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Colour Free Fear

von

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Colour Overdrive

Die Farbe des Himmels über der Stadt war nur noch zu erahnen; Hologramme und Neonreklamen schluckten die Dunkelheit der Nacht und ließen nichts übrig als einen Brei aus buntem Licht. Shinjukus Straßen pulsierten vor Leben. Bunte Neonschilder und glitzernde Auslagen durchbrachen die öden grauen Betonfronten; offene Clubtüren waren wie schwarze, dröhnende Löcher, die einen einsaugten und komplett blutleer wieder ausspuckten. Das Publikum war eine bunte Mischung aus Japanern und Ausländern, eine braun und weiß gefärbte Masse mit den grellen Farbklecksen der Kleidung oder auffällig getönter Haare. Nikolai stand am Fenster seiner Wohnung und beobachtete das Treiben mit leerem Blick. Durch die verschmierte Plastikscheibe wirkte alles ein wenig verschwommen und unscharf, wie durch Wasser betrachtet. Die Musik aus hunderten von Boxen mischte sich zu einer einzigen Kakophonie und schien alles in sanfte Schwingungen zu versetzen, selbst die papierdünnen Wände seiner provisorischen Behausung.
 

Er seufzte frustriert und ließ sich auf die fleckige Schaumstoffmatratze fallen, die schon hier gelegen hatte, bevor er eingezogen war. Wobei eingezogen wahrscheinlich nicht das richtige Wort war; er hatte einfach seine Reisetasche in irgendeine Ecke geworfen und war sofort wieder losgezogen. Seitdem verbrachte er hier ab und an seine Nächte; meistens, wenn er schon zu betäubt war, um zu registrieren, wie dreckig und eng es in dieser Schuhschachtel war. Nikolai starrte mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster, mitten hinein in den bunten Zirkus der taghell erleuchteten Nacht, bevor er wieder aufstand und nach seiner Jacke griff.

Das Magnetschloss klickte leise, als er die Tür hinter sich schloss. Guter Witz, dachte er. Selbst ein Kind könnte das dünne Sperrholzbrett aus den Angeln heben, da half auch der dünne Magnetbolzen nichts. Egal, es gab da drin sowieso nichts, dem er nachtrauern würde, wenn es verloren ginge. Im Flur stank es nach irgendwelchen Essenresten und noch viel abscheulicheren Dingen; er rümpfte die Nase und eilte an den identischen Türen der anderen Wohnungen vorbei, bis er an einer angekommen war, die halb angelehnt war. Er schlüpfte hinein, durchquerte den kahlen Raum mit wenigen Schritten und stieg durch den leeren Fensterrahmen auf einen wacklig aussehenden Treppenabsatz aus rostigem Metall. Das Haus hatte auch ein richtiges Treppenhaus, doch er bevorzugte die Feuerleiter; das gab dem Ganzen wenigstens den Ansatz von Abenteuer. Durch das grobmaschige Metallnetz sah er den bunten Reigen auf der Straße. Ohne Eile stieg er die schmale Treppe hinunter. Die abgenutzten Stufen endeten auf dem Hinterhof einer Chirurgie-Boutique; aus den Müllcontainern drang ein eigenartiger Geruch nach Fäulnis und Chemikalien. Durch die Hintertür und einen eiskalten Lagerraum betrat er den Laden. Einen größeren Gegensatz zu dem schmutzigen Loch aus dem er gerade gekommen war, konnte man sich kaum vorstellen. Der Boden bestand auf einem blitzblanken Marmorimitat; die teilweise verspiegelten Wände wurden von Vitrinen und Holo-Blöcken gesäumt. Unter bruchsicherem Glas waren alle möglichen Gadgets und Spielzeuge ausgestellt, die man sich irgendwo im Körper einsetzen lassen konnte, wenn man genug Geld und zu wenig gesunden Menschenverstand hatte. Er streifte die bunten Chips, Sensorien, Gelenkmotoren und Prothesen nur mit einem abwesenden Blick; das war alles Spielerei. Auf den Holo-Blöcken drehten sich die fein gewobenen Hologramme junger Männer und Frauen, die einem vorführten, wie man innerhalb von zwei Stunden sein gesamtes Gesicht umstrukturieren lassen konnten; vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan mit nur einer Sitzung und ein paar Hämatomen. Die Boutique war relativ leer; lediglich an einer Vitrine stand eine Verkäuferin mit einem muskulösen Mann, der anscheinend noch weitere Muskelpakete transplantiert haben wollte. Nikolai schüttelte verächtlich den Kopf und eilte weiter. Wenige Meter vom eigentlichen Eingang entfernt stand der Empfangstresen, gemacht aus demselben Kunstmarmor wie der Boden, sodass es aussah als wäre er einfach dort gewachsen.

Flankiert wurde er von zwei mannshohen Glasschränken mit teurer Bioware: auf kleinen Podesten waren mehrere Behälter mit Augen, Hautproben und ähnlichem Kram ausgestellt. Laborware, trotzdem nicht billig. Ihm lief immer ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an diesen Schränken vorbeiging; Silizium und rostfreier Edelstahl waren ihm lieber.
 

„´nen Abend, Jersey“, sagte er und stützte die Ellbogen auf die kühle Marmorplatte. „Heute schon was losgewesen?“
 

Der Mann hinter dem Tresen sah aus als wäre er selbst der beste Kunde seiner Boutique. Als er Nikolai anlächelte, entblößte er raubtierhaft spitze Eckzähne, bestimmt vier Zentimeter lang. Zahnknospenimplantate.
 

„Kommst gerade richtig. Vor ner Stunde war jemand hier, der hat sich nach dir erkundigt.“
 

Jerseys Augen waren hellgrün und von einer goldenen Korona eingefasst; als sie scharfstellten, weiteten sich seine Pupillen für einen Moment. Kameras, gekoppelt an eine Speichereinheit im Stammhirn. Die Augenhöhlen selbst waren künstlich vergrößert, sodass er mit seinen übergroßen, strahlenden Augen, dem runden Gesicht und dem knallblau gefärbten Haar eher nach Anime-Figur aussah als nach seriösem Geschäftsmann.
 

Nikolai lehnte sich nach vorne, die Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. „Wer?“, fragte er. „Japaner?“
 

Jersey rieb sich nachdenklich das Kinn. „Denke schon. Hatten ´n Foto von dir und wollten wissen, ob ich dich in letzter Zeit hier gesehen hätte, oder ob ich wüsste wo man dich auftreiben kann. Sah nach Kundschaft aus.“
 

Genervt verdrehte Nikolai die Augen. „Die raffen es einfach nicht. Wie oft muss ich denen erklären, dass ich das nicht mehr mache? Ich bin raus!“
 

„MIR musst du das nicht erklären“, entgegnete Jersey ungerührt, während er mit einem überlangen Fingernagel zwischen seinen Raubtierzähnen herumpulte.
 

„Stimmt… Ach, übrigens, du hättest nicht zufällig was da für mich?“
 

Die hellgrünen Augen wurden schmal und das katzenhafte Lächeln noch breiter. „Was da hab ich schon… Ist nur die Frage, ob du auch zahlen kannst.“
 

Als Nikolai nur mit den Achseln zuckte, seufzte er und bückte sich unter den Tresen. „Aber nur, weil du mir die Koreaner vom Hals gehalten hast, hörst du? Irgendwann hören solche Freundschaftsdienste aber auch mal auf.“
 

„Jaja“, sagte Nikolai schnell und schnappte ihm die kleine Phiole aus der Hand. Die blutrote Flüssigkeit darin funkelte im gleißenden Licht der Deckenstrahler wie ein Rubin. „Ich schulde dir was!“
 

„Du schuldest mir noch ganz andere Sachen!“, rief ihm Jersey hinterher, aber da war er schon weg.
 

Eine gute Stunde später lehnte er an der Bar irgendeines Clubs und hielt sich an einem schweren Whiskeyglas fest; die Flüssigkeit in dem Glas war jedoch hellblau und schien im Laserlicht des Clubs beinahe zu leuchten. Hier war die Musik keine zusammengestoppelte Kakophonie mehr; hier dröhnten die Bässe des synthetischen Elektropops und brachten seine Knochen schier zum Vibrieren. Auf der Tanzfläche drängten sich die Menschen noch enger als auf den Straßen; es war beinahe unmöglich einen einzelnen Körper auszumachen. Die Luft roch nach Schweiß und verschüttetem Alkohol. Nikolai mochte den Lärm, die Enge und die bunten Lichter; an so einem Ort fiel es ihm leichter zu vergessen, wieso er inzwischen in einer engen, nach Abfällen stinkenden Schuhschachtel sein Leben fristen musste. Er starrte in seinen Drink und lächelte schief. Wenn man das, was er inzwischen hatte, überhaupt noch ein Leben nennen konnte.
 

