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Colour Free Fear

von

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Colour Overdrive

Die Farbe des Himmels über der Stadt war nur noch zu erahnen; Hologramme und Neonreklamen schluckten die Dunkelheit der Nacht und ließen nichts übrig als einen Brei aus buntem Licht. Shinjukus Straßen pulsierten vor Leben. Bunte Neonschilder und glitzernde Auslagen durchbrachen die öden grauen Betonfronten; offene Clubtüren waren wie schwarze, dröhnende Löcher, die einen einsaugten und komplett blutleer wieder ausspuckten. Das Publikum war eine bunte Mischung aus Japanern und Ausländern, eine braun und weiß gefärbte Masse mit den grellen Farbklecksen der Kleidung oder auffällig getönter Haare. Nikolai stand am Fenster seiner Wohnung und beobachtete das Treiben mit leerem Blick. Durch die verschmierte Plastikscheibe wirkte alles ein wenig verschwommen und unscharf, wie durch Wasser betrachtet. Die Musik aus hunderten von Boxen mischte sich zu einer einzigen Kakophonie und schien alles in sanfte Schwingungen zu versetzen, selbst die papierdünnen Wände seiner provisorischen Behausung.
 

Er seufzte frustriert und ließ sich auf die fleckige Schaumstoffmatratze fallen, die schon hier gelegen hatte, bevor er eingezogen war. Wobei eingezogen wahrscheinlich nicht das richtige Wort war; er hatte einfach seine Reisetasche in irgendeine Ecke geworfen und war sofort wieder losgezogen. Seitdem verbrachte er hier ab und an seine Nächte; meistens, wenn er schon zu betäubt war, um zu registrieren, wie dreckig und eng es in dieser Schuhschachtel war. Nikolai starrte mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster, mitten hinein in den bunten Zirkus der taghell erleuchteten Nacht, bevor er wieder aufstand und nach seiner Jacke griff.

Das Magnetschloss klickte leise, als er die Tür hinter sich schloss. Guter Witz, dachte er. Selbst ein Kind könnte das dünne Sperrholzbrett aus den Angeln heben, da half auch der dünne Magnetbolzen nichts. Egal, es gab da drin sowieso nichts, dem er nachtrauern würde, wenn es verloren ginge. Im Flur stank es nach irgendwelchen Essenresten und noch viel abscheulicheren Dingen; er rümpfte die Nase und eilte an den identischen Türen der anderen Wohnungen vorbei, bis er an einer angekommen war, die halb angelehnt war. Er schlüpfte hinein, durchquerte den kahlen Raum mit wenigen Schritten und stieg durch den leeren Fensterrahmen auf einen wacklig aussehenden Treppenabsatz aus rostigem Metall. Das Haus hatte auch ein richtiges Treppenhaus, doch er bevorzugte die Feuerleiter; das gab dem Ganzen wenigstens den Ansatz von Abenteuer. Durch das grobmaschige Metallnetz sah er den bunten Reigen auf der Straße. Ohne Eile stieg er die schmale Treppe hinunter. Die abgenutzten Stufen endeten auf dem Hinterhof einer Chirurgie-Boutique; aus den Müllcontainern drang ein eigenartiger Geruch nach Fäulnis und Chemikalien. Durch die Hintertür und einen eiskalten Lagerraum betrat er den Laden. Einen größeren Gegensatz zu dem schmutzigen Loch aus dem er gerade gekommen war, konnte man sich kaum vorstellen. Der Boden bestand auf einem blitzblanken Marmorimitat; die teilweise verspiegelten Wände wurden von Vitrinen und Holo-Blöcken gesäumt. Unter bruchsicherem Glas waren alle möglichen Gadgets und Spielzeuge ausgestellt, die man sich irgendwo im Körper einsetzen lassen konnte, wenn man genug Geld und zu wenig gesunden Menschenverstand hatte. Er streifte die bunten Chips, Sensorien, Gelenkmotoren und Prothesen nur mit einem abwesenden Blick; das war alles Spielerei. Auf den Holo-Blöcken drehten sich die fein gewobenen Hologramme junger Männer und Frauen, die einem vorführten, wie man innerhalb von zwei Stunden sein gesamtes Gesicht umstrukturieren lassen konnten; vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan mit nur einer Sitzung und ein paar Hämatomen. Die Boutique war relativ leer; lediglich an einer Vitrine stand eine Verkäuferin mit einem muskulösen Mann, der anscheinend noch weitere Muskelpakete transplantiert haben wollte. Nikolai schüttelte verächtlich den Kopf und eilte weiter. Wenige Meter vom eigentlichen Eingang entfernt stand der Empfangstresen, gemacht aus demselben Kunstmarmor wie der Boden, sodass es aussah als wäre er einfach dort gewachsen.

Flankiert wurde er von zwei mannshohen Glasschränken mit teurer Bioware: auf kleinen Podesten waren mehrere Behälter mit Augen, Hautproben und ähnlichem Kram ausgestellt. Laborware, trotzdem nicht billig. Ihm lief immer ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an diesen Schränken vorbeiging; Silizium und rostfreier Edelstahl waren ihm lieber.
 

„´nen Abend, Jersey“, sagte er und stützte die Ellbogen auf die kühle Marmorplatte. „Heute schon was losgewesen?“
 

Der Mann hinter dem Tresen sah aus als wäre er selbst der beste Kunde seiner Boutique. Als er Nikolai anlächelte, entblößte er raubtierhaft spitze Eckzähne, bestimmt vier Zentimeter lang. Zahnknospenimplantate.
 

„Kommst gerade richtig. Vor ner Stunde war jemand hier, der hat sich nach dir erkundigt.“
 

Jerseys Augen waren hellgrün und von einer goldenen Korona eingefasst; als sie scharfstellten, weiteten sich seine Pupillen für einen Moment. Kameras, gekoppelt an eine Speichereinheit im Stammhirn. Die Augenhöhlen selbst waren künstlich vergrößert, sodass er mit seinen übergroßen, strahlenden Augen, dem runden Gesicht und dem knallblau gefärbten Haar eher nach Anime-Figur aussah als nach seriösem Geschäftsmann.
 

Nikolai lehnte sich nach vorne, die Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. „Wer?“, fragte er. „Japaner?“
 

Jersey rieb sich nachdenklich das Kinn. „Denke schon. Hatten ´n Foto von dir und wollten wissen, ob ich dich in letzter Zeit hier gesehen hätte, oder ob ich wüsste wo man dich auftreiben kann. Sah nach Kundschaft aus.“
 

Genervt verdrehte Nikolai die Augen. „Die raffen es einfach nicht. Wie oft muss ich denen erklären, dass ich das nicht mehr mache? Ich bin raus!“
 

„MIR musst du das nicht erklären“, entgegnete Jersey ungerührt, während er mit einem überlangen Fingernagel zwischen seinen Raubtierzähnen herumpulte.
 

„Stimmt… Ach, übrigens, du hättest nicht zufällig was da für mich?“
 

Die hellgrünen Augen wurden schmal und das katzenhafte Lächeln noch breiter. „Was da hab ich schon… Ist nur die Frage, ob du auch zahlen kannst.“
 

Als Nikolai nur mit den Achseln zuckte, seufzte er und bückte sich unter den Tresen. „Aber nur, weil du mir die Koreaner vom Hals gehalten hast, hörst du? Irgendwann hören solche Freundschaftsdienste aber auch mal auf.“
 

„Jaja“, sagte Nikolai schnell und schnappte ihm die kleine Phiole aus der Hand. Die blutrote Flüssigkeit darin funkelte im gleißenden Licht der Deckenstrahler wie ein Rubin. „Ich schulde dir was!“
 

„Du schuldest mir noch ganz andere Sachen!“, rief ihm Jersey hinterher, aber da war er schon weg.
 

Eine gute Stunde später lehnte er an der Bar irgendeines Clubs und hielt sich an einem schweren Whiskeyglas fest; die Flüssigkeit in dem Glas war jedoch hellblau und schien im Laserlicht des Clubs beinahe zu leuchten. Hier war die Musik keine zusammengestoppelte Kakophonie mehr; hier dröhnten die Bässe des synthetischen Elektropops und brachten seine Knochen schier zum Vibrieren. Auf der Tanzfläche drängten sich die Menschen noch enger als auf den Straßen; es war beinahe unmöglich einen einzelnen Körper auszumachen. Die Luft roch nach Schweiß und verschüttetem Alkohol. Nikolai mochte den Lärm, die Enge und die bunten Lichter; an so einem Ort fiel es ihm leichter zu vergessen, wieso er inzwischen in einer engen, nach Abfällen stinkenden Schuhschachtel sein Leben fristen musste. Er starrte in seinen Drink und lächelte schief. Wenn man das, was er inzwischen hatte, überhaupt noch ein Leben nennen konnte.
 

„Hey!“
 

Irritiert sah er zur Seite. Normalerweise sprach ihn hier niemand an; wer nach Shinjuku kam, konnte sein Erscheinungsbild normalerweise deuten und ließ ihn dementsprechend in Ruhe. Derjenige musste entweder sehr mutig oder sehr dumm sein, wenn er es wagte, die ungeschriebenen Regeln dieses Ortes so konsequent zu brechen. Als er sich umdrehte, sah er, dass es tatsächlich kein er gewesen war, sondern eine sie; blasse Haut, kornblumenblaue Augen, pink gefärbte Haare, in denen aller möglicher Glitzerkram steckte. Typisches Shinjuku-Partyvolk. Passte nicht auf Jerseys Beschreibung und war mit ziemlicher Sicherheit auch kein Kunde. Was konnte so jemand von ihm wollen?
 

„Ich bin Melody“, stellte sie sich vor.
 

„Und ich bin nicht interessiert“, antwortete er so abweisend er konnte und drehte sich demonstrativ weg.
 

Endlich hatte sie ihn gefunden, mitten im größten Gewühl des Viertels. Im ersten Moment hatte sie gezweifelt, ob er wirklich der Richtige war; die Beschreibung, die sie bekommen hatte, traf nicht mehr in allen Punkten zu. Doch als er einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte, war ein Ärmel seiner weiten Jacke ein Stück hochgerutscht und sie hatte das dunkle Mal an seinem Handgelenk gesehen. Das reichte ihr. Wie er dort an der Bar lehnte, hätte er desinteressiert wirken können, aber als sie ihn genauer beobachtete, schien er ihr eher geistesabwesend, beinahe schon verloren, so als würde er nicht wissen, wo er hingehörte. Eigentlich sah er gar nicht schlecht aus; kleiner als sie, ganz in schwarz gekleidet, mit unregelmäßig geschnittenen, goldblonden Haaren, vielleicht ein bisschen dünn und hohlwangig für ihren Geschmack… Aber das war ja nicht ihr Problem. „Hey!“ Er drehte sich um und sah sie irritiert an, als hätte sie ihn beim Meditieren gestört. Wenn sie bedachte, wie er in seinen Drink gestarrt hatte, dann stimmte das wahrscheinlich sogar. Egal, Angriff war immerhin die beste Verteidigung.
 

„Ich bin Melody“, sagte sie und lächelte ihn an.
 

„Und ich bin nicht interessiert.“
 

Und weg war er. Autsch. Eiskalt abgeblitzt. Melody verzog ihre glänzenden Lippen zu einem adretten Schmollmund und ging ihm kurzentschlossen nach. Sie hatte nicht tagelang ganz Shinjuku abgeklappert, damit er sie jetzt einfach so abwies. Am anderen Ende der Bar bekam sie ihn wieder zu fassen. Er saß auf einem hohen Barhocker und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Tanzfläche, wie ein Bademeister auf ein volles Schwimmbecken.
 

„Hey.“
 

Sie lehnte sich an den Tresen neben ihm.
 

„Wieso bist du denn gleich abgehauen? Ich beiße nicht.“
 

„Aber ich vielleicht“, antwortete er trocken und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
 

„Wow, jetzt hab ich aber Angst“, entgegnete sie provokativ, ehe sie ihm kurzerhand das Glas aus der Hand pflückte und daran nippte. Sie verzog augenblicklich das Gesicht. „Igitt, was ist denn das? Schmeckt ja wie Desinfektionsmittel.“
 

„Das ist auch nichts für kleine Mädchen“, sagte er und kippte ungerührt den Rest der Flüssigkeit herunter. Als er das schwere Glas wieder auf der Platte des Tresens abgestellt hatte, musterte er sie mit einer Mischung aus Resignation und Abneigung. „Also, was willst du von mir?“
 

Melody strich sich eine Strähne hinters Ohr. Jetzt war der Moment der Wahrheit. „Ich hätte ein Angebot für dich.“
 

Bernsteinfarbene Augen glitten abschätzend über ihr Gesicht; ansonsten saß er still wie eine Statue auf dem Barhocker, den Rücken kerzengerade und beide Hände auf den Oberschenkeln.
 

„Aha. Und was für ein Angebot?“
 

Sie lächelte vielsagend und berührte ihn leicht am Unterarm. Er zuckte zurück, als hätte er sich an ihrer Berührung verbrannt.
 

„Nein. Damit ist Schluss. Ich bin raus aus dem Geschäft“, sagte er fest. Mit der Eleganz eines Balletttänzers glitt er von seinem Hocker und wollte abermals im Gedränge verschwinden. Melody packte ihn kurz entschlossen an der Schulter und hielt ihn zurück; selbst unter dem dicken Leder seiner abgewetzten Jacke spürte sie, wie sich jeder einzelne Muskel anspannte, bereit, sich jederzeit loszureißen.
 

„Jetzt hör mir doch erst mal zu!“, rief sie beschwörend.
 

„Wieso?“, fragte er zurück. „Ich bin nicht derjenige, den du suchst. Ich mach das nicht mehr, klar? Wenn sie mich erwischen, machen sie mich kalt.“
 

Er machte sich los, doch kaum hatte er einen Schritt von ihr weg gemacht, sagte sie laut: „Sagt dir der Name Druganow etwas?“ Er erstarrte, und drehte sich dann langsam zu ihr um. Sie erschrak vor seinem glühenden Blick.
 

„Druganow?“, fragte er heiser. „Sergej Druganow?“
 

Melody nickte. „Der Eine und Einzige. Ich sollte dich suchen. Auf dem üblichen Wege warst du ja nicht mehr aufzutreiben.“
 

Ein flackernder Lichtstrahl färbte seine Haut für einen Moment ungesund gelb; sie sah wie er sich auf die Unterlippe biss, offensichtlich abwog, ob er ihre Behauptung für bare Münze nehmen sollte oder nicht. „Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?“
 

„Das kannst du nicht wissen“, entgegnete sie ruhig. „Du wirst mir wohl einfach vertrauen müssen.“
 


 

Als er mit Melody den Club verließ, wusste er immer noch nicht, ob es ein Fehler war oder nicht. Blindes Vertrauen war etwas, das er sich in den letzten Jahren nicht hatte leisten können; in seinem Beruf war die Quittung, die man für solche Leichtsinnigkeiten bekam, meistens ein Leichensack. Aber er arbeitete ja nicht mehr, oder? Dementsprechend konnte er es sich wahrscheinlich auch leisten, mit einer aufgedonnerten Partybraut durch halb Tokio zu tingeln, in der vagen Hoffnung, jemanden zu treffen, den er zuletzt vor drei Jahren gesehen hatte. Allerdings wusste er nicht, was sich Sergej davon versprach ihn wiederzusehen… Mit seinem Job hatte er im Grunde auch seine Daseinsberechtigung verloren. Allerdings pulsierten schon so viel Alkohol und aufgepeppte Morphine durch sein Blut, dass er sich nicht mehr wirklich darum kümmerte. Melody hatte ihn durch die Partymeilen von Shinjuku gelotst, ihn in eine U-Bahn gesetzt und durch mindestens fünf verschiedene Stadtteile gehetzt. Inzwischen wusste er kaum noch wo sie waren, außer, dass sie irgendwie in Arakawa gelandet waren. Eins hatten seine immer noch geschärften Sinne jedoch registriert: seit ein paar Stationen (und vielleicht schon früher; in Shinjukus Gedränge war das schwer zu sagen) hatten sie einen oder auch mehrere Verfolger. Nikolai hakte sich bei Melody ein, zog sie so näher zu sich (sie war dank ihrer Stiefel fast zwanzig Zentimeter größer als er) und fragte leise: „Hast du zufällig 'nen Stalker oder 'nen geheimen Verehrer?“
 

„Wäre nicht sonderlich geheim, wenn ich es wüsste, oder?“
 

„Gut, dann werden wir verfolgt.“
 

Er lockerte seinen Griff leicht, und sie schritten die Straße hinunter, als würde sie ihnen gehören. Melody passte sich seinen Schritten überraschend gut an, und für einen Außenstehenden hätten sie sicher wie ein ganz normales Pärchen ausgesehen. Nikolai sondierte die Lage. Über schmale Gassen und kleine Nebenstraßen waren sie in ein Gebiet gekommen, dass hauptsächlich aus Lagerhäusern und Fabrikanlagen bestand; die Straße an sich war breit genug, um mehrere schwere Fahrzeuge gleichzeitig durchzulassen. Kein guter Ort für eine Konfrontation. Viel zu offen, aber auch isoliert. Gegen einen kräftigeren oder ernsthaft bewaffneten Gegner hatte er hier in seiner momentanen Verfassung keine echte Chance. Da sah er aus dem Augenwinkel den Eingang zu einer schmalen Gasse. Er zupfte leicht an Melodys Arm.
 

„Hey, kennst du dich hier aus?“
 

„Einigermaßen, wieso?“
 

„Wenn wir an der nächsten Einmündung vorbeikommen, geht's da rein. Und dann heißt es Tempo. Kannst du in den Schuhen rennen?“
 

„Klar.“
 

„Gut, beweis es.“
 

Die Gasse kam in greifbare Nähe; einen Augenblick später hatten sich die beiden voneinander gelöst und bogen in den schmalen Weg ein. Melody hatte nicht gelogen; sie legte ein ordentliches Tempo vor, sodass er sich nicht zu sehr zurücknehmen musste. Vom Eingang der Gasse hörte er dröhnende Schritte. Offensichtlich hatten ihre Verfolger ihre Heimlichkeiten nun aufgegeben. Die Straße war nicht nur eng, sondern auch noch mit allerlei Krempel vollgestellt, durch den man sich durchzwängen musste. Hinter einem regelrechten Labyrinth aus schweren Metallcontainern, die vage nach irgendetwas Medizinischem rochen, bedeutete Nikolai Melody zu warten. Wortlos drückte sie sich mit dem Rücken gegen den schmalen Spalt, aus dem ihre Verfolger kommen mussten.
 

Nikolai stellte sich in Position, eine Hand an der Messerscheide an seinem Gürtel, verborgen durch den Saum seiner Jacke. Die Beleuchtung war spärlich, aber ausreichend, und für einen Moment fragte er sich, ob Melodys schöne blaue Augen nicht vielleicht Implantate waren, Implantate mit eingebautem Restlichtverstärker. Es rumpelte und krachte, und ihre Verfolger - es waren drei, wie Nikolai eher beiläufig feststellte - schossen aus dem schmalen Spalt wie Flipperkugeln. Bevor auch nur einer von ihnen Gelegenheit hatte, die Situation richtig zu erfassen, hatte Nikolai dem Ersten bereits die flache Hand ins Zwerchfell gerammt, und er klappte keuchend zusammen. Nikolai hörte es zwar knacken, doch das war alles. Beinahe enttäuscht schnalzte er mit der Zunge; noch vor wenigen Monaten hätte er ihm bei so einem Schlag mehrere Rippen zertrümmert. Der Zweite hatte einige Sekunden Schonfrist, doch er war zu perplex, um rechtzeitig zu reagieren. Nikolais Knie, knochig und hart wie polierter Marmor, machte Bekanntschaft mit seinem Schritt und ließ ihn als wimmerndes Häufchen Elend zu Boden gehen. Um den Dritten hatte sich inzwischen Melody gekümmert, so gut sie eben konnte: ein ordentlicher Tritt in die Nieren war nichts, was man sofort wegsteckte, sofern man nicht darauf getunt worden war… Oder Erfahrung damit hatte. Allerdings hatte sich ihr Gegner bereits wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht hochgerappelt, und war jetzt offensichtlich richtig böse. Melody starrte ihn trotzig an, die Hände zu Fäusten geballt, aber mit der Wand im Rücken. Mit zwei schnellen Schritten war Nikolai hinter ihrem Angreifer, zog wie beiläufig sein Messer und stieß ihm die dünne Klinge zwischen der dritten und vierten Rippe in den Körper; eine Bewegung, die in ihrer Selbstverständlichkeit die lange Übung verriet. Der Mann ging zu Boden, halb erstickend an dem Blut, das seinen Mund füllte. Nikolai bedeutete Melody ihm zu folgen, und wortlos machte sich das ungleiche Paar auf den Weg.
 


 

„Was waren das für Typen?“, fragte sie schließlich, als die hohen Wohntürme von Arakawa nicht mehr weit waren. Sie waren wieder auf einer belebten Straße, bummelten an kleinen Geschäften und Boutiquen vorbei, die so spät nachts teilweise schon gar nicht mehr auf hatten.
 

„Bin mir nicht sicher“, antwortete Nikolai. Sein Messer steckte wieder in der Scheide; das Blut hatte er einfach an seiner schwarzen Jeans abgewischt. „Für Yakuza waren die nicht annähernd professionell genug. Das waren keine Killer, das waren irgendwelche gekauften Schläger. Ist jemand hinter dir her?“
 

Melody schüttelte den Kopf, wich aber gleichzeitig seinem Blick aus. „Nicht, dass ich wüsste.“
 

„Naja, zumindest haben wir sie jetzt abgeschüttelt. Und du bringst mich auch wirklich zu Sergej?“
 

„Klar!“ Sie klang regelrecht entrüstet. „Ich bring dich zu ihm. Er hat mir ja den Auftrag erteilt.“
 

Abrupt blieb er stehen, sodass sie sich verwundert nach ihm umdrehte. „Welchen Auftrag?“, fragte er, die Stimme gefährlich ruhig.
 

„Ich sollte dich suchen. Wir wussten, dass du in Shinjuku warst, mehr aber auch nicht. Ich kenn mich in der Szene ein bisschen aus, deswegen sollte ich sozusagen Lockvogel spielen.“
 

„Und warum?“, bohrte er weiter. Sie verfolgte besorgt, wie er seine rechte Hand wieder auf die Messerscheide legte. Beschwichtigend hob sie die Hände. Um sie herum gingen immer noch Menschen, die sich scheinbar gar nicht darum scherten, dass zwei seltsame Ausländer mitten auf dem Bürgersteig standen und miteinander stritten.
 

