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REM-SLEEP Disorder

So lange bis er aufhört zu existieren
von

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Some may call it a Curse

„Sibyl?“
 

Stille. Er hasste dieses Geräusch. Dieses Gefühl, wenn es sich durch seine Gehörgänge fraß. Es verzerrte jeglichen noch menschlichen Gedanken in seinem Kopf. Marco presste sich die Handballen gegen seine Schläfen, doch der Druck hinter seiner Stirn wollte nicht weichen. Kraftlos ließ er seine Hände fallen. Ziellos wanderte sein Blick durch den Raum, der in Trümmern lag. Marco versuchte sich daran zu erinnern was passiert war.
 

Hanji hatte ihm am Nachmittag aus der Krankenstation entlassen und nach Hause geschickt. Ob er darüber froh sein sollte, wusste Marco immer noch nicht.

„Sag den anderen nicht, dass ich nach Hause gehe. Und lösche die Einträge aus dem System“, hatte Marco die Forensikerin gebeten, welche sich vor Jahren die Bürde auferlegt hatte sich um sein Wohlbefinden zu kümmern.

„Warum?“, war ihre verdutzte Frage gewesen, als sie mit fragendem Blick über den Rand ihrer Brille vom Drehstuhl aus zu ihm aufgeblickt hatte. Marco hatte ihr mit einem Schulterzucken geantwortet. Über diese Bitte war er sich selbst nicht mehr sicher.

„Jean würde sich nur Sorgen machen“, hatte er noch gesagt bevor er gegangen war. Doch der Weg nach Hause war wie der Gang zum Schafott gewesen. Marco war froh darüber, dass die Leute auf den Straßen ihn nicht erkannten solange er nicht den königsblauen Mantel trug, der ihn als Senior Inspector kennzeichnete. Niemand kümmerte sich um ihn. Hin und wieder warfen die Leute ihm einen flüchtigen Blick zu, doch sie glitten an ihm ab. Sie alle hatten Angst vor seinem Gesicht, so wie er vor sich selbst.
 

Als er in seiner Einzimmerwohnung eintraf, die nur mit den wichtigsten Möbeln ausgestattet war, war sie noch in Takt gewesen. Er mochte die saubere, fast sterile Umgebung. Im Gegensatz zu den meisten Bewohnern der Stadt, die es sich leisten konnten, verzichtete er auf einen Holo, das für die Hauswirtschaft zuständig war. Marco wollte nicht, dass er auf Befehl das Aussehen seiner Einrichtung verändern konnte. Es würde ihn nur neidisch machen, dass seine eigenen Gedanken nicht auf die gleiche Weise beeinflussbar waren.

Hanji hatte ihn gebeten wenigstens diese Nacht etwas Schlaf zu finden. Es war ihr stummes Geheimnis, dass er während seines Aufenthaltes auf der Krankenstation nicht eine Sekunde die Augen geschlossen hatte. Hanji hatte es ihm verziehen, denn sie kannte diesen Zustand. Vorsichtig mochte Marco behaupten, dass es vor Jahren schlimmer gewesen war. Doch er hatte ihr versichert seine Tabletten zu nehmen, bevor er unter die Bettdecke kroch.
 

Zumindest hatte er es versucht.
 

Vom Badezimmer aus wehte der saure, beißende Geruch seines eigenen Erbrochenen zu ihm. Auf seinen Lippen klebte noch immer der Geschmack von Galle und Blut. Die leeren Wasserflaschen, die vor ihm im Raum verteilt lagen, zeugten von dem verzweifelten Versuch sich an sein Versprechen zu halten.
 

Direkt nachdem er die Tablette genommen hatte, war der Würgereiz sintflutartig über ihn herein gebrochen. Marco hatte es gerade noch bis zum Badezimmer geschafft, um seinen gesamten Mageninhalt in der Toilette zu entleeren. Noch immer konnte er auf seiner Haut das Vibrieren der Panik spüren, das ihn in diesem Augenblick überfallen hatte. Er hatte es mit einer zweiten Tablette versucht. Dann mit seinem Beruhigungsmittel. Danach mit seinem Antidepressivum und einer weiteren Schlaftablette. Mittlerweile waren die Döschen und Filmstreifen leer. Nichts davon hatte er bei sich behalten können. Sein Körper war mittlerweile an jeden marktführenden Wirkstoff gewöhnt, er stieß ihn einfach wieder ab.
 

