir jetzt einen Kopf darüber? Die Sommerferien dauerten noch vier Wochen und bis zu ihrem Ende hatte ich meinen Bruder für mich alleine! Wir waren – trotz des Altersunterschieds - immer sehr gut miteinander ausgekommen. Er unterstützte mich, wo er nur konnte und ich war stolz auf alles, was er leistete. So war es auch dieses Mal, auch wenn ich gleichzeitig etwas traurig darüber war, dass wir uns dann nicht mehr jeden Tag sehen konnten. Aber wozu gab es Telefone? „Und wenn Vater wieder mal übers Ziel hinausschießt, kannst du ja gerne für ein Weilchen zu mir kommen. Abstand würde euch hin und wieder recht gut tun!“ Ein leises Seufzen entkam mir. Wem sagte er das? Im Moment stritten wir uns, sobald wir uns über den Weg liefen. Gott sei Dank hatte Kazuya ein Händchen dafür ihn wieder zu beruhigen. Ein dunkles Grollen über unseren Köpfen riss mich aus meinen Gedanken. „Wir sollten wieder an Land gehen. Langsam wird es hier draußen zu gefährlich!“ Kazuya sah besorgt in den grauen Himmel. Er rutschte bäuchlings aufs Surfbrett und begann zu paddeln. Dadurch verpasste er, dass sich DIE Welle vor uns auftürmte. Mein Herz begann vor Vorfreute wild zu pochen. Verdammt die Welle war einfach unglaublich! Ich wollte … Ich musste … „Yuu! Das ist die falsche Richtung! Was denkst du, was du da machst!?“ Kazuyas Stimme klang bestürzt, als ich mich aufs Board legte und auf die Welle zupaddelte. „Hör auf mit dem Scheiß! Das ist zu gefährlich!“ Der Wind entriss ihm die Worte, ehe sie zu mir durchdringen konnten. Die Gischt spritzte mir ins Gesicht. Das Wasser toste. Endlich kam ich auf dem Surfbrett zum Stehen. Ein unglaubliches Gefühl der Freiheit durchdrang mich. Es war phantastisch! Ich stieß ein lautes Jauchzen aus und genoss den Ritt! Noch nie hatte ich die Gelegenheit gehabt so eine Welle für mich zu haben! Aber jetzt kostete ich es in vollen Zügen aus.
 

„Pass auf! Sie bricht!!“ Die Warnung kam zu spät. Das Wasser prasselte bereits auf mich hinunter und traf heftig auf meinen Rücken. Ich verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und fiel vom Bord. Das kühle Nass umgab mich. Ich zog meine Knie an und schützte meinen Kopf mit den Armen. Gefangen im Strudel wurde ich immer tiefer unter die Wasseroberfläche gezogen. Endlich gab mich der Sog frei. Ich riss die Augen auf um mich zu orientieren, doch um mich herum herrschte ein tiefes Schwarz, das mich daran hinderte etwas zu erkennen. Orientierungslos drehte ich mich im Wasser. Die Dunkelheit wurde immer undurchdringlicher. Raus! Ich musste wieder an die Oberfläche! Adrenalin schoss durch meine Adern. Das Wasser wurde immer kälter, ich fror entsetzlich. Unkontrolliert begann ich Schwimmbewegungen zu machen. Atmen! Ich musste Atmen! Meine Lunge fing an zu brennen, als ich mich gegen die Bedürfnisse meines Körpers wehrte. Wenn ich nun nach Luft schnappte würde nur Wasser meine Lunge füllen. Trotzig versuchte ich weiterhin zu kämpfen. Aufgeben lag nicht in meiner Natur. Mir wurde schwindelig. Das Brennen verstärkte sich. Luftblasen verließen meinen Mund und stiegen nach oben. Nach oben. An die Oberfläche. Entkräftet begann ich mit den Armen zu rudern. Nur noch ein bisschen. Ein kleines Bisschen. Meine Bewegungen wurden langsamer, ungelenk. Ich konnte nicht mehr, musste atmen! Meine Hände legten sich an meinen Hals. Ich drückte mir die Nase zu und presste die Lippen aufeinander. Nicht! Nicht Atmen! Mein Körper bäumte sich auf. Der Sauerstoffmangel ließ mich ganz schummrig werden. Schwarze Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen. Es wurden immer mehr. Meine Lungenflügel flatterten. Und dann tat ich das, was endgültig mein Todesurteil unterschrieb: Ich atmete ein.
 

