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REM-SLEEP Disorder

So lange bis er aufhört zu existieren
von

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Carry that Weight

Nicht mehr als eine Woche hatte es gedauert bis die Ruhe, die über ihnen schwebte wie die eiserne Klinge einer Guillotine, von einem Orkan verschluckt worden war. Obwohl Eren seinen Bericht fertiggestellt und dieser von seinem Vorgesetzten mit vollster Zufriedenheit gelesen worden war, hatten sie das Unausweichliche nicht verhindern können. Egal, wie groß ihre Bemühungen gewesen waren, letzten Endes hatte Marco alles herausgefunden.
 

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„Wie konnte das nur passieren?“, sagte Jean, der den blauen Dunst seiner Zigarette in die salzige Luft des Hafens stieß.

„Ich weiß es nicht…“

Ihre Blicke lagen auf dem Senior Inspector, der seit unzähligen Minuten am Rande des Piers stand und geistesabwesend in den Himmel starrte, der mit seinem strahlenden Blau wie eine höhnische Fratze auf sie hinab schaute. Eren vergrub seine Hände ein wenig tiefer in die Jackentaschen.

„Erwin muss es ihm erzählt haben. Anders kann ich es mir nicht erklären“, sagte der Braunhaarige ehrlich. Aus dem Augenwinkel konnte er das Nicken des Enforcers sehen, von dem er eine andere Reaktion erwartet hätte. Nur noch wage konnte sich Eren daran erinnern, dass der Leiter der Devision 2 ihren Senior Inspector kontaktiert hatte. Was danach passiert sein mag, vermochte niemand zu sagen.
 

Marco war nur noch einmal in das Büro zurückgekommen, um seine Jacke zu holen und war danach gegangen – ohne ein Wort zu sagen. Drei Wochen lang war der Ältere nicht wieder aufgetaucht. Niemand hatte ihn erreichen können. Eine Zeit lang war es gewesen, als habe diese organisierte Welt diesen Mann vollkommen verschluckt.

Als Marco wieder aufgetaucht war, hatte er ihn auf dem ersten Blick kaum wieder erkannt. Sein Gesicht war ausgezehrt, schwarze Schatten lagen unter seinen Augen und sein ganzer Körper schien übersäht zu sein mit Pflastern und Verbänden. Eren bekam dieses Bild nicht mehr aus seinem Kopf, doch keiner der anderen hatte etwas zu dem Zustand des Senior Inspectors zu sagen, also schwieg er ebenso. Mittlerweile hatte er seine Lektion gelernt, dass er von diesen Leuten keine Antwort auf seine Fragen bekommen würde.
 

Obwohl Eren nicht rauchte, verspürte er den quälenden Durst nach einer Zigarette. Wohlmöglich lag es an dem permanenten Geruch, der ihn umgab, während Jean neben ihm stand und sich in unablässig eine Neue anzündete.

„Rauchst du nicht etwas zu viel?“, fragte Eren und sah den Enforcer dabei aus dem Augenwinkel an.

„Jeder hat seine Form von Stressbewältigung“, antwortete Jean und blies den fahlen Dunst demonstrativ aus. Er wusste nichts Besseres darauf zu entgegnen als ein knappes Seufzen. Es strengte ihn merklich an seinen Blick von Marco loszureißen, der noch immer still abseits von ihnen stand und sich nicht gerührt hatte. Doch noch größer war die Überwindung zu dem Bild des Schreckens zu schauen, der diesen Ort wie ein dunkler Mantel überragte.
 

Vor ein paar Stunden hatte sie lediglich eine Meldung ereilt, dass das Stresslevel in diesem Bereich drohte außer Kontrolle zu raten. Als sie ausgerückt waren, hatte Eren selbst nicht damit gerechnet, diesem Schreckensbild gegenüber treten zu müssen.

Auf dem Vorplatz des Piers war eine Leiche gefunden worden. Noch bevor er sich ein genaues Bild von der Situation geschaffen hatte, war Eren etwas verdächtig bekannt vorgekommen. Der tote Körper des Mannes, welchen er ungefähr auf Ende vierzig schätzte, war nur noch mit der nötigen Kleidung bedeckt. Und wie auch bei der Frau zuvor, die er bei seinem ersten Einsatz gefunden hatte, fehlte dem Mann sein rechter Arm. Direkt am Schultergelenk war er mit einer Säge unsauber abgetrennt worden, denn der Saum der klaffenden Wunde lag in Fetzen. Eren war auf dem ersten Blick klar geworden, dass dies nicht die Todesursache gewesen war.