„Hör zu, Sergej braucht dich für 'nen wichtigen Job, aber ich kann dir nicht sagen wofür, okay? Zumindest nicht hier. Das kann er dir schön selbst erklären. Ich versteh meistens eh nur die Hälfte von dem, was er labert.“
 

Nikolai entspannte sich. „Ja, das kenne ich irgendwoher.“ Melody grinste und zog ihn mit sich.
 


 

Ihr Ziel war einer der Wolkenkratzer in dem Wohnviertel, ein riesiges Teil mit vierzig Stockwerken. Ein Fingerabdruckscanner bestätigte Melodys Identität, bevor der Fahrstuhl sie innerhalb von Sekunden im Penthouse absetzte. Nur zögernd betrat Nikolai das Apartment, den Körper gespannt wie eine Sprungfeder, jederzeit bereit anzugreifen.
 

„Sergej, bin wieder da!“, brüllte Melody ungeniert in den Flur. „Und rate mal, wen ich dir mitgebracht habe!“
 

Aus dem Raum am Ende des Flurs war ein Krachen und ein unterdrückter Fluch zu hören; dann klappte die Tür auf und Sergej trat in den Flur. Sämtliche Anspannung wich aus Nikolais Körper.
 


 

Die Wohnung war groß, schön geschnitten und vollkommen unpersönlich. Mit den weißen Wänden, dem aquamarinblauen Laminat und dem leichten Geruch nach Chlor wirkte sie wie ein Schwimmbad. Sämtliche Fenster waren mit einer schwarzen Schaummasse zugesprüht; das Licht kam von unauffällig in die Decke eingelassenen LED-Spots. Nikolai beobachtete Sergej unbeteiligt, während dieser ein sauberes T-Shirt aus einer überquellenden Reisetasche fischte.
 

„Wieso hab ich das Gefühl, dass du mich absichtlich ohne Shirt begrüßt hast?“
 

„Ganz fiese Unterstellung“, entgegnete er amüsiert, während er sich das Oberteil über den Kopf zog. „Du weißt doch, wie das ist.“
 

„Okay, jetzt rück schon mit der Sprache raus. Wieso bin ich hier? Doch bestimmt nicht, um mir deine persönliche Strip-Show anzusehen.“
 

„Och, wenn du auf eine bestehst, könnte man das sicher einrichten.“
 

Nikolai spürte, wie sich seine Lippen beinahe gegen seinen Willen zu einem angedeuteten Lächeln verzogen. Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen, und schon kabbelten sie sich wieder wie eh und je. Doch ehe Sergej sein Lächeln sehen konnte, wischte er es weg und ersetzte es durch seinen durch und durch neutralen Gesichtsausdruck. Sie standen sich nun gegenüber, und zum ersten Mal nahm sich Nikolai Zeit, ihn eingehend zu mustern. „Du hast deine Haare wachsen lassen.“
 

„Und du deine abgeschnitten“, entgegnete der Hacker ernst. Seine eigenen Haare, dunkel und drahtig, waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst; nur der Bereich über den Ohren war sauber ausrasiert, um besseren Zugriff auf die Implantate zu ermöglichen, die als silberner Rahmen um seine Ohrmuscheln gelegt waren. Titan, wenn er sich richtig erinnerte, im Schädelknochen verankert und mit mehreren dunklen Linien versehen, die verrieten, wo die Kabel eingesteckt wurden. Das helle Metall bildete einen angenehmen Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut und den dunklen Augen; obwohl er in Moskau geboren und aufgewachsen war, hätte er ebenso gut aus Barcelona kommen können. In dem kurzärmeligen T-Shirt waren die bunten Tätowierungen auf seinen Oberarmen gut zu sehen; kunstvoll arrangierte Blüten, ein ganzer Strauß der unterschiedlichsten Arten, die in allen möglichen Farbtönen leuchteten. Aber die Bilder waren etwas zu farbenfroh, etwas zu glatt; nicht wirklich mit Tinte unter die Haut gestochen, sondern als Tattoofolie lediglich draufgeklebt.
 

Nikolai schnaubte leise. „Willst du mir etwa nacheifern?“
 

Sergej verdrehte die Augen. „Sicher. Als ob du dir jemals Blumen tätowieren lassen würdest. Ist doch nicht ansatzweise männlich genug.“
 

Beleidigt wandte sich Nikolai ab. Als Teenager und auch später noch hatte er unter seiner zierlichen Figur, dem seidigen Haar und dem ebenmäßigen, schönen Gesicht regelrecht gelitten; inzwischen machte es ihm zwar weniger aus, aber ein wunder Punkt war es trotzdem.
 

„Hey, ich hab's doch nicht so gemeint.“ Sergej wollte ihn berühren, doch er schrak zurück, das Kinn trotzig vorgereckt.
 

„Was. Willst. Du. Von. Mir“, fragte er, wobei er jedes Wort so überdeutlich betonte, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun.
 

Sein Gegenüber seufzte schwer. „Okay. Okay, okay, ich mach reinen Tisch. Komm mit.“ Zögernd folgte Nikolai ihm, die Finger in das dicke Leder seiner Jacke gekrallt.
 


 

Sergejs Arbeitsraum schien ihm gleichzeitig auch als Schlafzimmer zu dienen; zumindest entdeckte Nikolai neben tonnenweiser technischer Ausstattung auch einen Futon mit einer zusammengeknüllten Decke in einer Ecke des Raumes. Zielsicher steuerte der Hacker einen kleinen Klapptisch an, auf dem ein flacher Projektor und eine Tastatur lagen. Als er sie zur Hand nahm, glitt Nikolais Blick beinahe bewundernd über sie. Sie war aus irgendeinem Metall, wahrscheinlich rostfreiem Stahl, und keine Taste war beschriftet. Eine Hacker-Ausrüstung, für jemanden, dem die Tasten so vertraut waren, dass er nicht mal mehr hinsehen musste, wenn er hundertstellige Codes in Sekundenschnelle in die Tasten hackte. Sergej bemerkte seinen Blick.
 

„Spezialanfertigung“, sagte er stolz und klopfte auf die drahtlose Tastatur, wie ein Turnierreiter vielleicht die Flanke seines Pferdes getätschelt hätte. „Die Elektronik ist so fest verdrahtet, da kann ein Panzer drüber fahren und es macht dem Ding nichts aus.“
 

„Wunderschön“, unterbrach in Nikolai. „Aber ich will mir keine stundenlangen Schwärmereien über dein Spielzeug anhören. Warum hat mich Melody in Shinjuku aufgegabelt? Und wieso wurden wir auf dem Weg hierher von drei Killer-Clowns angegriffen? Das geht doch bestimmt auf deine Kappe.“
 

Er sah ihn erstaunt an. „Ihr wurdet angegriffen?“
 

„Hat dir das Melody nicht erzählt?“
 

„Nein, die ist gleich wieder weg. Jetzt, wo du da bist, kann sie mir gleich die nächsten Leute ranschaffen.“ Mit flinken Fingern startete Sergej seinen Rechner, einen schwarzen Kasten, der Nikolai bis zum Knie ging und an mehrere Speichereinheiten angeschlossen war, die sogar noch größer waren.
 

„Musst du nicht einstecken?“, fragte er, als sich über den Projektor ein holografisches Bild des Cyberspace aufbaute.
 

„Nein, ich will ja nicht rein. Ich will dir nur was zeigen.“ Sergej hatte sich auf einem brandneuen Plastikstuhl niedergelassen und einen für Nikolai neben sich gezogen, auf den sich dieser zögernd setzte. Allerdings blieb er auf der Kante hocken, als müsse er gleich wieder aufspringen. Ein neonblaues Logo baute sich vor ihnen auf; die Holografie war glasklar und so dicht, dass sie beinahe realer wirkte als der Rest des Raumes.
 

„Sagt dir der Name CyCo was?“
 

Ihm lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter und er verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Klar. Cybernetic Corporations. Marktführer bei so gut wie allem, was mit Technik zu tun hat. Und?“
 

Er würde Sergej keine Steilvorlage geben. Das Thema CyCo hatten sie nur ein- oder zweimal angeschnitten und er hatte keine guten Erinnerungen an diese Gespräche. Sergej streifte ihn mit einem seltsamen Seitenblick, ehe er sich wieder auf das Hologramm konzentrierte. „Die Gründerin von CyCo ist schon vor sechzig Jahren gestorben.“
 

„Ich weiß“, sagte Nikolai ungeduldig. „Na und?“
 

„Tja, der Knackpunkt der Sache ist der...“ Drei schnelle Tastenanschläge später drehte sich das Bild einer metallisch glänzenden Säule im Licht der Holografie, von außen mit einem dichten Netz aus bläulich schimmernden Adern überzogen. „Das, mein Lieber, ist der Kern der künstlichen Intelligenz, der CyCo seinen Erfolg verdankt. In diesem Ding ist alles gespeichert, alle Daten, alle Patente, sämtliche Infos, die sie haben. Natürlich gibt’s auch noch externe Speicher, aber der Löwenanteil liegt hier drauf. Die Gründerin hat die KI programmiert und bis heute ist sie einzigartig. Niemandem ist es bisher gelungen ihre Geheimnisse zu entschlüsseln oder so ein Ding nachzubauen.“ Seine dunklen Augen leuchteten förmlich, wie immer, wenn er von irgendwelchem Technik-Schnickschnack berichtete. Typisch Hacker, mit einem Bein im Cyberspace und mit dem anderen in irgendeinem Elektro-Fachladen.
 

„Wunderschön“, kommentierte Nikolai lustlos. „Und weiter? Das hat nichts mit mir zu tun. CyCo hat mich abgeschrieben, wie du sehr wohl weißt. Abgeschrieben und dann nach Minsk abgeschoben.“
 

„Ja, das weiß ich sehr wohl.“ Zum ersten Mal, seitdem er die Tastatur in die Hand genommen hatte, wandte sich Sergej direkt an ihn und sah ihm voll ins Gesicht. „Aber genau hier beginnt der springende Punkt. Die KI von CyCo muss jedes Jahr einmal runter- und wieder hochgefahren werden, da sonst bestimmte Teile der Elektronik beschädigt werden. Um das Ding jedoch wieder hochzufahren, braucht man einen speziellen Code, einen Code, der in der DNS der Gründerin gespeichert war.“
 

Nun wurde es Nikolai zu bunt. Er sprang auf und ballte die Fäuste. „Was soll das alles? Musst du unbedingt Salz in die Wunde reiben? Ja, die KI braucht die DNS der Gründerin, die DNS von Eva, wie man sie inzwischen nennt. Und weil die Leute von CyCo zu paranoid sind, um diesen verdammten Code irgendwo zu speichern, haben sie ihre geliebte Gründerin geklont! Mehrfach! Und sie haben auch versucht einen männlichen Klon zu erschaffen, mit einem blanken Y-Chromosom, da auf dem praktisch wertlosen Y-Chromosom ja keine Infos gespeichert sind, außer dass man als Junge auf die Welt kommt! Und soll ich dir was sagen? Es hat nicht geklappt! Es ging voll in die Hose! Denn die DNS des männlichen Klons war verunreinigt, man konnte den Code nicht richtig ablesen, deswegen hat man den kaum fünf Tage alten Säugling an eine Pflegefamilie weitergegeben, an eine weißrussische Pflegefamilie, schön weit weg von Japan und dem CyCo-Hauptquartier!“ Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wieder; er war sich gar nicht bewusst, dass er schrie.
 

„Das stimmt“, hielt Sergej komplett gelassen dagegen, eine Augenbraue verwundert hochgezogen. „Zumindest, bis die Yakuza durch einen ihrer Informanten erfuhren, dass es in Minsk ein gescheitertes Experiment von CyCo gab, das sie dann prompt zu sich nach Japan holten. Sie waren zwar enttäuscht, dass der Junge tatsächlich keine Vorteile von dem Experiment davongetragen hatte, behielten ihn aber trotzdem bei sich, bildeten ihn in Nagoya aus und ließen ihn aufrüsten, als er Talent für das Geschäft zeigte. Er wurde zu einem der besten Killer, den die Yakuza je gehabt hatten.“
 

„Bis er eines Tages einen extrem wichtigen Auftrag vermasselte“, spann Nikolai die Scharade weiter. „Und von seinen Auftraggebern die entsprechende Quittung kassierte…“ Er ließ sich zu Boden fallen, eigenartig erschöpft von ihrem seltsamen Disput. „Ich kenn meine eigene Geschichte, okay?“, sagte er schließlich leise. „Lassen wir das Thema.“
 

Kurz entschlossen hockte sich Sergej neben ihn. „Okay. Nur eins noch: was genau war deine Quittung?“
 

„Das weißt du nicht?“, fragte er überrascht. „Du weißt doch sonst immer alles.“
 

Sergej schnaubte leise. „Ich wünschte es wäre so. Die Yakuza haben vor ein paar Wochen noch mal ordentlich aufgerüstet, haben sich wohl neue Technik gekauft. Auf alle Fälle komm ich nicht mehr richtig tief in ihre Gitter, ohne Spuren zu hinterlassen. Da muss ich mir demnächst noch mal was einfallen lassen, wie ich die Sperren umgehe. Auf alle Fälle weiß ich über deine Bestrafung nur im Groben Bescheid.“
 

„Da gibt’s nicht viel mehr als das Grobe. Ich hatte meinen Clan entehrt, und wurde dementsprechend bestraft. Sie haben die Implantate und Aufrüstungen in mir unbrauchbar gemacht und mich praktisch ohne Kohle und Papiere irgendwo in Tokio abgesetzt. Die haben mich nur nicht umgebracht, weil mir der Boss 'nen Gefallen schuldete.“
 

Sergej blinzelte überrascht und legte ihm eine Hand auf die Schulter; diesmal zuckte er nicht weg. „Der Boss hat dir einen Gefallen geschuldet? Wie hast du das denn geschafft?“
 

„Hab den Typen umgelegt, der seine Tochter vergewaltigt hat.“ Es knackte leise in seinen Gelenken, als er aufstand und sich mit einer nachlässigen Bewegung die Jacke von den Schultern schüttelte, so als wäre ihm mit einem Mal zu warm geworden. Die Reißverschlüsse der abgewetzten Lederjacke klirrten leise, als sie zu Boden fiel. Darunter trug er ein ärmelloses, enges Shirt, und zum ersten Mal seit Wochen waren seine Abzeichen wieder sichtbar: die pechschwarzen Drachen, die sich von den Schultern über die gesamte Länge der Arme bis zu den Handgelenken erstreckten. Einen größeren Kontrast zu Sergejs bunten Blumen konnte er sich kaum vorstellen. „Tja, das bin ich“, sagte er provokant und stemmte eine Hand in die Hüfte. Sergej sah, dass die Muskeln unter der tätowierten Haut leicht zittern. „Ein vergeigtes Experiment, ein abgehalfterter Ex-Yakuza… Und ich bin noch nicht mal dreißig. Hast du noch ein paar Beweisstücke, um mir zu beweisen, dass ich ein absoluter Fehlschlag bin? Ein kompletter Griff ins Klo?“ Es war ein Wunder, dass ihm kein Gift von den Lippen tropfte.
 

Sergej schlug seine Augen nieder und zupfte an seinem T-Shirt herum, ungewohnt nervös. „Und das mit uns?“, fragte er schließlich. „War das auch ein Fehlschlag?“ Er sah erschrocken auf, als Nikolai wütend mit dem Fuß aufstampfte.
 

„Begreifst du's immer noch nicht? Ich hab dich damals verführt, weil wir Infos brauchten! Das war ein verdammter Auftrag, mehr nicht!“
 

„Du lügst“, sagte Sergej kalt und sah ihm in die Augen. So standen sie bestimmt mehrere Minuten da, Auge in Auge, so als würde einer von ihnen gleich einen Revolver ziehen und den anderen niederschießen. Schließlich war es Nikolai, der wegsah.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich leise. „Ich weiß nicht, was das damals war. Die ersten paar Male war es tatsächlich nur der Auftrag… Aber dann hatte ich die Infos, aber ich bin trotzdem weiter zu dir gekommen… War ganz schön blöd, oder?“
 

Vorsichtig griff Sergej nach seinem Handgelenk; es war dünn genug, dass er es mit Daumen und Zeigefinger problemlos umschließen konnte. „Ich glaube, du brauchst jetzt einen Tee.“
 


 

Die Küche war ein glänzendes Einbauteil aus weißem Kunststein, und genauso kahl wie der Rest der Wohnung. Ein kleiner Bistrotisch und zwei schwarz lackierte Metallstühle standen an der gegenüberliegenden Wand, und Sergej drückte ihn wortlos auf einen der Stühle, ehe er Wasser aufsetzte. Das Schweigen zwischen ihnen hielt an, bis Nikolai seinen Tee halb ausgetrunken hatte. Über den Rand seiner Tasse sah er Sergej fragend an.
 

„Ich weiß immer noch nicht wirklich, was du von mir willst, nur dass es offensichtlich was mit meiner Vergangenheit zu tun hat.“
 

Behutsam stellte der Hacker seinen Becher auf die zerkratzte Oberfläche des Tisches und verschränkte die Arme auf der Platte. „In der Tat. Vor ein paar Wochen gab es einen Anschlag auf die Führungsetage von CyCo. Sämtliche Klone von Eva kamen dabei ums Leben. Gleichzeitig haben mehrere Hacker den zentralen Speicher von CyCo angegriffen und die entsprechenden Infos gelöscht, aus denen man neue Klone hätte züchten können.“
 

Nikolai lauschte ihm mit gerunzelter Stirn, die Hände um seinen langsam erkaltenden Becher gelegt.
 

„Ich hab das Ganze aus dem Cyberspace beobachtet. Das war ein Selbstmordanschlag. Die haben es zwar geschafft die Informationen zu tilgen, aber die Virusprogramme und Abwehrmechanismen haben sie unter Garantie zurückverfolgt und ihnen das Hirn gebraten. Die waren innerhalb von Sekunden tot, war 'ne richtige kleine Nova am Horizont.“ Er trank schnell einen Schluck Tee, wahrscheinlich um den Kloß in seiner Kehle hinunterzuspülen. Im Cyberspace bewusst mitzuerleben, wie eine fremde Existenz ausgelöscht wurde, ging selbst den hartgesonnensten Hackern an die Nieren.
 

„Aha…“, sagte Nikolai, unsicher, wie er reagieren sollte. „Weißt du, wer das war?“
 

„'ne Terrorgruppe aus New York, die das Technik-Monopol der Cybernetic Corporations brechen wollte. Inzwischen hat CyCo sich die bestimmt schon vorgeknöpft. Der springende Punkt ist nun...“ Als er aufsah, leuchteten seine Augen förmlich. „...dass du der letzte Träger des Codes bist.“
 

Beinahe hätte Nikolai seinen Tee über den Tisch gespuckt. Im letzten Moment beherrschte er sich und wischte sich über den Mund. „Was? Hast du mir nicht zugehört?! Meine DNS ist verunreinigt, praktisch wertlos! Man kann den Code nicht auslesen!“
 

„Inzwischen schon“, gab Sergej zurück. „Nikko, das ist vierundzwanzig Jahre her! Die Technik macht ungefähr alle zwei Jahre einen unglaublichen Satz, und eine verbesserte Methode zur DNS-Auslesung ist da nur die Spitze des Eisbergs. Sie haben dich nie gebraucht, weil sie ja immer genug reines Material hatten, aber in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen, oder? Deswegen werden sie dich demnächst einkassieren wollen, denn in etwa drei Monaten müssen sie die KI wieder runterfahren. Die Typen, die Melody und dich angegriffen haben, waren wahrscheinlich von CyCo.“
 

Nikolai streckte seine langen Beine aus und starrte skeptisch in seinen Tee; der vertraute Kosename hatte ihn beinahe mehr erschüttert als die Information an sich. „Und was willst du jetzt von mir?“
 

Sergej grinste. „Ist das nicht offensichtlich? Wir manipulieren deine DNS, schleusen 'nen Virus ein, und in dem Moment, in dem die KI deine DNS einliest, kollabiert das Ding von innen heraus, alle Daten liegen offen und ich kann eins a absahnen. Weißt du, wie viel CyCo-Daten wert sind? Das ist unsere große Chance!“ Er sah ein wenig verstört auf, als Nikolai bitter auflachte.
 

„Ja, UNSERE große Chance! Hörst du dich überhaupt selbst reden?“ Seine Hände begannen zu zittern; ein dumpfer Schmerz strahlte aus seinem Bauchraum nach oben, doch er ignorierte es. „Das klingt nach einem super Deal… Für dich! Was glaubst du, was die von CyCo mit mir machen, wenn die mitbekommen, dass ich die gelinkt habe? Die häuten mich und hängen mich in irgendeine Nährlösung, damit ich noch ein paar Jahre länger leiden muss!“ Das Zittern wurde immer stärker und er klammerte sich verzweifelt an seiner Tasse fest. „Du bekommst deine Daten, verhökerst den Kram auf dem Schwarzmarkt und ich bin mal wieder am Arsch! Hast du dir ja toll überlegt!“ Nikolai ließ seinen Becher beinahe fallen, als Sergej mit der Faust auf den Tisch schlug. In der kahlen Küche hallte der Schlag wie ein Schuss aus einer Kleinkaliberpistole.
 

„Jetzt wach endlich mal auf und hör auf, dich in deinem Selbstmitleid zu baden! Denkst du, dass ich dich ernsthaft ans Messer liefern würde? Egal ob das vor drei Jahren 'ne geschäftliche Sache war oder nicht, mir hat sie was bedeutet! Du jammerst die ganze Zeit, dass du immer versagst, dass du niemanden hast, dem du wichtig bist, aber du bist so blind, dass du die Wahrheit nicht mal siehst, wenn sie dir 'nen Tee kocht! Du bist MIR wichtig, kapiert? Ich will diesen Run durchziehen, damit wir beide 'ne Zukunft haben, schnallst du das? Ich wollte dich damals freikaufen, freikaufen von den Yakuza, doch ich hatte keine Chance! Als ich rausgekriegt habe, dass du raus warst, bin ich vor Freude erst mal halb an die Decke gesprungen. Die ganze Sache mit dem Plan… Das ist die Chance für uns, ja, für UNS, aus diesem Dreck rauszukommen. Wir können uns neue Identitäten kaufen, eine Existenz aufbauen, richtig anständig werden…“ Er sah zur Seite, unfähig noch mehr zu sagen. Dafür lächelte Nikolai, vielleicht zum ersten Mal seit Wochen.
 