Marco ließ die Zunge in seinem Mund rollen, doch der säuerliche Geschmack wollte nicht weichen. Er schürzte die Lippen, während seine Brust in einer Kakofonie aus Wut und Verdammnis zu zerreißen begann. Bittere Tränen stiegen in seinen Augen auf. Die Sicht verklärte sich schlagartig und für einen Moment war er froh darüber, dass sein Sichtfeld verschwamm und er somit die zerstörte Wohnung nicht länger ansehen musste. Schluchzend krümmte er sich zusammen, während er die Stirn gegen seine Knie presste und sein Gesicht mit den Händen von der Außenwelt abschirmte.
 

„Sibyl?“
 

Was hatte er nur falsch gemacht? An welchem Punkt war alles schief gelaufen? Wo hatte er die Kontrolle verloren? Warum saß er nun hier und konnte die Verzweiflung nicht mehr kontrollieren, wie es ihm die Psychologen beigebracht hatten?
 

Du bist ein Teufelskind!
 

Fetzen von längst vergangenen Gesprächen dröhnten in seinen Ohren, wie die Gitarren eines Rockkonzertes. Die Verstärker waren auf Maximum gestellt. Irgendwo in der Ferne hallte ein Faustschlag durch die Luft. Marco konnte den Schlag gegen seinen Kiefer spüren. Wie er brach, wie Zähne splitterten, als sich Erinnerungen aus dem Käfig befreiten, den er errichtet hatte. Das Klingeln in seinem Kopf. Der reißende Druck in seinen Trommelfellen und die Lichtblitze, die hinter seiner Stirn explodierten.
 

„Ich war es nicht…“ Seine flüsternde Stimme versuchte vergebens die Stimmen der Vergangenheit zu überlagern. Selbst die schattenhaften Schläge, die längst verjährt sein mussten, waren ungeahnt präsent. Er durfte nicht daran denken. Schon vor unzähligen Jahren hatte man es ihm verboten. Sein ganzes Leben bestand nur aus Dingen, die er nicht machen durfte. Und jetzt schrie alles durcheinander.
 

Marco, wir haben dich sehr lieb.
 

„Ich war es nicht.“
 

Leg die Hände auf deinen Kopf. Papa wird nur eben den Gürtel holen. Du wartest hier, ja?
 

„Ich war es nicht.“
 

Es wäre besser, du wärst nie geboren worden! Wir hätten in Frieden leben können! Aber nein! Nein! Sibyl muss uns den Teufel schicken!
 

„Ich war es nicht.“
 

Marco, sei ein guter Junge und hol Mama den Hammer. Dann setzt du dich auf deinen Stuhl. Es wird nur kurz wehtun. Okay, mein Spatz?
 

„Ich war es nicht.“
 

Leg das Feuerzeug weg, Marco! Marco!
 

„Ich bin es nicht gewesen!“, kreischte Marco bis seine Stimme abbrach. Er schnappte nach Luft. Die Finger, die er aus seinen Haaren löste, rissen ein paar schwarze Strähnen mit sich. Schwerfällig rang er nach Atem, doch die glühenden Kohlen die er einatmete, verbrannten ihm die Lunge. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase, während er mit schweißnassen Händen über das Gesicht fuhr.
 

Er war ein braver Junge. Er machte das, was man ihm sagte. Noch nie hatte er einen Befehl missachtet. Noch nie hatte er sich gegen eine Aufgabe gesträubt. Doch Marco musste sich eingestehen, dass er gegen die Bürden dieser Welt nicht gewachsen war. Mittlerweile war es egal welchen Weg er einschlug um das Richtige zu machen, letzten Endes scheiterte er daran. Hörbar zog Marco die Nase noch, wischte sie kraftlos an seinem Handgelenk ab. Er musste sich zusammenreißen. Doch sein glühender Kopf ließ es ihm schwerfallen einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
 

Erinnerungen vermischten sich mit Tatsachen.
 