Mit mehreren Schnitten waren dem Toten alle Punkte sämtlicher, wichtigen Arterien durchtrennt worden. Unter dem Körper hatte sich über den gesamten Vorplatz das Blut des Mannes ausgebreitet. Es war eine riesige Lache, die Eren allerdings größer vorkam, als sie tatsächlich war. Doch es gab zwei Dinge, die schlimmer waren, als er beißende, eiserne Gestand des bereits geronnenen Blutes:

Zum einen war es das Gesicht des Toten, welches brutal entstellt worden war. Dem ersten Eindruck nach ließ sich vermuten, dass eine aggressive Säure verwendet worden war. Noch immer lag der Gestank verfaulter Eier in der direkten Nähe des Leichnams in der Luft.
 

„Schwefelsäure?“, fragte Jean.
 

Eren warf noch einmal einen knappen Blick zu dem Tatort, den sie bereits für die Untersuchungsdrohnen freigegeben hatten. Die kleinen Roboter gingen mit kontrollierter Hast ihrer Arbeit nach.

„Vermutlich…“, antwortete Eren und musste schlucken. Das war bei weitem nicht das, was ihn eigentlich erschütterte. Es war die zweite Sache, die diesen Ort in ein wahres Massaker verwandelte. In der Blutlache, die den Schlieren und Streifen nach zu urteilen von einem Besen oder ähnlichem absichtlich ausgeweitet worden war, hatte man einen Schriftzug hinein gezogen, der Eren förmlich den Magen herum drehte.
 

Warum verdunkelt er sich nicht?
 

Jeans Seufzen riss ihn aus den Erinnerungen, die unweigerlich in Eren hochkochten.

„Anscheinend haben wir es hier mit einem Serienmörder zu tun… Verfluchte Scheiße!“, stieß der Enforcer aus und warf den Zigarettenstummel zu den Anderen auf den Boden, eh er ihn wütend mit dem Schuh zerdrückte.

„Vermutlich…“, wiederholte Eren noch einmal, eh er den Ellenbogen des Blondhaarigen in seinen Rippen spürte.

„Wir sollten uns um Marco kümmern“, sagte Jean und deutete mit seinem Kinn in die Richtung des Senior Inspectors. Eren nickte, bevor die Beiden in seine Richtung gingen.

Sachte legte Jean eine Hand auf Marcos Schulter, um ihn aus seiner Trance zu wecken.

„Wir sollten los. Die Drohnen sich fertig und ich hab keine Lust mehr auf diese stinkende Luft hier“, sagte der Enforcer, eh er mit Eren einen wissenden Blick austausche. Die Luft war nicht ihr Problem. Durch die seichten Wellen, die unten gegen den Pier schlugen, strömte ständig eine gewisse Frische zu ihnen. Doch Eren verstand, dass der Senior Inspector große Probleme haben musste an diesem Ort zu sein.
 

„Marco, ich möchte dich nicht stören, aber-“ Unter verhaltenem Zögern näherte sich ihnen Petra. Ihre Finger nestelten dabei unsicher an dem Saum ihres schwarzen Jacketts. Auf einmal bewegten sich die Augen des Senior Inspectors, der starr auf die künstlich angelegte Bucht hinaus geschaut hatte. Sein Blick war kalt. Eren glaubte, die Temperatur um ihn herum fiel plötzlich um einige Grade. Augenblicklich begann er zu frösteln.
 

„Aber was?“, hakte Marco nach, um ihr Stottern zu beenden. Sein Tonfall klang gestresst, beinah schon beißend. Petra war sichtlich abgeschreckt von dem Klang seiner Stimme, sodass sie einen Moment zögerte und ihre Worte neu zu Recht legte. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus, deutete zu dem verstümmelten Körper, der nun von zwei Drohnen nach Beendigung ihrer Arbeit mit einem schwarzen Tuch vorerst nur sporadisch bedeckt worden war. Marco machte kurz Anstalten in die Richtung zu schauen, verharrte dann jedoch starr mit seinem Blick auf Petra.