„'ne richtig gutbürgerliche Existenz, für einen Hacker und einen Ex-Killer… Du hast doch einen an der Waffel.“ Sowas hatte er vermisst; Sergejs eigenartiger Idealismus, seine Fähigkeit sich für alles Mögliche zu begeistern… Die meisten Hacker stumpften mit der Zeit ab, beinahe wie Profikiller; die Datenströme, die beinahe permanent durchs Hirn flossen, ließen die wenigsten unbeeinflusst. Inzwischen waren seine Hände eiskalt, und sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Erschrocken sprang der Hacker auf, als er sich zur Seite drehte und den Tee auf das aquamarinblaue Laminat kotzte; mehr war schlichtweg nicht in seinem Magen.
 

„Hey, alles okay?“ Er kauerte sich auf der sauberen Seite neben ihn und packte ihn an den Schultern. Scharf sog er die Luft ein. „Nikko, du hast ja Pupillen wie Stecknadelköpfe! Was hast du genommen?“
 

Leise stöhnend griff er sich an die Brust; der Schmerz aus seinem Magen hatte sich mittlerweile in die Brust verlagert.
 

„Hey, bleib bei mir!“ Sanft klopfte ihm Sergej auf die Wange, versuchte ihn so bei Bewusstsein zu halten. „Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was du genommen hast!“
 

„Ro…Roseblood“, keuchte er erstickt, die Augen vor Schmerz fest zusammengekniffen. Von weit weg hörte er ihn fluchen und aus der Küche gehen; er brauchte all seine Konzentration um sich auf dem Stuhl zu halten und nicht auf den Boden zu rutschen.
 

„Halt still! Ich muss die Vene finden!“, blaffte ihn der Hacker an, der seinen Arm inzwischen in einem Schraubstockgriff hielt. Mit viel Mühe zwang er seine Augen wieder auf und beobachtete, wie er die glänzende Nadel einer makellosen Einwegspritze in seiner Ellenbogenbeuge versenkte. Den Einstich spürte er kaum. Seine eigenen Nadeln waren nie so sauber… Das war sein letzter Gedanke, ehe er in einem schwarzen Abgrund versank.
 


 

Kühle Finger strichen über seine fiebrig heiße Stirn, strichen ihm die unordentlichen Ponyfransen zurück und tätschelten ihm sanft, aber mit Nachdruck die Wange. „Komm zu uns zurück, ja? Du hast lange genug geschlafen.“
 

Nikolai versuchte der Stimme zu gehorchen und quälte seine Lider auseinander; nach einem Crash schienen sie jedes Mal eine Tonne zu wiegen. Das Gesicht, das über ihm schwebte, war nicht Sergej, sondern eine Japanerin mit kurz geschnittenen Haaren und blutrot geschminkten Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen, als sie sah, dass er wach war. „Wunderbar, geht doch. Du hattest echt Glück, dass er dir rechtzeitig den Blocker gespritzt hat.“
 

Sie richtete sich auf und rief, anscheinend quer durch die halbe Wohnung: „Er ist wach!“
 

Ihre laute Stimme schmerzte in seinen Ohren, und er drehte sich auf der blitzsauberen Krankenhausliege leise ächzend um. Wenig später standen Melody und Sergej an seinem Bett.
 

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Kaum bin ich mal weg, feiert ihr hier wilde Exzesse, es ist kaum zu glauben… Au!“
 

Der Hacker hatte sie spielerisch gegen die Schulter geboxt. „So war das nicht, und das weißt du auch. Was machst du denn für Sachen?“ Diese fast ein wenig mütterliche Frage war an Nikolai gerichtet, der immer noch ausdruckslos an die Wand starrte, gefangen vom Unbehagen des Crashs. „Wieso spritzt du dir Rosenblut?“ Rosenblut, oder Roseblood, war vor ein paar Jahren auf dem Markt aufgetaucht, eine purpurrote Flüssigkeit, die man schlucken oder spritzen konnte. Nach der Einnahme fühlte man sich wie betäubt, komplett gelassen und erhaben; doch nach einigen Stunden kam der schmerzhafte Crash. Wer sich mit Roseblood abschoss, dem war bald nicht mehr zu helfen, so die landläufige Meinung, weswegen Sergej gleich noch hinterherschob: „Hast du 'nen Todeswunsch oder so?“
 

„Vielleicht“, antwortete Nikolai trotzig und drehte sich demonstrativ auf die andere Seite. Sergej kam ihm einfach hinterher. Als er keine Anstalten machte, mit ihm zu sprechen, wandte er sich seufzend an die Japanerin.
 

„Makoto, hast du alles vorbereitet?“
 

„Natürlich“, antwortete sie beinahe beleidigt und strich ihre weiße Bluse glatt.
 

„Was vorbereitet?“, fragte Melody, die sich inzwischen auf das Fußende der Liege gesetzt hatte.
 

„Makoto bringt Nikolai wieder auf Vordermann“, erklärte Sergej. Das reichte, um ihn aus seiner trotzigen Apathie zu wecken.
 

„Wie meinst du das?“, fragte er, während er sich mit einiger Mühe auf seine Unterarme stützte.
 

„Das wüsstest du, hättest du mich vorhin ausreden lassen, anstatt wieder einen auf Sturkopf zu machen“, antwortete der Hacker kühl. „Makoto stellt dich wieder her, sie repariert und ersetzt deine Implantate, soweit möglich. Wenn ich die KI geknackt habe, schalte ich bei CyCo auch das automatisierte Sicherheitssystem aus und mit den paar menschlichen Wachen sollte ein Profikiller der Yakuza eigentlich kein Problem haben, oder?“
 

Fassungslos ließ er sich wieder in das weiche Kissen sinken. „…Du meinst das ernst?“
 

„Sonst würde ich nicht eine der besten illegalen Ärztinnen Tokios in meiner Bude haben, oder?“, schoss Sergej zurück, ungewohnt bissig. Anscheinend war ihm der Vorfall mit dem Roseblood an die Nieren gegangen.
 

„Bitte, das ist zu viel der Ehre“, sagte Makoto, doch sie lächelte selbstgefällig.
 


 

Der größte Raum in der Wohnung war in einen provisorischen OP-Saal für Makoto umgewandelt worden. Nikolai stand gerade an einem Ende des langgestreckten Raumes und drehte sich langsam zwischen zwei Scannersäulen um die eigene Achse. Die Ärztin und ihr Auftraggeber betrachteten die Resultate auf einem Holo-Bildschirm. Makoto pfiff leise durch die Zähne.
 

„Ordentlich, wirklich ordentlich. Hat ja fast mehr Silizium im Kopf als du. Gleichgewichtsverstärker, Restlichtverstärker… Oh, das ist böse.“ Sie wies auf ein bestimmtes Hirnareal, das von einem bunten Fadengeflecht aus hauchdünnen Kabeln eingefasst wurde. „Das ist ein Schmerzdämpfer. Dem Jungen hätte man die Rippen brechen können und er hätte voll weitergemacht. Apropos Rippen…“ Eine Innenaufnahme seines Torsos erschien vor ihnen. „Guck dir das an. Lunge und Herz sind getunt, bringen gut die doppelte Leistung. Außerdem kommt er auf 0,7% Körperfett, der besteht fast nur aus Muskeln und Sehnen. Richtiggehend hochgezüchtet. Aber…“ Ihre glatte Stirn furchte sich wie Baumrinde. „Die Nieren und die Leber sind fast im Eimer. Ein Wunder, dass er noch nicht quittengelb im Gesicht ist, die Werte schreien ja fast nach Gelbsucht…“
 

„Bekommst du ihn wieder hin?“, fragte Sergej ruhiger als ihm zumute war.
 

Sie zuckte mit den Achseln. „Klar, die Ersatzteile gehen ja auf deine Rechnung. Könnte allerdings ein paar Tage dauern. Für die Implantate muss ich richtig tief rein. Neucodieren und Stoffwechsel frisieren geht über Injektionen, dass ist zeitmäßig nicht das Problem, aber der Organaustausch und die Reparaturen brauchen mindestens eine Woche Luft dazwischen, sonst kommt er so schnell nicht wieder auf die Beine…Noch irgendwelche Extrawünsche?“
 

Der Hacker streifte Nikolai mit einem prüfenden Blick; er unterhielt sich gerade mit Melody, anscheinend fragte sie ihn über seinen alten Job aus. „Ein Sensorium“, sagte er schließlich. Als Makoto nur anzüglich grinste, wandte er sich peinlich berührt ab.
 

Makotos OP-Marathon dauerte insgesamt zehn Tage: Organe austauschen (Zuchtprodukte aus der Organbank, von Sergej auf dem Schwarzmarkt organisiert) Stoffwechsel umstellen (ein kleines Extra, damit er endlich vom Rosenblut runterkam), Sensorium einbauen, Implantate reparieren und schließlich noch die DNS teilweise neucodieren. Zwischen den OPs und Injektionen wachte Nikolai gar nicht erst auf; ein Neuralblocker hielt ihn in einem dauerhaften Tiefschlaf, isoliert auf ihrer improvisierten, aber klinisch reinen Krankenstation. Sergej verbrachte den größten Teil dieser Wochen im Cyberspace; dort verging die Zeit schneller, außerdem musste er aufpassen, dass er mit den aktuellen Geschehnissen Schritt halten konnte. Nichts war schlimmer, als ein Hacker, der sich abhängen ließ. Er war gerade fertig mit einem besonders kniffligen Muster irgendwo in Aserbaidschan, als ihm Makoto das Okay gab.

Nikolai war nach der letzten Operation so mit Endorphienanalogen vollgepumpt, dass er prompt fünf Tage am Stück durchschlief. Melody witzelte zwar herum, weil Sergej kaum noch von seinem Bett wegging, aber das war ihm egal. Einstecken konnte er überall, seine Rechner funktionierten auch durch mehrere Wände perfekt drahtlos. Während sich Nikolai erholte, checkte er den Cyberspace unablässig nach Informationen über CyCo, überdachte ihren Plan und versuchte an nichts anderes zu denken. Die leuchtenden Gitter der Matrix waren eher sein Zuhause als die Wohnung, in der er gerade sein Quartier aufgeschlagen hatte, ein Ort, an den er gehörte, an dem er die Spielregeln kannte. Als Nikolai jedoch begann, von seinen dauerhaften Dämmerzuständen in echte Wachphasen abzugleiten, zog er sich zurück und überließ es Melody und Makoto, sich um ihn zu kümmern, nur um sich in seinem Zimmer gleich vier Kabel gleichzeitig einzustecken und eine regelrechte Hetzjagd auf vielversprechende Datenbasen zu veranstalten. Beim Hacken konnte man nicht wirklich denken und das nutzte er voll aus. Er wollte nicht denken.
 

Nach drei Wochen erlaubte Makoto Nikolai länger aus dem Bett aufzustehen; er hatte die OPs überraschend gut verkraftet und seine Beine waren auch nicht mehr wacklig. Jetzt, wo sein Gleichgewichtsverstärker wieder funktionierte, wäre das auch einigermaßen peinlich gewesen. Als er in den zentralen Raum trat, saß Sergej mit gekreuzten Beinen auf seinem Futon und war gerade dabei, ein Kabel in eins seiner Implantate zu stecken.
 

„Willst du mit reinkommen?“
 

Nikolai musterte ihn abschätzend. „In den Cyberspace oder auf deinen Futon?“
 

„Also, wenn ich dir anbieten würde, mir auf meinem Futon Gesellschaft zu leisten, würdest du mich wahrscheinlich filetieren. Willst du? Ich mach mit dir 'nen Rundgang.“
 

„Durch den gesamten Cyberspace?“, fragte er spöttisch, doch er ließ sich einen guten Meter von Sergej entfernt auf dem Boden nieder.
 

„Neee, nur von meinen Lieblingsplätzen.“ Er reichte ihm den silbernen Stirnreif mit den Elektroden, den die meisten normalen Menschen benutzten, um in den Cyberspace zu gehen. Das Metall war kühl auf seiner Haut. „Bereit?“
 

Nikolai nickte und Sergej legte eine Taste um.
 


 

Das Zimmer um ihn herum zersplitterte, löste sich auf, bis nur die leuchtenden Gitternetzlinien vor der unendlichen Schwärze der Matrix übrigblieben. Er sah sich staunend um. Sein letzter Ausflug in den Cyberspace war Monate, wenn nicht sogar Jahre her. Etwas neben ihm schien zu zucken, er spürte eine Präsenz. Sergej.
 

„Aufgepasst, jetzt geht’s los.“
 

Trotz der Vorwarnung traf ihn der Geschwindigkeitswechsel wie eine kalte Dusche. Aus dem sanften Herumdümpeln im Neonlicht der Datengitter wurde eine blitzschnelle Rutschpartie. Aus dem Augenwinkel sah er nur ein buntes Flackern, fast wie in den Clubs von Shinjuku. Sein Magen rebellierte, und er musste sich daran erinnern, dass er körperlich immer noch in der Wohnung auf dem Boden saß und sich alles, was er sah, nur in seinem Kopf abspielte. Kein Wunder, dass der Cyberspace am Anfang für viele der Ersatz zu Drogen war. Inzwischen hatte er für die Meisten diesen Zauber verloren; es war ein Arbeitsplatz wie jeder andere auch. Nach wenigen Sekunden wurde die rasante Fahrt langsamer, und schließlich hielten sie sanft am Rand eines geschäftlichen, dunkelgrünen Gitters. Endlich spürte er Sergejs Anwesenheit wieder neben sich.
 

„So, und jetzt müssen wir kurz warten…“
 

Aus weiter, weiter Ferne registrierte er das hektische Klicken der Tasten. Er war nicht mal in der Lage einen einzelnen Finger zu rühren, wenn er im Cyberspace war, geschweige denn irgendwelche komplizierten Codes und Zahlenfolgen einzutippen. Spontaner Respekt vor dem Hacker wallte in ihm auf.
 

„So, fertig.“
 

Das grüne Gitter riss vor ihnen auf, nur einen Spalt weit, und sie wurden in den Riss gesogen wie Flusen in den Staubsauger. Wieder schlug seinen Magen einen unfreiwilligen Salto und die Muskeln in seinen Armen spannten sich unwillkürlich an. „Ganz ruhig, hier sind wir sicher.“ Sergejs Stimme legte sich wie Balsam auf seine aufgekratzten Nerven und er atmete einmal tief durch. Die Spannung wich aus seinem Körper. „Schon viel besser. Und jetzt schau mal nach oben.“
 

Nikolai gehorchte, obwohl es an einem Ort ohne wirkliche Richtungsorientierung etwas schwer war, „oben“ zu definieren. Er führte einfach die Bewegung aus, die einem Blick an die Decke wahrscheinlich am nächsten kam… Und schnappte überrascht nach Luft. Über ihnen wölbte sich eine gigantische Kuppel aus blauem Neon, skelettartig aufgespannt vor dem pechschwarzen Nichts der Matrix. Die blauen Säulen reichten bis auf eine sanft leuchtende Grundplatte, klar wie Kristall, durch die man die monotonen, blassgrünen Gitter der Konzerne sah. Vielfarbige Kabel waren wie Sehnen und Muskeln zwischen den einzelnen Rippen der Kuppel gespannt; ein buntes Phantasiegeflecht, unwirklich und mystisch.
 

„Gefällt es dir?“ Sergej klang eigenartig verunsichert; so als hätte er Angst, dass Nikolai diesen schönen Ort in irgendeiner Art abwerten würde. Doch nichts lag ihm ferner; am liebsten hätte er sich zur Seite gedreht und ihm uns Gesicht gesehen, um den unverhohlenen, schüchternen Stolz zu betrachten, der dem Hacker sicher geradezu auf die Stirn tätowiert war.
 

„Es ist wunderschön“, sagte er ehrlich. „Hast du das programmiert? Und wo sind wir überhaupt?“
 

„Offiziell sind wir auf dem Gebiet eines kanadischen Holzhändlers. Das hier ist ein blanker Fleck in der Matrix, mit einem Fehler behaftet, der dafür sorgt, dass man die paar Cluster hier nicht sehen kann. Im Grunde ist das alles hier unsichtbar. Besteht hauptsächlich aus persönlichen Daten, Sachen, die ich ungern verlieren würde. Ich nenn's meine Kirche. Der größte Teil der Kuppel war schon da, der Rest sind meine Daten. Wenn man die genauen Koordinaten nicht hat, dann kommt man hier nicht rein.“ Er klang stolz und verträumt gleichermaßen, bezaubert von diesem schönen Ort, der im Grunde nichts anderes war als eine willkürliche Anordnung von Einsen und Nullen. Trotzdem war seine Schönheit nicht zu leugnen.
 

„…Wieso hast du mich hergebracht?“, fragte er schließlich. „Bestimmt nicht nur, um mir deine Kirche zu zeigen.“
 

„Nein“, gab Sergej zu. „Ich wollte mit dir reden. Die Wohnung ist zwar komplett abhörsicher, aber trotzdem war mir bei dem Gedanken, es dir hier zu sagen, irgendwie wohler…“
 

„Typisch Hacker“, kommentierte Nikolai spöttisch. Die Präsenz neben ihm flackerte ganz kurz; scheinbar das Cyberspace-Pendant zum Augen verdrehen.
 

„Ich wollte dir nur sagen… Wenn du das mit CyCo nicht machen willst, dann musst du nicht. Du kannst einfach rausspazieren und Gott einen guten Mann sein lassen, wenn du verstehst, was ich meine.“
 

Wieder zuckte die Präsenz, als Nikolai auflachte. „Machst du Witze? Es gibt doch keinen Ausweg mehr! Meine DNS ist längst umcodiert und so wie ich dich verstanden habe, sind mir die Leute von CyCo schon auf den Fersen. Der einzige Unterschied wäre, dass du nicht an die Daten kommst. Das kommt nicht in Frage. Was man einmal angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen, oder?“
 

„Wenn du meinst“, entgegnete Sergej zögernd.
 

Jetzt ging Nikolai endlich ein Licht auf. „Du bekommst kalte Füße, oder?“, fragte er den Hacker. „Du hast Angst.“
 

„Ja, Angst um dich!“, feuerte Sergej zielsicher zurück. „Das ist alles in allem ne ziemlich riskante Kiste… Mir ist einfach nicht wohl dabei, dich in Gefahr zu bringen.“
 

„Das hättest du dir früher überlegen müssen“, antwortete Nikolai kalt und richtete seinen Blick starr auf das leuchtende Blau der Kuppel. „Jetzt ist es zu spät dafür.“
 

Sergej schwieg, während Nikolai weiter trotzig in das Neongeflecht starrte, bis die bunten Stränge vor seinem inneren Auge zu einem einzigen bunten Brei verschmolzen. Ihm war schlecht, und das lag ausnahmsweise mal nicht am Cyberspace. Wütend versuchte er das alberne Schuldgefühl niederzukämpfen, das sich in den Tiefen seiner Magengrube einnisten wollte. Er hatte nichts falsch gemacht. Es war nicht seine Schuld, wenn Sergej seine Gefühle und den Job nicht auseinanderhalten konnte! Es war nicht seine Schuld! Über ihnen begann die Kuppel mit einem Mal zu flackern als wäre sie eine billige Neonröhre.
 

„Whoa, Nikko, alles okay?“
 

„Bin ich das?“, fragte er überrascht.
 

„Ja! Die Elektroden im Stirnreif messen dein Stresslevel, und da das hier nicht zur allgemeinen Matrix gehört, reagiert es natürlich auch darauf. Was ist denn los?“
 

Die Wut stieg in Nikolai auf wie die Kohlensäure in einer geschüttelten Sektflasche, sie brannte sich ihren Weg durch seinen Magen in die Brust, wie der Schmerz eines Roseblood-Crashs. „Was mit mir los ist? Was ist mit dir los!“ Das Neon erstrahlte unter diesem Wutausbruch wie eine kleine Nova; geblendet kniff er die Augen zusammen, ohne dabei seine Tirade zu unterbrechen. „Ich habe dich nie gebeten dich in mich zu verknallen, ich habe dich nie darum gebeten, dass du mich bei den Yakuzas raus holst oder mich von der Straße aufliest! Was glaubst du wer du bist?! Ein rettender Engel? Die Erfüllung meiner Träume? Wieso hast du mich nicht einfach in der Gosse sterben lassen, das wäre einfacher für uns beide gewesen! Das wäre“
 

Mit einem Mal zersplitterte das Bild der Matrix vor seinen Augen; abrupt knallte er aus der Scheinwelt des Cyberspace zurück in seinen eigenen Körper. Sergej stand vor ihm; er hatte ihm den Stirnreif runtergerissen.

Die Wut in Nikolai bäumte sich ein letztes Mal auf, mit aller Kraft; wie heiße, klebrige Lava schien sie durch seine Adern zu fließen. Er sprang geschmeidig wie eine Katze auf die Füße, holte aus und versetzte Sergej eine Ohrfeige, dass es klatschte. Auf seiner Wange blühte sofort ein roter Fleck, und an seiner Schläfe klebte Blut.

Woher kam das Blut? So stark konnte er doch gar nicht zugeschlagen haben…

Ein ziehender Schmerz in seinen Handflächen beantwortete seine Frage. Fünf halbmondförmige Schnitte füllten sich schneller wieder mit Blut, als er es abwischen konnte; er hatte gar nicht gemerkt, dass er seine Fingernägel so fest in seine Handflächen gekrallt hatte. Noch während er seine Hände betrachtete, packte ihn Sergej plötzlich an den Schultern und zwang ihn zu Boden.
 

Nikolai wehrte sich mit Händen und Füßen, aber eher halbherzig; egal wie sehr er Sergej auch verflucht hatte, ernsthaft verletzen wollte er ihn doch nicht. Der Blick des Hackers war starr, als er ihn mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zu Boden presste, bis sein Rücken das Laminat berührte. Mit den Knien fixierte er seine Oberschenkel und mit den Händen seine Handgelenke, bis Nikolai ausgestreckt unter ihm lag. Erst dann hörte dieser auf zu zappeln; sein Körper wurde schlaff, sämtliche Anspannung wich mit einem Mal aus seinen Muskeln. Er biss sich auf die Unterlippe und drehte den Kopf weg, die Augen verräterisch feucht.

