Ich war schüchtern. Eigentlich schon immer. Na gut. Eher seit der Vorschule, weil ich dort ständig wegen meiner breiten Stirn gehänselt wurde. Stirni schrien sie mir immer nach. Es war gemein. Als Kind konnte ich nicht wirklich gut damit umgehen. Während die anderen Mädchen mit süßen Haarreifen ihre Haare in Zaum hielten oder sich mit Haarspangen lästige Strähnchen zur Seite klemmten, trug ich die Haare lang. Meine Mom fand mich hübscher, wenn die Haare locker über meine Schultern fielen. Sie sagte immer zu mir, ich solle nicht auf die anderen Mädchen hören, denn ich sei schön so wie ich sei. Sie mochte es nicht, wenn ich Zöpfe trug oder wenn die Haare kürzer als schulterlang waren. Meine Mom liebte es, mir feine Löckchen ins Haar zu drehen und mir süße Kleidchen mit Punkten und Blümchen anzuziehen. Hin und wieder erinnerten die Muster an einen Teppichboden im Hotel. Diese bunten und geblümten oder eben durchgemixten Muster in rot oder blau. Meine Mutter war der Meinung, dass dort die Flecken nicht gleich erkennbar seien, immerhin würde ich ja sowieso immer herumtoben und wie ein Staubwedel alles aufnehmen, was so an Dreck in der Luft oder am Boden war. Mit den Stoffen ging sie sicher, dass man mich nach dem Treffen mit Freuden immer noch zu Arbeitskollegen auf einen Kaffee oder zur kleinen Shoppingtour mitnehmen konnte, ohne dass sie sich schämen musste. Bei dem Gedanken daran, dass meine Mutter mich meist als XXL-Puppe benutzte, musste ich oft lachen. Übrigens war meine beste Freundin Ino damals die Erste meiner Kindheitsfreunde, die mich Stirni oder Breitstirn nannte. Glücklicherweise war ich noch nie ein allzu nachtragender Mensch.
Glück für Ino. Sonst hätte sie womöglich an diesem Sonntagabend in ein Ein-Zimmer-Apartment zurückkehren müssen und wäre dort seelenruhig alleine gewesen. Sie hätte dann möglicherweise niemanden gehabt, dem sie all die Mückenstiche hätte zeigen oder bei dem sie sich lautstark über dieses Liebeswochenende hätte ausheulen können. Dabei würde ich es nicht unbedingt als heulen bezeichnen. Meckern. Kritisieren. Schimpfen und ein bisschen verfluchen. Sie regte sich lautstark auf und blaffte mich hin und wieder an, wenn ich einen ihrer Stiche mit einem amüsierten Blick kommentierte.
„Unfassbar! Das hat doch nichts mit Liebe zu tun!“, maulte sie. „Ich hab in einem Zelt geschlafen. Einem verdammten Zelt! Ich durfte an einen kleinen Bach, um mich morgens zu waschen! Ich hab eine ganze Flasche meines Parfums an diesem blöden Wochenende geleert und stinke immer noch wie ein“, sie raufte sich ihr blondes Haar, „Stinktier!“
Mir entfloh ein lautes Lachen und sie ließ sich geräuschvoll aufs Sofa fallen.
„Wellness wäre mir viel lieber gewesen“, seufzte Ino und schloss die Augen.
„Hast du ihm gesagt, dass es dir nicht gefallen hat?“
Sie schob die Unterlippe vor und ließ den theatralischsten Klagelaut aus ihrer Kehle kriechen, den sie je von sich gegeben hatte. „Nein. Er sah so zufrieden aus… zwischen all den Ästen und dem dummen Bach, in dem ich mir übrigens meine schönen Stiefel ruiniert habe. Und die Nägel… mir sind vier Nägel abgebrochen!“
Ich tätschelte grinsend ihren Kopf und sie schlug empört meine Hand weg, aber schon eine Sekunde später hatte sie ihr typisches Ino-Lächeln im Gesicht. „Der einzige Vorteil war dieses enge Beieinandersein im Zelt. Haut an Haut. Viele Küsse und Zärtlichkeiten, hach, das war schön. Aber wir hätten auch in einem Hotelzimmer ein Zelt aufschlagen können. Ich bin so erschöpft, ich brauche eine Woche Urlaub von diesem Wochenende!“
Ich kicherte und nippte an meinem Weinglas.