„Es sieht fast aus wie bei dir, Marco. Als wäre—“ Der Angesprochene sog harsch die Luft zwischen seinen Zähnen ein, als die Enforcerin erneut verstummte.

„Als wäre was?“

„Naja, es sieht aus als wäre es seine Handschrift.“

Marco würgte augenblicklich, nachdem er ihren Gedankengang verstanden hatte. Augenblicklich presste er sich eine Hand vor Mund und Nase, während er zu dem Leichnam schaute. Seine Augen weiteten sich. Unzählige Gedanken mussten durch den Kopf des Mannes rasen, denn wurde kalkweiß. Voller Besorgnis legte ihm Jean eine Hand auf den Rücken und beugte sich leicht vor, um Marco anblicken zu können, der sein Gesicht zu Boden gewandt hatte.

„Hey… Alles in Ordnung?“

Hinter dem Handschuh, den Marco sich gegen den Mund drückte, drang rasselnd sein gequälter Atem in kleinen Stößen hervor. Der Senior Inspector stützte sich auf seine Knie. Instinktiv streckte Eren seine Hände aus und fasste den Mann am Arm, um ihn zu stützen. Sofort riss sich Marco wieder los und stieß die Beiden sachte von sich.

„Das ist nicht möglich“, sagte er und starrte Petra dabei entgeistert an.

Unter sanfter, kraftloser Gewalt kämpfte sich Marco zwischen den Umstehenden hindurch. Zittrig atmete er durch und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Kurz darauf stockte er, drehte sich daraufhin sofort wieder zu den Anderen um.

„Aber natürlich. Das ist es…“, gab Marco im Flüsterton von sich, hielt mit seinem ganzen Körper inne. Man konnte ihm förmlich ansehen wie er seinen Gedanken verfolgte und der Erkenntnis mit jedem Herzschlag näher kam.

„Was ist was?“, fragte Jean nach, der noch immer besorgt aussah. Marco schnappte nach Luft und bewegte unbestimmte seine Hände, als könnte er die Antworten aus der Atmosphäre greifen.
 

„Seine Handschrift“, sagte Marco und wirkte plötzlich vollkommen klar. Schlagartig richtete er sich wieder auf und zog den Ärmel ein Stück zurück, bevor er das Interface seines Wristcoms öffnete. Hektisch durchforstete er das Kontaktregister.

„Ich war die ganze Zeit so blöd“, sprach er vor sich hin, während er das Modul wechselte und einen Katalog von Anträgen durchblätterte. „Und ich habe mich von Anfang an gefragt, warum mir alles so bekannt vor kommt. Es ähnelt seinem gottverdammten Werk wie ein Haar dem Anderen…“ Während er sprach glitten seine Finger über das Interface und füllten mit knappen Bewegungen ein Formular aus, das Eren auf dem ersten Blick nicht erkennen konnte. Keine Sekunde danach wählte Marco eine Nummer an.

„Marco…“, stieß Jean drohend aus, der zu ahnen schien worauf Marco hinaus wollte. Erst jetzt konnte Eren auf dem rotblickenden Interface erkennen, dass Marco direkt die Durchwahl des Direktors angewählt hatte.

„Mr. Bodt?“

Schweigend schauten die Enforcer, wie auch Eren, dabei zu wie Marco sein Handgelenk leicht anhob.

„Mr. Zackly, ich habe Ihnen gerade einen Revisionsantrag zugestellt. Wie schnell können Sie ihn bearbeiten?“, fragte Marco. Eren gefiel das schmale Lächeln nicht, das die Lippen des Mannes umspielte.

„Sobald Sie zurück sind, kommen Sie in mein Büro… Ich verlange eine Erklärung von Ihnen.“

Daraufhin erlosch das Interface, als der Direktor persönlich das Gespräch unterbrach.

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Jean, der seine vor Wut zitternden Hände zu Fäusten geballt hatte. Anstatt etwas sofort zu entgegnen, baute sich Marco triumphierend vor dem Enforcer auf.