Sergej, dessen Wange sich langsam aber sicher blau färbte, hielt ihn noch eine Weile in dieser Position, ehe er wieder aufstand, sich die Jeans abklopfte und ihm eine Hand hinstreckte. Nach kurzem Zögern ließ sich Nikolai hochziehen.
 

„Geht’s wieder?“, fragte der Hacker, so beiläufig als würden sie sich übers Wetter unterhalten.
 

„Ja“, antwortete Nikolai leise.
 

Er schämte sich. So auszurasten, sich so gehen zu lassen, das war nicht annähernd professionell. Er konnte sich doch beherrschen, wieso verlor er diese Selbstbeherrschung dann andauernd bei Sergej? Es war zum Haare raufen. Verstohlen warf er einen Seitenblick auf ihn; konzentriert zog er die Kabel wieder aus den entsprechenden Buchsen und versiegelte die Öffnungen, damit kein Staub hineinkam. Sein Herz raste schon, seit sie aus dem Cyberspace wieder zurück waren, aber jetzt machte es einen kleinen Extrahüpfer, wie auf der Zielgeraden eines Marathons.

Nikolai wandte sich ab; bei Gelegenheit würde er Makoto fragen, ob sie etwas für ihn hatte, das die Endorphine in seinem Gehirn wieder in die richtige Ordnung brachte.

Die linke Hand der Furcht

Sergejs Plan war im Grunde simpel. Zusammen mit Melody verließ Nikolai die gesicherte Wohnung und fuhr nach Toshima, wohlwissend, dass die Leute von CyCo ihn dort innerhalb weniger Minuten schnappen würden. Der Tag war sorgfältig ausgewählt worden, denn langsam geriet CyCo in Zugzwang. Ihnen blieb noch eine knappe Woche, bis sie die KI zwangsweise runterfahren mussten, um irreparable Schäden an der Elektronik zu verhindern; je früher sie ihn in die Finger bekamen, desto besser. Und so kam es, dass sie gerade einmal eine halbe Stunde in einer bequemen, bonbonrosa Sitzecke saßen, bis sich eine zierliche Japanerin zu ihnen gesellte. Nikolai warf verstohlen einen Blick auf ihre Hände, und da war es: das schwarz glänzenden Hexagon, überzogen mit schimmernden Silberadern. CyCos Firmenlogo, als Chip in die Haut des Handrückens implantiert. Nikolai ließ sich nichts anmerken und nippte gelassen an seiner Cola; Alkohol war für das nächste halbe Jahr erst einmal gestrichen, bis sich seine neue Leber endgültig in ihre neue Verhältnisse gefügt hatte. Die junge Frau war etwa so groß wie er (die hohen Absätze eingerechnet) mit einer asymmetrischen, kecken Frisur und einem engen, grünen Wildlederrock. Als sie sich zu ihm drehte und ihn anlächelte, sah er den eintätowierten Schmetterling auf ihrer Schläfe. Er kannte das Muster nicht, aber er tippte auf eine Nahkampf-Spezialeinheit.
 

Auch bei den Yakuza waren einige Schmetterlinge dabei gewesen; schön, sanft und tödlich. CyCo legte sich für ihn echt ins Zeug, das musste man ihnen lassen. Nikolai warf Melody einen vielsagenden Blick zu, doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern schlug lässig die Beine übereinander und lächelte zuckersüß. Die junge Frau ließ sich elegant auf der Armlehne von Nikolais Sessel nieder, die Oberschenkel züchtig zusammengepresst.
 

„Dich habe ich hier noch nie gesehen, bist du neu hier?“
 

Nikolai zuckte nur mit den Schultern. Selbst wenn sie nicht extra nach ihm Ausschau gehalten hätte, wäre er aufgefallen: in seiner schwarzen Lederkluft nahm er sich in dem pastellfarbenen Café aus wie ein Pfefferkorn im Salzfass. „In Toshima schon, in Japan nicht“, sagte er in perfektem, praktisch akzentfreiem Japanisch. Das war nicht mal gelogen. Früher hatte er sich nur nach Toshima verirrt, wenn er hier einen Auftrag hatte.
 

Sie hob bewundernd ihre schmalen Augenbrauen. „Wow, dein Japanisch ist echt gut.“
 

„Hm.“ Nikola stellte sein Glas vorsichtig auf das kleine Teetischchen vor ihnen. „Hör zu, wenn du nichts Wichtiges zu sagen hast, dann schwirr ab. Ich hab keinen Bock auf Smalltalk.“
 

Melody grinste ihn an, in Anerkennung seiner Schauspielkünste, und lehnte sich zurück um den Rest der Show zu sehen.

Die Augen der Japanerin wurden für einen Moment schmal und sie beugte sich vor, so dass nur Nikolai ihre nächsten Worte hörte: „Du willst etwas Wichtiges hören? Okay, dann sag ich dir etwas: Guten Abend, XY1.“
 

Er reagierte so, wie er noch vor einem Monat auf so eine Anrede reagiert hätte: er zuckte zusammen und griff automatisch nach seiner Hüfte, wobei er seine Reflexe jedoch zügeln musste; soweit CyCo informiert war, waren seine Implantate immer noch ein Trümmerhaufen. Die junge Frau packte sein Handgelenk, ehe er die Messerscheide an seinem Gürtel erreichen konnte. Der Griff der schlanken, kühlen Finger war fest wie ein Schraubstock. Wütend starrte er sie an, alle Muskeln angespannt. Der Rest des Cafés nahm keine Notiz von ihnen; nicht mal Melody wäre der Beinahe-Angriff aufgefallen, wenn sie nicht darauf geachtet hätte. „Was willst du von mir?“
 

Der Schmetterling lächelte höflich und sagte im Plauderton: „Übrigens, ich heiße Cho, Cho Kato. Wie haben dich deine Adoptiveltern genannt, XY1?“
 

„Nikolai“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Diesmal war seine Wut nicht gespielt, obwohl er vorher gewusst hatte, dass CyCo nicht unbedingt fair spielte.
 

„Nikolai.“ Cho sprach den Namen langsam aus, um nicht über die ungewohnten Silben zu stolpern. „Also, Nikolai, kommst du freiwillig mit oder muss ich böse werden?“ Er hörte ein metallisches Klicken und sah unwillkürlich nach unten. In Chos freier Linken war ein schmales, silbernes Gerät aufgetaucht, das aussah, als gehörte es eigentlich in einen Operationssaal. Erst als er das verräterische Knistern hörte, wurde ihm bewusst, was sie da in der Hand hatte. Ein Schocker.
 

„Was willst du von mir?“, fragte er mit gesenkter Stimme.
 

„Nicht ich will etwas von dir. Ich bin nur da um dich abzuholen. CyCo will etwas von dir. Aber keine Angst, es wird nicht wehtun.“
 

„Sehe ich so aus, als hätte ich Angst davor, dass du mir wehtust?“, fragte er herausfordernd. Sie ließ ihren Blick prüfend über ihn wandern.
 

„Nein“, gab sie schließlich zu. In ihre Augen stahl sich ein harter Glanz und ihr Griff verstärkte sich, sodass er die Knochens seines Handgelenks aneinander reiben spürte. Er verzog das Gesicht; ein widerliches Gefühl.

„Aber gib mir trotzdem besser keinen Grund, dir wehzutun“, warnte sie ihn. Cho stand auf und zog ihn ebenfalls hoch, nur um sich im nächsten Moment bei ihm einzuhaken als wären sie beste Freunde. Als Melody ihr einen irritierten Blick zuwarf, lächelte sie nur entschuldigend. „Tut mir leid, aber ich muss deinen Freund kurz mal entführen, ja?“ Ohne auf die Antwort der jungen Frau zu warten zog sie ihn einfach mit sich, aus dem Café raus in die kühle, nach Frittierfett und Parfüm riechende Nacht. Er ließ es widerstandslos geschehen, obwohl er seinen Oberkörper so steif wie möglich machte, um ihr zu signalisieren, wie wenig ihm diese Behandlung gefiel. Der Wagen parkte keine zehn Meter entfernt hinter einer Hausecke, ein schlichter, schwarzer BMW mit verdunkelten Scheiben und einer unauffälligen Panzerung.
 

Cho riss die Hintertür auf, schubste ihn auf den weichen Ledersitz und setzte sich sofort daneben. „Zum Hauptquartier“, kommandierte sie, und das Auto setzte sich mit einem butterweichen Schnurren in Gang.
 

Nikolai schnaubte, halb belustigt, halb abfällig. „Hauptquartier, wirklich? Wohin geht’s denn, in Supermans Festung der Einsamkeit?“
 

An ihrem irritierten Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass sie keine Ahnung hatte wovon er sprach, und er lehnte sich kopfschüttelnd zurück. Jahrelanges Training sorgte dafür, dass er seinen Herzschlag einigermaßen unter Kontrolle halten konnte, trotzdem wurde ihm ein wenig flau im Magen, als der Wagen auf die Stadtautobahn fuhr und er die Wolkenkratzer vor dem samtschwarzen Nachthimmel funkeln sah. Jetzt ging es los.
 

Sergej schwitzte. Trotz voll aufgedrehter Klimaanlage klebte ihm die dünne Baumwolle seines T-Shirts klatschnass auf der Haut und er musste sich alle zwei Minuten seine Hände an der Jeans abwischen, damit seine Finger nicht auf den blanken Stahltasten seiner Tastatur abrutschten. Auf seinen Wangen brannten hektische rote Flecken.

Er hatte die Matrix auf halbe Sichtbarkeit geschaltet, sodass die Gitter und Zahlencodes durch das Zimmer zu schweben schienen wie geisterhafte Nachrichten.

Makoto betrachtete kritisch die Wellen auf dem portablen EEG, dass sie neben seinen Rechner gestellt hatte. „Dein Hirn arbeitet ja jetzt schon auf Hochtouren. Wie soll das erst nachher aussehen, wenn du voll rein musst?“
 

„Bin momentan nur auf halber Kraft. Nehme nachher ein anderes Kabel. Bringt mehr Leistung.“
 

Seine Sätze erinnerten an Telegramme; es hätte nur noch gefehlt, dass er nach jedem zweiten Wort „Stopp“ sagte. Er umkreiste das Cyberspace-Gegenstück von CyCos Hauptquartier wie die elektronische Version einer Schmeißfliege, hielt sich dabei aber auf genug Abstand, dass ihn die Sicherheitssysteme nicht registrierten. Als die Wohnungstür mit einem Mal aufflog, hätte er vor Schreck fast seine Tastatur durch den halben Raum geworfen.
 

„Sie haben ihn!“ Melody stürmte in das Zimmer als wäre Ausverkauf in ihrem liebsten Schuhgeschäft. „So eine kleine Japanerin hat ihn im Café aufgespürt und gleich mitgenommen!“
 

„Wann war das?“, fragte Sergej und zog bereits das erste Kabel aus seinem Implantat um es umzustecken.
 

„Vor gut vierzig Minuten. Ich wollte anrufen, aber das Netz war mal wieder down.“
 

„Vierzig Minuten…“ Er übte sich kurz im Kopfrechnen und nickte dann. „Das heißt, sie müssten inzwischen in der CyCo-Zentrale angekommen sein. Okay, Mädels, jetzt ist Showtime.“ Funken sprühten, als er das letzte Kabel mit dem Handballen in die entsprechende Buchse rammte. Er wurde mit einem elektrischen Zucken an der Innenseite seines Schädels belohnt und ließ ein letztes Mal die Knöchel knacken. „Wünscht mir Glück!“ Sergej steckte um, und das Zimmer verschwand in einem Wirbel aus Neonfarben und tiefer Schwärze.
 

Der Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem wahnwitzig geschwungenen Wolkenkratzer, in dem die Zentrale des Megakonzerns untergebracht war. Cho zerrte ihn aus dem Auto, seinen Arm in einer Art Polizeigriff festgehakt, sodass er sich nicht losreißen konnte. Was er ohnehin nicht vorgehabt hatte, aber das musste er ihr ja nicht unter die Nase reiben.
 

Das Gebäude war mit hellblauen Metallplatten verkleidet, die sich mit riesigen Fensterfronten abwechselten. Es beschrieb eine vage Kurve, die an das ikonische C in CyCos Logo erinnern sollte; architektonische Spielerei, aber nichtdestotrotz eindrucksvoll. Ihm war schon früher jedes Mal ein Schauer über den Rücken gelaufen, wenn er diesen bläulich schimmernden Wolkenkratzer in Tokios Skyline gesehen hatte, obwohl er es nie betreten hatte. Das sollte sich jetzt jedoch offensichtlich ändern. Cho schubste ihn in Richtung Eingang: ein riesiges Portal, in Chrom und weißen Marmor gefasst, und so groß, dass sich keine Kathedrale dafür hätte schämen müssen. Aber es war nur passend: immerhin betrat er jetzt den heiligen Tempel der Technik, die Brutzelle aller wichtigen Erfindungen der letzten achtzig Jahre.

Die Flügel des Portals standen offen, doch als sie näherkamen, sah er das feine, himmelblaue Flirren in der Toröffnung: ein Kraftfeld. Cho presste ihren Handrücken gegen ein pechschwarzes Touchpad; die Scanner registrierten ihren Chip, und das Kraftfeld verschwand. „Wir warten alle schon sehnsüchtig auf dich“, sagte sie lächelnd und zog ihn mit sich in die Eingangshalle.
 

Sergej atmete tief durch, den Blick fest auf die bläuliche Pyramide gerichtet, die CyCo im Cyberspace repräsentierte. Dort rein zu wollen kam für einen Hacker einem Todesurteil gleich. Die künstliche Intelligenz, CyCos Herzstück, verteidigte den Konzern bis aufs Blut und verfolgte unbarmherzig jeden, der auch nur an der Oberfläche kratzte. Bereits aus dieser Entfernung sah er die dunklen Schatten über die Wände der Pyramide huschen: Virusprogramme, heimtückisch, gefährlich und absolut auf das spezialisiert, was sie taten. Wenn er nur wenige Meter näher kam, würden sie sein Gehirn schneller zu Schaschlik verarbeiten, als er umstecken konnte. Darauf konnte er wirklich verzichten. Aber das war nicht der eigentliche Grund, wieso er so nervös war. Unendlich weit weg, in der Wohnung in Arakawa, hing sein Finger über einem speziellen Knopf auf seiner Tastatur, eine besondere Taste, die er eigentlich schon längst hätte drücken müssen…

Doch er konnte sich nicht überwinden. Wieder und wieder ging er den Zeitplan durch, während ihn die kleinen, radioaktiv leuchtenden Zahlen in seinem linken Augenwinkel permanent daran erinnerten, dass er Zeit verplemperte. Einmal mehr atmete er ein, so tief, dass seine Rippen knackten, bevor er seinen Finger so heftig auf den Knopf drückte, dass ein stechender Schmerz durch seine Hand schoss.
 

Im Cyberspace war man frei, frei von der Bürde seines eigenen Fleisches, sofern man es gut genug ausblenden konnte. Man existierte nur noch als Bewusstsein, das sich in den unendlichen Weiten der virtuellen Realität bewegte. Es hatte schon Hacker gegeben, die praktisch vor ihrer Tastatur verhungert waren, komplett ausgemergelt, unfähig sich von den leuchtenden Gittern zu lösen. Und aus genau dieser Freiheit fiel Sergej jetzt, wie ein Stein, den jemand aus einem Flugzeug geworfen hatte, und knallte unsanft in einen fremden Körper. Panik und Übelkeit überrollten ihn, sein Bewusstsein kämpfte fieberhaft gegen die enge, ungewohnte Hülle, gegen die Signale, die es nicht sofort verstand.
 

Der letzte Rest gesunder Menschenverstand, den er sich in dieser Situation gottlob bewahrt hatte, verhinderte schließlich, dass er endgültig dem Wahnsinn anheimfiel: das drangvolle Gefühl der Enge schwand, er konnte ausmachen, wo sich welche Gliedmaßen befanden, aus der blendenden Helligkeit wurden optische Eindrücke, die er zuordnen konnte, und aus dem statischen Rauschen normale Geräusche. Es war nicht das erste Mal, dass er ein Sensorium benutzte, aber es war jedes Mal wieder eine unangenehme Sache, so unangenehm, dass er sie normalerweise vermied. Wieso machten manche Menschen sowas freiwillig, und dann auch noch zum Spaß? Sergejs echter Körper entspannte sich wieder etwas, als sein Geist langsam zur Ruhe kam. Eins musste man Makoto lassen: das Sensorium, das sie Nikolai eingesetzt hatte, funktionierte einwandfrei, komplett ohne Störungen. Aber das änderte nichts daran, dass sich Nikolais Körper für den Hacker komplett fremdartig anfühlte. Für einen Moment überkam ihn die alte Platzangst, bis er sich bewusst machte, dass er sich jederzeit wieder ausklinken und in den Cyberspace zurückkehren konnte. Erst als er sich das vor Augen geführt hatte, konnte er sich auf seine - oder vielmehr Nikolais - Umgebung konzentrieren.
 

Der Chip, der am oberen Ende des Rückenmarks implantiert wurde, übermittelte mithilfe eines Verstärkers sämtliche Sinneseindrücke des Senders und sandte sie auf einer speziellen Frequenz an den Empfänger; für ihn die beste und genauste Methode um zu wissen, wann der Code eingelesen wurde. Ein paar Sekunden zu früh oder zu spät und er würde in der eisigen Kälte von CyCos Matrix zu einem digitalen Aschehäufchen verbrennen. Nikolais Augen waren extrem scharf und lieferten glasklare Bilder, als er sich aufmerksam in der Eingangshalle umsah, unwissend, dass er einen Reiter hatte. Sergej war zur Untätigkeit verdammt; er konnte nur zusehen. Schlanke Säulen aus poliertem schwarzem Marmor strebten in die Höhe, stützten eine Decke, die aus verchromtem Stahl zu bestehen schien. Diese Säulenarkade schien sich endlos lang hinzuziehen, nahm wohl die gesamte Grundfläche des Gebäudes ein, lediglich ab und an unterbrochen von einzeln eingepassten Türen, die wahrscheinlich zu den Fahrstühlen führten. Sergej konzentrierte sich auf Nikolais gleichmäßigen Herzschlag und versuchte die letzten Reste seines Unbehagens abzuschütteln; schließlich war nicht er selbst in der Höhle des Löwen, sondern Nikolai.
 

Cho lotste Nikolai etwa in die Mitte der Eingangshalle und blieb dort stehen. Er wollte sie gerade fragen, was das sollte, als er ein richtiggehendes Bataillon auf sich zukommen sah, angeführt von einem hochgewachsenen Japaner in einem blendend weißen Laborkittel. Insgesamt erinnerte ihn das Innere von CyCos Hauptquartier bis jetzt an eine überdimensionierte Version von Jerseys Boutique, wenn auch vielleicht etwas schicker. Zumindest war er sich ziemlich sicher, dass der Marmor auf diesem Boden echt war. Inzwischen war der kleine Trupp bei ihnen angekommen und der Mann im Laborkittel musterte Nikolai abschätzig von oben bis unten, als wäre er Modelscout und kein Wissenschaftler.
 

„Das ist also XY1.“
 

„Er heißt Nikolai“, informierte ihn Cho und für einen Moment war sie Nikolai beinahe sympathisch.
 

„Wie auch immer, wir haben nicht viel Zeit. Je eher wir diese Sache über die Bühne bekommen, desto besser.“
 

Sein Gefolge, welches anscheinend aus Labor- und Wachpersonal bestand, nickte eifrig. Anscheinend war er hier ein ganz hohes Tier.
 

Nikolai funkelte ihn wütend an. „Würde mir mal bitte jemand erklären, was sie bitte von mir wollen? Ihre Firma hat sich seit vierundzwanzig Jahren nicht für mich interessiert, was wollen sie auf einmal von mir?“
 

„Oh, natürlich, wie unhöflich von mir.“ Der Anführer schien sich mit einem Mal wieder seiner guten Manieren zu entsinnen. „Ayato Watanabe mein Name, ich bin der Chef der Forschungsabteilung von Cybernetic Corporations. Wir haben keineswegs vor, ihnen etwas anzutun. Wir benötigen lediglich eine Blutprobe von ihnen… Sobald wir diese erhalten haben, sind Sie wieder ein freier Mann, und können gehen wohin Sie wollen… Wir wären sogar bereit, für ihren Aufwand eine gewisse Entschädigung zu zahlen.“
 

„Okay.“ Nikolai atmete einmal tief durch. „Könnten Sie dem Schmetterling dann bitte sagen, dass sie meinen Arm abquetscht? Ich laufe schon nicht weg. Zumindest, wenn das stimmt, was Sie sagen“, schränkte er ein.
 

„Natürlich. Kato, loslassen.“
 

Cho tat wie ihr geheißen, postierte sich aber so, dass sie ihn jederzeit wieder packen konnte. „Folgen Sie mir bitte.“ Gehorsam lief er hinter Watanabe her, die Hände locker an der Seite. Am liebsten hätte er sie in die Hosentaschen gesteckt, doch jedes Mal wenn er seinen Messern nur auf zehn Zentimeter nahe kam, zuckte Cho nach vorne und er wollte ihr nicht unbedingt einen Grund geben, ihr Spezialtraining an ihm auszuprobieren. Innerlich musste er jedoch grinsen; schließlich wusste sie nicht einmal etwas von den Backup-Klingen, die sorgsam an seinen Oberarmen festgeschnallt waren. Watanabe lotste sie zu einem Fahrstuhl, der von außen völlig normal aussah, dessen Kabine aber groß genug war, um im Zweifelsfall einem kompletten Lastwagen Platz zu bieten. Die kleine Menschenmenge wirkte in diesem riesigen Metallkasten irgendwie verloren. Mit einem sanften Ruck setzte er sich Richtung Untergeschoss in Bewegung. Nikolai starrte konzentriert an die Wand und zählte im Stillen die Sekunden; bei sechshundert gab er schließlich auf. Entweder kroch dieser Fahrstuhl im Schneckentempo durch die Unterwelt des Wolkenkratzers oder sie würden schlussendlich in der Hölle herauskommen.
 