Einmal. Zweimal. Kühle Luft strömte in meine Lunge. Gierig saugte ich die frische Luft ein und keuchte leise. Gott, das tat so gut! Stimmen drangen an mein Ohr. Es ruckelte leicht unter mir. Ein Vibrieren. Ruhig und gleichmäßig. „… der ist auch Profi und macht was? Er legt uns noch Interviews an Tagen, an denen wir die Aufnahmen machen müssen!“ Der Ärger in meiner Stimme war kaum zu überhören. Überrascht runzelte ich die Stirn. Das wollte ich doch gar nicht sagen! „Und warum hackt der nur auf diesem verdammten Solo herum!? Dabei haben wir doch endlich unser Problemkind fertig. Er soll sich nicht so anstellen!“ Die Dunkelheit lichtete sich. Allmählich konnte ich immer mehr erkennen. Die Innenbeleuchtung des Autos strahlte mir entgegen. Es regnete. Die Scheibenwischer kratzten rhythmisch über die Frontscheibe. Die Lichter der bunten Reklametafeln und der Straßenlaternen spiegelten sich grell im Regenwasser wieder. Meine Augen brannten. Ich fühlte mich matt. Uruha, der neben mir saß, blickte mit müden Augen aus dem Fenster hinaus und zuckte zusammen, als ein Wasserschwall gegen die Scheibe spritzte.

Ich richtete meinen Blick wieder auf die Straße und unterdrückte ein leises Stöhnen. Diese grellen Lichter stachelten die Kopfschmerzen immer weiter an. Meine Augen tränten bereits. Doch ich würde den Teufel tun und Uruha bitten zu fahren. Wir waren bald zu Hause und er sah fertig aus. Mir entging nicht, dass er seinen Blick auf mich richtete, als ich meinen Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel presste. „Alles in Ordnung?“ „Kopfweh …“ Bremslichter erstrahlten vor mir. Die Autos wurden langsamer, als wir durch die Unterführung fuhren. Mein Atem wurde hastiger. Eine dunkle Vorahnung ließ mich unruhig werden. Meine Brust fühlte sich seltsam kalt an. Irgendwas stimmte hier nicht! Das orange Flackern der Tunnelbeleuchtung erhellte die Dunkelheit nur spärlich. Das ungute Gefühl verstärkte sich, wandelte sich immer mehr in Angst. Meine Finger zitterten, verkrampften sich am Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten, je weiter wir fuhren. Vor uns erstrahlte ein weiterer Lichtkegel, erfasste die regennasse Straße und die grauen, trostlosen Wände. Grauen erfasste mich. Mein Atem stockte, mein Puls begann zu rasen. Wir durften nicht weiterfahren! Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Meine Sicht verschwamm, weshalb ich kurz die Lider zusammenpresste. Gleißend helles Licht empfing mich an, als ich die Augen wieder öffnete. In dem Moment explodierte der Schmerz hinter meiner Stirn. Reflexartig schloss ich die Augen und drehte mich etwas weg. „Verdammter Trottel, schalt das Fernlicht aus!!“ Uruhas Stimme tönte genervt durch das Innere des Autos. „YUU BREMSEN!!!“ Panik! Unsagbare Angst schwang in seiner Stimme mit. Das Kreischen der Bremsen ertönte. Uruhas vor Panik geweitete Augen. Seine Finger, die sich in den Sitz krallten. Graue Wände. Oranges Licht. Schreie. Ein lautes Krachen. Angst - Todesangst. Schmerzen. Im Strudel, der Bilder und Empfindungen kristallisierte sich ein Gedanke klar und deutlich heraus: Oh mein Gott, ich hab Kouyou umgebracht!
 