„Hey!“
 

Irritiert sah er zur Seite. Normalerweise sprach ihn hier niemand an; wer nach Shinjuku kam, konnte sein Erscheinungsbild normalerweise deuten und ließ ihn dementsprechend in Ruhe. Derjenige musste entweder sehr mutig oder sehr dumm sein, wenn er es wagte, die ungeschriebenen Regeln dieses Ortes so konsequent zu brechen. Als er sich umdrehte, sah er, dass es tatsächlich kein er gewesen war, sondern eine sie; blasse Haut, kornblumenblaue Augen, pink gefärbte Haare, in denen aller möglicher Glitzerkram steckte. Typisches Shinjuku-Partyvolk. Passte nicht auf Jerseys Beschreibung und war mit ziemlicher Sicherheit auch kein Kunde. Was konnte so jemand von ihm wollen?
 

„Ich bin Melody“, stellte sie sich vor.
 

„Und ich bin nicht interessiert“, antwortete er so abweisend er konnte und drehte sich demonstrativ weg.
 

Endlich hatte sie ihn gefunden, mitten im größten Gewühl des Viertels. Im ersten Moment hatte sie gezweifelt, ob er wirklich der Richtige war; die Beschreibung, die sie bekommen hatte, traf nicht mehr in allen Punkten zu. Doch als er einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte, war ein Ärmel seiner weiten Jacke ein Stück hochgerutscht und sie hatte das dunkle Mal an seinem Handgelenk gesehen. Das reichte ihr. Wie er dort an der Bar lehnte, hätte er desinteressiert wirken können, aber als sie ihn genauer beobachtete, schien er ihr eher geistesabwesend, beinahe schon verloren, so als würde er nicht wissen, wo er hingehörte. Eigentlich sah er gar nicht schlecht aus; kleiner als sie, ganz in schwarz gekleidet, mit unregelmäßig geschnittenen, goldblonden Haaren, vielleicht ein bisschen dünn und hohlwangig für ihren Geschmack… Aber das war ja nicht ihr Problem. „Hey!“ Er drehte sich um und sah sie irritiert an, als hätte sie ihn beim Meditieren gestört. Wenn sie bedachte, wie er in seinen Drink gestarrt hatte, dann stimmte das wahrscheinlich sogar. Egal, Angriff war immerhin die beste Verteidigung.
 

„Ich bin Melody“, sagte sie und lächelte ihn an.
 

„Und ich bin nicht interessiert.“
 

Und weg war er. Autsch. Eiskalt abgeblitzt. Melody verzog ihre glänzenden Lippen zu einem adretten Schmollmund und ging ihm kurzentschlossen nach. Sie hatte nicht tagelang ganz Shinjuku abgeklappert, damit er sie jetzt einfach so abwies. Am anderen Ende der Bar bekam sie ihn wieder zu fassen. Er saß auf einem hohen Barhocker und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Tanzfläche, wie ein Bademeister auf ein volles Schwimmbecken.
 

„Hey.“
 

Sie lehnte sich an den Tresen neben ihm.
 

„Wieso bist du denn gleich abgehauen? Ich beiße nicht.“
 

„Aber ich vielleicht“, antwortete er trocken und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
 

„Wow, jetzt hab ich aber Angst“, entgegnete sie provokativ, ehe sie ihm kurzerhand das Glas aus der Hand pflückte und daran nippte. Sie verzog augenblicklich das Gesicht. „Igitt, was ist denn das? Schmeckt ja wie Desinfektionsmittel.“
 

„Das ist auch nichts für kleine Mädchen“, sagte er und kippte ungerührt den Rest der Flüssigkeit herunter. Als er das schwere Glas wieder auf der Platte des Tresens abgestellt hatte, musterte er sie mit einer Mischung aus Resignation und Abneigung. „Also, was willst du von mir?“
 

Melody strich sich eine Strähne hinters Ohr. Jetzt war der Moment der Wahrheit. „Ich hätte ein Angebot für dich.“
 

Bernsteinfarbene Augen glitten abschätzend über ihr Gesicht; ansonsten saß er still wie eine Statue auf dem Barhocker, den Rücken kerzengerade und beide Hände auf den Oberschenkeln.
 

„Aha. Und was für ein Angebot?“
 

Sie lächelte vielsagend und berührte ihn leicht am Unterarm. Er zuckte zurück, als hätte er sich an ihrer Berührung verbrannt.
 

„Nein. Damit ist Schluss. Ich bin raus aus dem Geschäft“, sagte er fest. Mit der Eleganz eines Balletttänzers glitt er von seinem Hocker und wollte abermals im Gedränge verschwinden. Melody packte ihn kurz entschlossen an der Schulter und hielt ihn zurück; selbst unter dem dicken Leder seiner abgewetzten Jacke spürte sie, wie sich jeder einzelne Muskel anspannte, bereit, sich jederzeit loszureißen.
 

„Jetzt hör mir doch erst mal zu!“, rief sie beschwörend.
 

„Wieso?“, fragte er zurück. „Ich bin nicht derjenige, den du suchst. Ich mach das nicht mehr, klar? Wenn sie mich erwischen, machen sie mich kalt.“
 

Er machte sich los, doch kaum hatte er einen Schritt von ihr weg gemacht, sagte sie laut: „Sagt dir der Name Druganow etwas?“ Er erstarrte, und drehte sich dann langsam zu ihr um. Sie erschrak vor seinem glühenden Blick.
 

„Druganow?“, fragte er heiser. „Sergej Druganow?“
 

Melody nickte. „Der Eine und Einzige. Ich sollte dich suchen. Auf dem üblichen Wege warst du ja nicht mehr aufzutreiben.“
 

Ein flackernder Lichtstrahl färbte seine Haut für einen Moment ungesund gelb; sie sah wie er sich auf die Unterlippe biss, offensichtlich abwog, ob er ihre Behauptung für bare Münze nehmen sollte oder nicht. „Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?“
 

„Das kannst du nicht wissen“, entgegnete sie ruhig. „Du wirst mir wohl einfach vertrauen müssen.“
 


 

Als er mit Melody den Club verließ, wusste er immer noch nicht, ob es ein Fehler war oder nicht. Blindes Vertrauen war etwas, das er sich in den letzten Jahren nicht hatte leisten können; in seinem Beruf war die Quittung, die man für solche Leichtsinnigkeiten bekam, meistens ein Leichensack. Aber er arbeitete ja nicht mehr, oder? Dementsprechend konnte er es sich wahrscheinlich auch leisten, mit einer aufgedonnerten Partybraut durch halb Tokio zu tingeln, in der vagen Hoffnung, jemanden zu treffen, den er zuletzt vor drei Jahren gesehen hatte. Allerdings wusste er nicht, was sich Sergej davon versprach ihn wiederzusehen… Mit seinem Job hatte er im Grunde auch seine Daseinsberechtigung verloren. Allerdings pulsierten schon so viel Alkohol und aufgepeppte Morphine durch sein Blut, dass er sich nicht mehr wirklich darum kümmerte. Melody hatte ihn durch die Partymeilen von Shinjuku gelotst, ihn in eine U-Bahn gesetzt und durch mindestens fünf verschiedene Stadtteile gehetzt. Inzwischen wusste er kaum noch wo sie waren, außer, dass sie irgendwie in Arakawa gelandet waren. Eins hatten seine immer noch geschärften Sinne jedoch registriert: seit ein paar Stationen (und vielleicht schon früher; in Shinjukus Gedränge war das schwer zu sagen) hatten sie einen oder auch mehrere Verfolger. Nikolai hakte sich bei Melody ein, zog sie so näher zu sich (sie war dank ihrer Stiefel fast zwanzig Zentimeter größer als er) und fragte leise: „Hast du zufällig 'nen Stalker oder 'nen geheimen Verehrer?“
 

„Wäre nicht sonderlich geheim, wenn ich es wüsste, oder?“
 

„Gut, dann werden wir verfolgt.“
 

Er lockerte seinen Griff leicht, und sie schritten die Straße hinunter, als würde sie ihnen gehören. Melody passte sich seinen Schritten überraschend gut an, und für einen Außenstehenden hätten sie sicher wie ein ganz normales Pärchen ausgesehen. Nikolai sondierte die Lage. Über schmale Gassen und kleine Nebenstraßen waren sie in ein Gebiet gekommen, dass hauptsächlich aus Lagerhäusern und Fabrikanlagen bestand; die Straße an sich war breit genug, um mehrere schwere Fahrzeuge gleichzeitig durchzulassen. Kein guter Ort für eine Konfrontation. Viel zu offen, aber auch isoliert. Gegen einen kräftigeren oder ernsthaft bewaffneten Gegner hatte er hier in seiner momentanen Verfassung keine echte Chance. Da sah er aus dem Augenwinkel den Eingang zu einer schmalen Gasse. Er zupfte leicht an Melodys Arm.
 

„Hey, kennst du dich hier aus?“
 

„Einigermaßen, wieso?“
 

„Wenn wir an der nächsten Einmündung vorbeikommen, geht's da rein. Und dann heißt es Tempo. Kannst du in den Schuhen rennen?“
 

„Klar.“
 

„Gut, beweis es.“
 

Die Gasse kam in greifbare Nähe; einen Augenblick später hatten sich die beiden voneinander gelöst und bogen in den schmalen Weg ein. Melody hatte nicht gelogen; sie legte ein ordentliches Tempo vor, sodass er sich nicht zu sehr zurücknehmen musste. Vom Eingang der Gasse hörte er dröhnende Schritte. Offensichtlich hatten ihre Verfolger ihre Heimlichkeiten nun aufgegeben. Die Straße war nicht nur eng, sondern auch noch mit allerlei Krempel vollgestellt, durch den man sich durchzwängen musste. Hinter einem regelrechten Labyrinth aus schweren Metallcontainern, die vage nach irgendetwas Medizinischem rochen, bedeutete Nikolai Melody zu warten. Wortlos drückte sie sich mit dem Rücken gegen den schmalen Spalt, aus dem ihre Verfolger kommen mussten.
 