„Und wie das mein Ernst ist“, antwortete Marco düster. In einer ruppigen Bewegung schnellte Jeans Hand zu dem Kragen seines Gegenübers. Kurz bevor seine Finger sich jedoch um den Stoff schlossen, entschied der Enforcer sich dagegen und ließ seine Hand kraftlos sinken.

„Ich hol ihn ins Team zurück!“, fügte Marco voller Entschlossenheit hinzu und machte Anstalten zu gehen, nachdem er Eren angewiesen hatte mit ihm mitzukommen.

„Marco, das ist Wahnsinn!“, brüllte Jean ihnen hinterher, doch der Senior Inspector tat es mit einem Wink seiner Hand ab.
 

„Ich weiß, aber es ist unsere einzige Chance, diesen Mörder endlich zu finden!“
 

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Mit schnellen Schritten stürmte Marco in das Büro des Direktors, welches Eren bisher nur einmal von innen gesehen hatte. Nur mit Mühe konnte er mit seinem Vorgesetzten Schritt halten, der er erst kurz vor dem wuchtigen Schreibtisch stehen blieb. Zacklys Miene war vollkommen ruhig und entspannt, im völligen Kontrast zu Marcos aufgewühltem Gemüt.

„Haben Sie meinen Antrag bekommen?“, platzte Marco direkt mit seinem Anliegen hervor. Nicht einmal die Zeit, um dem Direktor den angemessenen Respekt zu zollen, nahm er sich. Nur Eren salutierte knapp, blieb dann aber unschlüssig neben dem Senior Inspector stehen, dessen Augen vor Erwartung förmlich glühten.

„Ich habe nicht viel Zeit, Mr. Bodt“, sagte Zackly, der sich in seinem Drehstuhl zurück lehnte und seine ineinander gefalteten Hände auf dem Bauch ruhen ließ.

„Entschuldigen Sie die Störung, Herr Direktor, aber es ist wirklich dringend“, versuchte Eren die Situation zu entkräften, die seit Anfang an gespannt wirkte. Marco ging jedoch direkt über seine Worte hinweg.

„Haben Sie ihn bekommen, ja oder nein?“

„Das habe ich, aber ich sehe keinen Grund meine Unterschrift darunter zu setzen“, entgegnete Zackly ihm gelassen. Damit hatte Marco gerechnet, dennoch knirschte er ungehalten mit den Zähnen.

„Und warum? Hören Sie, wir stecken in dieser Sache fest. Ich habe Ihnen vor einer Weile die gesammelten Daten zukommen lassen. Sie können mir also nicht erklären, dass Sie die Parallelen nicht erkennen!“, startete der Senior Inspector sofort einen neuen Versuch, den Direktor zu überzeugen. Eren versuchte einen Blick auf das ausgefüllte Dokument zu erhaschen, das vor dem Direktor auf dem Schreibtisch lag und danach gierte als Gültig abgezeichnet zu werden. Aus der Entfernung allerdings konnte Eren nicht erkennen, was genau dort geschrieben stand.

„Das streite ich auch nicht ab, Mr. Bodt. Aber ich halte es für recht bedenklich ihn als Enforcer in ihre Devision zurückzulassen. Ich kann es nicht verantworten, dass Sie in Ihrem Zustand seine Leitung übernehmen“, erklärte der Direktor mit sachlichem Tonfall, in welchem dennoch der leise Hauch der Besorgnis herauszuhören war.
 

„In welchem Zustand?“, fragte Marco verärgert nach.
 

„Seit dem letzten Vorfall mit ihm, sind Sie nicht mehr der Gleiche. Ich kann es nicht verantworten, sollte sich Ihr Hue verdunkeln—“

Voller Zorn schlug Marco aus heiterem Himmel mit beiden Händen auf den Schreibtisch.

„Okay! Machen Sie einen Scan, Zackly! Kommen Sie! Scannen Sie mich hier und jetzt! Sie wissen ganz genau, was dabei herauskommen wird!“ Mit der theatralischen Bewegung eines anmutigen Tänzers breitete Marco seine Arme aus, als würde er seine Brust darbieten um einen Schuss direkt in sein Herz zu empfangen. Immer und immer wieder drängte der Schwarzhaarige den Direktor, veränderte dabei seine Haltung nicht im Geringsten. Erst als Zackly nach einigen Sekunden keinerlei Regung zeigte, lockerte Marco seine Haltung. Seine Arme hingen wie zwei Schläuche schlaff an seinem Körper hinunter, trug dabei jedoch ein kleines Lächeln des Triumphes in seinem Gesicht.