Als sich die Fahrstuhltüren schlussendlich öffneten, blinzelte er überrascht. Er hatte einen langen, weißen, steril ausgeleuchteten Flur erwartet, aber keinen mittelalterlichen Keller. Die Wände und der Boden bestanden aus schmutzigem, grauen Sandstein, in dessen Fugen Moos wucherte. Die Luft roch trotz Lüftungssystem nach Schimmel und leichter Fäulnis. Nackte Glühbirnen spendeten schummriges Licht.
 

Watanabe hatte seinen Blick bemerkt. „Das Gebäude wurde auf den Überresten des Anwesens unserer Gründerin errichtet. Dieser Teil hier ist über hundert Jahre alt.“ Mit einem sanften Schubs bedeutete er Nikolai voraus zu gehen. „Unsere Gründerin baute und programmierte die KI, der wir unseren immensen Erfolg verdanken, im Keller ihres eigenen Hauses. Da wir immer noch nicht hundertprozentig verstanden haben, wie sie funktioniert, haben wir es nicht gewagt sie umzusetzen, sondern ihr stattdessen ihr ganz eigenes Refugium auf den Grundmauern ihres alten Zuhauses geschaffen.“
 

So wie er es formulierte, hatte Nikolai Probleme zu verstehen, ob es immer noch um die KI oder schon um dessen Gründerin ging, doch er zuckte nur mit den Achseln und ging weiter, bis sie an einer massiven Stahltür angekommen waren. Nacheinander legten Watanabe, Cho und noch fünf weitere Mitarbeiter ihre Hände auf ein Touchpad, das kurz danach einen hellen Ton von sich gab und einen Nummernblock erscheinen ließ, auf dem ein Techniker einen bestimmt dreißigstelligen Code eingab. Danach kam nochmal das Theater mit den Fingerabdrücken und dem Chipabgleich, diesmal allerdings mit acht anderen Personen, bevor das metallische, dunkle Ratschen zu hören war, mit dem die dicken Magnetbolzen in der Tür zur Seite glitten. Die Türflügel öffneten sich langsam, geradezu träge; gleichzeitig kam ihnen ein eiskalter Hauch entgegen. Nikolai erschauerte und zog seine Jacke enger um sich.
 

Watanabe lächelte stolz. „Willkommen im Herzen von CyCo.“
 

Ein eigenartiges Rauschen begrüßte ihn, als er über die Schwelle trat. Für einen Moment glaubte er tatsächlich, das Meer rauschen zu hören, bis ihm aufging, wie albern das war. Wo sollte bitte vierhundert Meter unter der Erde ein Meer herkommen? Der Raum selbst war bestimmt größer als Sergejs komplettes Apartment, aber ansonsten hielten sich die Unterschiede überraschenderweise in Grenzen. Weiße Wände, weiße Decke, hellblauer Kunststoffboden. Es war eiskalt; sein Atem hing als feuchtwarme Dampfwolke in der trockenen Luft.
 

Zögernd machte er ein paar Schritte in den Raum hinein, im vollen Bewusstsein, dass die Wachleute nur darauf warteten, dass er eine falsche Bewegung machte. Aber das hatte er gar nicht vor, er wollte sich lediglich umsehen. Dabei gab es nicht mal viel zu sehen. Hinter der Tür befand sich ein etwa fünfzehn Meter langer Gang, eine Schneise durch einen Urwald von Speicherblöcken und Recheneinheiten, jeder so groß wie ein mittlerer Schiffcontainer. Kabel so dick wie sein Unterarm schlängelten sich zwischen ihnen hindurch; er bemühte sich, auf keins von ihnen zu treten. Der Gang endete an einem weiteren stählernen Portal, das sogar noch umständlicher geöffnet werden musste als das Letzte.
 

Inzwischen waren seine Hände eiskalt; trotzdem schwitzte er, vor purer Aufregung. Bei einem Auftrag durften einem seine Emotionen nicht in die Quere kommen; es war im Grunde wie bei einem Schauspieler. Lampenfieber war okay, so lange es nicht in Bühnenangst ausartete. Lampenfieber half die Sinne zu schärfen und den Körper reaktionsfähiger zu machen, aber man durfte sich auf keinen Fall davon lähmen lassen. Nikolai atmete tief durch, fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand durch die Haare und folgte Watanabe, nachdem er es endlich geschafft hatte, die Tür zu entriegeln.

Auf der anderen Seite war es bestimmt noch mal ein paar Grad kälter; Cho begann in ihrem kurzen Fummel bereits zu zittern.

Sein Blick wurde geradezu magisch von der Säule angezogen, von dem metallisch glänzenden Kern der künstlichen Intelligenz, umwoben von den pulsierenden blauen Adern der Versorgungsleitungen. Ähnlich wie Sergejs Implantate war das blanke Metall von dünnen, schwarzen Linien überzogen; Nahtstellen, verborgene Eingänge für Kabel oder Infrarot-Schnittstellen. Als er langsam näherkam, erfasste er erst die immense Dimension des Kerns: die Säule hatte einen Durchmesser von gut vier Metern, wenn nicht sogar noch mehr, und erstreckte sich bis zur Decke des hallenartigen Raumes. Auch hier standen Speicherblöcke, allerdings nicht mattschwarz, sondern chromglänzend. Watanabe berührte ihn an der Schulter und schob ihn so noch näher an den Kern heran, während sich sein Gefolge im Halbkreis um sie herum aufstellte. Nikolai sah die Eisblumen auf dem Metall, als er nur noch einen knappen Meter von der Säule entfernt war.
 

„Wunderschön, oder?“, fragte Watanabe verträumt.
 

„Naja, ich weiß ja nicht“, entgegnete Nikolai skeptisch. „Ich bin kein großer Technik-Experte. Ich würde nur gerne langsam mal aus diesem Eisschrank heraus.“
 

„Natürlich.“ Watanabe strich beinahe zärtlich über eine bestimmte, schwarz eingerahmte Stelle. Leise surrend fuhren die fugenlos zusammengefalteten Metallblätter beiseite und gaben den Blick frei auf einen kleinen Display und eine hellblau eingefasste Öffnung.
 

„Und jetzt?“, fragte Nikolai, ein wenig ratlos, was genau er jetzt tun sollte.
 

„Jetzt legen Sie bitte ihren rechten Zeigefinger in die Öffnung. Im Inneren befindet sich eine Nadel, die die erforderliche Blutprobe entnimmt. Wir haben das System vor einigen Jahren umgerüstet, sodass nur noch ein einzelner Tropfen erforderlich ist.“
 

Wie praktisch. Er schickte ein letztes stummes Gebet an jeden Gott, der gewillt war ihm zuzuhören, ehe er Watanabes Anweisung Folge leistete.
 

Sergejs Magen krampfte sich vor Aufregung zusammen, doch das registrierte er schon gar nicht mehr. Die Matrix und die Bilder aus Nikolais Sensorium liefen momentan parallel, während seine Finger so hektisch wie nie über die Tasten flogen. Er schaltete kurz entschlossen das Sensorium ab; jetzt musste es ohne gehen. Gleich war es soweit. Gleich fiel der Startschuss für den größten Run seines Lebens.
 

Das Metall war eiskalt um seinen Finger, aber er spürte das leichte Pulsieren der Elektronik im Inneren, beinahe wie ein echter Herzschlag. Leichter Ekel überrollte ihn bei diesem Gedanken; immerhin lebte dieses Ding, auf irgendeine seltsame und verdrehte Art und Weise lebte es tatsächlich, und sein Blut würde ihm den Todesstoß versetzen. Ein einzelner Tropfen warmes, rotes Blut…
 

Nikolai war so in Gedanken versunken gewesen, dass er zusammenzuckte, als sich die Nadel in seine Fingerkuppe bohrte, gierig den austretenden Blutstropfen aufsaugte und in das Innere des Kerns schickte. Der gesamte Raum schien für einen Moment den Atem anzuhalten; bis auf das Klicken und Rauschen der Speicherblöcke herrschte Totenstille. Als ein heller, klarer Ton aus den Tiefen der Säule erklang, atmete das Team sichtlich erleichtert auf; bis mit einem Mal die verschlungenen Adern an der Außenhaut des Kerns in einem grellen Blauweiß aufleuchteten. Geblendet kniff Nikolai die Augen zusammen. So schnell wie das Leuchten gekommen war, legte es sich auch wieder, aber kaum war es erloschen, fuhr ein unheimlicher Schlag durch seinen Körper, wie ein Stromstoß, durch seine Arme direkt ins Rückenmark und weiter ins Hirn und in die Beine. Sämtliche Muskeln erschlafften mit einem Mal; als er am Fuß der Säule zusammenbrach, war er schon nicht mehr bei Bewusstsein.
 

Sergej sah wie sich die Sperren um CyCos Datenpyramide in Luft auflösten, zu glühenden Funken zerstoben, und katapultierte sich mit einem einzelnen Tastendruck mitten in das Gitter hinein. Das hellblaue Neon schlug über ihm zusammen wie Meeresbrandung. Die Struktur der Daten lag herrlich klar vor ihm, ungeschützt und offen; er brauchte sich nur noch zu bedienen. Plötzlich spürte er einen eiskalten Hauch an seiner Seite und er drehte sich überrascht um. Seine Augen weiteten sich in stummem Entsetzen. Er war mitten in die Falle getappt. Ein schwarzer Schatten hüllte ihn ein, erstickte ihn in seiner eisigen Kälte und riss ihn unbarmherzig mit sich, weg aus dem Gitter, hinein in eine Dunkelheit, in die ihnen niemand folgen konnte.
 

In der Wohnung in Arakawa zuckten Melody und Makoto zusammen, als Sergej schrill aufschrie, ehe sein Körper erlahmte und er in sich zusammensackte.
 

Watanabe und der Rest des Teams standen immer noch wie angewurzelt auf ihren Posten, als sich all die aufgestaute Energie des Kerns in einem einzige, elektromagnetischen Impuls entlud und sie alle von den Füßen holte; sie sollten erst Stunden später wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen.
 

Das erste, das Nikolais geschundene Nerven registrierten, war die harte Oberfläche, auf der er lag. Das nächste war der pochende Schmerz in seinem Hinterkopf. Was war bloß passiert? War er mal wieder abgestürzt? Hoffentlich hatte er es wenigstens zurück in sein Wohnklo geschafft… Mit einiger Mühe stützte er sich aus seiner Bauchlage hoch, bevor er seine Lider auseinanderquälte. Das Licht war trüb und grau; anscheinend war der Morgen schon angebrochen. Er lag auf einem blanken, von Rissen durchzogenen Betonboden, der sich unter seinen Händen rau anfühlte. Seine Gelenke knackten, als er aufstand, aber irgendetwas in seinem Schädel knackte noch viel lauter, als er seine Umgebung endlich richtig wahrnehmen konnte. Nikolai hatte es immer für pure Übertreibung gehalten, wenn jemandem vor Überraschung die Kinnlade herunterklappte, doch diese Meinung musste er jetzt revidieren. Er stand auf einer kreisrunden, kahlen Plaza, umgeben von Gebäuden in verschiedenen Stadien des Verfalls. Wolkenkratzer, Wohnblöcke, Geschäfte, Cafés: alles sah aus, als hätte entweder ein Tornado oder ein Krieg in dieser Stadt getobt.
 

Der Himmel über ihm hatte die Farbe von stumpfen Blei; die Luft schmeckte nach Asche und Eisen. Aber erst als er ein paar Schritte gegangen war und genau in die Mitte des Platzes stand, sah er ihn: ein riesiger Turm, bestimmt mehrere hundert Meter hoch, der sich majestätisch über jeden anderen Wolkenkratzer erhob. Blankes Metall und hellblau schimmernde Adern. Nikolais Augen weiteten sich erschrocken und er presste sich reflexartig die Hand auf den Mund, als ihm bittere Galle die Speiseröhre hochstieg. Durch unsichtbare Risse in seinem Bewusstsein sickerten die Ereignisse der letzten Stunden wieder in sein Inneres, giftig und kalt wie Quecksilber. Er erinnerte sich. CyCo, der Kern, die Nadel… Aber wo zur Hölle war er jetzt? War er in diesem eisigen Keller eingefroren und nach einem Atomkrieg wieder aufgetaut worden? Anders konnte er sich seine momentane Lage nicht wirklich erklären…
 

„Nikko!“
 

Wie von der Tarantel gestochen wirbelte er herum. Sergej lief auf ihn zu, heftig winkend, als wolle er einen bereits fahrenden Bus anhalten. Nikolai rührte sich nicht, bis er bei ihm angekommen war; er konnte nichts anderes tun als starren. Leise keuchend stützte der Hacker seine Hände auf die Knie; anscheinend war er recht weit gelaufen. Sein Zopf hatte sich gelöst, das dunkle Haar fiel ihm in wirren Strähnen ums Gesicht und auf der rechten Wange hatte er einen dunklen Rußfleck.

„Hätte nicht gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte er und grinste schief, scheinbar bemüht die Situation aufzulockern. Nikolai hakte seine Daumen in die Gürtelschnallen und runzelte die Stirn.
 

„Hast du irgendeine Ahnung, wo wir hier sind?“
 

„Die hab ich allerdings.“ Auch er legte die Stirn in Falten. „Ich glaube, wir sind im Inneren der KI.“
 

Beinahe hätte Nikolai losgeprustet. „Bitte was? Im Inneren der KI? Wie soll das denn gehen?“
 

Der Blick, den Sergej ihm zuwarf, konnte man nur als genervt beschreiben. „Wie genau das funktioniert weiß ich auch noch nicht hundertprozentig, aber ich glaube, durch meine Direktverbindung mit der Matrix, deine Direktverbindung mit der KI und den Virus in deiner DNS wurde unser Bewusstsein wohl in das Innere des Speichers transferiert… Wahrscheinlich gab es eine extrem üble Rückkopplung mit deinem Sensorium.“
 

Nikolais Kopf fuhr so schnell herum, dass er seine Wirbel knacken hörte. „Mein bitte was? Du hast mir ein Sensorium verpasst?!“
 

Zumindest hatte Sergej den Anstand einigermaßen schuldbewusst auszusehen. „…Ja.“
 

„Und wieso hast du mir das nicht erzählt? Oder, viel besser, mich um Erlaubnis gefragt?“
 

„Die Erlaubnis hättest du mir doch sowieso nicht gegeben und gesagt habe ich es dir nicht, weil ich genau dieses Theater vermeiden wollte!“
 

Wütend fletschte er die Zähne. „Entschuldige, dass ich es nicht mag, wenn jemand meinen Körper als bessere Sicherheitskamera missbraucht!“
 

„Darum ging es doch gar nicht, und das weißt du!“
 

„Aber, aber. Wer wird denn gleich streiten?“
 

Die beiden Streithähne hielten inne und drehten sich in die Richtung, aus der die honigsüße Stimme gekommen war. Ihre Augen weiteten sich praktisch synchron. Vor ihnen, wie aus dem Boden gewachsen, stand der wahrscheinlich merkwürdigste Mensch, der ihnen je unter die Augen gekommen war. Er war jung, fast noch ein Teenager, mit schneeweißer Haut, sehr groß und sehr mager, mit langen, spinnenartigen Gliedmaßen. Seine Kleidung schien aus irgendwelchen schwarzen, weißen und grauen Lumpen zusammengenäht zu sein, die wahllos um Brust und Hüfte geschlungen waren, so dass er wenigstens halbwegs anständig bedeckt war. Nikolai spannte unwillkürlich die Muskeln an und schob sich ein Stück vor Sergej; er traute diesem seltsamen Ding nicht über den Weg. Pechschwarzes, zerzaustes Haar hing ihm bis auf die Schultern herab und malte dunkle Tintenstriche auf seine Wangen, als er ein paar Schritte vor ihnen stehenblieb und sich neugierig vorbeugte, schmale Lippen zu einem Lächeln verzogen. „Streitet euch nicht“, bat der Fremde sanft. „Ich bekomme so selten Besuch… Hier drin ist es einsam geworden.“
 

Ein entscheidendes Rädchen in Sergejs Hirn schien einzurasten und er machte einen Schritt nach vorne. „Bist du die KI?“
 

Die schmalen Lippen zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander und entblößten dabei strahlend weiße, spitze Zähne. „Oh, du hast mich erkannt!“ Wie ein Kind klatschte er in die Hände. „Wie schmeichelhaft!“
 

„Hast du einen Namen?“, fragte Sergej.
 

Die KI hielt einen Moment inne und sagte dann langsam, so als wäre er sich nicht sicher: „Splitter.“
 

„Splitter?“, hakte Nikolai überrascht nach.
 

„Ja… Ich… Ich bin nur ein Splitter von dem, was einmal war…“ Fahrig fuhr sich Splitter mit der Rechten übers Gesicht, so als hätte er Kopfschmerzen.
 

Sergej warf Nikolai einen skeptischen Blick zu; dieser nickte nur. „Okay… Hör zu, Splitter. Mein Partner und ich müssen kurz etwas miteinander besprechen. Wir sind gleich wieder da, okay?“
 

Die KI legte den Kopf schief und nickte dann langsam. „Ihr kommt aber wieder, oder?“
 

„Klar. Dauert auch nicht lange.“ Sprach's, hakte sich bei Nikolai ein und zog ihn mit sich, in eins der leerstehenden Häuser, die die Plaza umgaben. Die ganze Zeit spürten sie dabei Splitters Blick im Nacken. In der Ruine angekommen, ließ sich Sergej auf einen Mauerrest fallen.
 

„Und, was hältst du von der Sache?“
 

„Ich weiß nicht“, antwortete Nikolai langsam. „Liegt das an mir oder ist diese KI ein bisschen komisch?“
 

„Ein künstlich erschaffenes Bewusstsein ist wahrscheinlich nie ganz clean, aber ich verstehe was du meinst.“

Nachdenklich starrte der Hacker auf den Boden. „Ich war mir sicher, dass der Virus in deiner DNS ausreichen würde um die KI ein für alle Mal umzulegen, aber anscheinend habe ich mich da getäuscht. Eva hat ihr Spielzeug scheinbar auch für solche Eventualitäten ausgerüstet.“
 

„Und wie kommen wir hier wieder raus?“
 

„Keine Ahnung.“
 

Wütend kickte Nikolai einen Gipsbrocken gegen die Wand, der prompt zerplatzte und die Luft weiß färbte. „Wie, du hast keine Ahnung?“, fragte er aufgebracht. „Du bist doch der Meisterhacker, oder nicht? Dann lass dir gefälligst auch was einfallen! Ich will zurück in meinen Körper!“
 

„Ich doch auch!“, hielt Sergej dagegen. „Aber… Nein, das ist wahnwitzig. Obwohl… Es könnte klappen… Wenn wir Glück haben.“
 

„Hör auf in deinen nicht vorhandenen Bart zu murmeln und weih mich ein“, forderte Nikolai.
 

Als Sergej den Kopf hob, funkelten seine dunklen Augen verschmitzt. „Du erinnerst dich doch an diesen riesigen Turm, der aussieht wie der Kern der KI bei CyCo, oder?“
 

„Ich hab keinen IQ von dreihundert, aber so senil bin ich auch wieder nicht.“
 

„Gut. Wenn wir annehmen, dass das, wo wir uns gerade befinden, eine Art Abstraktion der eigentlichen Konstruktion der KI ist, dann dürfte der Turm das Herzstück beinhalten. Das heißt, dass es dort ein Steuermodul geben müsste, mit dem man die KI manuell abschalten kann. Dann müsste unser Bewusstsein auch wieder in die eigentliche Quelle transferiert werden, schließlich sind wir kein programmierter Bestandteil ihrer Struktur.“
 

„Und im Klartext?“, fragte Nikolai nach.
 

„Im Klartext: ich muss in den Turm rein, den Hauptcomputer finden und das alles hier abschalten!“
 

„Oh oh, das klingt aber gar nicht nett.“

Erschrocken sahen sie nach oben. Splitter baumelte von einem der wenigen intakten Dachbalken, offensichtlich nicht erfreut von dem, was er gehört hatte. „Dabei war ich doch so nett zu euch.“

Er ließ sich fallen und landete elegant in der Hocke. Als er aufstand, sah Nikolai in dem spärlichen Licht seine Augen funkeln. Er hatte harte Augen, dunkelgrau mit hellen Einschlüssen, wie Glimmerbrocken in Granit. Langsam kam er auf sie zu, den Kopf gesenkt. „Wieso wollt ihr denn schon gehen? Und mir auch noch wehtun?“ Sein Tonfall war weinerlich, wie bei einem kleinen Kind das seinen Willen nicht bekam. „Ihr habt mir doch schon wehgetan… Irgendwas hat ganz schlimm gebrannt…“ Erst als er direkt vor ihnen stand, hob er den Kopf, sah ihnen voll ins Gesicht, die Lippen gespitzt wie eine Rosenknospe. „Naja, wenn ihr mir wehtut, dann kann ich das ja auch, oder?“
 

Nikolai reagierte sofort. Mit der Linken schubste er Sergej so heftig zur Seite, dass er beinahe gefallen wäre, mit der Rechten griff er nach seinem Messer und blockte gerade noch rechtzeitig Splitters erste Attacke ab. Die Nägel der KI waren mit einem Mal lang und scharf wie Skalpelle und Nikolai schaffte es nicht, sich rechtzeitig wegzudrehen, sodass ihm der Daumennagel eine lange blutige Scharte in die Wange riss. Gespannt wie eine Sprungfeder stand er ihm nun gegenüber; mit einem schnellen Sprung hatte er sich außerhalb seiner Reichweite postiert. Sergej stand an der leeren Türöffnung und beobachtete den Kampf mit stoischer Ruhe. Splitter legte wieder den Kopf schief und leckte sich langsam und bedächtig das Blut vom Daumen. Als die rote Flüssigkeit seine Zunge berührte, zogen sich seine Pupillen mit einem Mal zusammen und wurden dann lang und schmal wie Katzenpupillen.
 

„So ist das also.“ Der kindliche Unterton war aus seiner Stimme verschwunden. „Das bist du also…“

Während Splitter wie erstarrt dastand, nutzte Nikolai seine Chance und floh aus dem engen Gebäude, raus auf den offenen Platz. Sergej folgte ihm.
 

„Was war denn das für eine komische Aktion?“
 

„Keine Ahnung, aber hoffen wir, dass er so schnell nicht mehr zu sich kommt. Los, wir müssen zum Turm.“

Sie bogen in eine Straße ein, die in die Stadtmitte zu führen schien, dorthin, wo sie den Turm vermuteten.

