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Reise in den Osten

von

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Unerwarteter Gast

Mein Handy klingelte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich eines bei mir trug. Robin, die sich nach dem seltsamen Vorfall gestern allmählich beruhigte, wurde von dem piependen Ton aus ihrer Starre geholt.

„Was ist das für ein Geräusch?“

Ich schaute auf das Display, welches mir den Absender zeigte. „Damit kann ich über weite Entfernungen mit anderen kommunizieren.“

„Du Vollpfosten! Sag doch, das war dein Telefon oder glaubst du, ich weiß nicht, was das ist!? Hat dich jemand angerufen? Zeig mal her! Wie funktioniert das überhaupt?“

Schnell verschwand ich aus Robins Reichweite, bevor sie nach dem Handy griff. „Privat“, rief ich ihr als Abschied, den Raum verlassend und nach draußen schnellend. Trotz ihrer Geschwindigkeit konnte es die Jägerin mit mir zum Glück nicht aufnehmen, denn ich wollte niemanden in die Angelegenheit hineinziehen. Als mich niemand beobachtete, las ich endlich die Nachricht:
 

„Wo warst du gestern Abend? ♦;︵;♥“
 

Und jetzt war mir alles klar. Die erschreckende Aura, die aus dem Wald strömte, Robins erschrockenes Gesicht und vor allem mein ungutes Gefühl.

Die angsteinflößende Atmosphäre verriet mir nicht nur, dass Hisoka sich hier aufhalten musste, sondern dass sein Gemütszustand sehr niedergeschlagen sein musste. Dennoch suchte ich nach ihm, indem ich mich von dem Gefühl leiten ließ, sonst würde er niemals verschwinden.

Hisoka rekelte sich lasziv an einem Baum, was mir nur ein Naserümpfen entlockte, als ich ihn endlich fand. Fertig mit seinem Schauspiel, nahm er eine normale Haltung ein, um mit mir zu reden. „Ich hab seit gestern auf dich gewartet“, schmollte er gespielt.

Ich gab keine Antwort.

Mit geschmeidigen Schritten näherte er sich mir wie ein Raubtier seiner Beute, ein breites Grinsen im Gesicht. „Wie geht es voran? Hast du deine Kräfte zurück?“ Er leckte sich genüsslich die Lippen bei dem Gedanken.

Ich schüttelte nüchtern den Kopf.

Seine Mundwinkel zogen sich minimal nach unten. „Wenn du dich nicht beeilst, muss ich mir ein anderes Spielzeug suchen.“ Er legte nachdenkend die Finger an sein Kinn, den Blick schräg nach oben gen Himmel gerichtet. „Die Spinnen sind doch ein interessantes Trüppchen.“

Kaum merklich biss ich die Zähne zusammen, um meine Wut zu zügeln. Als wäre ich völlig gelassen, antwortete ich freundlich: „Du musst dir darum keine Gedanken machen. Der Alte ist kein Exnenist, wie ich dachte, aber seine Tochter könnte interessant für mich werden.“

„Könnte?“, hakte Hisoka nach. Da hatte ich wohl zu viel gesagt. Dass sie noch kein Nen bewusst einsetzte, wollte ich ihm eigentlich nicht verraten. Bevor ich zum Reden ansetzte, wurde ich allerdings unterbrochen: „Warte, du meinst sicher das hübsche Ding, das ich gestern getroffen hatte? Ganz schön schlagfertig, die Kleine. Hat mich etwas an Machi erinnert.“ Schwärmend seufzte er. „Aber sie ist noch eine ganz andere Liga.“

„Du lässt die Finger von ihr. Ich brauche sie noch.“

„Ohh!“ Er zog den Ausruf besonders lang, mit einer dunklen, leisen Stimme, als dachte er an etwas Perverses. Seine Augenbrauen schnellten kaum merklich hoch. „Wie lange muss ich warten, bis ich endlich dran bin?“

Ich zuckte ratlos die Achseln und antwortete nonchalant: „Vielleicht ein halbes Jahr. Kann auch früher sein, wenn sie talentiert ist.“

Hisokas Kinnlade fiel nach unten. Mit dem Handrücken drückte er ihn wieder nach oben. „So lange?“

„Nach jemand anderen zu suchen, würde noch länger dauern, da ich sonst keine Anhaltspunkte besitze. Aber die Chancen, dass sie die richtige Kraft entwickelt und schnell lernt, stehen sehr gut.“

„Mit wem soll ich in der Zeit spielen?“; schmollte er. „Mit deinen Spinnchen vielleicht? Das bist du mir schließlich schuldig.“

„Hisoka, ich warne dich“, sagte ich ernst. „Tu etwas Unüberlegtes und ich werde dich ohne zu zögern töten. Selbst ohne Nen.“

Er kicherte furchteinflößend. Als seine Hand nach meiner Schulter greifen wollte, wich ich knapp aus. „So lockt man dich also aus der Reserve. Ich freue mich bereits auf unseren Kampf.“

Ich hoffte inständig, dass ich mit meiner Vermutung falsch lag, doch eigentlich war es offensichtlich, was er vorhatte.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht entfernte sich Hisoka. Ich hütete mich, ihm zu folgen und blieb stattdessen stillschweigend stehen, die Hände zu Fäusten geballt. Während Hisokas Schritte leiser wurden, wurden andere lauter. Weiche Schritte von einem zarten Wesen. Ich drehte mich um.