Tatsachen wiederum mit Gegebenheiten.
 

Gegebenheiten mit Vermutungen.
 

Und Vermutungen mit den tiefsten Abgründen seiner Selbst, die er nicht mehr beherrschen konnte.
 


 

Der Dominator in seiner Hand fühlte sich kalt und rau an. Marco verstand bis heute nicht die Sondergenehmigung, die er damals vor zwei Jahren von Zackly erhalten hatte, dass er seinen Dominator bei sich tragen dürfte. Meistens machte Marco keinen Gebrauch davon. Er hielt sich wie alle anderen auch an die Regelung, dass jeder seine Dienstwaffe im Carrier ließ. Nur manchmal, wenn er nicht allein in seiner Wohnung sein wollte, nahm er die Waffe mit. Nicht aus Angst, dass jemand bei ihm einbrechen könnte, sondern weil er die Anwesenheit von Sibyls Stimme genoss. Er mochte die Gespräche mit dem System. Auch wenn es nur eine elektronische Stimme war, die ihm antwortete, hatte er zumindest das Gefühl mit jemandem reden zu können, der ihn nicht für seine Äußerungen verurteilte.
 

„Ich möchte dir eine Frage stellen, Sibyl.“
 

Bitte, Sir“, antwortete Sibyl endlich mit elektronischer Höflichkeit. Er musste sich mehrfach räuspern um den rauen Klang seiner Stimme loszuwerden.
 

„Bin ich ein Monster?“
 

Sir, Sie haben mir diese Frage schon oft gestellt“, erinnerte Sibyl ihn mit warmherziger, dennoch gefühlskalter Stimme. „Ich kann Ihren Psycho-Pass nicht als latent einstufen.
 

Marco hob seinen Blick und starrte auf den Schriftzug, der mit schwarzer Farbe an der gegenüberliegenden Wand geschmiert stand.
 

„Warum verdunkelt er sich nicht“, las er leise vor.
 

Die Erkenntnis darüber traf ihn plötzlich, wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung. Marco rappelte sich an der Wand hoch, als hätte er endlich Halt an der rettenden Klippe gefasst. Auf einmal wusste er warum. Die Antwort dazu war die ganze Zeit vor seinen Augen, doch seine Angst sie zu erkennen war größer gewesen. Wankend taumelte er durch den Raum. Ergriffen von dem Adrenalin der Wahrheit, das sich durch seine Adern pumpte. Er lachte dünn, als er zu dem Farbeimer griff und den Pinsel eintauchte. Während er die ausgefransten, verbogenen Borsten an der Wand ansetzte, fiel eine Last der Jahrhunderte ab. Freiheit durchströmte ihn, als er den Pinsel bewegte. Das Lachen, das dabei aus seiner Kehle drang, erfüllte die Luft wie das Donnern eines schweren Gewitters.
 

Warum war er nicht früher darauf gekommen? Es hätte alles so leicht sein können, doch der erste Schritt in die richtige Richtung war bekanntlich immer schwer. Sie würden den Mörder nicht finden, bevor er sich nicht selbst gefunden hatte.
 

Erschöpft und außer Atem trat er von der Wand zurück, um sein Werk zu betrachten. Die beiden Schriften vermischten sich miteinander, sodass sie für das menschliche Auge nicht auseinander zu halten waren. Nur Marco konnte es lesen.
 

Mit großen Lettern hatte er die Frage verunstaltet und endlich stand er den Worten gegenüber, die alles beantworteten: Ich habe sie umgebracht. Alle. Und ich werde es wieder tun.
 

Der kleine Lackeimer glitt ihm aus den Fingern, doch Marco kümmerte sich nicht darum wie sich die Farbe auf seinem Fußboden verteilte. Sibyl würde sich schon darum kümmern, die Ausmaße seines gebrochenen Daseins zu beseitigen. Er hob sein Handgelenk und schaute auf die Uhr, die ihm das Wristcom anzeigte. Es war Zeit zurück zur Arbeit zu gehen.



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