Nikolai stellte sich in Position, eine Hand an der Messerscheide an seinem Gürtel, verborgen durch den Saum seiner Jacke. Die Beleuchtung war spärlich, aber ausreichend, und für einen Moment fragte er sich, ob Melodys schöne blaue Augen nicht vielleicht Implantate waren, Implantate mit eingebautem Restlichtverstärker. Es rumpelte und krachte, und ihre Verfolger - es waren drei, wie Nikolai eher beiläufig feststellte - schossen aus dem schmalen Spalt wie Flipperkugeln. Bevor auch nur einer von ihnen Gelegenheit hatte, die Situation richtig zu erfassen, hatte Nikolai dem Ersten bereits die flache Hand ins Zwerchfell gerammt, und er klappte keuchend zusammen. Nikolai hörte es zwar knacken, doch das war alles. Beinahe enttäuscht schnalzte er mit der Zunge; noch vor wenigen Monaten hätte er ihm bei so einem Schlag mehrere Rippen zertrümmert. Der Zweite hatte einige Sekunden Schonfrist, doch er war zu perplex, um rechtzeitig zu reagieren. Nikolais Knie, knochig und hart wie polierter Marmor, machte Bekanntschaft mit seinem Schritt und ließ ihn als wimmerndes Häufchen Elend zu Boden gehen. Um den Dritten hatte sich inzwischen Melody gekümmert, so gut sie eben konnte: ein ordentlicher Tritt in die Nieren war nichts, was man sofort wegsteckte, sofern man nicht darauf getunt worden war… Oder Erfahrung damit hatte. Allerdings hatte sich ihr Gegner bereits wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht hochgerappelt, und war jetzt offensichtlich richtig böse. Melody starrte ihn trotzig an, die Hände zu Fäusten geballt, aber mit der Wand im Rücken. Mit zwei schnellen Schritten war Nikolai hinter ihrem Angreifer, zog wie beiläufig sein Messer und stieß ihm die dünne Klinge zwischen der dritten und vierten Rippe in den Körper; eine Bewegung, die in ihrer Selbstverständlichkeit die lange Übung verriet. Der Mann ging zu Boden, halb erstickend an dem Blut, das seinen Mund füllte. Nikolai bedeutete Melody ihm zu folgen, und wortlos machte sich das ungleiche Paar auf den Weg.
 


 

„Was waren das für Typen?“, fragte sie schließlich, als die hohen Wohntürme von Arakawa nicht mehr weit waren. Sie waren wieder auf einer belebten Straße, bummelten an kleinen Geschäften und Boutiquen vorbei, die so spät nachts teilweise schon gar nicht mehr auf hatten.
 

„Bin mir nicht sicher“, antwortete Nikolai. Sein Messer steckte wieder in der Scheide; das Blut hatte er einfach an seiner schwarzen Jeans abgewischt. „Für Yakuza waren die nicht annähernd professionell genug. Das waren keine Killer, das waren irgendwelche gekauften Schläger. Ist jemand hinter dir her?“
 

Melody schüttelte den Kopf, wich aber gleichzeitig seinem Blick aus. „Nicht, dass ich wüsste.“
 

„Naja, zumindest haben wir sie jetzt abgeschüttelt. Und du bringst mich auch wirklich zu Sergej?“
 

„Klar!“ Sie klang regelrecht entrüstet. „Ich bring dich zu ihm. Er hat mir ja den Auftrag erteilt.“
 

Abrupt blieb er stehen, sodass sie sich verwundert nach ihm umdrehte. „Welchen Auftrag?“, fragte er, die Stimme gefährlich ruhig.
 

„Ich sollte dich suchen. Wir wussten, dass du in Shinjuku warst, mehr aber auch nicht. Ich kenn mich in der Szene ein bisschen aus, deswegen sollte ich sozusagen Lockvogel spielen.“
 

„Und warum?“, bohrte er weiter. Sie verfolgte besorgt, wie er seine rechte Hand wieder auf die Messerscheide legte. Beschwichtigend hob sie die Hände. Um sie herum gingen immer noch Menschen, die sich scheinbar gar nicht darum scherten, dass zwei seltsame Ausländer mitten auf dem Bürgersteig standen und miteinander stritten.
 

„Hör zu, Sergej braucht dich für 'nen wichtigen Job, aber ich kann dir nicht sagen wofür, okay? Zumindest nicht hier. Das kann er dir schön selbst erklären. Ich versteh meistens eh nur die Hälfte von dem, was er labert.“
 

Nikolai entspannte sich. „Ja, das kenne ich irgendwoher.“ Melody grinste und zog ihn mit sich.
 


 

Ihr Ziel war einer der Wolkenkratzer in dem Wohnviertel, ein riesiges Teil mit vierzig Stockwerken. Ein Fingerabdruckscanner bestätigte Melodys Identität, bevor der Fahrstuhl sie innerhalb von Sekunden im Penthouse absetzte. Nur zögernd betrat Nikolai das Apartment, den Körper gespannt wie eine Sprungfeder, jederzeit bereit anzugreifen.
 

„Sergej, bin wieder da!“, brüllte Melody ungeniert in den Flur. „Und rate mal, wen ich dir mitgebracht habe!“
 

Aus dem Raum am Ende des Flurs war ein Krachen und ein unterdrückter Fluch zu hören; dann klappte die Tür auf und Sergej trat in den Flur. Sämtliche Anspannung wich aus Nikolais Körper.
 


 

Die Wohnung war groß, schön geschnitten und vollkommen unpersönlich. Mit den weißen Wänden, dem aquamarinblauen Laminat und dem leichten Geruch nach Chlor wirkte sie wie ein Schwimmbad. Sämtliche Fenster waren mit einer schwarzen Schaummasse zugesprüht; das Licht kam von unauffällig in die Decke eingelassenen LED-Spots. Nikolai beobachtete Sergej unbeteiligt, während dieser ein sauberes T-Shirt aus einer überquellenden Reisetasche fischte.
 

„Wieso hab ich das Gefühl, dass du mich absichtlich ohne Shirt begrüßt hast?“
 

„Ganz fiese Unterstellung“, entgegnete er amüsiert, während er sich das Oberteil über den Kopf zog. „Du weißt doch, wie das ist.“
 

„Okay, jetzt rück schon mit der Sprache raus. Wieso bin ich hier? Doch bestimmt nicht, um mir deine persönliche Strip-Show anzusehen.“
 

„Och, wenn du auf eine bestehst, könnte man das sicher einrichten.“
 

Nikolai spürte, wie sich seine Lippen beinahe gegen seinen Willen zu einem angedeuteten Lächeln verzogen. Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen, und schon kabbelten sie sich wieder wie eh und je. Doch ehe Sergej sein Lächeln sehen konnte, wischte er es weg und ersetzte es durch seinen durch und durch neutralen Gesichtsausdruck. Sie standen sich nun gegenüber, und zum ersten Mal nahm sich Nikolai Zeit, ihn eingehend zu mustern. „Du hast deine Haare wachsen lassen.“
 

„Und du deine abgeschnitten“, entgegnete der Hacker ernst. Seine eigenen Haare, dunkel und drahtig, waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst; nur der Bereich über den Ohren war sauber ausrasiert, um besseren Zugriff auf die Implantate zu ermöglichen, die als silberner Rahmen um seine Ohrmuscheln gelegt waren. Titan, wenn er sich richtig erinnerte, im Schädelknochen verankert und mit mehreren dunklen Linien versehen, die verrieten, wo die Kabel eingesteckt wurden. Das helle Metall bildete einen angenehmen Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut und den dunklen Augen; obwohl er in Moskau geboren und aufgewachsen war, hätte er ebenso gut aus Barcelona kommen können. In dem kurzärmeligen T-Shirt waren die bunten Tätowierungen auf seinen Oberarmen gut zu sehen; kunstvoll arrangierte Blüten, ein ganzer Strauß der unterschiedlichsten Arten, die in allen möglichen Farbtönen leuchteten. Aber die Bilder waren etwas zu farbenfroh, etwas zu glatt; nicht wirklich mit Tinte unter die Haut gestochen, sondern als Tattoofolie lediglich draufgeklebt.
 

Nikolai schnaubte leise. „Willst du mir etwa nacheifern?“
 

Sergej verdrehte die Augen. „Sicher. Als ob du dir jemals Blumen tätowieren lassen würdest. Ist doch nicht ansatzweise männlich genug.“
 

Beleidigt wandte sich Nikolai ab. Als Teenager und auch später noch hatte er unter seiner zierlichen Figur, dem seidigen Haar und dem ebenmäßigen, schönen Gesicht regelrecht gelitten; inzwischen machte es ihm zwar weniger aus, aber ein wunder Punkt war es trotzdem.
 