„Wie war dein Wochenende?!“
Ich schmunzelte und stellte das Glas beiseite: „Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, dass ich mit meinem Artikel voran gekommen bin.“
„Und Date-technisch?“, fragte sie und überkreuzte ihre langen Beine. Ich weiß bis heute nicht, wieso sie als Floristin arbeitet, als Model würde sie sicher bei jeder Gelegenheit gebucht werden. Gut, ihr Handwerk als Floristin hat sie drauf. Immerhin gab es in unserer beschaulichen Wohnung immer frische Blumenarrangements.
„Frag lieber nicht“, gab ich ihr als Antwort. Die Hoffnung, dass sie mich in Ruhe ließ, verpuffte bereits an ihrem genervten, aber dennoch amüsierten Blick, den sie mir schenkte.
„Nichts kriegst du alleine hin, Schätzchen.“
„Ino, dass mit dem Online-Ding ist einfach nix für mich. Vielleicht versuche ich es doch lieber mal in einem Club?“
Sie prustete los und klatschte dabei in die Hände, während ich mit den Augen rollte. Gut, ich war nicht unbedingt als Partymaus in meinem Freundeskreis bekannt. Ehrlich gesagt mochte ich es lieber mit einem guten Buch und einem Gläschen Wein auf dem Sofa zu sitzen oder eine Tasse Kaffee im Stadtpark zu trinken. Ich seufzte und winkte ab.
„Schätzchen, werden wir mal ernst. Was ist denn so schlimm daran?“, fragte sie und schnappte sich mein Glas. Genüsslich trank sie einen Schluck und leckte sich die Lippen. „Gott, hab ich das vermisst. Nur Wasser gab es. Das war kein Liebeswochenende, eher ein Survival- Boot-Camp aka Prinzessin-Ino-muss-leiden“, sie rollte mit den Augen, „immerhin hat Sai gute Bilder zeichnen können. Unter Anderem auch eines von mir. Aber zurück zu dir. Was ist so schlimm?“
Ich schnaubte. Nichts war schlimm daran. „Gut. Wenn ich ehrlich bin… wir regeln ja ohnehin mittlerweile alles via Internet. Vom Einkaufen über Geburtstagsgrüße und Filme ansehen, bis hin zum Nachrichtenlesen. Man ist ja ständig online und nutzt irgendwelche Dienste.“
Ino nickte: „Wieso also nicht auch bei der Partnersuche?! Wen hast du denn so online kennen gelernt?“
„Eigentlich nur diesen S. Und Naruto. Der Kumpel von S. Und ja, ich hatte wirklich Spaß und ich möchte gern mehr über ihn erfahren.“
Inos Augen leuchteten wie Feuerwerkskörper an Silvester. Ich sagte ihr, ich hätte noch keine Verabredung oder seine Telefonnummer und ich wüsste immer noch nicht, wie er aussähe. Und ich erzählte ihr vom morgendlichen Besuch meiner Mutter, was sie mit lautem Lachen quittierte.
„Und wann hast du dein erstes Blind Date?“, entfloh ihr neugierig und sie leerte mein Glas in einem Zug.
„Mom hat vorhin angerufen. Nächsten Samstag. Zu einem Abendessen.“
Nach weiteren zwei Stunden Geplapper gingen wir beide zu Bett.
Ich erinnere mich daran, dass ich fast nochmal meinen Laptop hochgefahren hätte, um zu checken, ob S noch online war. Allerdings verwarf ich den Gedanken schnell wieder. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, obschon ich wirklich sehr interessiert war, ihn kennen zu lernen. Warum auch immer, denn eine wirklich offene Konversation war es bisher nicht.
Der Montag verging schneller als erwartet. Ich holte mir wie jeden Morgen meinen Caffé Verona aus dem Starbucks um die Ecke. Dieser Kaffee war einfach köstlich. Vollmundig, samtig weich und mit einer leichten Süße, die mich morgens schon viel munterer stimmte. Ich erwischte mich sogar dabei, zu überlegen welchen Kaffee wohl Mr. S bestellen würde und kam zu dem Entschluss, dass es ganz sicher der Espresso Roast sein würde.