„NEIN!!“ Mit einem Entsetzensschrei fuhr ich aus dem Traum hoch. Gleichzeitig wurde die Zimmertür aufgerissen. Licht flutete in den Raum, verdrängte die dunklen Schatten. Zitternd presste ich meine Hände an die Schläfen. Die Panik schüttelte mich, schnürte mir die Kehle zu. Diese Bilder. Sie waren so real. „Yuu!“ Eine dunkle Stimme irgendwo rechts neben mir. Die Matratze senkte sich. „Schh~ Es war nur ein Traum … nur ein Traum!“ Starke Arme legten sich um meinen bebenden Körper, hielten mich fest. Sie bewahrten mich davor auseinanderzubrechen, mich selbst in diesen Bildern zu verlieren. Ich keuchte, schnappte nach Luft. Und wie immer begannen die Bilder zu entschwinden. Ich versuchte sie festzuhalten, doch es funktionierte auch dieses Mal nicht. Mein Atem zitterte. Meine Wangen waren nass von den Tränen. Die dunkle Stimme war sanft, beruhigend. Ich wusste nicht, was sie sagte, aber die Melodie der Worte erdete mich. Eine zweite Gestalt erschien im Türrahmen und trat ins Zimmer. „Hier, trink das!“ Eine warme Tasse wurde mir in die Hände gedrückt. Sofort hielt ich sie fest und nahm die Wärme in mich auf, ließ die Eiseskälte in meiner Brust auftauen. Bebend hob ich sie an meine Lippen. Der Tee schmeckte süß. Das Zittern hörte nur langsam auf. „Geht’s wieder?“ Ich hob meinen Blick und begegnete den besorgten Augen meines Vaters. Eine kleine Hand legte sich auf mein Knie - die meiner Mutter. „Yuu?“ „Ja … es geht wieder. Es …“ Ich schluckte trocken und nippte an meinem Tee um nicht sprechen zu müssen. Diese entsetzliche Angst hielt mich noch immer in ihren Krallen fest. Es dauerte noch eine Weile, bis ich sie abschütteln konnte.
 

Meine Eltern fragten mich nicht, ob ich mich an den Traum erinnern konnte. Sie wussten, dass das nicht der Fall war. Und langsam kam ich mir ziemlich dämlich vor. Ich saß hier in meinem alten Zimmer, heulte mir die Augen aus dem Kopf weil ich einen Alptraum hatte und ließ mich von meinen Eltern trösten. Verflucht, ich war doch keine 10 mehr! Dennoch war es jede Nacht dasselbe Spiel und ich war jedes Mal mehr als nur erleichtert, dass ich in diesen grauenhaften Momenten kurz nach dem Aufwachen nicht alleine war. „Yuu?“ Ich sah auf, als meine Mutter nach einiger Zeit zu sprechen begann. „Dein Vater und ich haben über diese Alpträume geredet! Vielleicht … solltest du zu Dr. Adachi gehen.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Du meinst den Seelenklempner!?“, entkam es mir. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ungläubig klang. Sie seufzte und sah zu Boden, was anscheinend für meinen Vater das Stichwort war weiterzusprechen. „Sieh mal, Yuu. So kann es nicht weitergehen. Du wachst seit 1 ½ Monaten jede Nacht schreiend auf. Du schläfst kaum, weil du Angst hast wieder einen dieser Alpträume zu haben. Du bist den ganzen Tag müde und kommst doch nicht zur Ruhe. Du hast keinen Hunger mehr, isst kaum etwas. Du hast abgenommen. Sag mir nicht, dass dir das noch nicht aufgefallen ist! Wir machen uns doch nur Sorgen um dich. Vielleicht hilft es dir einfach darüber zu sprechen.“ Ich sah ihn skeptisch an. „Über was denn? Ich kann mich doch an nichts erinnern!“ Er schüttelte streng den Kopf und kurz darauf spürte ich, wie meine Mutter über meine Wange streichelte. „Wir dachten eher an die Sache mit Uruha, Schatz.“ Bei seinem Namen zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Aua. Ihn hier in dieses Gespräch einzubringen war ein Schlag unter die Gürtellinie. Dabei tat ich doch mein Bestes um ihn zu vergessen. Nur wollte es nicht so ganz klappen. „An den Unfall kannst du dich nicht erinnern und das ist … na ja nicht ok, wir müssen das jedoch akzeptieren. Aber vielleicht macht dir auch die Trennung von Kouyou so zu schaffen.“ Mein Vater mischte sich wieder ein: „Du kannst es dir ja ansehen. Wenn es nicht besser wird, musst du auch nicht mehr hin.“ Mum sah ihn kurz böse an und widmete mir anschließend wieder ihre Aufmerksamkeit. „Aber du solltest es zumindest versuchen. Schlechter kann es ja nicht werden.“
 