„Hey, ich hab's doch nicht so gemeint.“ Sergej wollte ihn berühren, doch er schrak zurück, das Kinn trotzig vorgereckt.
 

„Was. Willst. Du. Von. Mir“, fragte er, wobei er jedes Wort so überdeutlich betonte, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun.
 

Sein Gegenüber seufzte schwer. „Okay. Okay, okay, ich mach reinen Tisch. Komm mit.“ Zögernd folgte Nikolai ihm, die Finger in das dicke Leder seiner Jacke gekrallt.
 


 

Sergejs Arbeitsraum schien ihm gleichzeitig auch als Schlafzimmer zu dienen; zumindest entdeckte Nikolai neben tonnenweiser technischer Ausstattung auch einen Futon mit einer zusammengeknüllten Decke in einer Ecke des Raumes. Zielsicher steuerte der Hacker einen kleinen Klapptisch an, auf dem ein flacher Projektor und eine Tastatur lagen. Als er sie zur Hand nahm, glitt Nikolais Blick beinahe bewundernd über sie. Sie war aus irgendeinem Metall, wahrscheinlich rostfreiem Stahl, und keine Taste war beschriftet. Eine Hacker-Ausrüstung, für jemanden, dem die Tasten so vertraut waren, dass er nicht mal mehr hinsehen musste, wenn er hundertstellige Codes in Sekundenschnelle in die Tasten hackte. Sergej bemerkte seinen Blick.
 

„Spezialanfertigung“, sagte er stolz und klopfte auf die drahtlose Tastatur, wie ein Turnierreiter vielleicht die Flanke seines Pferdes getätschelt hätte. „Die Elektronik ist so fest verdrahtet, da kann ein Panzer drüber fahren und es macht dem Ding nichts aus.“
 

„Wunderschön“, unterbrach in Nikolai. „Aber ich will mir keine stundenlangen Schwärmereien über dein Spielzeug anhören. Warum hat mich Melody in Shinjuku aufgegabelt? Und wieso wurden wir auf dem Weg hierher von drei Killer-Clowns angegriffen? Das geht doch bestimmt auf deine Kappe.“
 

Er sah ihn erstaunt an. „Ihr wurdet angegriffen?“
 

„Hat dir das Melody nicht erzählt?“
 

„Nein, die ist gleich wieder weg. Jetzt, wo du da bist, kann sie mir gleich die nächsten Leute ranschaffen.“ Mit flinken Fingern startete Sergej seinen Rechner, einen schwarzen Kasten, der Nikolai bis zum Knie ging und an mehrere Speichereinheiten angeschlossen war, die sogar noch größer waren.
 

„Musst du nicht einstecken?“, fragte er, als sich über den Projektor ein holografisches Bild des Cyberspace aufbaute.
 

„Nein, ich will ja nicht rein. Ich will dir nur was zeigen.“ Sergej hatte sich auf einem brandneuen Plastikstuhl niedergelassen und einen für Nikolai neben sich gezogen, auf den sich dieser zögernd setzte. Allerdings blieb er auf der Kante hocken, als müsse er gleich wieder aufspringen. Ein neonblaues Logo baute sich vor ihnen auf; die Holografie war glasklar und so dicht, dass sie beinahe realer wirkte als der Rest des Raumes.
 

„Sagt dir der Name CyCo was?“
 

Ihm lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter und er verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Klar. Cybernetic Corporations. Marktführer bei so gut wie allem, was mit Technik zu tun hat. Und?“
 

Er würde Sergej keine Steilvorlage geben. Das Thema CyCo hatten sie nur ein- oder zweimal angeschnitten und er hatte keine guten Erinnerungen an diese Gespräche. Sergej streifte ihn mit einem seltsamen Seitenblick, ehe er sich wieder auf das Hologramm konzentrierte. „Die Gründerin von CyCo ist schon vor sechzig Jahren gestorben.“
 

„Ich weiß“, sagte Nikolai ungeduldig. „Na und?“
 

„Tja, der Knackpunkt der Sache ist der...“ Drei schnelle Tastenanschläge später drehte sich das Bild einer metallisch glänzenden Säule im Licht der Holografie, von außen mit einem dichten Netz aus bläulich schimmernden Adern überzogen. „Das, mein Lieber, ist der Kern der künstlichen Intelligenz, der CyCo seinen Erfolg verdankt. In diesem Ding ist alles gespeichert, alle Daten, alle Patente, sämtliche Infos, die sie haben. Natürlich gibt’s auch noch externe Speicher, aber der Löwenanteil liegt hier drauf. Die Gründerin hat die KI programmiert und bis heute ist sie einzigartig. Niemandem ist es bisher gelungen ihre Geheimnisse zu entschlüsseln oder so ein Ding nachzubauen.“ Seine dunklen Augen leuchteten förmlich, wie immer, wenn er von irgendwelchem Technik-Schnickschnack berichtete. Typisch Hacker, mit einem Bein im Cyberspace und mit dem anderen in irgendeinem Elektro-Fachladen.
 

„Wunderschön“, kommentierte Nikolai lustlos. „Und weiter? Das hat nichts mit mir zu tun. CyCo hat mich abgeschrieben, wie du sehr wohl weißt. Abgeschrieben und dann nach Minsk abgeschoben.“
 

„Ja, das weiß ich sehr wohl.“ Zum ersten Mal, seitdem er die Tastatur in die Hand genommen hatte, wandte sich Sergej direkt an ihn und sah ihm voll ins Gesicht. „Aber genau hier beginnt der springende Punkt. Die KI von CyCo muss jedes Jahr einmal runter- und wieder hochgefahren werden, da sonst bestimmte Teile der Elektronik beschädigt werden. Um das Ding jedoch wieder hochzufahren, braucht man einen speziellen Code, einen Code, der in der DNS der Gründerin gespeichert war.“
 

Nun wurde es Nikolai zu bunt. Er sprang auf und ballte die Fäuste. „Was soll das alles? Musst du unbedingt Salz in die Wunde reiben? Ja, die KI braucht die DNS der Gründerin, die DNS von Eva, wie man sie inzwischen nennt. Und weil die Leute von CyCo zu paranoid sind, um diesen verdammten Code irgendwo zu speichern, haben sie ihre geliebte Gründerin geklont! Mehrfach! Und sie haben auch versucht einen männlichen Klon zu erschaffen, mit einem blanken Y-Chromosom, da auf dem praktisch wertlosen Y-Chromosom ja keine Infos gespeichert sind, außer dass man als Junge auf die Welt kommt! Und soll ich dir was sagen? Es hat nicht geklappt! Es ging voll in die Hose! Denn die DNS des männlichen Klons war verunreinigt, man konnte den Code nicht richtig ablesen, deswegen hat man den kaum fünf Tage alten Säugling an eine Pflegefamilie weitergegeben, an eine weißrussische Pflegefamilie, schön weit weg von Japan und dem CyCo-Hauptquartier!“ Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wieder; er war sich gar nicht bewusst, dass er schrie.
 

„Das stimmt“, hielt Sergej komplett gelassen dagegen, eine Augenbraue verwundert hochgezogen. „Zumindest, bis die Yakuza durch einen ihrer Informanten erfuhren, dass es in Minsk ein gescheitertes Experiment von CyCo gab, das sie dann prompt zu sich nach Japan holten. Sie waren zwar enttäuscht, dass der Junge tatsächlich keine Vorteile von dem Experiment davongetragen hatte, behielten ihn aber trotzdem bei sich, bildeten ihn in Nagoya aus und ließen ihn aufrüsten, als er Talent für das Geschäft zeigte. Er wurde zu einem der besten Killer, den die Yakuza je gehabt hatten.“
 

„Bis er eines Tages einen extrem wichtigen Auftrag vermasselte“, spann Nikolai die Scharade weiter. „Und von seinen Auftraggebern die entsprechende Quittung kassierte…“ Er ließ sich zu Boden fallen, eigenartig erschöpft von ihrem seltsamen Disput. „Ich kenn meine eigene Geschichte, okay?“, sagte er schließlich leise. „Lassen wir das Thema.“
 

Kurz entschlossen hockte sich Sergej neben ihn. „Okay. Nur eins noch: was genau war deine Quittung?“
 

„Das weißt du nicht?“, fragte er überrascht. „Du weißt doch sonst immer alles.“
 

Sergej schnaubte leise. „Ich wünschte es wäre so. Die Yakuza haben vor ein paar Wochen noch mal ordentlich aufgerüstet, haben sich wohl neue Technik gekauft. Auf alle Fälle komm ich nicht mehr richtig tief in ihre Gitter, ohne Spuren zu hinterlassen. Da muss ich mir demnächst noch mal was einfallen lassen, wie ich die Sperren umgehe. Auf alle Fälle weiß ich über deine Bestrafung nur im Groben Bescheid.“
 

„Da gibt’s nicht viel mehr als das Grobe. Ich hatte meinen Clan entehrt, und wurde dementsprechend bestraft. Sie haben die Implantate und Aufrüstungen in mir unbrauchbar gemacht und mich praktisch ohne Kohle und Papiere irgendwo in Tokio abgesetzt. Die haben mich nur nicht umgebracht, weil mir der Boss 'nen Gefallen schuldete.“
 