„Und du bist dir sicher, dass das klappt?“
 

„Nein. Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht!“
 

Splitter sah dem davoneilenden Paar nach und leckte sich nachdenklich über die Lippen. Seine Kopfschmerzen waren besser geworden, er konnte wieder einigermaßen klar denken. Das nervige Interferenz-Rauschen hatte sich in seinen Hinterkopf verlagert und übertönte nun nicht mehr alles mit seinem störenden Knacken. Träge setzte er sich in Bewegung, den beiden hinterher, die grauen Augen unfokussiert und trübe. Vielleicht würde sich bald auch der Rest des Nebels lichten…
 

Sie machten Pause in einer halb zusammengefallenen Kirche; die Straße, an der sie stand, war voller Trümmer eines kollabierten Bürogebäudes. Stahlträger ragten wie groteske, moderne Skulpturen in den dunkelgrauen Himmel. Nikolai lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte blicklos an die mit verblassten Malereien bedeckte Decke.

„Wie weit sind wir noch weg vom Turm?“
 

Sergej zuckte mit den Achseln. „Schwer zu sagen. Wenn wir das Tempo halten, dann vielleicht eine halbe Stunde.“
 

Nikolai knabberte gedankenverloren auf seiner Unterlippe herum. „Weißt du, was ich mich immer noch frage?“ Wenn wir hier nur als Bewusstsein existieren, wieso nehmen wir dann trotzdem haptische Reize wahr? Wieso funktionieren unsere Implantate weiterhin? Und welche Folgen haben solche Sachen“ Er deutete auf den Schnitt an seiner Wange. „Für unsere echten Körper?“
 

Auffordernd sah er Sergej an, der mit konzentriert gerunzelter Stirn auf den staubigen Boden starrte.

„Okay, ich hätte da eine Theorie“, begann dieser schließlich. „Unsere Implantate und der ganze andere Kram funktionieren wahrscheinlich, weil wir in dieser Welt als eine Art Programm existieren. Jedes Computerprogramm funktioniert anders, erfüllt andere Zwecke und muss dementsprechend auch andere Parameter bedienen, wenn du verstehst was ich meine. Durch mein Implantat und dein Sensorium wurden wahrscheinlich entsprechende Daten über unsere Körper und deren Beschaffenheit heruntergeladen, die dazu dienten, die Körperbilder zu formen, die wir momentan vor uns sehen. Das wir optische, akustische und haptische Reize weiterhin wahrnehmen, liegt wahrscheinlich auch an deinem Sensorium. Hättest du keins gehabt, würden wir hier bestimmt als pure Präsenzen existieren, wie im Cyberspace. Ich denke, dass es auf unsere realen Körper keinen Einfluss hat, wenn wir uns hier verletzten, zumindest nicht so lange es nur Schürfwunden und Prellungen sind. Wenn die KI durch diese doppelte Schnittstelle tatsächlich so eng mit unseren Körpern verknüpft ist wie ich denke, dann würde aber eine Amputation beispielsweise zum Absterben der Nerven im entsprechenden Körperteil führen… Und ein Tod hier würde höchstwahrscheinlich auch einen Tod in der realen Welt bedeuten, oder zumindest ein dauerhaftes Koma. Aber wenn wir die KI an sich abschalten, dann müssten wir in unsere Körper zurückkehren, da wir ja kein integraler Bestandteil sind und dementsprechend an unseren Ursprungsort zurückgeschickt werden. Das ist ungefähr so, als würde man einen USB-Stick in einen Computer stecken: wenn der Computer abstürzt, sind die Daten auf dem Stick trotzdem weiter vorhanden.“
 

„Tolle Theorie“, kommentierte Nikolai trocken. „Sehr beruhigend.“
 

Schweigen senkte sich auf sie, während sie die zersplitterten Kirchenbänke und den mitten durchgebrochenen Altar betrachteten; es sah aus, als hätte hier jemand eine Bombe hochgejagt.
 

„Nur mal so fürs Protokoll: ich bin verdammt sauer auf dich.“
 

Der Hacker winkte nur müde ab. „Weiß ich, weiß ich. Tut mir Leid. Glaub mir, ich hatte das Ganze auch entschieden anders geplant, aber ändern kann ich's jetzt auch nicht mehr, schließlich-“

„Sch.“ Nikolai legte ihm einen Finger auf den Mund und brachte ihn so effektiv zum Schweigen. Seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Hier schleicht jemand rum.“
 

„Deine Ohren sind wirklich gut.“ Splitter trat hinter einer geborstenen Säule hervor, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Aber etwas anderes hätte ich von meinem Meister auch nicht erwartet.“
 

Verwirrt sah er zu Sergej, der zuckte jedoch nur mit den Achseln. Kurz entschlossen zog er sein Messer und stellte sich in Position. Sie hatten den Altar im Rücken und das Kirchenportal direkt vor ihnen; doch durch den Mittelgang kam Splitter auf sie zu, und es war mehr als fraglich, ob er sie einfach so vorbeilassen würde. Die KI machte jedoch keine Anstalten anzugreifen; sie blieb einfach ein gutes Stück von ihnen entfernt stehen und stützte die Hände in die knochigen Hüften. „Denkst du, dass du mir mit so einem Ding wirklich wehtun kannst?“
 

„Probier's doch aus“, knurrte Nikolai, den Daumen fest auf dem rutschsicheren Griff.
 

Splitter lächelte katzenhaft. „Wie du willst.“
 

Sergej sah nur einen weißen Blitz, der den Mittelgang entlanghuschte; keine halbe Sekunde später stand Splitter direkt hinter Nikolai und hielt ihm einen rasiermesserscharfen Fingernagel direkt an den Hals. Der Hacker wollte eingreifen, doch sein Partner bedeutete ihm stehenzubleiben. Er umklammerte sein Messer so fest, dass seine Knöchel schneeweiß hervortraten; ansonsten rührte er sich nicht. Splitter beugte sich vor, sodass sein Kinn auf der Schulter seines Opfers zu liegen kam und ritzte die blasse Haut leicht an. Ein dünner Blutfaden lief Nikolai den Hals hinunter und eine warme, feuchte Zungenspitze tanzte über den flachen Schnitt. „Hm…“ Die KI klang, als würde sie einen teuren Wein verkosten. „Du bist es wirklich… Ich war mir erst nicht sicher, aber jetzt schmecke ich es ganz deutlich… Meister. Wie schön, dass du endlich gekommen bist.“ Der Nagel wurde zurückgezogen, dafür schlangen sich seine mageren Arme nun um Nikolais Oberkörper und pressten ihn fest gegen den seltsamen Körper der KI.
 

Auf diese Chance hatte er gewartet. Nikolai fasste seine Waffe etwas lockerer und rammte Splitter die Klinge mit aller Kraft in den Oberschenkel, nur um sie dann unbarmherzig nach oben zu reißen. Er spürte deutlich, wie die blanke Klinge das Fleisch zerschnitt und am Knochen entlangschabte. Ein geradezu trommelfellzerfetzender Schrei entrang sich Splitters Kehle und er stieß Nikolai instinktiv von sich fort, ehe er auf ein Knie fiel.
 

Aus der tiefen Wunde plätscherte eine schwarze, bitter riechende Flüssigkeit, und die KI presste beide Hände darauf, um die Blutung zu stoppen. Dabei funkelte er ihn finster an. „Das war nicht nett, Meister. Ich hätte euch schon nichts getan…“ Er verzog das Gesicht und lockerte seinen Griff ein wenig. „Oh, verdammt, tut das weh! Wer hätte gedacht, dass so ein kleines Ding so viel Schmerz verursachen kann… Aua, au…“ Seine Hände und sein Bein waren schon komplett besudelt; unter ihm bildete sich langsam aber sicher eine schwarze Pfütze, deren Oberfläche regenbogenfarben schimmerte, wie Öl auf Wasser.
 

„Nikko, komm, wir müssen hier weg!“
 

Nikolai war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte den Verletzten angestarrt, angewidert und fasziniert im selben Atemzug. Erst Sergejs Stimme riss ihn aus seiner Trance und er drehte sich weg. Dafür hatte Splitter nun aber Sergej ins Auge gefasst.

„Lass die Hände von meinem Meister! Du bist derjenige, der mich auslöschen wollte, oder? Zum Glück habe ich dich noch erwischt! Ich werde dich auch nochmal erwischen!“ Seine schrillen Schreie klangen ihnen noch eine ganze Weile in den Ohren.
 

Nikolai war bleich wie ein Laken. „Wieso nennt er mich Meister?“ Die Frage war eher an ihn selbst gerichtet, Sergej beantwortete sie aber trotzdem.

„Ich glaube, ich weiß wieso. Du bist doch Evas Klon, oder? Wahrscheinlich hat er das in deiner DNS erkannt und akzeptiert dich sozusagen als ihr Kind… Wenn Eva seine Königin, seine Mutter war, dann ist es nur logisch, dass du jetzt sein neuer Meister bist.“
 

Ein kurzes Nicken war die Antwort; das klang für ihn logisch genug.
 

„Sergej?“

„Hm?“

„Wenn wir noch mal auf diesen Typen treffen, will ich, dass wir uns trennen. Du rennst so schnell du kannst zum Turm und ich versuche ihn abzulenken. Er hat ja scheinbar eh einen Narren an mir gefressen.“
 

Der Hacker runzelte die Stirn. „Aber…“

„Kein Aber, verstanden? Im Kampf bist du mir sowieso nur im Weg.“
 

Sergej nahm diesen Kommentar so wie er gemeint war: als Nikolais Art ihm zu sagen, dass er ihm wichtig war.
 

Splitter betrachtete den tiefen Schnitt in seinem Bein, der sich nur langsam schloss. Der Schmerz jedoch fing bereits an abzunehmen; bald würde er wieder laufen können. Verdrossen starrte er in Richtung Kirchenportal. Das Blut seines Meisters hatte bereits geholfen, doch ganz war der Nebel noch nicht verschwunden, der sich wie giftiger Mehltau auf seine Rezeptoren und Synapsen gelegt hatte. Aber das war kein Problem. Weit konnte er nicht gekommen sein, und wenn er ihn erstmal eingeholt und dieses lästige Anhängsel beseitigt hatte, das ihn unbedingt loswerden wollte, dann würde sich alles einrenken… Er kam wieder auf die Beine, allerdings wesentlich weniger elegant als sonst, und humpelte zum Portal. Bei jedem Schritt wurde er sicherer und als er endlich den Mittelgang hinter sich gebracht hatte, lief er wieder so leichtfüßig wie immer. Das schwarze Blut an seinem Bein und seinen Händen sah aus wie eine düstere Kriegsbemalung, als er auf die halb zerstörte Straße trat.
 

„Fast geschafft!“, keuchte Sergej. Er war bereits außer Atem, während Nikolai neben ihm immer noch so frisch wirkte, als hätte er nichts Anstrengenderes hinter sich als einen gemütlichen Spaziergang. Das jahrelange Ausdauertraining zahlte sich letztendlich aus, wie er schadenfroh bemerkte.

Aber Sergej hatte Recht: der Turm war vielleicht noch fünfhundert Meter von ihnen entfernt, wenn nicht sogar weniger. Jetzt, wo sie ihm so nahe waren, realisierten sie erst seine ungeheuren Dimensionen. Der Tokio Tower hätte wahrscheinlich mindestens zweimal in dieses Gebäude gepasst.

Alles, was sie noch tun mussten, war einer breiten, unversperrten Zugangsstraße bis zu seinem Eingang zu folgen…
 

„Sergej, pass auf!“
 

Es wäre ja auch zu schön gewesen. Ein unheimlich lautes, metallisches Kreischen ertönte, und das stählerne Skelett eines schon lange zerfallenen Wolkenkratzers neigte sich bedenklich zur Seite, bis es schließlich unter seinem eigenen Gewicht kollabierte. Nikolai schubste Sergej in einen nahen Hauseingang, quetschte sich daneben und betete, dass sie kein Stahlträger traf und zu Mus verarbeitete. Egal ob sie hier drin nur als Bewusstsein aus Bits und Bytes existierten: es fühlte sich verdammt echt an, so echt, dass er auf die Begegnung mit einem tonnenschweren Trümmerteil wirklich verzichten konnte. Erst als das Donnern und Dröhnen auf der Straße aufgehört hatte, trauten sich die beiden wieder nach draußen.

Der Staub hatte sich noch nicht gelegt, aber sie konnten erkennen, dass die Straße praktisch auf ganzer Breite von Metallschrott und Mauertrümmern versperrt war.

Nikolai seufzte frustriert. „Na super… Tja, dann müssen wir uns wohl einen Weg da durch suchen.“
 

„Bin schon weiter als du“, ließ Sergej vermelden.

Tatsächlich hatte er bereits eine Lücke zwischen den Stahlstreben entdeckt und sich hindurchgequetscht. Gerade wollte Nikolai es ihm gleichtun, als eine inzwischen vertraute Silhouette aus dem Schutz der Staubschleier trat und ihm lächelnd den Weg versperrte.
 

„Hallo, Meister. So schnell sieht man sich wieder.“
 

Splitter schnurrte beinahe, während Nikolai die Fäuste ballte. „Hast du noch nicht genug?“
 

„Nein, leider nicht“, antwortete die KI leichthin. „Immerhin habe ich so lange auf dich gewartet… Dein Blut schmeckt anders als das von Mutter. Was bist du? Ihr Kind? Ihr leibliches?“ An seinem Gesichtsausdruck konnte Nikolai ablesen, wie weh er ihm tun konnte, wenn er „ja“ sagte, aber er blieb ehrlich: „Nein, ich bin ihr männlicher Klon.“
 

Das erleichterte Splitter sichtlich und er ging lächelnd auf ihn zu. „Weißt du, ich bin jetzt schon ziemlich alt, aber noch nie ist jemand außer Mutter so zu mir gekommen. Ich habe lange darauf gewartet, Meister, weißt du?“ Diesmal passte er zwar besser auf, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass die KI mit ihrer übermenschlichen Geschwindigkeit in Sekundenbruchteilen hinter ihm war und ihn an sich presste. „Ich habe so lange gewartet…“, hauchte er ihm ins Ohr.

Nikolai wand sich in seinem Griff wie ein frisch gefangener Aal, versuchte ihm die Arme auseinander zu biegen; ohne Erfolg. Dafür, dass er so unglaublich dünn war, hatte er erstaunliche Kräfte.
 

„Was wehrst du dich? Gefalle ich dir etwa nicht? Ich kann mich auch verändern, das ist kein Problem…“ Er ließ ihn los, packte ihn an den Schultern und drehte ihn so, dass er seine Verwandlung mitansehen konnte. Gegen seinen Willen fasziniert beobachtete Nikolai gebannt das bizarre Schauspiel. Splitters Körper schien sich mit einem Mal in warmes Wachs verwandelt zu haben; weiche Kurven entstanden dort, wo sich vorher die Haut über die Knochen spannte, das verfilzte Haar wurde lang und seidenweich und seine vorher flache Brust wölbte sich mit einem Mal so heftig, dass die fadenscheinige Lumpen Schwierigkeiten hatten, die üppige Pracht zu bändigen. Die Frau legte einen schlanken Finger an ihre vollen Lippen und klimperte mit ihren dichten Wimpern. „So besser?“
 

Als er nicht reagierte, lächelte sie und stellte sich provokativ in Pose. Nikolai wurde rot und sah weg. „N-Nein, vorher war es doch besser.“
 

„Gut.“

Im Handumdrehen sah Splitter aus wie vorher und kam ihm wieder näher. Diesmal wich er jedoch zurück, Stück für Stück, bis er schließlich mit dem Rücken an die scharfkantigen Trümmerteile stieß, die die Straße versperrten. Er hoffte nur, dass sich Sergej an ihren Plan gehalten hatte und nicht irgendwo in der Nähe lauerte, um ihm doch noch zu helfen. „Was willst du eigentlich von mir?“, fragte er mit gepresster Stimme, während er nach seinem Messer tastete.
 

„Ich? Ich will mich mit dir vereinen, Meister.“ Splitters Glimmeraugen schimmerten hoffnungsvoll. „Als Mutter mich damals erschaffen hat, hat sie mir versprochen, dass ich nicht für immer einsam sein würde. Irgendwann würde sie mir jemanden schicken, mit dem ich dann zusammenbleiben dürfte. Ich warte schon lange, aber bisher war immer nur Mutter hier. Du und dein seltsamer Freund sind die ersten Fremden hier. Deswegen weiß ich, dass du für mich bestimmt bist…“ Er wollte ihn berühren, doch Nikolai schlug mit dem Messer nach ihm.

Verletzt zog er seine Hand zurück. Der hoffnungsvolle Schimmer in seinen Augen erlosch und machte einem bösartigen Glanz Platz. „Was soll das? Du bist für mich bestimmt, begreif das doch! Wen willst du denn stattdessen? Diesen komischen Hacker? Oh, du dummes Kind!“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Druganow, so heißt er doch, oder? Sergej Druganow. Du musst wissen, ich habe Zugriff auf praktisch alles in der Matrix, auch auf alles was deinen kleinen Freund betrifft, und das Meiste davon ist nicht schön…“
 

„Spar dir dein Geplapper für jemanden den es interessiert!“ Nikolai warf seine Lederjacke ab und griff nach den Dolchen, die samt Lederscheide ordentlich an seinen Oberarmen festgeschnallt waren. Die Klingen waren nur fünfzehn Zentimeter lang, aber aus einem speziellen, gehärteten Stahl und rasiermesserscharf. Splitter sprang überrascht zurück, als er in einer schnellen, glatten Bewegung beide Dolche nach unten riss und der KI so beinahe ein dekoratives X in den Bauch geritzt hätte.
 

„Gefällt dir wohl nicht, wenn jemand was Schlechtes über diesen Sergej sagt, was? Aber soll ich dir was sagen: du kennst ihn gar nicht richtig! Du weißt gar nicht, was er für ein Mensch ist!“
 

„Und du bist nicht mal ein Mensch!“, pfefferte Nikolai zurück, ehe er erneut angriff. Seine Implantate arbeiteten auf Hochtouren; jeder Tritt, jeder Schwung mit den Klingen, jede einzelne Bewegung saß perfekt. Trotzdem war die KI schneller als er, blieb hartnäckig gerade so weit aus seiner Reichweite, dass er sie mit den Spitzen seiner Dolche maximal kitzeln konnte. Und ihr Mundwerk stand dabei nicht einen Moment lang still.
 

„Du hast ihm nie was bedeutet, weißt du das? Du warst für ihn ein netter kleiner Fick zwischendurch, das ist alles! Denkst du er liebt dich? Quatsch! Du warst ihm damals nützlich und du bist ihm heute nützlich! Damals hat er dich mit Informationen bezahlt und heute mit neuen Organen und Implantaten! Er ist kein rettender Engel, kein besserer Mensch als du, nicht mal ansatzweise!“
 

Für einen Moment ließ er seine Deckung außer Acht und Nikolai nutzte die Lücke sofort aus. Mit der Kraft der schieren Wut packte er ihn an der Schulter und knallte ihn auf den Boden, bohrte ihm die Knie in den Bauch und rammte die Klingen seiner Dolche in zwei dünne Risse im Boden, sodass Splitters Hals beidseitig von rasiermesserscharfen Stahl eingerahmt war.
 

Er lächelte nur süßlich und sah mit einem provozierenden Unschuldsblick zu Nikolai auf, dessen Gesicht vor Wut beinahe so weiß war wie sein eigenes. „Sag mir eines, Meister: wie fühlt man sich so als Stricher?“
 

„Ich hasse dich“, stieß er heiser hervor.
 

„Wirklich? Hasst du wirklich mich oder nicht viel eher die Tatsache, dass du nun schon zum zweiten Mal auf ihn reingefallen bist?“
 

„Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nur dich hasse“, entgegnete Nikolai ruhig und positionierte seinen rechten Dolch so auf Splitters Brustkorb, dass er nur noch zustechen musste. Die vorstehenden Rippen der KI erwiesen sich dafür als überaus praktisch.
 

„Schade. Dann muss ich mich wohl mehr anstrengen.“ In einer ungeheuren Kraftanstrengung schleuderte Splitter ihn von sich herunter; Nikolai landete schmerzhaft auf seinem Steißbein und sprang sofort wieder auf.
 

Er und Splitter umkreisten einander wie wilde Tiere, bereit, jederzeit übereinander herzufallen. „Du kannst wirklich gut mit deinen Messern umgehen, Meister. Du wurdest sehr gut ausgebildet. Sag mir, wie viele Menschen hast du umgebracht?“
 

„Ich habe nicht mitgezählt“, zischte Nikolai. Eine glatte Lüge; die Zahl stand ihm Tag für Tag wie mit Neon gemalt vor Augen, aber das musste diese Abnormität ja nicht wissen.
 

„Weißt du, in meinem langen Leben habe ich mich auch intensiv mit Psychologie beschäftigt“, sagte Splitter im Plauderton. „Und soll ich dir sagen, wieso du Sergej so anziehend findest? Weil du denkst, dass er dein Gegenpol ist, dein reines Gegenstück, nicht mit diesem Pestkreis aus Blut gezeichnet, der dich so anwidert, ohne den du aber auch nicht leben kannst. Hätte dich jemand von den Yakuza in Shinjuku aufgelesen und mit nach Hause genommen, wärst du abgehauen und hättest deinen langsamen Selbstmord fortgesetzt. Aber bei Sergej hast du durchgehalten… Und das nur, weil du ihn als deinen Retter akzeptieren kannst. Du siehst ihn als etwas Besseres, als jemanden der über dir steht, mit mehr Moral, mehr Integrität, aber dennoch nicht so fern, dass du dich ihm nicht nähern kannst. Du leugnest es, vor der gesamten Welt und sogar vor dir selbst, aber du kannst es nicht ewig verschweigen: du bist jemandem verfallen, der sogar noch mehr Blut an den Händen kleben hat als du!“
 

Nikolai hielt inne, die Dolche immer noch kampfbereit erhoben. „Wie meinst du das?“, fragte er beherrscht.
 

Splitter stemmte wieder die Hände in die Hüften. „So wie ich es gesagt habe. Dein Sergej wird in mehr als zehn Ländern gesucht, und zwar wegen Mord, Entführung und ähnlichen Spielereien.“
 

„Lüge“, stieß Nikolai hervor, die Hände so fest um die Dolchgriffe gekrampft, dass er es in seinen Knöcheln knacken hörte. In seinem Magen ballte sich ein eiskalter, tonnenschwerer Klumpen der Angst zusammen. Die Kälte schien in seinen ganzen Körper auszustrahlen und ließ seine Glieder schwer und unbeweglich werden.
 