Der Barista empfahl dem Kunden vor mir das Getränk. Es sei eine schmackhafte Mischung aus Bohnen, die auf Hochebenen angebaut wurden. Dieser Espresso sei erstklassig aufgrund der langen Röstung, bei der eine dunkle, karamellige Süße entstand, durch die der Zenit des Geschmacks erreicht wurde. Andererseits war ein stinknormaler Espresso wohl eher seine Wahl.
Der Tag verlief ohne große Schwierigkeiten und abends saß ich erneut vor meinem Laptop. Erstaunlicherweise war S online, was ich mit einem Grinsen quittierte.
Ohne überhaupt ein Hallo loszuwerden, klickte ich auf den Sprachanruf. Immerhin hatte ich es ja bereits angekündigt. Ehrlich gesagt erwartete ich überhaupt nicht, dass er den Anruf entgegen nahm und ich gestehe, dass ich ein leichtes Flattern in der Magengegend verspürte. S war interessant. Das bestritt ich nie und ich war überrascht, als er tatsächlich den Anruf akzeptierte.
Ich schwieg zuerst, spürte das aufgeregte Pochen in der Magengegend.
„Jo, Teme! Du hast einen Anruf!“, kam es plötzlich. Ich zuckte unter der lauten Stimme zusammen, ehe ich ein lautes Poltern, dann ein Zischen und zum Ende hin ein leises Au und Hey, muss das sein vernahm.
„Naruto?“, brachte ich hervor und als Antwort hörte ich ein lautes Lachen.
„Hey, Sakura!“, rief er froh.
„Hi“, entgegnete ich.
„Teme, jetzt sag schon hallo!“
Ich lachte auf, als auf Narutos Aufforderung hin nur ein „Hn“ zu hören war.
„Also, ich war gerade eigentlich am Gehen“, erklärte er mir, „aber dann hab ich gehört, dass du hier anrufst und weil Teme einfach nichts ohne mich auf die Reihe kriegt, hab ich den Anruf noch schnell entgegen genommen! Aber ich muss jetzt echt los. Hinata wartet auf meinen Anruf!“
Wieder war nur lautes Poltern zu hören. Naruto war wohl kurz gestolpert, lachte laut und bedankte sich wohl für das Feierabendbier und versprach S anzurufen, sobald er daheim war. Dann hörte ich die Türe und ein Zähneknirschen, ehe ein Stuhl zurückgeschoben wurde und sich S darauf setzte.
„Hi“, sagte ich erneut.
Mein Herz pochte wild in meiner Brust und ich wollte endlich die Stimme hören, allerdings erhielt ich als Antwort nur ein „Hn“.
„Es ist bei deiner wortkargen Art eigentlich kein Wunder, dass du noch Single bist. Wenn du so weitermachst, wirst du unverheiratet, fett und vereinsamt sterben“, witzelte ich.
Ich erwartete keine Antwort und umso überraschter war ich, als seine tiefe Stimme in meinen Ohren klang: „Fett?!“
„Ja, weil du irgendwann beginnst, das klaffende Loch der Einsamkeit in dir mit Essen zu zustopfen. Wahlweise auch mit Bier.“
„Erfahrungen?“, entgegnete er monoton und ich hörte das Öffnen einer Flasche.
Ich gluckste, verneinte und spürte die kribbelnde Gänsehaut auf meinen Armen. Das war die melodischste, zeitgleich distanzierteste Stimme, die ich je gehört hatte.