Sergej blinzelte überrascht und legte ihm eine Hand auf die Schulter; diesmal zuckte er nicht weg. „Der Boss hat dir einen Gefallen geschuldet? Wie hast du das denn geschafft?“
 

„Hab den Typen umgelegt, der seine Tochter vergewaltigt hat.“ Es knackte leise in seinen Gelenken, als er aufstand und sich mit einer nachlässigen Bewegung die Jacke von den Schultern schüttelte, so als wäre ihm mit einem Mal zu warm geworden. Die Reißverschlüsse der abgewetzten Lederjacke klirrten leise, als sie zu Boden fiel. Darunter trug er ein ärmelloses, enges Shirt, und zum ersten Mal seit Wochen waren seine Abzeichen wieder sichtbar: die pechschwarzen Drachen, die sich von den Schultern über die gesamte Länge der Arme bis zu den Handgelenken erstreckten. Einen größeren Kontrast zu Sergejs bunten Blumen konnte er sich kaum vorstellen. „Tja, das bin ich“, sagte er provokant und stemmte eine Hand in die Hüfte. Sergej sah, dass die Muskeln unter der tätowierten Haut leicht zittern. „Ein vergeigtes Experiment, ein abgehalfterter Ex-Yakuza… Und ich bin noch nicht mal dreißig. Hast du noch ein paar Beweisstücke, um mir zu beweisen, dass ich ein absoluter Fehlschlag bin? Ein kompletter Griff ins Klo?“ Es war ein Wunder, dass ihm kein Gift von den Lippen tropfte.
 

Sergej schlug seine Augen nieder und zupfte an seinem T-Shirt herum, ungewohnt nervös. „Und das mit uns?“, fragte er schließlich. „War das auch ein Fehlschlag?“ Er sah erschrocken auf, als Nikolai wütend mit dem Fuß aufstampfte.
 

„Begreifst du's immer noch nicht? Ich hab dich damals verführt, weil wir Infos brauchten! Das war ein verdammter Auftrag, mehr nicht!“
 

„Du lügst“, sagte Sergej kalt und sah ihm in die Augen. So standen sie bestimmt mehrere Minuten da, Auge in Auge, so als würde einer von ihnen gleich einen Revolver ziehen und den anderen niederschießen. Schließlich war es Nikolai, der wegsah.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich leise. „Ich weiß nicht, was das damals war. Die ersten paar Male war es tatsächlich nur der Auftrag… Aber dann hatte ich die Infos, aber ich bin trotzdem weiter zu dir gekommen… War ganz schön blöd, oder?“
 

Vorsichtig griff Sergej nach seinem Handgelenk; es war dünn genug, dass er es mit Daumen und Zeigefinger problemlos umschließen konnte. „Ich glaube, du brauchst jetzt einen Tee.“
 


 

Die Küche war ein glänzendes Einbauteil aus weißem Kunststein, und genauso kahl wie der Rest der Wohnung. Ein kleiner Bistrotisch und zwei schwarz lackierte Metallstühle standen an der gegenüberliegenden Wand, und Sergej drückte ihn wortlos auf einen der Stühle, ehe er Wasser aufsetzte. Das Schweigen zwischen ihnen hielt an, bis Nikolai seinen Tee halb ausgetrunken hatte. Über den Rand seiner Tasse sah er Sergej fragend an.
 

„Ich weiß immer noch nicht wirklich, was du von mir willst, nur dass es offensichtlich was mit meiner Vergangenheit zu tun hat.“
 

Behutsam stellte der Hacker seinen Becher auf die zerkratzte Oberfläche des Tisches und verschränkte die Arme auf der Platte. „In der Tat. Vor ein paar Wochen gab es einen Anschlag auf die Führungsetage von CyCo. Sämtliche Klone von Eva kamen dabei ums Leben. Gleichzeitig haben mehrere Hacker den zentralen Speicher von CyCo angegriffen und die entsprechenden Infos gelöscht, aus denen man neue Klone hätte züchten können.“
 

Nikolai lauschte ihm mit gerunzelter Stirn, die Hände um seinen langsam erkaltenden Becher gelegt.
 

„Ich hab das Ganze aus dem Cyberspace beobachtet. Das war ein Selbstmordanschlag. Die haben es zwar geschafft die Informationen zu tilgen, aber die Virusprogramme und Abwehrmechanismen haben sie unter Garantie zurückverfolgt und ihnen das Hirn gebraten. Die waren innerhalb von Sekunden tot, war 'ne richtige kleine Nova am Horizont.“ Er trank schnell einen Schluck Tee, wahrscheinlich um den Kloß in seiner Kehle hinunterzuspülen. Im Cyberspace bewusst mitzuerleben, wie eine fremde Existenz ausgelöscht wurde, ging selbst den hartgesonnensten Hackern an die Nieren.
 

„Aha…“, sagte Nikolai, unsicher, wie er reagieren sollte. „Weißt du, wer das war?“
 

„'ne Terrorgruppe aus New York, die das Technik-Monopol der Cybernetic Corporations brechen wollte. Inzwischen hat CyCo sich die bestimmt schon vorgeknöpft. Der springende Punkt ist nun...“ Als er aufsah, leuchteten seine Augen förmlich. „...dass du der letzte Träger des Codes bist.“
 

Beinahe hätte Nikolai seinen Tee über den Tisch gespuckt. Im letzten Moment beherrschte er sich und wischte sich über den Mund. „Was? Hast du mir nicht zugehört?! Meine DNS ist verunreinigt, praktisch wertlos! Man kann den Code nicht auslesen!“
 

„Inzwischen schon“, gab Sergej zurück. „Nikko, das ist vierundzwanzig Jahre her! Die Technik macht ungefähr alle zwei Jahre einen unglaublichen Satz, und eine verbesserte Methode zur DNS-Auslesung ist da nur die Spitze des Eisbergs. Sie haben dich nie gebraucht, weil sie ja immer genug reines Material hatten, aber in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen, oder? Deswegen werden sie dich demnächst einkassieren wollen, denn in etwa drei Monaten müssen sie die KI wieder runterfahren. Die Typen, die Melody und dich angegriffen haben, waren wahrscheinlich von CyCo.“
 

Nikolai streckte seine langen Beine aus und starrte skeptisch in seinen Tee; der vertraute Kosename hatte ihn beinahe mehr erschüttert als die Information an sich. „Und was willst du jetzt von mir?“
 

Sergej grinste. „Ist das nicht offensichtlich? Wir manipulieren deine DNS, schleusen 'nen Virus ein, und in dem Moment, in dem die KI deine DNS einliest, kollabiert das Ding von innen heraus, alle Daten liegen offen und ich kann eins a absahnen. Weißt du, wie viel CyCo-Daten wert sind? Das ist unsere große Chance!“ Er sah ein wenig verstört auf, als Nikolai bitter auflachte.
 

„Ja, UNSERE große Chance! Hörst du dich überhaupt selbst reden?“ Seine Hände begannen zu zittern; ein dumpfer Schmerz strahlte aus seinem Bauchraum nach oben, doch er ignorierte es. „Das klingt nach einem super Deal… Für dich! Was glaubst du, was die von CyCo mit mir machen, wenn die mitbekommen, dass ich die gelinkt habe? Die häuten mich und hängen mich in irgendeine Nährlösung, damit ich noch ein paar Jahre länger leiden muss!“ Das Zittern wurde immer stärker und er klammerte sich verzweifelt an seiner Tasse fest. „Du bekommst deine Daten, verhökerst den Kram auf dem Schwarzmarkt und ich bin mal wieder am Arsch! Hast du dir ja toll überlegt!“ Nikolai ließ seinen Becher beinahe fallen, als Sergej mit der Faust auf den Tisch schlug. In der kahlen Küche hallte der Schlag wie ein Schuss aus einer Kleinkaliberpistole.
 

„Jetzt wach endlich mal auf und hör auf, dich in deinem Selbstmitleid zu baden! Denkst du, dass ich dich ernsthaft ans Messer liefern würde? Egal ob das vor drei Jahren 'ne geschäftliche Sache war oder nicht, mir hat sie was bedeutet! Du jammerst die ganze Zeit, dass du immer versagst, dass du niemanden hast, dem du wichtig bist, aber du bist so blind, dass du die Wahrheit nicht mal siehst, wenn sie dir 'nen Tee kocht! Du bist MIR wichtig, kapiert? Ich will diesen Run durchziehen, damit wir beide 'ne Zukunft haben, schnallst du das? Ich wollte dich damals freikaufen, freikaufen von den Yakuza, doch ich hatte keine Chance! Als ich rausgekriegt habe, dass du raus warst, bin ich vor Freude erst mal halb an die Decke gesprungen. Die ganze Sache mit dem Plan… Das ist die Chance für uns, ja, für UNS, aus diesem Dreck rauszukommen. Wir können uns neue Identitäten kaufen, eine Existenz aufbauen, richtig anständig werden…“ Er sah zur Seite, unfähig noch mehr zu sagen. Dafür lächelte Nikolai, vielleicht zum ersten Mal seit Wochen.
 