In dem Fall hatte sie Recht. Sie beide hatten Recht. Ich heulte mich jede Nacht in den Schlaf, nur um ein paar Stunden später wieder aus einem Alptraum hochzuschrecken. Meistens konnte ich danach auch nicht mehr einschlafen und las, sah einen Film oder schrieb Gedichte auf meinem Laptop. Das beruhigte mich. Von Uruha hatte ich seit der Trennung nichts mehr gehört, was aber nicht bedeutete, dass ich ihn vergessen könnte! Nein, der Kerl spukte jede freie Sekunde in meinem Kopf herum. Ich ertappte mich häufiger als mir lieb war dabei, dass ich mir wünschte, von ihm in den Arm genommen zu werden und seine Nähe zu spüren. Mir fehlten unsere Gespräche, seine Witze und selbst das Fernsehen war nicht dasselbe ohne ihn. Gott ich hatte nicht gewusst, dass ich so sehr in ihn verliebt gewesen war. Es hatte sich nie so ernst, so tief angefühlt. Vielleicht, weil ich unbewusst immer gewusst hatte, dass er mich liebte. Ich musste mich nie sonderlich anstrengen um ihn für mich zu gewinnen. Dafür hatte er alles Erdenkliche dafür getan, dass ich ihn wieder an mich heranließ. Es war schon oft der Fall gewesen, dass ich mich gefragt hatte, ob es eine gute Idee gewesen war zu gehen, oder ob ich hätte kämpfen sollen. Doch egal wie ich es drehte und wendete, es kam nie eine befriedigende Antwort heraus. Selbst wenn wir beide uns wieder vertragen hätten, hätte ich noch immer nicht Gitarrespielen können. Außerdem hätte ich es innerhalb dieser zwei Monate auch nicht wieder perfekt beherrscht. Seit dem Unfall waren wir beide nicht mehr auf derselben Wellenlänge. Ich hatte versucht zu ihm aufzuschließen, doch es war immer offensichtlicher geworden, dass ich die verpasste Zeit nie mehr wieder aufholen konnte, selbst wenn meine Freunde langsamer gingen. Dann hätten sie mich eben erst zwei Monate später aus der Band gekickt, oder besser gesagt: Ich hätte die Band verlassen um ihnen die Möglichkeit zu geben weiterzumachen. Uruha und ich hätten uns kaum mehr gesehen und schließlich wäre es dann sowieso zur Trennung gekommen. Entschlossen schüttelte ich die Gedanken ab. Dieses „hätte“ und „wäre“ half mir nicht weiter. Mein Leben spielte jetzt hier in Mie und seines in Tokyo.
 

Ruki und Kai hatten noch länger versucht mich zu erreichen, aber ich war nicht ans Telefon gegangen und die SMS’ hatte ich gelöscht ohne sie zu lesen. „Ich werde es versuchen. Aber wenn ich das Gefühl habe, dass es mir nicht weiterhilft breche ich es ab, in Ordnung?“, schlug ich schließlich vor, auch wenn es mir entschieden gegen den Strich ging einen Seelenklempner aufzusuchen. Ich war doch nicht einer der Leute, die durchdrehten oder die ihr Leben nicht mehr in den Griff bekamen. Warum also einen Psychologen konsultieren? Zu diesem Vorschlag konnten meine Eltern jedoch nicht nein sagen. Zumindest zeigte ich ein bisschen guten Willen, was meinen Vater mit Sicherheit beruhigte. Er würde nicht versuchen auf mich einzureden und mich umzustimmen. So war es auch dieses Mal. Er nickte zustimmend und meine Mutter begann zu lächeln. Dann streckte sie sich leicht. „Ich geh wieder ins Bett. Wenn was ist … du weißt ja, wo du mich findest!“ „Gute Nacht, Mum!“ Sie erhob sich mit einer fließenden Bewegung und trat auf den Flur hinaus, während sie ihre langen, schwarzen Haare zu einem Zopf flocht.
 