„Oder haben Sie Angst?“

Zackly runzelte die Stirn, eh er die Ellenbogen wieder auf dem Tisch aufstützte und dabei fließend seine Hände ineinander faltete. Obgleich es nur Sekunden waren, in denen sich die Beiden schweigend anstarrten, glaubte Eren die Zeit um sie herum wäre nichts weiter als eine zähflüssige Masse, die sie langsam zu erdrücken drohte.

„Eren?“ Der Angesprochene erstarrte. Er konnte spüren, wie ein Ruck durch seinen Körper ging, als er bemerkte, dass die grauen Augen des Direktors direkt auf ihn gerichtet waren. „Wärst du so freundlich und würdest Senior Inspector Bodt scannen?“

Die Bitte brauchte tatsächlich eine Weile bis sie in Erens Bewusstsein hindurchgesickert und verarbeitet war. Unschlüssig darüber was er machen sollte, schaute er zwischen den Beiden hin und her. Noch immer verstand er nicht, warum Marco darauf beharrte sich kontrollieren zu lassen… Eren räusperte sich als Entschuldigung für sein Zögern und zog den Dominator aus der Halterung, die er an seinem Gürtel befestigt hatte. Es war üblich ihn zurück in den Carrier zu legen, um einem etwaigen Missbrauch – der in dieser Welt und dem kontrollierten Staat eh nicht möglich war – vorzubeugen. Nachdem jedoch Marco so überstürzt vom Hafen aufgebrochen war, hatte er keine Zeit mehr gehabt sich darum zu kümmern. Eren spürte wie seine Hand zitterte, als er den Arm ausstreckte, welcher sich unsagbar schwach und taub anfühlte.

Sibyl reagierte sofort, als er den Dominator auf seinen Vorgesetzten richtete und die quadratische Markierung den Älteren ins Visier nahm. Es dauerte keine Sekunde bis das grün-blau der Markierung auf Rot umsprang und vor seinem geistigen Auge sich die Metadaten des Inspectors aufbauten. Der Scan war innerhalb weniger Sekunden abgeschlossen und durch das Wirrwarr aus Zahlen und Informationsfeldern hindurch konnte Eren erkennen, wie der Ältere ihn kalt anlächelte.
 

Crime Coefficient is under 60.

Inspector registered at CID.

Not a target for enforcement action.

Trigger will be locked.
 

„Nun?“, sagte Marco leise und hob siegessicher seine Schultern an, als hätte er Erens Interface einsehen können. Die Augen des Braunhaarigen weiteten sich, nachdem er all die Informationen durchgelesen hatte.
 

Einen solchen Psycho-Pass hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. In einem Staat, der der absoluten Kontrolle eines ausgereiften Sicherheitssystems unterlag, war es kaum möglich, dass jemand sich außerhalb der Richtlinien bewegen konnte. Eren musste die Augen zu zwei Schlitzen zusammen kneifen, damit er in dem strahlend weißen Hue überhaupt die blass-blaue Farbe erkennen konnte.

„Sein Crime Coefficient liegt momentan bei 10,8.“ Nur mit belegter Stimme konnte er aussprechen, was vor seinen Augen im Interface geschrieben stand. Mit jedem Lidschlag schien sich die Zahl sogar ein wenig zu verändern. Auch wenn es nur minimale Veränderungen nach oben und unten waren, in denen Marcos Crime Coefficient permanent pendelte, brannten sie sich vor Erens geistigem Auge ein. Der normale Standartwert eines jeden Menschen lag um die Dreißig. Das war eines der wenigen Dinge, die während einer Vorlesung an der Akademie, sich sofort in sein Gedächtnis vertieft hatte.

Ein schallendes Lachen drang aus dem Senior Inspector hervor, in dessen Augen ein leiser auch des Wahnsinns funkelte und gar nicht zu seinem Psycho-Pass passen wollte. Trotzdem schwang in der Stimme des Braunhaarigen mit, das von tiefster Müdigkeit und Erschöpfung sprach.