„Muss man zum Telefonieren so weit abhauen?“, schnaubte Robin, die ihre dichten braunen Haare zu einem Pferdeschwanz band.

Ich schenkte ihr ein unschuldiges Lächeln. „Ich möchte doch nicht, dass du von meiner heimlichen Affäre hörst.“

Ihr Zischen wurde vom Rascheln der Blätter übertönt, als der Wind zu wehen begann. Trotz der Wärme ließ er einen erschaudern, doch sobald wieder Stille herrschte, griff Robin nach meinem Handgelenk, um mit mir zurückzukehren.

Eine Weile folgte ich ihr stumm, bis ich schließlich aus heiterem Himmel heraus fragte: „Sag mal, was hältst du eigentlich von Nen?“

Sie zuckte die Schultern. „Wie meinst du das?“

„Würdest du es nicht erlernen wollen? Ich weiß, du bist bereits stark genug, aber selbst die besten Jagdkünste sind nichts im Vergleich zu anständigen Nen-Fähigkeiten.“

„Also ehrlich gesagt“, sie ließ mich unbewusst los, „habe ich keine Ahnung, wie das alles mit der Aura funktionieren soll und es interessiert mich auch nicht.“

„Ich kann es dir erklären“, schlug ich vor. „Es würde dir einige Vorteile verschaffen.“

Robin seufzte. „Erklär mir mal diese Vorteile und vielleicht überleg ich es mir.“
 

Sie hatte nicht sehr überzeugt ausgesehen, während ich ihr die Vorteile von Nen erklärt hatte. Dass es sie interessierte, gestand sie erst eine ganze Weile später und vor allem indirekt. Es ihr beizubringen klang viel mehr nach einer Aufforderung als nach einer Bitte, aber ich war natürlich ein gütiger Lehrer und beschwerte mich nicht über ihren Ton und erklärte ihr die Grundtechniken, die sie brav lernte. Ich wusste, dass es lange dauern würde, doch das nahm ich in Kauf. Ihr die Tage beim Meditieren zuzusehen, war wesentlich angenehmer, als irgendwo auf der Welt nach einem Exnenisten zu suchen, ohne sich mit eigenem Nen verteidigen zu können.

In ein Buch vertieft, hatte ich es mir auf einem Stuhl im Wohnraum gemütlich gemacht, wo Robin sich bemühte, ihre Aura unter Kontrolle zu bringen. Chasio Angelius, der den Nachmittag bei alten Freunden in einer Teerunde verbrachte, bekam von den Übungen nichts mit.

Robin ließ sich bäuchlings auf meinen Schoß fallen, weshalb mir vor Schreck das Buch zu Boden fiel. „Nen ist scheiße.“

„Alles, was du gemacht hast, ist Meditieren, also beschwer dich nicht.“

Sie rollte nur ihre Augen, den Kopf anschließend in meinem Hemd vergrabend. Ich wusste nicht ganz, ob sie auf etwas Bestimmtes hinauswollte.

„Jetzt üb weiter, bis du es schaffst, deine Aura zu kontrollieren.“

Mit ausgestrecktem Arm suchte ich nach dem Buch, das auf dem Teppich lag.

„Hast du das auch alles lernen müssen?“, nuschelte sie.

Ich nickte stumm, während ich nach der Seite suchte, auf der ich zuvor stehen geblieben war. Mit gehobenem Kopf schielte sie auf die Buchstaben, stand anschließend auf und streckte sich ausgiebig wie nach einem langen Nickerchen.

„Selten auf einem so ungemütlichen Schoß gelegen“, gähnte sie.

Als ich darauf nicht reagierte, da ich zu sehr in mein Buch vertieft war, stieß sie gegen mein Schienbein.

„Zu viel lesen ist ungesund.“

Ich sah vorsichtig auf. „Abgesehen von dem Fluch finde ich mich ziemlich gesund.“

Robin legte den Kopf schief, während sie mich prüfend musterte. „Da fällt mir ein, wenn du so in Bücher vernarrt bist, wir haben auch eine Bibliothek. Ich hafte aber nicht für deine Gesundheit.“

Sofort legte ich den Schund zur Seite. „Das hättest du ruhig früher sagen können. Vielleicht gibt es dort hilfreiche Lektüre, die du heranziehen kannst.“

Sie zeigte mir den Vogel, während sie als Antwort spöttisch prustete. Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas passte ihr an mir nicht.
 

Wir liefen etwa fünf Minuten durch das gesamte Dorf. Ganze fünf Minuten, und den Wald hatte man nicht aus dem Auge verlieren können. Selten hatte ich solch einen kleinen Ort wie Venari kennengelernt.