Entgegen meiner Erwartungen blieb mein Vater an meinem Bett sitzen und wartete ruhig, bis meine Mum im Schlafzimmer angekommen war. „Ich muss gestehen, mir gefällt diese Sache mit dem Psychiater genauso wenig wie dir!“ Überrascht hob ich die Augenbrauen und lehnte mich rückwärts an die Wand, sodass ich ihn besser ansehen konnte. „Sohn, ich kenne dich lange genug um zu wissen, was du von so einem Arztbesuch hältst!“ „Warum erwartest du dann von mir, dass ich hingehe?“ Er fuhr sich durch die Haare und schüttelte den Kopf. „Deine Mutter denkt, dass es besser für dich wäre darüber zu sprechen. Du bist seit 1 ½ Monaten zu Hause und hast mit keinem Wort erwähnt warum ihr euch getrennt habt oder warum du beschlossen hast die Band zu verlassen. Versteh mich nicht falsch. Es ist schön, dass du mal die Zeit hast hier zu sein. Vor allem nach dem Unfall hätten wir gerne viel mehr Zeit mit dir verbracht. Aber es ist etwas ungewöhnlich, verstehst du? Die Band … war immer dein Leben!“ Ich zog die Beine an und legte meinen Kopf in den Nacken. Die Stille dehnte sich zwischen uns aus. Jedoch war sie nicht unangenehm. Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Wo sollte ich anfangen? Konnte ich über Uruha sprechen? Mit meinem Vater darüber sprechen? Ich wusste nicht, wie unser Verhältnis vor dem Unfall gewesen war. Hätte ich mit ihm oder Mum darüber gesprochen? Hätte ich es für mich behalten? Tatsache aber war, dass ich jemanden zum Reden brauchte. Das alles runterzuschlucken machte mich kaputt. „Ich kann nicht mehr Gitarre spielen!“, entkam es mir plötzlich. Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Nicht nur bei ihm, wie ich mir eingestehen musste. Ich hatte es gewusst, hatte mich oft genug darüber beschwert, dass es nicht funktionierte. Aber es ihm jetzt zu sagen war, als würde ich einen Teil meiner Seele verlieren. Ich fühlte mich nicht mehr ganz. Mir wurde immer bewusster, dass ich es vermisste – extrem vermisste. Und … Gott es tat so weh! „Wie meinst du das?“ Am liebsten hätte ich weiterhin an die Decke gestarrt. Nur war das Thema zu ernst, als dass ich an ihm hätte vorbeireden können. „So, wie ich es gesagt habe. Seit dem Unfall … kann ich es nicht mehr. Es strengt mich extrem an einfache Akkorde oder Rhythmen zu spielen, von Solis brauche ich gar nicht erst anzufangen. Uruha hat mit mir geübt – stundenlang, aber ich bekomm es einfach nicht hin.“ Zitternd atmete ich ein und erwiderte seinen rigorosen Blick. „Welche Band braucht schon einen Gitarristen, der nicht Gitarre spielen kann?“
 

„Also haben sie dich aus der Band geworfen?“ „Nein!“ Ich starrte auf meine Finger hinunter und befand, dass ich die Nägel mal wieder abknipsen musste. Dieses Gespräch war hart. Verdammt, ich hatte das Gefühl ihn zu enttäuschen. „Nein, ich bin gegangen nachdem Uruha mich verlassen hat. Ich … ich hab gehört, dass die Verträge nicht mehr verlängert werden, wenn wir nicht innerhalb von zwei Monaten auf der Bühne stehen. Selbst wenn ich das mit Uruha wieder hinbekommen hätte, wären wir spätestens in zwei Monaten an diesem Punkt angelangt. Für mich war es bereits nach dem Unfall vorbei. Aber ich kann von den anderen nicht erwarten, dass sie ihre Träume wegen mir aufgeben.“ Er seufzte leise und legte seine Hand auf meine Schulter. „Solange du es nicht bereust, Yuu, ist es in Ordnung! Aber du bist nicht glücklich damit, nicht wahr?“ Wieder spürte ich dieses vertraute Gefühl, das mir die Kehle zuschnürte. Irgendwie wunderte ich mich tatsächlich, dass ich überhaupt noch dazu in der Lage war zu heulen. Der Tränenvorrat musste doch langsam erschöpft sein! „Ich vermisse Kouyou.“ Viel zu lange hatte ich nicht darüber gesprochen, hatte meine Gefühle für ihn versucht zu unterdrücken, aber sie waren da, egal wie sehr ich versuchte nicht zu spüren, was ich für ihn empfand.
 