„'ne richtig gutbürgerliche Existenz, für einen Hacker und einen Ex-Killer… Du hast doch einen an der Waffel.“ Sowas hatte er vermisst; Sergejs eigenartiger Idealismus, seine Fähigkeit sich für alles Mögliche zu begeistern… Die meisten Hacker stumpften mit der Zeit ab, beinahe wie Profikiller; die Datenströme, die beinahe permanent durchs Hirn flossen, ließen die wenigsten unbeeinflusst. Inzwischen waren seine Hände eiskalt, und sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Erschrocken sprang der Hacker auf, als er sich zur Seite drehte und den Tee auf das aquamarinblaue Laminat kotzte; mehr war schlichtweg nicht in seinem Magen.
 

„Hey, alles okay?“ Er kauerte sich auf der sauberen Seite neben ihn und packte ihn an den Schultern. Scharf sog er die Luft ein. „Nikko, du hast ja Pupillen wie Stecknadelköpfe! Was hast du genommen?“
 

Leise stöhnend griff er sich an die Brust; der Schmerz aus seinem Magen hatte sich mittlerweile in die Brust verlagert.
 

„Hey, bleib bei mir!“ Sanft klopfte ihm Sergej auf die Wange, versuchte ihn so bei Bewusstsein zu halten. „Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was du genommen hast!“
 

„Ro…Roseblood“, keuchte er erstickt, die Augen vor Schmerz fest zusammengekniffen. Von weit weg hörte er ihn fluchen und aus der Küche gehen; er brauchte all seine Konzentration um sich auf dem Stuhl zu halten und nicht auf den Boden zu rutschen.
 

„Halt still! Ich muss die Vene finden!“, blaffte ihn der Hacker an, der seinen Arm inzwischen in einem Schraubstockgriff hielt. Mit viel Mühe zwang er seine Augen wieder auf und beobachtete, wie er die glänzende Nadel einer makellosen Einwegspritze in seiner Ellenbogenbeuge versenkte. Den Einstich spürte er kaum. Seine eigenen Nadeln waren nie so sauber… Das war sein letzter Gedanke, ehe er in einem schwarzen Abgrund versank.
 


 

Kühle Finger strichen über seine fiebrig heiße Stirn, strichen ihm die unordentlichen Ponyfransen zurück und tätschelten ihm sanft, aber mit Nachdruck die Wange. „Komm zu uns zurück, ja? Du hast lange genug geschlafen.“
 

Nikolai versuchte der Stimme zu gehorchen und quälte seine Lider auseinander; nach einem Crash schienen sie jedes Mal eine Tonne zu wiegen. Das Gesicht, das über ihm schwebte, war nicht Sergej, sondern eine Japanerin mit kurz geschnittenen Haaren und blutrot geschminkten Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen, als sie sah, dass er wach war. „Wunderbar, geht doch. Du hattest echt Glück, dass er dir rechtzeitig den Blocker gespritzt hat.“
 

Sie richtete sich auf und rief, anscheinend quer durch die halbe Wohnung: „Er ist wach!“
 

Ihre laute Stimme schmerzte in seinen Ohren, und er drehte sich auf der blitzsauberen Krankenhausliege leise ächzend um. Wenig später standen Melody und Sergej an seinem Bett.
 

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Kaum bin ich mal weg, feiert ihr hier wilde Exzesse, es ist kaum zu glauben… Au!“
 

Der Hacker hatte sie spielerisch gegen die Schulter geboxt. „So war das nicht, und das weißt du auch. Was machst du denn für Sachen?“ Diese fast ein wenig mütterliche Frage war an Nikolai gerichtet, der immer noch ausdruckslos an die Wand starrte, gefangen vom Unbehagen des Crashs. „Wieso spritzt du dir Rosenblut?“ Rosenblut, oder Roseblood, war vor ein paar Jahren auf dem Markt aufgetaucht, eine purpurrote Flüssigkeit, die man schlucken oder spritzen konnte. Nach der Einnahme fühlte man sich wie betäubt, komplett gelassen und erhaben; doch nach einigen Stunden kam der schmerzhafte Crash. Wer sich mit Roseblood abschoss, dem war bald nicht mehr zu helfen, so die landläufige Meinung, weswegen Sergej gleich noch hinterherschob: „Hast du 'nen Todeswunsch oder so?“
 

„Vielleicht“, antwortete Nikolai trotzig und drehte sich demonstrativ auf die andere Seite. Sergej kam ihm einfach hinterher. Als er keine Anstalten machte, mit ihm zu sprechen, wandte er sich seufzend an die Japanerin.
 

„Makoto, hast du alles vorbereitet?“
 

„Natürlich“, antwortete sie beinahe beleidigt und strich ihre weiße Bluse glatt.
 

„Was vorbereitet?“, fragte Melody, die sich inzwischen auf das Fußende der Liege gesetzt hatte.
 

„Makoto bringt Nikolai wieder auf Vordermann“, erklärte Sergej. Das reichte, um ihn aus seiner trotzigen Apathie zu wecken.
 

„Wie meinst du das?“, fragte er, während er sich mit einiger Mühe auf seine Unterarme stützte.
 

„Das wüsstest du, hättest du mich vorhin ausreden lassen, anstatt wieder einen auf Sturkopf zu machen“, antwortete der Hacker kühl. „Makoto stellt dich wieder her, sie repariert und ersetzt deine Implantate, soweit möglich. Wenn ich die KI geknackt habe, schalte ich bei CyCo auch das automatisierte Sicherheitssystem aus und mit den paar menschlichen Wachen sollte ein Profikiller der Yakuza eigentlich kein Problem haben, oder?“
 

Fassungslos ließ er sich wieder in das weiche Kissen sinken. „…Du meinst das ernst?“
 

„Sonst würde ich nicht eine der besten illegalen Ärztinnen Tokios in meiner Bude haben, oder?“, schoss Sergej zurück, ungewohnt bissig. Anscheinend war ihm der Vorfall mit dem Roseblood an die Nieren gegangen.
 

„Bitte, das ist zu viel der Ehre“, sagte Makoto, doch sie lächelte selbstgefällig.
 


 

Der größte Raum in der Wohnung war in einen provisorischen OP-Saal für Makoto umgewandelt worden. Nikolai stand gerade an einem Ende des langgestreckten Raumes und drehte sich langsam zwischen zwei Scannersäulen um die eigene Achse. Die Ärztin und ihr Auftraggeber betrachteten die Resultate auf einem Holo-Bildschirm. Makoto pfiff leise durch die Zähne.
 

„Ordentlich, wirklich ordentlich. Hat ja fast mehr Silizium im Kopf als du. Gleichgewichtsverstärker, Restlichtverstärker… Oh, das ist böse.“ Sie wies auf ein bestimmtes Hirnareal, das von einem bunten Fadengeflecht aus hauchdünnen Kabeln eingefasst wurde. „Das ist ein Schmerzdämpfer. Dem Jungen hätte man die Rippen brechen können und er hätte voll weitergemacht. Apropos Rippen…“ Eine Innenaufnahme seines Torsos erschien vor ihnen. „Guck dir das an. Lunge und Herz sind getunt, bringen gut die doppelte Leistung. Außerdem kommt er auf 0,7% Körperfett, der besteht fast nur aus Muskeln und Sehnen. Richtiggehend hochgezüchtet. Aber…“ Ihre glatte Stirn furchte sich wie Baumrinde. „Die Nieren und die Leber sind fast im Eimer. Ein Wunder, dass er noch nicht quittengelb im Gesicht ist, die Werte schreien ja fast nach Gelbsucht…“
 

„Bekommst du ihn wieder hin?“, fragte Sergej ruhiger als ihm zumute war.
 

Sie zuckte mit den Achseln. „Klar, die Ersatzteile gehen ja auf deine Rechnung. Könnte allerdings ein paar Tage dauern. Für die Implantate muss ich richtig tief rein. Neucodieren und Stoffwechsel frisieren geht über Injektionen, dass ist zeitmäßig nicht das Problem, aber der Organaustausch und die Reparaturen brauchen mindestens eine Woche Luft dazwischen, sonst kommt er so schnell nicht wieder auf die Beine…Noch irgendwelche Extrawünsche?“
 

Der Hacker streifte Nikolai mit einem prüfenden Blick; er unterhielt sich gerade mit Melody, anscheinend fragte sie ihn über seinen alten Job aus. „Ein Sensorium“, sagte er schließlich. Als Makoto nur anzüglich grinste, wandte er sich peinlich berührt ab.
 

Makotos OP-Marathon dauerte insgesamt zehn Tage: Organe austauschen (Zuchtprodukte aus der Organbank, von Sergej auf dem Schwarzmarkt organisiert) Stoffwechsel umstellen (ein kleines Extra, damit er endlich vom Rosenblut runterkam), Sensorium einbauen, Implantate reparieren und schließlich noch die DNS teilweise neucodieren. Zwischen den OPs und Injektionen wachte Nikolai gar nicht erst auf; ein Neuralblocker hielt ihn in einem dauerhaften Tiefschlaf, isoliert auf ihrer improvisierten, aber klinisch reinen Krankenstation. Sergej verbrachte den größten Teil dieser Wochen im Cyberspace; dort verging die Zeit schneller, außerdem musste er aufpassen, dass er mit den aktuellen Geschehnissen Schritt halten konnte. Nichts war schlimmer, als ein Hacker, der sich abhängen ließ. Er war gerade fertig mit einem besonders kniffligen Muster irgendwo in Aserbaidschan, als ihm Makoto das Okay gab.