Ein langes Gebäude mit flachem Dach, ebenfalls einfach gebaut wie die Hütten und mit wenigen Verzierungen, stand nahe am Dorfrand. Die Tür stand offen und es gab keine Rezeption, weshalb jeder ein- und ausgehen sowie lesen durfte, wie er wollte.

Als wir die Bibliothek betraten, kamen uns gleich die vollgestopften Regale entgegen. Staub lag auf den Einbänden, was vermuten ließ, dass die meisten Einwohner des Dorfes andere Prioritäten setzten als Gelehrte. Sie war leer, nachdem ein junger Mann den großen Raum verließ.

„Hier kann jeder ausleihen, was er will“, erklärte Robin salopp. „Kann man nicht wirklich Bibliothek nennen, aber wenn man mal was lesen will, findet man schon was. Hat sich bis jetzt zumindest niemand beschwert.“

Ich nickte knapp, während meine Finger über die Einbände der Bücher streiften. "Wundert mich, dass noch niemand das Gebäude abgerissen hat. Bei euch scheint es ja keine Leseratten zu geben.“

„Na ja, dafür ist es auch zu schade. Aber die meisten arbeiten nun mal lieber, anstatt zu lesen.“

Sorgfältig las ich mir die einzelnen Titel durch, um etwas Interessantes zu finden. „Wie wär’s mit ‘nem Vorschlag? Ich bleib solange hier, bis du es geschafft hast, deine Auraporen zu öffnen. Dann kommst du wieder hier her und kannst anfangen, Ten zu lernen.“

Robin rümpfte die Nase. „Kannst dir gleich einen Schlafplatz in der Staubbude einrichten.“

„Gern“, lächelte ich abwesend und zog ein Buch aus dem Regal, was meine volle Aufmerksamkeit erlangte.

Robin warf mir ein dickes Lexikon gegen den Hinterkopf, während sie die Bibliothek verließ. So mancher hätte nach solch einer Aktion in seiner eigenen Blutlache geschwommen.
 

Ihre Antwort heute Nachmittag war eigentlich eindeutig, dennoch verschanzte ich mich im Raum und saß, in eines der unzähligen Sachbücher vertieft, auf dem blanken Boden. Ich fand zwar nichts Neues über Nen oder Exorzismus, aber einiges Interessantes über die Geschichte des Dorfes, die ich vielleicht zu meinem Vorteil nutzen konnte, sollte ich eines Tages wiederkehren. Die Möglichkeit bestand tatsächlich, aber im Moment hatte ich andere Sorgen.

Mittlerweile zischte ein kühler Wind durch den Raum. Ich kniete mich hin, als es mir zu kalt auf dem Boden wurde und legte die Lektüre auf meinen Schoß. Gähnend streckte ich die Arme von mir. Selbst im Kerzenschein konnte ich schwer noch etwas sehen, so dunkel war es draußen. Ich rieb mir die von der Müdigkeit schmerzenden Augen, als plötzlich die Tür quietschte.

Noch durchgelaugter als ich und mit ausströmender Lebensenergie stand Robin hinter einem der Regale und wartete darauf, dass ich aufstand, um zu ihr zu gehen.

„Hab meine Aura endlich unter Kontrolle. Was sagst du jetzt, du Leseratte?“ Ihre Stimme klang müde und schwach, die Augenlider fielen immer wieder nach unten und zuckten auf, als sie ihre eigene Müdigkeit bemerkte.

„Dann lernst du als nächstes Ten.“

Sie warf mir einen fragenden Blick zu, gefolgt von einem lauten Gähnen hinter vorgehaltener Hand.

Ich legte die Bücher alle zur Seite und bahnte mir einen Weg zu ihr. „Das bedeutet, dass du die Aura an deinen Körper binden musst, damit sie nicht ausströmt.“

„Und was ist, wenn ich das nicht schaffe?“

„Dann verlierst du deine gesamte Lebensenergie und stirbst vielleicht.“

Sofort war sie hellwach und stand stramm, obwohl sie kurz zuvor fast vor Müdigkeit umgekippt wäre. Ich unterdrückte ein Schmunzeln.

„Keine Sorge, das passiert nicht. Konzentriere dich und versuch eine Hülle um deinen Körper zu bilden. Nimm eine entspannte Haltung ein, schließ am besten die Augen und stell dir vor, dass deine Aura wie auch dein Blut durch deinen gesamten Körper fließt und dich sanft ummantelt.“

Während sie ihr Ten aktivierte, erlosch die Kerze, die ich mir zum Lesen angezündet hatte. Ich erkannte nur noch Robins Silhouette und spürte einen warmen Strom an Energie, von ihr ausgehend.

Sie öffnete erstaunt die Augen. „Warm“, murmelte sie.

„Versuch in diesem Zustand zu bleiben.“

Gähnend nickte die junge Frau, bevor sie gefährlich taumelte. Ich fing sie in letzter Sekunde auf und trug sie aus der Bibliothek. Ihre Aura erlosch von allein, während sie sich müde an mich klammerte.

„Nutzt du auch grad Ten?“, nuschelte sie.

Ich wünschte, sie hatte recht.

„Ich fürchte, das ist meine normale Körpertemperatur“, lachte ich leise.

„Wie lahm.“



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