„Als er mir im Krankenhaus gesagt hat, dass er mein Partner wäre, dachte ich zuerst er würde einen Witz machen. Zwei Männer? Das ist einfach nicht … nicht normal!“ Leise schniefte ich und wischte mir fahrig über die Wangen. „Aber er hat sich wirklich angestrengt und wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ich glaube nicht, dass ich mich wieder in ihn verliebt habe, selbst wenn er es glaubt. Eher habe ich mich noch mehr in ihn verliebt. Und jetzt … jetzt haben wir uns gestritten wegen … wegen einem Missverständnis und ich … ich kann es ihm nicht sagen, sonst wird er diese Welt für mich aufgeben in der er jetzt lebt. Aber ich … ich vermisse ihn. Er …“ Meine Stimme brach. Ich konnte nicht weitersprechen. Eigentlich hatte ich nicht so viel reden wollen. Das alles zu sagen, meine konfusen Gedanken für meinen Vater in Worte zu fassen war schmerzhaft. Ein sanfter Druck auf meiner Schulter ließ mich den Kopf heben. „Yuu, warum denkst du, dass du für ihn diese Entscheidung treffen musst?“ Der Satz traf mich, wie ein Speer. Die Tränen stoppten, mein Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus, ich bekam keine Luft mehr. Das tat ich doch gar nicht, oder? „Kouyou ist alt genug um selbst zu entscheiden, was ihm wichtiger ist! Wenn er sich für dich entscheidet, dann weil du ihm wichtiger bist als das Leben, das er jetzt gerade führt. Ansonsten würde er sich für die Band entscheiden! Und wer sagt, dass es tatsächlich so ablaufen wird, wie du es dir nun ausmalst? Das Schicksal ist nicht in Stein gemeißelt. Eine Entscheidung, kann deinen ganzen Pfad ändern – zum Guten und zum Schlechten! Ab und zu ist es besser den Dingen freien Lauf zu lassen! Du hast die Optionen für dich schon ausgerechnet und festgeschrieben. Was, wenn du jetzt draufkommst, dass du irgendwo einen Rechenfehler gemacht hast? Du kannst nicht mehr zurück.“ „Aber was ist mit den anderen?“ „Du musst an dich selbst denken! Hör auf den barmherzigen Samariter zu spielen!“ Die ganzen Wochen hatte ich versucht damit klar zu kommen. Dann kam mein Vater, hörte mir fünf Minuten zu und zeichnete ein detailgetreues Bild meiner Misere. „Was soll ich jetzt machen?!“ Er drückte meine Hand und begann zu lächeln. „Hör doch einfach mal auf dein Herz.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Gedankenchaotin
2016-02-14T18:01:02+00:00 14.02.2016 19:01
Jaja, manchmal haben Väter doch mehr Ahnung, als es auf den ersten Blick scheint.
Er hat Recht und Aoi sollte einfach mal auf seine Herz hören. Das wird nicht nur ihm gut tun.
Hoffe ich.

ich bleibe trotzdem noch bei meiner Theorie, die ich dir nicht sagen werde. Vielleicht am ende. *fg*

Schönen Valentinstag. ;)

MYV
Antwort von:  dani
14.02.2016 19:04
Hi Myv!
Ach du traust dich ja doch nicht *schmunzel*
Aber ich kann dir versichern du bekommst bald deine Antwort *grinst*
Tja ... Eltern sind generell so Phänomene ... man denkt sie hätten keinen Plan und dabei haben sie schon alles analysiert *schauder* *sich umsieht*

Dir auch nen schönen Valentinstag!