Nikolai war nach der letzten Operation so mit Endorphienanalogen vollgepumpt, dass er prompt fünf Tage am Stück durchschlief. Melody witzelte zwar herum, weil Sergej kaum noch von seinem Bett wegging, aber das war ihm egal. Einstecken konnte er überall, seine Rechner funktionierten auch durch mehrere Wände perfekt drahtlos. Während sich Nikolai erholte, checkte er den Cyberspace unablässig nach Informationen über CyCo, überdachte ihren Plan und versuchte an nichts anderes zu denken. Die leuchtenden Gitter der Matrix waren eher sein Zuhause als die Wohnung, in der er gerade sein Quartier aufgeschlagen hatte, ein Ort, an den er gehörte, an dem er die Spielregeln kannte. Als Nikolai jedoch begann, von seinen dauerhaften Dämmerzuständen in echte Wachphasen abzugleiten, zog er sich zurück und überließ es Melody und Makoto, sich um ihn zu kümmern, nur um sich in seinem Zimmer gleich vier Kabel gleichzeitig einzustecken und eine regelrechte Hetzjagd auf vielversprechende Datenbasen zu veranstalten. Beim Hacken konnte man nicht wirklich denken und das nutzte er voll aus. Er wollte nicht denken.
 

Nach drei Wochen erlaubte Makoto Nikolai länger aus dem Bett aufzustehen; er hatte die OPs überraschend gut verkraftet und seine Beine waren auch nicht mehr wacklig. Jetzt, wo sein Gleichgewichtsverstärker wieder funktionierte, wäre das auch einigermaßen peinlich gewesen. Als er in den zentralen Raum trat, saß Sergej mit gekreuzten Beinen auf seinem Futon und war gerade dabei, ein Kabel in eins seiner Implantate zu stecken.
 

„Willst du mit reinkommen?“
 

Nikolai musterte ihn abschätzend. „In den Cyberspace oder auf deinen Futon?“
 

„Also, wenn ich dir anbieten würde, mir auf meinem Futon Gesellschaft zu leisten, würdest du mich wahrscheinlich filetieren. Willst du? Ich mach mit dir 'nen Rundgang.“
 

„Durch den gesamten Cyberspace?“, fragte er spöttisch, doch er ließ sich einen guten Meter von Sergej entfernt auf dem Boden nieder.
 

„Neee, nur von meinen Lieblingsplätzen.“ Er reichte ihm den silbernen Stirnreif mit den Elektroden, den die meisten normalen Menschen benutzten, um in den Cyberspace zu gehen. Das Metall war kühl auf seiner Haut. „Bereit?“
 

Nikolai nickte und Sergej legte eine Taste um.
 


 

Das Zimmer um ihn herum zersplitterte, löste sich auf, bis nur die leuchtenden Gitternetzlinien vor der unendlichen Schwärze der Matrix übrigblieben. Er sah sich staunend um. Sein letzter Ausflug in den Cyberspace war Monate, wenn nicht sogar Jahre her. Etwas neben ihm schien zu zucken, er spürte eine Präsenz. Sergej.
 

„Aufgepasst, jetzt geht’s los.“
 

Trotz der Vorwarnung traf ihn der Geschwindigkeitswechsel wie eine kalte Dusche. Aus dem sanften Herumdümpeln im Neonlicht der Datengitter wurde eine blitzschnelle Rutschpartie. Aus dem Augenwinkel sah er nur ein buntes Flackern, fast wie in den Clubs von Shinjuku. Sein Magen rebellierte, und er musste sich daran erinnern, dass er körperlich immer noch in der Wohnung auf dem Boden saß und sich alles, was er sah, nur in seinem Kopf abspielte. Kein Wunder, dass der Cyberspace am Anfang für viele der Ersatz zu Drogen war. Inzwischen hatte er für die Meisten diesen Zauber verloren; es war ein Arbeitsplatz wie jeder andere auch. Nach wenigen Sekunden wurde die rasante Fahrt langsamer, und schließlich hielten sie sanft am Rand eines geschäftlichen, dunkelgrünen Gitters. Endlich spürte er Sergejs Anwesenheit wieder neben sich.
 

„So, und jetzt müssen wir kurz warten…“
 

Aus weiter, weiter Ferne registrierte er das hektische Klicken der Tasten. Er war nicht mal in der Lage einen einzelnen Finger zu rühren, wenn er im Cyberspace war, geschweige denn irgendwelche komplizierten Codes und Zahlenfolgen einzutippen. Spontaner Respekt vor dem Hacker wallte in ihm auf.
 

„So, fertig.“
 

Das grüne Gitter riss vor ihnen auf, nur einen Spalt weit, und sie wurden in den Riss gesogen wie Flusen in den Staubsauger. Wieder schlug seinen Magen einen unfreiwilligen Salto und die Muskeln in seinen Armen spannten sich unwillkürlich an. „Ganz ruhig, hier sind wir sicher.“ Sergejs Stimme legte sich wie Balsam auf seine aufgekratzten Nerven und er atmete einmal tief durch. Die Spannung wich aus seinem Körper. „Schon viel besser. Und jetzt schau mal nach oben.“
 

Nikolai gehorchte, obwohl es an einem Ort ohne wirkliche Richtungsorientierung etwas schwer war, „oben“ zu definieren. Er führte einfach die Bewegung aus, die einem Blick an die Decke wahrscheinlich am nächsten kam… Und schnappte überrascht nach Luft. Über ihnen wölbte sich eine gigantische Kuppel aus blauem Neon, skelettartig aufgespannt vor dem pechschwarzen Nichts der Matrix. Die blauen Säulen reichten bis auf eine sanft leuchtende Grundplatte, klar wie Kristall, durch die man die monotonen, blassgrünen Gitter der Konzerne sah. Vielfarbige Kabel waren wie Sehnen und Muskeln zwischen den einzelnen Rippen der Kuppel gespannt; ein buntes Phantasiegeflecht, unwirklich und mystisch.
 

„Gefällt es dir?“ Sergej klang eigenartig verunsichert; so als hätte er Angst, dass Nikolai diesen schönen Ort in irgendeiner Art abwerten würde. Doch nichts lag ihm ferner; am liebsten hätte er sich zur Seite gedreht und ihm uns Gesicht gesehen, um den unverhohlenen, schüchternen Stolz zu betrachten, der dem Hacker sicher geradezu auf die Stirn tätowiert war.
 

„Es ist wunderschön“, sagte er ehrlich. „Hast du das programmiert? Und wo sind wir überhaupt?“
 

„Offiziell sind wir auf dem Gebiet eines kanadischen Holzhändlers. Das hier ist ein blanker Fleck in der Matrix, mit einem Fehler behaftet, der dafür sorgt, dass man die paar Cluster hier nicht sehen kann. Im Grunde ist das alles hier unsichtbar. Besteht hauptsächlich aus persönlichen Daten, Sachen, die ich ungern verlieren würde. Ich nenn's meine Kirche. Der größte Teil der Kuppel war schon da, der Rest sind meine Daten. Wenn man die genauen Koordinaten nicht hat, dann kommt man hier nicht rein.“ Er klang stolz und verträumt gleichermaßen, bezaubert von diesem schönen Ort, der im Grunde nichts anderes war als eine willkürliche Anordnung von Einsen und Nullen. Trotzdem war seine Schönheit nicht zu leugnen.
 

„…Wieso hast du mich hergebracht?“, fragte er schließlich. „Bestimmt nicht nur, um mir deine Kirche zu zeigen.“
 

„Nein“, gab Sergej zu. „Ich wollte mit dir reden. Die Wohnung ist zwar komplett abhörsicher, aber trotzdem war mir bei dem Gedanken, es dir hier zu sagen, irgendwie wohler…“
 

„Typisch Hacker“, kommentierte Nikolai spöttisch. Die Präsenz neben ihm flackerte ganz kurz; scheinbar das Cyberspace-Pendant zum Augen verdrehen.
 

„Ich wollte dir nur sagen… Wenn du das mit CyCo nicht machen willst, dann musst du nicht. Du kannst einfach rausspazieren und Gott einen guten Mann sein lassen, wenn du verstehst, was ich meine.“
 

Wieder zuckte die Präsenz, als Nikolai auflachte. „Machst du Witze? Es gibt doch keinen Ausweg mehr! Meine DNS ist längst umcodiert und so wie ich dich verstanden habe, sind mir die Leute von CyCo schon auf den Fersen. Der einzige Unterschied wäre, dass du nicht an die Daten kommst. Das kommt nicht in Frage. Was man einmal angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen, oder?“
 

„Wenn du meinst“, entgegnete Sergej zögernd.
 