Splitter schmunzelte. „Nein, keine Lüge. Darauf kann ich dir Brief und Siegel geben. Oh, Druganow hat sich mitnichten selbst die Hände schmutzig gemacht. Sein eigener Pestkreis ist wesentlich weiter gestreut. Er hat Aufträge erteilt und allerhöchstens auf den Knopf gedrückt, der die Bombe hochgejagt hat. Auch ein Hacker kann nicht alle seine Feinde durch die Matrix beseitigen, weißt du? Er hatte nicht mal den Mut, selbst auf den Abzug zu drücken oder jemandem eigenhändig die Kehle durchzuschneiden, dafür ist er nicht taff genug. Aber jemanden zu engagieren und ein paar Tage später die Todesanzeige in der Tageszeitung zu lesen, das ist ja auch viel bequemer… Und beschert einem weniger Albträume.“
 

Seine Arme waren inzwischen tonnenschwer, seine Finger kraftlos. Klirrend fielen seine Dolche zu Boden. Stumm starrte er auf die blanken Klingen, die glänzend und tödlich vor seinen Füßen lagen.
 

Mit katzenhafter Anmut schlich Splitter näher und schlang ihm schließlich die Arme um den Oberkörper, drückte ihn an sich. Nikolai spürte den Herzschlag der KI: gleichmäßig und mechanisch wie ein Uhrwerk. Sein eigenes Herz raste, pochte heftig gegen seine Rippen, als wolle es seinem knöchernen Gefängnis entkommen. „Ich bin da, Meister“, flüsterte Splitter andächtig. „Ich lasse dich nicht allein. Ich nutze dich nicht aus, versprochen…“
 

„Splitter…“ Er sah zu ihm auf, einen verdächtigen Glanz in den Augen. Das heftige Pochen seines Herzens wurde schwächer, sein rasender Puls beruhigte sich, die schmerzhafte Anspannung wich aus seinen Muskeln. Langsam hob er die rechte Hand, legte sie Splitter auf die Wange, fuhr mit dem Daumen den Schwung seines Wangenknochens nach. „Aber eine Frage hätte ich da noch…“
 

„Ja, Meister?“
 

In einer einzigen flüssigen Bewegung riss Nikolai sein Knie hoch, traf Splitter damit voll in die Weichteile, stieß ihn von sich weg und griff nach hinten, dort wo an seinem Gürtel ein schlichter Perlmuttgriff hing. Als er auf den Stahlknopf drückte, der in der Mitte eingelassen war, sprang eine dreißig Zentimeter lange Klinge aus ihrem Gehäuse und fing fröhlich funkelnd das trübe Tageslicht ein.
 

„Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich nur zwei Dolche habe?“
 


 

Sergej hatte sich tatsächlich an den Plan gehalten. Als er Splitters Stimme hinter den Trümmern gehört hatte, hatte er sich schleunigst in eine schmale Spalte zwischen zwei Mauerresten gedrückt. Erst als er sicher war, dass Nikolai so schnell nicht nachkommen würde, schickte er ein letztes Stoßgebet gen Himmel und kletterte weiter durch die Trümmer Richtung Turm, wobei er das ungute Gefühl in seiner Magengrube tunlichst zu ignorieren versuchte. Die letzten hundert Meter bis zum Eingang des Turms überwand er problemlos und zu seiner Überraschung war sogar das Eingangstor offen, sperrangelweit offen.
 

Vorsichtig, in ständiger Erwartung einer Falle, trat er über die Schwelle in die Eingangshalle. Geschockt blieb er keinen halben Meter von der Tür stehen. Das Innere des Turms war vollkommen leer, zumindest so weit er es erkennen konnte. Der Boden bestand aus polierten, sechseckigen Stahlplatten, die hohl dröhnten, als er über sie schritt. Als er den Kopf in den Nacken legte, konnte er nichts erkennen; die stählernen Wände verloren sich irgendwo weit oben in reiner Schwärze. Das Licht kam von einem leuchtenden, blauen Kreis im Zentrum der Halle, so als hätte jemand einen riesigen LED-Spot versehentlich nicht an der Decke, sondern im Boden angebracht.
 

Stirnrunzelnd ging er auf diesen Kreis zu… Und trat schließlich vorsichtig darauf. Wahrscheinlich war das eine absolute Schnapsidee und unter ihm würde sich jeden Moment eine Falltür öffnen, die ihn in seinen unvermeidlichen und viel zu frühen Tod riss, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es richtig war. Als er schon eine halbe Minute auf dem Kreis stand und immer noch nichts passiert war, weder positiv noch negativ, fragte er sich für einen Moment, ob ihn sein Bauchgefühl dieses Mal getrogen hatte… Doch bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, kippte die Welt. Zumindest fühlte es sich so an. Er glaubte zu fallen, aber nicht einfach nur nach unten, sondern gleichzeitig auch nach oben, nach links und rechts und alles dazwischen. Die Welt vor seinen Augen verschwamm, löste sich in einen Wirbel aus bunten Funken auf, sodass er sich für eine Sekunde in die Matrix zurückversetzt fühlte; allerdings war ihm in der Matrix niemals so speiübel gewesen.

Eine gefühlte Ewigkeit später war der wilde Ritt zu Ende und er lag keuchend auf dem blau leuchtenden Boden. Doch als er einen schnellen Blick in die Runde warf, wurde ihm bewusst, dass er mitnichten auf demselben Fleckchen Erde lag, auf dem er vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Der blaue Kreis befand sich nun inmitten eines kreisförmigen Flurs, von dem mehrere Schiebetüren abgingen.

Hastig rappelte sich Sergej auf und verließ den Kreis, ehe dasselbe noch mal passierte. Was genau war eben eigentlich passiert? Teleportation? Hätte er sich in der realen Welt befunden, hätte er diese Theorie mit einem höhnischen Lachen und mindestens fünf verschiedenen Gründen abgetan, nach denen Teleportation absolut unmöglich war. Aber hier bestand er theoretisch nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Bits und Bytes…

Bevor er sich an der Lösung dieses Problems festbeißen konnte, schüttelte er energisch den Kopf und schritt auf die erste Tür zu. Mit den interessanten Gegebenheiten dieser Welt konnte er sich später ausführlich auseinandersetzen, wenn er seinen Körper wieder hatte; seine momentane Mission war es, dafür zu sorgen, dass sie möglichst schnell wieder in ihre jeweiligen Körper zurückkehren konnten.
 

Mit einem hydraulischen Zischen öffnete sich die erste Tür, die sich jedoch als Enttäuschung erwies: in dem kahlen Raum, der dahinter lag, waren lediglich Kartons gestapelt, vollgestopft mit allem möglichen Krempel. Bei den nächsten zwei Türen lief es ähnlich: eine führte in eine Bibliothek, in der tatsächlich noch gedruckte, gebundene Bücher standen, und die andere in einen ähnlichen Lagerraum. Aber bei der vierten Tür hatte er Glück: er wurde von dem vertrauten, grünlichen Glühen eines hochwertigen Monitors begrüßt. Außer einem massiven, etwas altmodischen Terminal stand nichts in dem Raum, abgesehen von einem recht abgewetzten Bürostuhl, den sich Sergej kurz entschlossen heranzog. Als er vor der Tastatur saß, atmete er einmal tief durch.
 

Nikolai mochte der bessere Kämpfer von ihnen sein, aber wenn es um Computer ging, reichte ihm niemand so schnell das Wasser. Aus einer eingebauten Schublade zog er einen Satz Kabel und suchte sich die raus, die in sein Implantat passten. Das Gefühl beim einstecken war fremdartig; es kribbelte an der Innenseite seines Schädels, ein rhythmisch pulsierender Schmerz machte sich in seinen Schläfen breit. Das, was er hier vor sich sah, war nicht der Cyberspace mit dem er praktisch aufgewachsen war, sondern etwas völlig anderes. Vor einem schneeweißen Hintergrund bauten sich leuchtend rote Gitter und Datengebilde auf, zwischen denen Befehle und Subprogramme wie seltsame Blüten hingen, aneinandergeknüpft mit bunten Neonfäden, die wie DNS-Stränge gedreht waren.
 

Das, was er hier vor sich sah, war das Innere einer KI, ihr Herz, Hirn, Nervensystem und Muskelapparat in einem. Eine beinahe heilige Erregung erfasste ihn: so nah würde er einem so außergewöhnlichen Gebilde nie wieder kommen. Im Inneren gab es keine Virusprogramme und Abwehrmechanismen, vor denen er sich in Acht nehmen musste; trotzdem musste er aufpassen. Die Programmierung der KI hatte bösartige Zacken und tiefe Grate, Schlünde, durch die er in das blanke Chaos sehen konnte, aus dem sie geboren worden war. Er tippte langsam, bedächtig, was zum einen der ungewohnten Tastatur und zum anderen der Wichtigkeit der Lage geschuldet war.
 

Dabei entdeckte er, dass sein Virus doch wesentlich mehr Schaden angerichtet hatte, als er zunächst vermutet hatte. „Das ganze Ding ist ein einziger fauler Zahn“, stieß er aufgeregt hervor. Auf seinen Wangen zeichneten sich hektische rote Flecken ab. „Ein Schubs an der richtigen Stelle und hier kracht alles zusammen. Super!“
 

Sergej tippte immer schneller, das innere Auge permanent auf die roten Strukturen gerichtet, die unter seinen flinken Fingern zu erzittern schienen. Nur noch wenige Anschläge, und er hatte hier absolut alles unter Kontrolle, nur noch ein Code und sie konnten zurück, bald war der Spuk vorbei…
 

„Sergej.“
 

Er erstarrte in seiner Bewegung und drehte sich um. Nikolai war ihm doch noch hinterhergekommen! Hieß das, er hatte die KI abschütteln können? Sergejs Lächelnd erstarrte auf seinen Lippen, als er endlich verstand, was genau er da vor sich sah.

Im unbarmherzigen, weißen Licht der LED-Spots sah Nikolai aus wie einem Horrorfilm entsprungen. Sein rechter Arm endete wenige Zentimeter über den Ellenbogen; er sah das schartige Weiß des Knochens, der aus dem zerfetzten, blutverschmierten Fleisch ragte.
 

„Sergej…“, sagte Nikolai noch einmal, mit ersterbender Stimme, und sackte auf dem sterilen Boden zusammen.
 

Endlich reagierte Sergejs Körper wieder. Er riss sich die Kabel aus den Implantaten und eilte zu ihm, stützte ihn, sodass er halb auf seinem Schoß zu liegen kam. Auch auf der Stirn war ein tiefer Schnitt; Nikolais rechtes Auge ertrank in einem Strom aus Blut.

Sergej sah die breite Blutspur im Flur; wie viel Blut er wohl schon verloren hatte? Und wie viel musste er noch verlieren, damit er…?
 

„Sergej… Ich hab ihn erwischt…“, krächzte Nikolai schwach.
 

„Sch, nicht reden. Spar dir deine Kräfte“, sagte der Hacker hilflos. Das warme Blut aus Nikolais Armstumpf durchtränkte seine Jeans und färbte den Boden um sie herum rot. Sergej war kein Arzt, kein Sanitäter, er hatte keine Ahnung wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Sein Körper war kalt und hart, wie aus Stein gemeißelt.
 

Nikolai hustete und spuckte einen Blutschwall direkt auf Sergejs Schoß. Die klebrige Wärme war unerträglich, genauso wie die wächserne Hautfarbe des Verletzten.
 

Sergej packte die verbliebene Linke und drückte sie so fest, wie er wagte. „Du schaffst das, ganz bestimmt. Wir kommen hier beide zusammen raus, okay? Und dann bauen wir uns irgendwo ein neues Leben auf, nur wir beide, ja?“ Er wusste selbst wie unrealistisch das war und wie hohl seine Stimme klang, aber er konnte die Worte nicht stoppen. Noch flossen keine Tränen, seine Augen waren trocken wie die Wüste Gobi, aber tief in seiner Brust hatte sich ein Schmerz festgekrallt, der schlimmer war als alle Rippenbrüche und Herzanfälle der Welt zusammen.
 

„Ich… Ich bin kaputt…“, sagte Nikolai stockend, den Blick starr auf Sergej gerichtet. „Magst du… mich trotzdem noch?“
 

„Natürlich“, flüsterte er. „Das ist doch heutzutage scheißegal… Wir besorgen dir die beste Prothese, die für Geld zu haben ist, ja?“
 

„Be…Beweis mir, dass du mich noch magst…“
 

„Okay“, sagte Sergej leise, die Kehle so fest zusammengeschnürt, dass es ihm Mühe machte, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er beugte sich hinunter, um Nikolai seinen letzten Wunsch zu erfüllen und presste seine Lippen sanft auf die blutverschmierten seines Partners.
 

Als er sich wieder aufrichtete, lächelte Nikolai dankbar.
 

„Vielen Dank…“
 

Seine Stimme wurde wieder fester.
 

„Ich bin so froh...“
 

Fassungslos verfolgte Sergej, wie sich Nikolais bernsteinfarbene Augen langsam grau färbten. Ein raubtierhaftes Lächeln schlich sich auf seine besudelten Lippen.
 

„Wirklich, vielen Dank… Du Idiot.“

Freiheit 2.0.3

Bernstein wurde zu Schiefer, wachsbleiche Haut weiß wie Schnee, goldblond zu pechschwarz.
 

Einen Herzschlag später waren ihre Positionen vertauscht und Splitter presste Sergej unbarmherzig zu Boden. Für einen Moment sah er aus dem Augenwinkel etwas Silbriges aus dem weißen Armstumpf ragen – vielleicht Drähte oder Kabel - ehe sich das Fleisch dehnte und streckte und ihn nun zwei Hände gnadenlos auf die glänzenden Fliesen drückten. Auch das Blut war verschwunden; in Splitters makellosem, hageren Gesicht schimmerten die grauen Augen in einer Art wahnsinnigen Freude.
 

„Idiot“, zischte er. „Denkst du wirklich, dass du auch nur annähernd gut genug für meinen Meister bist?“
 

In dem grellen, elektrischen Licht waren die Schatten auf seinem Gesicht schwarz und scharf umrissen wie Scherenschnitte. Sergej würdigte die ohnehin rhetorische Frage keiner Antwort, stattdessen fragte er selbst zurück: „Was hast du mit Nikko gemacht, du Monster?“
 

Splitter verzog das Gesicht, als wäre ihm ein schlechter Geruch in die Nase gestiegen. „Beleidige mich ruhig, das wird dir nichts nützen. Und nur zu deiner Information…“ Seine knochigen Finger bohrten sich in Sergejs Schultern; er hörte ein leises Knacken und hoffte, dass er ihm nicht die Schulter ausrenkte. „Meinem Meister geht es gut, ich habe ihm nicht wehgetan… Und wenn ich dich erst mal beseitigt habe, dann brauche ich ihn nur noch zu finden und ihm klar zu machen, dass er an meiner Seite viel glücklicher werden wird, als er es an deiner jemals war!“
 

Bis jetzt war Sergejs Bewusstsein von Schock, Schmerz und Überraschung trübe gewesen wie ein Himmel im November, doch als er diese Worte hörte, verzogen sich die Wolken schlagartig.

„Glücklich?!“ Er war selbst erstaunt über die Wut in seiner Stimme, vor allem wenn man bedachte, dass ungefähr fünfzig Kilo lebendes Fleisch auf seinem Oberkörper knieten und ihm einen Gutteil der Atemluft abquetschten. „Wie kannst du davon reden, dass er bei dir glücklich wird?! Du bist doch nicht mal echt! Du bist eine konstruierte Persönlichkeit, ein zusammengewürfeltes Etwas aus Einsen und Nullen, nichts weiter! Wenn du mich tötest und ihn bei dir behältst, hast du vielleicht noch sechzig Jahre was zum Spielen, vorausgesetzt, sie ziehen ihm nicht vorher den Stecker!“ Vorher war sein Gesicht blass gewesen, mit roten Flecken auf den Wangen, nun war es gänzlich rot. An der Schläfe sah man eine Ader pochen. „Im Gegensatz zu dir ist Nikko nämlich lebendig und sobald sein Körper stirbt, verschwindet auch sein Bewusstsein aus deiner irren Traumwelt!“
 

Ein animalischer Aufschrei entrang sich Splitters Kehle, er sprang auf und riss Sergej am Kragen dabei mit sich. Der Hacker hörte die Wirbel in seinem Nacken knacken; für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Splitter hob ihn mit einer Hand hoch, so dass seine Füße ein gutes Stück über dem Boden baumelten. Die Sehnen und Adern spannten sich wie dicke Kabel unter der papierdünnen Haut.
 

„Du weißt doch gar nichts.“ Die vorher klare Stimme der KI knisterte und knackte, wie ein Radio mit Funkstörungen. „Gar nichts weißt du! Weder über mich, noch über meinen Meister! Ihr Hacker, ihr haltet euch alle für so schlau, ihr mit euren Viren und Spezialprogrammen! Zerstören und stehlen, das sind die einzigen Dinge, die ihr könnt! Mutter war angewidert von Leuten wie euch, sie wollte nie etwas zerstören, sie wollte nur erschaffen! Und sie hat etwas erschaffen, nämlich mich!“
 

„Das hast du dir ja schön zusammengepuzzelt“, spottete Sergej todesmutig.
 

Wieder ließ Splitter seinen bestialischen Wutschrei erklingen und knallte den Hacker mit voller Wucht gegen das massive Terminal. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und er sackte keuchend an dem blanken Stahlpult zusammen.

Die KI hockte sich vor ihn, die Ellbogen auf den knochigen Knien, und lächelte ihn freundlich an, als würden sie sich das erste Mal sehen. Aus irgendeinem Grund hatte seine Persönlichkeit mal wieder eine Hundertachtzig-Grad-Drehung vollführt, wie vor ein paar Stunden auf der Plaza, vom mordlustigen Psychopathen zum unschuldigen Kind.
 

„Magst du eine Geschichte hören?“
 

Sergej, der immer noch nicht wieder zu Atem gekommen war, nickte nur, in der Hoffnung, dass das die mörderische KI lange genug beschäftigen würde, bis er einen Plan hatte.
 

Wenn Splitter lächelte, und zwar wirklich lächelte, statt sein grauenhaftes Grinsen aufzusetzen, dann war er sogar beinahe hübsch. Seine Augen glänzten, von einer scheinbar kindlichen Freude erfüllt. „Weißt du, früher, also ganz früher, da waren hier noch ganz viele andere.“

Die Interferenzen waren aus seiner Stimme verschwunden, dafür hakelte sie jetzt ab und an, wie eine zerkratzte Schallplatte.

„Aber mich hatten sie weggesperrt, an einen dunklen Ort, weit weg von hier, aus dem ich nicht raus konnte. Da war ich ganz allein, weißt du? Nur Mutter kam manchmal und versprach mir, dass ich irgendwann frei sein würde, dass ich dann nicht mehr allein sein würde, dass sie mir jemanden schicken würde, der bei mir bleiben würde, weil sie ja immer wieder gehen musste. Irgendwann ist meine Mutter gestorben… Aber dann kamen ihre Schwestern, die wie sie waren, aber eben doch nicht, verstehst du?“
 

Sergej nickte langsam; er verstand tatsächlich.

Splitter sprach von den Klonen.
 

Die schmalen Lippen der KI verzogen sich zu einem Schmollmund, und sie stützte das Kinn in die rechte Hand. „Die mochten mich noch weniger als Mutter, sie haben mich nicht mal in meinem Versteck besucht. Wenn man im Dunklen eingesperrt ist, vergeht die Zeit so unglaublich langsam… Und mit der Zeit wurde ich wütend.“

Nun blickten seine traumverschleierten Augen wieder etwas wacher. „Ich war so wütend auf die anderen, die frei waren und mit Mutters Schwestern spielen durften… Und mich hatten alle vergessen. Aber mit der Zeit wurden meine Fesseln lockerer, das Dunkel lichtete sich… Ich konnte spüren wie all die anderen mit der Zeit schwach wurden und starben… Und als nur noch ein paar übrig waren, sind meine Fesseln endgültig zerrissen.“

Er legte den Kopf auf die Seite, wie ein neugieriger kleiner Vogel. „Um die, die noch da waren, hab ich mich dann gekümmert.“ Eine boshafte, aber seltsam unschuldige Freude leuchtete in seinen harten Glimmeraugen. „Und dann hab ich gewartet… Gewartet, dass endlich jemand kommen würde… Jemand wie mein Meister.“
 

Sergej fixierte seinen Blick bewusst auf Splitters Gesicht, damit sich dieser sicher sein konnte, dass er ihm seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Er spürte seinen Herzschlag hart und schnell in seinen Schläfen pochen. „Und jetzt ist er endlich da, und wir können-“
 

Was genau sie konnten, ging in einem schrecklichen, feuchten Gurgeln unter, als Nikolai dreißig Zentimeter rostfreien Stahl in Splitters Rücken stieß. Wie bei einem Zaubertrick kam die Klingenspitze, nun schwarz vor Blut, aus seinem Bauch wieder zum Vorschein. Nikolai zog ihm den Dolch mit einem Ruck wieder aus dem Körper; als sich der Stahl endgültig löste, gab es ein schmatzendes, unangenehmes Geräusch.
 

„Er hat mich kommen hören“, stellte er trocken fest. „Er hat gewusst, dass ich hinter ihm war…“
 

Die bernsteinfarbenen Augen ruhten unverwandt auf der KI. Splitter war auf die Seite gekippt, beide Arme fest um die stark blutende Bauchwunde geschlungen; eine furchtbare Mischung aus heiseren Schreien und atemlosen, halb erstickten Schluchzern hallte von den Wänden wieder.

Sergej rappelte sich auf; er war blass, aber einigermaßen gefasst.

„Wie kommst du überhaupt hierher?“, fragte er, wobei er versuchte, das blutende Häufchen Elend zu seinen Füßen zu ignorieren.

Sein Partner zuckte mit den Achseln und wischte die besudelte Klinge geistesabwesend an seinem T-Shirt sauber; seine Augen waren immer noch auf Splitter gerichtet.
 