„Sehen Sie, Zackly…“, mit wenigen Schritten überwand Marco die Distanz zum Schreibtisch des Direktors und stützte sich auf, „Es gibt niemand anderen auf dieser Welt, der mit ihm zusammen arbeiten könnte, als mich.“

Zackly unterbrach ihn jedoch, indem er sich die Brille zu Recht rückte.

„Sie haben ihn damals selbst in die Facility bringen lassen. Nennen Sie mir einen Grund, warum ich Ihren Antrag rückgängig machen sollte.“

„Genau das meine ich, Herr Direktor. Es war mein Antrag gewesen. Soll ich Sie an ihre eigenen Worte erinnern? Sie haben mir damals die Dev 1 gegeben, weil ich asymptomatisch bin. Er hat schon mehr als einen Inspector verdorben, verstehen Sie? Aber egal, was auch passiert ist. Egal, was er getan hat… Ich werde nicht das gleiche Schicksal erleiden wie mein Vorgänger. Verstehen Sie?“ Marco fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, als wolle er sich für seine finalen Worte rüsten. „Mein Team hat sowieso noch einen Platz frei und ich brauche ihn wieder im Einsatz-“

Der Direktor unterbrach seine wortgewandten Bemühungen mit einem Kopfschütteln.

„Ich kann das nicht erlauben, Mr. Bodt.“ Ein leises Seufzen untermauerte seine Worte, die Marco wirklich zu treffen schienen. Herrisch fuhr sich dieser mit den Händen durch das Gesicht. Der Senior Inspector war wie ein Fisch, der sich mutwillig an dem Köder des Hakens verbissen hatte, um den Angler von seinem Boot herunter zu reißen. Zappelnd kämpfte er mit Leibeskräften, während der Haken sich immer tiefer in seine Kiemen rammte und ihn durch die klaffende Wunde langsam im Wasser ausbluten ließ.

„Wir können uns nicht erlauben, dass er noch einmal außer Kontrolle gerät.“

„Können wir uns es denn erlauben, dass dort draußen ein Mörder frei herum läuft, der bisher von noch keinem Straßenscan erfasst wurde?“, schnaubte Marco säuerlich. Damit traf er bei Zackly einen wunden Punkt, denn die Haltung des Direktors spannte sich merklich an. „Er ist uns immer einen Schritt voraus.“

Bleierne Stille lag zwischen ihnen. Sie hörte sich in Erens Ohren an, wie das gequälte Knirschen einer Bogensehne, die gespannt wurde. Und sie war kurz davor zu reißen.

„Gut“, sagte Zackly, „allerdings unter einer Bedingung.“ Das siegessichere Leuchten in Marcos Gesicht verebbte und ein Stück seiner Leibeskraft wich aus ihm. Eren konnte es sehen, da der Senior Inspector seine Schultern hängen ließ.

„Sie übernehmen die volle Verantwortung für alles was passiert, Mr. Bodt.“
 

Eren spürte, wie schwer es Marco fiel die Tür hinter sich nicht ins Schloss zu schlagen und seiner brennenden Wut den nötigen Ausdruck zu verleihen, wie ein trotziges Kind, das nicht auf seine Eltern hören wollte. Nachdem sich die Hand des Inspectors von der Türklinke löste, atmete Marco einmal durch. Doch die Luft schien ihm förmlich im Hals stecken zu bleiben, als sein Blick auf Erwin fiel, der sich von der Wand abstieß.

„Läufst du mir neuerdings schon hinterher?“, sagte Marco entrüstet, noch bevor eine flüchtige Begrüßungs-Floskel gefallen war. Der Blondhaarige lächelte etwas verschmitzt, eh er die Arme vor seiner Brust verschränkte.

„Wenn ich mich aufrichtig für dich interessieren würde, dann vielleicht ja, Marco“, antwortete er und Eren konnte den boshaften Unterton nicht überhören. Der Angesprochene schnalzte nur verächtlich mit der Zunge.

„Du willst ihn also zurückholen?“, fragte Erwin in einem Versuch das Thema zu wechseln, doch schien Marco damit nur noch mehr zu reizen.

„Bist du hier her gekommen, um uns zu belauschen?“, entgegnete Marco stattdessen, um der Frage auszuweichen. Erwin gab zunächst nur eine beschwichtigende Geste von sich.