LG dani
Antwort von:  Gedankenchaotin
14.02.2016 19:09
*mich selbst anguck* Ja, das kann ich manchmal auch ganz gut. Ich glaub Mütter sind da manchmal sogar noch schlimmer als Väter.
Wenn das Ende da ist, werde ich es dir mitteilen, ob ich Recht hatte oder nicht. :D
Versprochen! xD
Antwort von:  dani
14.02.2016 19:12
*schmunzel*
Tja ich hab nicht gesagt, dass Aois Mutter es nicht auch rausbekommen hat. Aber sie denkt sich eher, dass sein Vater damit wohl besser zurechtkommt - Männergespräche eben *schulterzuck*
Oh ja, das wäre lieb - darauf bin ich nämlich sehr gespannt ;)
*knuddel*
Von: abgemeldet
2016-02-14T16:09:54+00:00 14.02.2016 17:09
man rede endlich mal mit uruha sonst schleife ich dich hin Aoi xD
ich hoffe uru würde ihm auch zu hören und auf das missverständnis bin ich gespannt
ich glaube noch immer die sms mit dem video sollte nicht an aoi gehen sondern an jemand andern aber ob uru ihm das glaubt dann müsste die person die es aoi geschickt hat es uru sagen wenn das hilft
ich freu mich wenn es weitergeht :3
Antwort von:  dani
14.02.2016 17:21
Heyhey!
Schön, dass du auch heute wieder mit dabei bist *kekse hinstell*
Naja die beiden befinden sich im Moment noch ein bisschen in einer Zwickmühle. Aber ich verspreche hoch und heilig es wird ALLES aufgeklärt werden. *schmunzel*
Was Aoi angeht: Der braucht im Moment jemanden, der ein bisschen auf ihn einredet und ihm den Kopf geraderückt (Eltern sind toll für sowas)
Ich wünsche dir eine schöne Woche
Bis nächsten Sonntag dann =)
Von:  YutakaXNaoyukis_Mika
2016-02-14T15:15:37+00:00 14.02.2016 16:15
Awww, Aois Paps is ja mal süß!
Dabei dachte Aoi, er käme gar nicht mit ihm klar in dieser Hinsicht.
Aber ich bin jetzt echt gespannt, ob Mr. Sexy mal auf sein herz hört und das Missverständnis, wie er es bezeichnet auch aus dem Weg räumt oder ob er das 'in Stein gemeißelte Schicksal' einfach hinnimmt.
"Go, Aoi! Go!"
Antwort von:  dani
14.02.2016 16:19
Heyhey!

Schön, dass du mir einen Kommi dalässt. Es gibt nichts über nette Vater-Sohn Gespräche *grinst*
Ich muss dazusagen, wie du vielleicht bemerkt hast, hatte Aoi einen Flashback - er hat sich an seine Jugend erinnert und in der ist er mit seinem Vater tatsächlich nicht gut ausgekommen (also laut meiner FF);
Tja mal sehen, wie sich das mit den Beiden weiterentwickelt. Aoi hat jetzt mal eine Kopfwäsche vom lieben Papa bekommen, aber wir wissen doch alle, wie das mit Elternratschlägen so ist *zwinker*
Bis zur nächsten Woche dann

LG dani
Von:  TheNamelessLiberty
2016-02-14T15:15:15+00:00 14.02.2016 16:15
Ja Aoi hört doch einfach mal auf dein Herz!
Mensch ich könnte seinen Vater gerade umarmen..er hat so recht!
Und wehe Aoi fliegt jetzt nicht wieder zurück und versuchte das ganze endlich in Ordnung zu bringen.
Und was habe ich da gelesen?
Missversändnis?
AHA! xD
Ich wusste doch das er Uruha nicht betrogen hat..(wenn das damit gemeint ist xDD)
Jetzt kann man nur noch hoffen das Uruha ihm auch zuhören wird wenn er tatsächlich versuchen sollte mit ihm zu reden.

Hach dieses dramatik :D

Wünsche dir einen schönen Valentinstag (egal ob vergeben oder nicht ^^)

Bis nächste Woche
LG Lin
Antwort von:  dani
14.02.2016 16:22
Hi Lin!

Vielen Dank fürs Kommi und die Valentinstagsgrüße gebe ich gerne zurück - leider bin ich nicht vergeben *grinst* Aber ich hatte heute schon einen sehr schönen Start in den Tag =)

Tja Aoi tut gerade Dinge, die ihn selbst ziemlich fertig machen - was seine Alpträume nur beweisen.
Elterngespräche sind hin und wieder einfach etwas, das man wirklich braucht. Man weiß eh schon in welche Richtung es geht, aber man braucht doch nochmal den Tritt in den Arsch oder die Bestätigung um es dann einfach zu tun.
Ich denke es wird in der Hinsicht eine kleine Überraschung geben, was das Missverständnis angeht *schmunzelt* und vielleicht auch die Reaktion der beiden Jungs darauf.

Ich wünsche dir eine schöne, entspannende Woche!

LG dani


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