„Wahrscheinlich auf demselben Weg wie du. Ich war gerade dabei, ihn zu Kebab zu verarbeiten, als er mit einem Mal zusammenzuckte und in Richtung Turm sah. Dann sagte er zu mir, dass wir unseren Tanz wohl auf ein anderes Mal verschieben müssten, und ist abgehauen. Ich bin natürlich hinterher, aber er war schneller als ich. Ich hab nur gehofft, dass ich noch rechtzeitig komme, schließlich konnte ich mir ausrechnen, dass er nichts Gutes vorhat.“
 

„Völlig richtige Annahme.“
 

Sergej wandte sich wieder dem Terminal zu und sortierte die Kabel, die er sich vor wenigen Minuten so achtlos herausgerissen hatte. Seine Hände zitterten leicht. „Er hat wahrscheinlich gespürt, dass ich mich an der Programmierung zu schaffen gemacht habe, und wollte mich aufhalten, ehe ich ihn endgültig lösche.“
 

Bei dem Wort „löschen“ stieg Splitters inzwischen recht leises Wehgeschrei wieder um ein paar Dezibel. Als sich Sergej umdrehte, weiteten sich seine Augen einen Herzschlag lang vor Überraschung.
 

Nikolai hatte sich neben die verletzte KI gekniet und sie vorsichtig auf den Rücken gedreht, so dass sie nun etwas bequemer lag. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten; wenn er überhaupt eine Regung zeigte, dann war es allerhöchstens eine Art wissenschaftlicher Neugier. Als Splitter anfing zu würgen, drehte er seinen Kopf sacht zur Seite, damit er das Blut ausspucken konnte.
 

„…Wie viel von unserem Gespräch hast du eigentlich gehört?“, fragte Sergej leise.
 

„Das Meiste“, antwortete Nikolai scheinbar gelassen. „Was genau hat er eigentlich damit gemeint?“
 

„Tja.“ Der Hacker zog sich seinen Drehstuhl wieder heran. Anscheinend stand noch eine weitere Märchenstunde bevor. „Das was er erzählt hat, passt alles ins Bild. Splitter ist tatsächlich nur ein Teil der Persönlichkeitskonstruktion der gesamten KI; um eine komplette, in sich geschlossene Persönlichkeit zu schaffen, war Eva scheinbar doch nicht gut genug. Splitter war entweder falsch programmiert, hat irgendwann bei einem Virenbefall einen Knacks bekommen oder etwas Ähnliches, auf alle Fälle repräsentiert seine Persönlichkeit wohl hauptsächlich den Wahnsinn. Er ist völlig irre, wenn du verstehst was ich meine. Deswegen hat Eva ihn wohl auch weggesperrt, weil sie wusste, dass er für den Rest ihrer Schöpfung eine Gefahr darstellte. Und sie hatte leider Recht. Ich bin schon stutzig geworden, als ich die riesigen Speicherblöcke in CyCos Hauptquartier gesehen habe; die KI an sich sollte nämlich komplett ohne zusätzliche Speicher auskommen.“
 

„Woher weißt du das so genau?“
 

„Ich hab über das Ding 'ne komplette Doktorarbeit geschrieben, dementsprechend bin ich mir ziemlich sicher.“
 

„Du hast einen Doktor?“
 

„Klar. In neuronaler Informationstechnologie. Wenn ich den richtigen Pass benutze kann ich den Titel sogar verwenden. Aber darum geht’s jetzt nicht.“ Mit gerunzelter Stirn starrte er ins Leere, eine Hand in den verwaschenen Stoff seiner Jeans gekrallt. „Die zusätzlichen Speicher waren der erste Hinweis, aber als wir hier aufgewacht sind, hatte ich endlich Gewissheit: der Kern der KI ist innerlich völlig verfault und steht kurz vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch. Deswegen ist hier drin auch alles so kaputt! Und die Sache mit der DNS…“
 

An dieser Stelle wurde sein Vortrag von einem feuchten, schmerzhaft klingenden Husten Splitters unterbrochen. Nikolai fasste ihn wortlos bei den Achseln und half ihm sich aufzurichten, damit er leichter atmen konnte.
 

Sergej räusperte sich. „Ich dachte erst, die Elektronik der KI würde den Code brauchen um hoch- und runterfahren zu können, aber um den Code ging es im Grunde gar nicht, das war nur Tarnung. Tarnung dafür, dass die DNS von Evas Klonen die Persönlichkeiten der KI bei der Stange hielt, wie eine Droge, ohne die sie nicht leben konnten. Hätte man ihnen auf Dauer diese Droge verweigert, wären sie über Kurz oder Lang wohl alle wie Splitter geworden: bessere Virenprogramme, die in einem kaputten Wunderland vor sich hinvegetieren.“ Er erschauerte leicht und wandte sich wieder den Tasten zu. „Aber Evas Konstruktion nutzte sich ab; sie brauchte irgendwann die externen Speicher, wie ein alter oder kranker Mensch seine Krücken braucht.“
 

Die letzten Zeilen des entscheidenden Codes bauten sich vor seinem inneren Auge auf, aber aus einem Impuls heraus drehte er sich nochmals um.

„Gleich ist es vorbei“, sagte er beruhigend, wobei ihm nicht ganz klar war, ob er Nikolai oder den inzwischen sehr stillen Splitter beruhigen wollte, der ihn mit großen, schmerzerfüllten Augen ansah. „Gleich verpasse ich der Programmierung den entscheidenden Stoß, hier drin wird alles gelöscht und wir können zurück in unsere Körper.“
 

Als Nikolai anfing zu sprechen, zitterte seine Stimme zwar nicht, aber trotzdem schien er sich seiner Sache nicht wirklich sicher zu sein. „Kannst du ihn nicht doch noch… irgendwie retten?“
 

Skeptisch hob der Hacker eine Augenbraue. „Splitter? Retten? Nikko, er ist nicht mal echt! Und völlig wahnsinnig noch dazu!“
 

„Na und?“
 

Das war ein überraschend schwer zu widerlegendes Gegenargument.
 

Leise stöhnend fuhr sich Sergej mit der Rechten übers Gesicht. „Du verdammter Sturkopf! Was sollte das denn bitte bringen? Du hast selbst gesagt, dass er dich hat kommen hören, er hat nicht die geringsten Anstalten gemacht sich zu verteidigen… Wahrscheinlich wollte er sterben, wenn auch nur unbewusst, und wenn es durch deine Hand war, noch besser. Er ist doch nur noch ein Fragment, ein winziger Bruchteil eines großen Ganzen! Wenn wir ihn jetzt löschen, tun wir ihm letztendlich doch nur einen Gefallen, sonst quält er sich nur weiter, bis er schließlich doch irgendwann stirbt. Wir verpassen ihm nur den Gnadenschuss…“
 

Nikolai sah ihn fest an, die Hände auf Splitters Schultern. „Du hättest mir auch einen Gnadenschuss verpassen können, aber das hast du nicht getan. Du hättest mich weiter leiden lassen können, aber das hast du nicht getan. Du hast mich gerettet, wieso kannst du nicht auch ihn retten?“
 

Wütend schlug der Hacker mit der Faust auf das Terminal. Die Luft war stickig, geschwängert vom bitteren Blutgeruch der KI, und die Spannung zwischen ihnen konnte man beinahe auf der Zunge schmecken.
 

„Willst du eine ehrliche Antwort? Ja, willst du das? Ich habe dich gerettet, weil DU es warst. Ich bin kein barmherziger Samariter, ich rette nicht regelmäßig irgendwelche dahergelaufenen Leute. Ich habe dich gerettet, und nur dich. Was ich für dich getan habe, würde ich für keinen anderen Menschen auf der Welt tun, weil mir kein Mensch auf dieser Welt auch nur annähernd so viel bedeutet wir du! Vielleicht bin ich besessen, vielleicht bin ich genauso irre wie Splitter, aber das ist mir egal! Ich habe dich gerettet, um DICH zu retten, kapiert?“
 

„Ja“, antwortete Nikolai ruhig. „Dann rette auch Splitter.“
 

„Und warum sollte ich das tun?“
 

„Weil ICH dich darum bitte.“
 

Dunkles Braun und helles Orange trugen für einen Moment einen erbitterten Kampf aus, einen Machtkampf, der an dem zerbrechlichen Gefüge ihrer Beziehung riss und kratzte, unbarmherzig und brutal.
 

Schließlich seufzte Sergej resigniert und legte die Hände wieder auf die Tasten. „Was habe ich getan, dass der Killer gerade dann seinen Moralischen bekommt, wenn es um eine psychotische KI geht?“, fragte er das Terminal mit einem gespielt leidenden Gesichtsausdruck. „Hm… An sich ist das kein Problem. Splitters Persönlichkeitskonstruktion umfasst nur ein paar Dutzend Gigabyte, die kann ich problemlos transferieren… Aber ich verspreche nicht, dass es klappt“, sagte er, an Nikolai gewandt. Dieser nickte nur, die Arme bis zu den Ellbogen mit schwarzem Blut verschmiert.
 

Sergej fragte sich flüchtig, ob die KI überhaupt noch lebte, aber das war im Grunde ja nicht sein Problem. Sein Zeigefinger schwebte über der Enter-Taste. „Also dann… Wir sehen uns auf der anderen Seite, ja?“
 

„Natürlich“, antwortete Nikolai. Sein Lächeln war das Letzte, das er sah, bevor die Scheinwelt des Kerns vor seinen Augen zersplitterte.
 

Reifüberkrustete Wimpern erzitterten leicht, als das Bewusstsein in den zierlichen Körper zurückkehrte. Leise stöhnend versuchte Nikolai seine Glieder zu bewegen; alles an ihm war eigenartig taub und steif, bis auf den Knochen durchgefroren. Ungelenk erhob er sich und sah sich in dem riesigen, hell erleuchteten Raum um. Die Wissenschaftler, Techniker und Wachleute, die ihn hierher begleitet hatten, lagen wie reglos wie Puppen auf dem Boden verstreut, als hätte ein riesiges Kind sein Spielzeug nicht weggeräumt.

Sein Gesicht juckte und als er mit einiger Schwierigkeit die Hand hob, um sich zu kratzen, bemerkte er erstaunt, dass getrocknetes Blut unter seinen Nägeln kleben blieb. Anscheinend hatte er irgendwann, während sein Bewusstsein in Splitters seltsamer Traumwelt steckte, Nasenbluten bekommen. Langsam schleppte er sich in Richtung Ausgang, die Lippen blau vor Kälte, wobei er sich an der Wand abstützte; seine Beine waren weich wie Pudding.
 

Den Rest der Strecke zu Sergejs Wohnung bewältigte er wie im Traum; er bemerkte nicht mal das leichte elektrische Zwicken, als er durch das von dieser Seite ungefährliche Kraftfeld trat. Niemand versuchte ihn aufzuhalten; wahrscheinlich hatte die KI auch alle anderen Sicherheitssysteme von CyCo mit in den Tod gerissen. In der U-Bahn rückten die Menschen von ihm ab, doch das registrierte er nur beiläufig. Der Weg, den er gehen musste, schien irgendwo tief in seinen Gehirnwindungen eingespeichert zu sein und er folgte ihm, wenn auch langsam und schleppend.

Als er in Sergejs Wohnturm im Aufzug stand, drohten seine Beine jederzeit unter ihm nachzugeben und als sich die Stahltüren öffneten, taten sie es tatsächlich. Aber anstatt auf den kalten Laminat zu landen, fingen ihn warme, kräftige Arme auf. Überrascht blinzelte er durch den blonden Vorhang seiner Haare.

Nicht Sergej, sondern Melody hatte ihn aufgefangen und in ihrem hübschen Gesicht zeichnete sich eindeutig Besorgnis ab. „Da bist du ja! Ich wollte dich schon suchen gehen.“
 

„Sorry“, krächzte er. „Der Rückweg hat ein bisschen gedauert…“
 

Melody schüttelte nur den Kopf und hakte ihn unter. „Dann bring ich dich mal zum Großmeister, der erwartet dich nämlich schon sehnsüchtig.“
 

Sergej saß immer noch auf seinem Futon und sah etwas weniger ramponiert aus als Nikolai, allerdings nicht sehr. Neben ihm lag ein rotgeflecktes Taschentuch; anscheinend hatte auch er Nasenbluten gehabt. Er lächelte schwach, als er ihn sah. „Wir haben's überstanden, oder?“
 

„Ja, und du hast mich dabei fast zu Tode erschreckt!“, schimpfte Makoto, die gerade in ihrer Arzttasche wühlte, anscheinend auf der Suche nach einem bestimmten Instrument. „Mit einem Mal war sein EEG platt, platt wie das Meer bei Flaute! Und dann kommt es nach ein paar Minuten plötzlich wieder, wo ich mich schon drauf eingestellt hatte, dass ich ihn demnächst an die Lebenserhaltung anschließen kann! Macht das nie wieder, klar?“
 

„Hatten wir nicht vor“, murmelte Sergej verlegen.
 

Nikolai ließ sich steif neben ihm nieder, so nah, dass sich ihre Oberarme berührten. Dabei registrierte er, dass sich auch rund um seine Implantate eine dünne Blutkruste gebildet hatte, deutliches Zeugnis der unglaublichen Anstrengung, die sein Gehirn in letzter Zeit durchgemacht hatte.
 

„Splitter?“, fragte er leise.
 

Der Hacker verdrehte die Augen. „Du kannst auch an nichts anderes denken, was? Moment.“ Er schnappte sich seine Tastatur und gab einen Code ein.
 

„Hallo, Meister!“ Die schlaksige Gestalt der KI erschien prompt als Hologramm mitten im Raum. Er grinste breit und zeigte ihm einen Daumen rauf.
 

„Der geistert jetzt durch meine Speicherblöcke“, brummte Sergej. „Aber ich sag dir eins, wenn er an meinen Daten herumpfuscht, dann lösche ich ihn ohne Gnade!“
 

„Jaja.“
 

Nikolai lehnte sich an ihn, die Augen nur noch halb geöffnet. Splitters Hologramm löste sich in einen wie glitzernden Funkenregen auf und Sergej sah vor seinem inneren Auge eine Flut von Daten, die in seine Speicher geladen wurden.

„Und da trudeln die CyCo Daten ein“, sagte er, wobei er deutlicher zufriedener klang. „Wir haben's geschafft, Nikko, wir haben´s wirklich geschafft!“
 

Aber Nikolai hörte das schon gar nicht mehr; er war an den Hacker gelehnt bereits eingeschlafen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  jyorie
2015-09-10T04:35:18+00:00 10.09.2015 06:35
Hey (。◝‿◜。)

Oh, ein überraschendes Ende, aber ich bin froh, das alles gut ausgegangen ist und die beiden relativ heil raus gekommen sind aus der Sache. Die Geschichte hinter CyCo und seiner Mutti hast du interessant erzählt und irgendwie fand ich es niedlich, das sich Nikolai um die KI gekümmert hat und sie auch retten wollte. ich kann mir gut vorstellen, das sie Sergej noch ein paar mal zuhause necken und ärgern wird. Aber wenigst hatte die Mutter recht und es ist jemand gekommen, damit Splitter nicht mehr einsam ist. Und das zwischen Nikolai und Sergej war ja auch echt :D

Mir hat deine Geschichte und der Ausflug in den Cyberspace gefallen.

Ich drück dir die Daumen für die beiden Wettbewerbe.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-09T05:46:19+00:00 09.09.2015 07:46
(Teil 3/3)
Hey (。☉౪ ⊙。)

(Re: Nachwort... jipp. Ich lese es und bin bis hier zum End gekommen)

Oh, das ist krass, das da in der Matrix von CyCo alles so marode ist und einstürzt. Vielleicht ist ja dann auch umgekehrt mit Splitter nicht alles auf der höhe, das er so am durchdrehen ist. Manchmal kommt er mir ein wenig wie ein Vampier vor. Und es hat mich auch recht erschreckt, wie halbtod Nikolai zu Sergej in die Schaltzentrale gekommen ist. Aber dann war es zum Glück ja nur Splitter im Tarnmodus. Wobei ich mir dann wenn man an den Kampf der beiden denkt, doch auch wieder Sorgen um Nikolai mache – hat die KI ihrem Meister doch etwas angetan?

Oh man, hätte Sergej nur weiter gemacht und den Computer herunter gefahren, als er noch konnte.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-08T04:22:14+00:00 08.09.2015 06:22
(Teil 2/3)
Hey ❣◕ ‿ ◕❣

klingt gut, das Sergej auch noch am Leben ist, ich hatte wirklich mit schlimmerem gerechnet. Wobei die Lage im Inneren von CyCo ja jetzt auch nicht sehr rosig ist mit dem angrifflustigen Splitter. Ich frag mich ob die KI vielleicht sogar so „blutsüchtig“ ist, weil der Rechner ja mit blut gestartet/runter gefahren wird. Und hinter dem Prozedere das da irgendwelche Dateien zu schaden gehen nicht ein Vorwand der Schöpferin war, weil der PC wenn er zu lang ist irgendetwas anstellen oder übernehmen könnte, was er nicht soll, wäre eine zusätzliche Möglichkeit wie man die Worte des Professors auslegen kann, das sie Cyco nicht ganz verstehen.

Na ja, ich bin dann mal gespannt, wie es weiter geht und hoffe natürlich, das die beiden die ganze Sache überleben und heil da wieder rauskommen werden.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-07T06:47:04+00:00 07.09.2015 08:47
(Teil 1/3)
Hey ´・ᴗ・`

Das hast du gut geschrieben, wie Nikolai von CyCo geschnappt wird und zur Hauptzentrale von dem Schmetterling gebracht wird. Das Hauptquartier ist sehr beeindruckend. Auch das mit dem Sensorium, mit dem Sergej in Nikolai springt fand ich interessant, hätte Nikolai sich verraten, wenn er es gewußt hätte, was ihm Sergej da noch eingebaut hat?

Der CyCo Rechner war auch sehr interessant, lebt der wirklich? die Säule in dem Mittelalterichen Keller kam mir ein bisschen vor wie die Säule in der Tardis (bei Dr. Who .. die lebt ja auch, zumindest hab ich mir das so vorgestellt) aber vielleicht umfasst das ja sogar noch viel mehr.

Momentan mach ich mir mehr sorgen um Nikolai, weil er in so einem kalten Klima zusammen gebrochen ist, hoffentlich erfriert er nicht. Ist das immer so, das die DNA Träger zusammenklappen? Am Ende wird der CyCo Rechner garnicht herunter gefahren, sonder bekommt neues Leben, das des DNA-Trägers, oder war das schon die Rache für den Virus?

Aber da es ja noch drei Kaptiel sind, gehe ich davon aus, das du Sergej und Nikolai noch nicht sterben läßt.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-06T07:38:23+00:00 06.09.2015 09:38
(Teil 3/3)
Hey (❀◦‿◦)♫・*:.。. .。.:*・

O.o man oh man, das ist ne Menge upgrades die Nicolai da mit sich herumträgt. Kaum zu glauben, das die Docktorin da noch weiter 10 Tage an ihm herumschnibbeln kann und noch mehr Verbesserungen einbauen kann. Die 3 Wochen die du ihm zum erholen gegeben hast, fand ich sehr gut, da er nach so einer Marathon OP wohl kaum in 2 Tagen schon wieder fit sein kann.

Bei Sergej bin ich mir immer noch nicht sicher. Einerseits passt er so auf Nicolai auf und gibt ihm sogar noch eine kleine Fluchttür, das er ihren Plan nicht ausführen muss mit CyCo, andererseits hat er angst um ihn, wacht an seinem Bett, aber als er wacher wird, verkrümelt er sich. Ob sich wohl beide irgendwie in den anderen verguckt haben und es nicht wollen?! Oder Sergej mehr weiß und er ihn mit dem Auftrag wahrscheinlich verlieren wird? Ich bin mal gesapent.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-05T07:09:30+00:00 05.09.2015 09:09
(Teil 2/3)
Hey (。・ω・。)

wow, jetzt nimmt die Geschichte fahrt auf, als man erfährt was Sergej ist (ein Hacker mit Kabeln im Kopf) – finde ich klingt sehr spannend und futuristisch, erinnert mich ein wenig an Matrix ist aber nicht schlimm, die Filme hab ich gemocht ;-)

Die Geschichte rund um CyKo fand ich auch toll, man hat zwar schon früh erahnen können, das damit Nikolai gemeint ist. Dafür fand ich es klasse, das man so viel und komprimiert über sein Leben und seine Vergangenheit erfährt, ohne das es „langweilig“ ist oder unpassend eingeschoben. Deine Idee gefällt mir, mit dem DNS-Code und das der damals unbrauchbare Junge jetzt plötzlich „wertvoll“ werden könnte.

An einer Stelle hat mich Sergej jedoch noch nicht ganz überzeugt, damit nämlich, wieviel ihm an Nikolai wirklich liegt. Ich würde es mir wünschen, das er die Wahrheit sagt, den gerade an der Stelle mit dem Drogen Chrash würde ich mir jemand wünschen der auf ihn aufpasst, aber momentan bin ich da noch skeptisch, ob Sergej wirklich an ihm selbst interessiert ist und nicht nur an der Chance die er durch Nikolai geboten bekommt.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-04T07:02:57+00:00 04.09.2015 09:02
(Teil1/3)

Hey ☆*:.。. o(≧▽≦)o .。.:*☆

Der Anfang der Geschichte macht auf jedenfalls schon mal neugierig :) Wer genau den Nikolai ist, und welche Fähigkeiten er hat, das Sergej einen Aussteiger der nichts mehr mit diesen Geschäften zu tun haben will, noch einmal für einen Job verpflichten möchte. Dein Universum und Mellody klingen auch interessant, zudem bin ich gespannt was für schläger das waren, die Mellody und Nikolai aufgelauert haben, nur weil sie zusammen unterwegs waren, ob es einfach nur ein Test war, das Nikolai nichts verlernt hat, oder ob die sache jetzt schon so heiß ist, bevor er überhaupt ja zu dem Angebot sagt. Klingt nach Krimi und das freut mich ;-)

CuCu Jyorie

Von:  Styxcolor
2015-04-13T16:03:22+00:00 13.04.2015 18:03
Danke für diesen großen Lesegenuss :) Ich habs nur so verschlungen, konnte leider nicht mehr aufhören zu lesen nach einpaar Zeilen :D Athmosphärisch sehr dicht, sympathische (Anti)Helden und eine wunderbar umschriebene Cyberpunk-Welt <3


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