„Nein“, stieß er mit einem Seufzen aus und wedelte etwas unwirsch mit seiner Hand, „Ich habe nur gleich einen Termin mit dem Direktor.“

Marco verdrehte die Augen.

„Und das soll ich dir glauben?“

„Es war leider nicht zu überhören, worüber ihr geredet habt“, erklärte Erwin sachlich. Mit einigen wenigen Schritten trat er auf Marco zu, dessen Körperspannung sich merklich verstärkte. Einen Moment lang zögerte Erwin, eh er seine Hand ausstreckte und auf Marcos Schulter legte. Eren konnte sehen wie dieser mit sich rang die Geste auszuharren.

„Bitte beantworte mir diese Frage ehrlich“, sagte Erwin. Etwas in der Spannung zwischen den Beiden veränderte sich, doch Eren konnte es nicht deuten. Höflich entfernte sich der Junior Inspector mit einem Schritt und konnte somit das Bild besser betrachten. Die Beiden machten den Eindruck, als würde ein Lehrer seinem Schüler einen väterlichen Rat erweisen.

„Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?“, fragte Erwin nachdem er lange einen intensiven Blick in die Augen seines Gegenübers geworfen hatte. Marco lachte verächtlich auf. Ihm war klar, dass der Ältere seine Frage wirklich ernst gemeint hatte und doch konnte er nicht anders, als darüber hinweg zu lachen.

„Selbstverständlich“, entgegnete Marco, schon fast eingeschnappt. Beiläufig wischte er die Hand von seiner Schulter. Sofort wurden die Beiden wieder von einer Aura der Feindseligkeit umhüllt. Beim Aufschauen bemerkte Marco die Akte, die Erwin bei sich trug. Erst jetzt fiel sie auch Eren auf.

„Schon wieder ein Patient?“, fragte Marco mit gekünstelter Höflichkeit. Seine Neugierde war nicht zu überhören, auch wenn sein Tonfall der gleiche Verächtliche war wie zuvor. Gespielt erstaunt, als würde Erwin die Akte gerade zum ersten Mal in seinem Leben sehen, schaute er an sich hinunter und musste lächeln. Von dem roten Umschlag, auf welchem groß der Aufdruck Vertraulich stand, ging eine Bedrohung aus, die Eren mit seinem ganzen Körper spüren konnte. Als Erwin seine Finger etwas bewegte, konnte Eren die Aktenkennzeichnung sehen.
 

M.5-7-8
 

Etwas begann in Erens Kopf zu klingeln. Irgendwo war ihm diese Bezeichnung in den vergangenen Tagen schon einmal über den Weg gelaufen. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern wo und in welchem Zusammenhang.

„Der Direktor hat mich um einen Gefallen gebeten“, sagte Erwin und riss ihn somit aus seinen Gedanken heraus. In Marcos Gesicht konnte Eren erkennen, dass dieser ihm kein Wort glaubte.

Ohne ein weiteres Wort ließ Erwin die Beiden stehen. Nur mit einer knappen Geste verabschiedete er sich von ihnen. Vor der Bürotür blieb er jedoch noch einmal stehen.

„Ach, noch eines“, sagte Erwin mit gedämpfter Stimme und ließ seine Hand auf der Klinke ruhen, „Mach nicht den gleichen Fehler wie ich, Marco.“ Daraufhin verschwand der Senior Inspector.
 

„Von wem sprechen wir eigentlich die ganze Zeit?“, fragte Eren, dem aufgefallen war, dass selbst im gesamten Verlauf der letzten Gespräche nicht einmal der Name der Person gefallen war.

„Dem wohl grausamsten Kriminellen, den diese Welt je gesehen hat.“

Die Tatsache, dass Marco direkt auf seine Frage antwortete war äußerst alarmierend. Er machte nicht einmal die geringsten Anstalten ihm auszuweichen.

„Und wie ist sein Name?“

Eren spürte wie eine schreckliche Vorahnung mit Eiseskälte in ihm erblühte, als das Licht in den Augen seines Vorgesetzten erlosch. Die Lippen des Mannes bewegten sich, doch erst beim dritten Anlauf kam ein Ton hervor.

„Levi Ackermann.“



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