Jetzt ging Nikolai endlich ein Licht auf. „Du bekommst kalte Füße, oder?“, fragte er den Hacker. „Du hast Angst.“
 

„Ja, Angst um dich!“, feuerte Sergej zielsicher zurück. „Das ist alles in allem ne ziemlich riskante Kiste… Mir ist einfach nicht wohl dabei, dich in Gefahr zu bringen.“
 

„Das hättest du dir früher überlegen müssen“, antwortete Nikolai kalt und richtete seinen Blick starr auf das leuchtende Blau der Kuppel. „Jetzt ist es zu spät dafür.“
 

Sergej schwieg, während Nikolai weiter trotzig in das Neongeflecht starrte, bis die bunten Stränge vor seinem inneren Auge zu einem einzigen bunten Brei verschmolzen. Ihm war schlecht, und das lag ausnahmsweise mal nicht am Cyberspace. Wütend versuchte er das alberne Schuldgefühl niederzukämpfen, das sich in den Tiefen seiner Magengrube einnisten wollte. Er hatte nichts falsch gemacht. Es war nicht seine Schuld, wenn Sergej seine Gefühle und den Job nicht auseinanderhalten konnte! Es war nicht seine Schuld! Über ihnen begann die Kuppel mit einem Mal zu flackern als wäre sie eine billige Neonröhre.
 

„Whoa, Nikko, alles okay?“
 

„Bin ich das?“, fragte er überrascht.
 

„Ja! Die Elektroden im Stirnreif messen dein Stresslevel, und da das hier nicht zur allgemeinen Matrix gehört, reagiert es natürlich auch darauf. Was ist denn los?“
 

Die Wut stieg in Nikolai auf wie die Kohlensäure in einer geschüttelten Sektflasche, sie brannte sich ihren Weg durch seinen Magen in die Brust, wie der Schmerz eines Roseblood-Crashs. „Was mit mir los ist? Was ist mit dir los!“ Das Neon erstrahlte unter diesem Wutausbruch wie eine kleine Nova; geblendet kniff er die Augen zusammen, ohne dabei seine Tirade zu unterbrechen. „Ich habe dich nie gebeten dich in mich zu verknallen, ich habe dich nie darum gebeten, dass du mich bei den Yakuzas raus holst oder mich von der Straße aufliest! Was glaubst du wer du bist?! Ein rettender Engel? Die Erfüllung meiner Träume? Wieso hast du mich nicht einfach in der Gosse sterben lassen, das wäre einfacher für uns beide gewesen! Das wäre“
 

Mit einem Mal zersplitterte das Bild der Matrix vor seinen Augen; abrupt knallte er aus der Scheinwelt des Cyberspace zurück in seinen eigenen Körper. Sergej stand vor ihm; er hatte ihm den Stirnreif runtergerissen.

Die Wut in Nikolai bäumte sich ein letztes Mal auf, mit aller Kraft; wie heiße, klebrige Lava schien sie durch seine Adern zu fließen. Er sprang geschmeidig wie eine Katze auf die Füße, holte aus und versetzte Sergej eine Ohrfeige, dass es klatschte. Auf seiner Wange blühte sofort ein roter Fleck, und an seiner Schläfe klebte Blut.

Woher kam das Blut? So stark konnte er doch gar nicht zugeschlagen haben…

Ein ziehender Schmerz in seinen Handflächen beantwortete seine Frage. Fünf halbmondförmige Schnitte füllten sich schneller wieder mit Blut, als er es abwischen konnte; er hatte gar nicht gemerkt, dass er seine Fingernägel so fest in seine Handflächen gekrallt hatte. Noch während er seine Hände betrachtete, packte ihn Sergej plötzlich an den Schultern und zwang ihn zu Boden.
 

Nikolai wehrte sich mit Händen und Füßen, aber eher halbherzig; egal wie sehr er Sergej auch verflucht hatte, ernsthaft verletzen wollte er ihn doch nicht. Der Blick des Hackers war starr, als er ihn mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zu Boden presste, bis sein Rücken das Laminat berührte. Mit den Knien fixierte er seine Oberschenkel und mit den Händen seine Handgelenke, bis Nikolai ausgestreckt unter ihm lag. Erst dann hörte dieser auf zu zappeln; sein Körper wurde schlaff, sämtliche Anspannung wich mit einem Mal aus seinen Muskeln. Er biss sich auf die Unterlippe und drehte den Kopf weg, die Augen verräterisch feucht.

Sergej, dessen Wange sich langsam aber sicher blau färbte, hielt ihn noch eine Weile in dieser Position, ehe er wieder aufstand, sich die Jeans abklopfte und ihm eine Hand hinstreckte. Nach kurzem Zögern ließ sich Nikolai hochziehen.
 

„Geht’s wieder?“, fragte der Hacker, so beiläufig als würden sie sich übers Wetter unterhalten.
 

„Ja“, antwortete Nikolai leise.
 

Er schämte sich. So auszurasten, sich so gehen zu lassen, das war nicht annähernd professionell. Er konnte sich doch beherrschen, wieso verlor er diese Selbstbeherrschung dann andauernd bei Sergej? Es war zum Haare raufen. Verstohlen warf er einen Seitenblick auf ihn; konzentriert zog er die Kabel wieder aus den entsprechenden Buchsen und versiegelte die Öffnungen, damit kein Staub hineinkam. Sein Herz raste schon, seit sie aus dem Cyberspace wieder zurück waren, aber jetzt machte es einen kleinen Extrahüpfer, wie auf der Zielgeraden eines Marathons.

Nikolai wandte sich ab; bei Gelegenheit würde er Makoto fragen, ob sie etwas für ihn hatte, das die Endorphine in seinem Gehirn wieder in die richtige Ordnung brachte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  jyorie
2015-09-06T07:38:23+00:00 06.09.2015 09:38
(Teil 3/3)
Hey (❀◦‿◦)♫・*:.。. .。.:*・

O.o man oh man, das ist ne Menge upgrades die Nicolai da mit sich herumträgt. Kaum zu glauben, das die Docktorin da noch weiter 10 Tage an ihm herumschnibbeln kann und noch mehr Verbesserungen einbauen kann. Die 3 Wochen die du ihm zum erholen gegeben hast, fand ich sehr gut, da er nach so einer Marathon OP wohl kaum in 2 Tagen schon wieder fit sein kann.

Bei Sergej bin ich mir immer noch nicht sicher. Einerseits passt er so auf Nicolai auf und gibt ihm sogar noch eine kleine Fluchttür, das er ihren Plan nicht ausführen muss mit CyCo, andererseits hat er angst um ihn, wacht an seinem Bett, aber als er wacher wird, verkrümelt er sich. Ob sich wohl beide irgendwie in den anderen verguckt haben und es nicht wollen?! Oder Sergej mehr weiß und er ihn mit dem Auftrag wahrscheinlich verlieren wird? Ich bin mal gesapent.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-05T07:09:30+00:00 05.09.2015 09:09
(Teil 2/3)
Hey (。・ω・。)

wow, jetzt nimmt die Geschichte fahrt auf, als man erfährt was Sergej ist (ein Hacker mit Kabeln im Kopf) – finde ich klingt sehr spannend und futuristisch, erinnert mich ein wenig an Matrix ist aber nicht schlimm, die Filme hab ich gemocht ;-)

Die Geschichte rund um CyKo fand ich auch toll, man hat zwar schon früh erahnen können, das damit Nikolai gemeint ist. Dafür fand ich es klasse, das man so viel und komprimiert über sein Leben und seine Vergangenheit erfährt, ohne das es „langweilig“ ist oder unpassend eingeschoben. Deine Idee gefällt mir, mit dem DNS-Code und das der damals unbrauchbare Junge jetzt plötzlich „wertvoll“ werden könnte.

An einer Stelle hat mich Sergej jedoch noch nicht ganz überzeugt, damit nämlich, wieviel ihm an Nikolai wirklich liegt. Ich würde es mir wünschen, das er die Wahrheit sagt, den gerade an der Stelle mit dem Drogen Chrash würde ich mir jemand wünschen der auf ihn aufpasst, aber momentan bin ich da noch skeptisch, ob Sergej wirklich an ihm selbst interessiert ist und nicht nur an der Chance die er durch Nikolai geboten bekommt.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2015-09-04T07:02:57+00:00 04.09.2015 09:02
(Teil1/3)

Hey ☆*:.。. o(≧▽≦)o .。.:*☆

Der Anfang der Geschichte macht auf jedenfalls schon mal neugierig :) Wer genau den Nikolai ist, und welche Fähigkeiten er hat, das Sergej einen Aussteiger der nichts mehr mit diesen Geschäften zu tun haben will, noch einmal für einen Job verpflichten möchte. Dein Universum und Mellody klingen auch interessant, zudem bin ich gespannt was für schläger das waren, die Mellody und Nikolai aufgelauert haben, nur weil sie zusammen unterwegs waren, ob es einfach nur ein Test war, das Nikolai nichts verlernt hat, oder ob die sache jetzt schon so heiß ist, bevor er überhaupt ja zu dem Angebot sagt. Klingt nach Krimi und das freut mich ;-)

CuCu Jyorie



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