„Na, immerhin habe ich am Wochenende ein Date. Kannst du das auch von dir behaupten?“ Ich versuchte fröhlich zu klingen, allerdings gelang es mir höchstwahrscheinlich nicht im Geringsten, denn auf dieses Date hatte ich keine Lust. Er stieß die Luft aus seinen Lungen und ich wusste, ich würde hierauf keine Antwort erhalten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin der Meinung war, dass er sicherlich nicht fett und hässlich aussehen würde. Wahrscheinlich konnte er sich auch ohne Online-Plattform ein Date angeln. Vielleicht lag es aber auch wirklich an der Oberflächlichkeit… oder er war reich und alle waren nur hinter seinem Geld her. Es war aber auch möglich, dass er einfach keinen Bock auf eine Beziehung hatte. Es steckte eventuell sogar ein Workaholic in ihm und die Arbeit war einfach wichtiger. Das konnte Frau schon frustrieren, wenn Mann keine Zeit für sie und ihre Bedürfnisse hatte (mal davon abgesehen, dass die männliche Schöpfung auch ihre Bedürfnisse besaß).
Ich versuchte also anders ein Gespräch aufleben zu lassen.
„Willst du mir etwas von dir erzählen? So zum Einstieg?“
Eigentlich war mir bereits im Vorfeld bewusst, dass das ein eher kläglicher Versuch zum Aufbau einer guten Konversation war. Aber hey, wer aufgibt, verliert.
„Nein, eigentlich nicht“, antwortete er trocken.
Ich schob die Unterlippe beleidigt vor, auch wenn er das gar nicht sehen konnte. „Du bist wirklich ein mürrisches Exemplar von Mann.“
Es herrschte kurzes Schweigen, dann ein Aufstöhnen, ehe seine Stimme erneut zu hören war: „Du bist also auf Smalltalk aus? Ok. Was willst du wissen?“
„Wie alt bist du?“
„27.“
„Was isst du am liebsten?“
„Wozu ist das wichtig?“, fragte er.
„Das war jetzt die nächstbeste Frage, die mir in den Kopf geschossen ist… antworte einfach.“
„Ich favorisiere nichts. Aber ich mag Tomaten.“
Ich lächelte und befeuchtete die Lippen, ehe ich ihn darum bat, mir von Naruto zu erzählen. Daraufhin erhielt ich eine kurze Antwort, dass sie sich aus der Schule kannten und er Naruto einfach nicht mehr los wurde. Ich horchte ihn nach Lieblingsfarbe und Lieblingstieren aus, wollte wissen, ob er viele Geschwister hatte oder nur einen Bruder. Er gab mir zu jeder Frage eine Antwort und ich wünschte mir, er würde mehr von sich erzählen, damit ich seiner Stimme weiter lauschen konnte.
„Wann ist dein Blind Date?“, erkundigte er sich. Sein Interesse war sogar echt. Jedenfalls kam es so rüber.
„Meine Mutter hat es für Samstagabend geplant. Wir gehen in ein schickes Restaurant und ich hoffe, dass es nicht das größte Desaster auf Erden wird. Am Ende ist er doppelt so alt wie ich.“
„Vielleicht versetzt er dich ja auch“, kam es von S und ich stieß einen empörten Laut hervor.
Es war nur kurz, höchstens eine Millisekunde (oder zwei), in dem ein Lachen aus meinen Lautsprechern kam. Das Flattern in meinem Bauch wurde heftiger und die Gänsehaut war überall. Es war schön. Dieser Mann hatte nicht nur eine schöne Stimme, sondern auch ein schönes Lachen. Wenn man das überhaupt als Lachen bezeichnen konnte, immerhin verpuffte es so schnell, wie es auch gekommen war.
„Ehrlich gesagt hoffe ich sogar, dass er mich versetzt.“
„Wenn du so weitermachst, wirst du unverheiratet, fett und vereinsamt sterben.“
Ich lachte laut auf und wollte gerade etwas erwidern, als urplötzlich der Strom verschwand. Inos erschrockenes Kreischen war aus der Küche zu vernehmen.
„Scheiß Bude!“, schrie sie und stapfte laut meckernd an den Sicherungskasten. „Sakura? Bist du wach? Der Strom ist weg!“
„Hab ich ja noch gar nicht gemerkt“, hauchte ich enttäuscht. Dabei war S gerade aufgetaut.
Dennoch stand ich lächelnd auf und schlich vorsichtig aus meinem Zimmer, um Inos Wut zu bändigen. Vielleicht, aber nur vielleicht, konnte ich sie mit meiner entstandenen guten Laune ja anstecken.