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Die Heldin und der Prinz

Touko / White x N
von

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Part 1

„Du Verrückter!“ Ihre vor Zorn fast schrill gefärbte Stimme verhallte im prachtvollen Marmorsaal, als wäre sie nur ein leises Piepsen gewesen. Über ihr erstreckte sich der freie Nachthimmel. War das nicht grotesk? Ein Prunksaal und ein Schloss ohne Dachgemäuer?

Die Fassade des Raums, dessen Größe sie nicht ausmachen konnte, strahlte im gedämpften Licht der mittelalterlichen Kronleuchter ein mattes Gold ab und zeigten geflochtene Teppiche, welche Banner darstellten, die sie keinem ihr bekannten Staat zuordnen konnte.

Wenn sie ihren Blick nach vorne richtete, nahm sie eine unklare, menschliche Silhouette wahr. „Nate?“ Etwas verhaltener, sanfter und doch hörte sie sich wie ein knurrendes Yorkleff an. Es war genug von allem, das hier musste endlich zu seinem Ende finden – das würde es auch, ohne dass die ganze Geschichte, die ihr selbst noch immer unwirklich erschien, mit einem großen, epischen Knall endete. So endeten nur Filme.

Hayley hatte die Elite Four bezwungen, jedes seiner Mitglieder, aber hier wollte sie keine Kämpfe austragen. Sie glaubte daran, dass man jene Probleme mit anderen Mitteln anging als roher Gewalt. In ihren Gedanken hatte sich bereits ein Ausgang festgefahren, in dem sie Nate nur den Klauen seines machtgierigen, kalten Vaters zu entreißen brauchte. So einfach. Als Kind hatte sie Märchen geliebt, doch diese Geschichten waren veraltet. Heute waren Heldinnen in Mode, die den Prinzen retteten.

Die Silhouette am anderen Ende des Saals, die sie definitiv als Nate ausmachen konnte, entfernte sich erst unsicher einen Schritt von ihr. Also lag es an ihr, auf ihn zuzugehen.

Sie atmete tief durch und umfasste mit zierlichen Fingern den Dunkelstein, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht benötigen würde, doch das glatte Gestein in ihren Händen ließ sie sich in Sicherheit wiegen.

Nate war der Auserwählte des Lichts und der heilenden Flamme, Reshirams 'Chosen One'. Deshalb sah er sich im Recht.

Hayley war die Auserwählte der Dunkelheit und des Leben erschaffenden Blitzes, Zekroms 'Chosen One'. Deshalb sah sie sich im Recht.

Niemand sonst hätte für sie die letzten Treppen hochlaufen können. Ihre Freunde hatten nicht von ihrer Seite weichen wollen; Lucas, Cheren und Bell hatten sogar noch die Siegesstraße mit ihr gemeinsam bestritten. Dort unten warteten sie auf Hayley, schlugen dort mit einigen Arenaleitern an ihrer Seite ihre eigenen Schlachten gegen die sechs der ‚Sieben Weisen‘, alte Männer, die zum Gefolge Ghetsis gehörten und ihr den Weg versperrt hätten. Sie waren ihre Freunde, die Besten. Seitdem sie denken konnte, waren sie immer an ihrer Seite gewesen.

Und nun stand sie dennoch alleine hier, in den Weiten dieses scheinbar endlos großen Saales und fror. Der weiß-gesprenkelte Marmor ließ Parkett und Säulen edel erscheinen, fraß sich jedoch mit seiner Kälte bis zu ihren Knochen vor. Nur ein dünner Stoffmantel bedeckte ihren Körper über der freizügigen Sommerkleidung, die sie der Jahreszeit angemessen trug, und ließ ihre nackten Beine der Kälte und dem Wind über. Dann griff auch die Nervosität nach ihr, Unsicherheit, die sie eigentlich mit allen Mitteln vertreiben wollte. Was wäre, wenn ... So begann jeder Gedanke, der ihr den Mut nahm. Da in ihr der Wunsch aufkam der gesamten Szenerie den Rücken zu kehren und davonzulaufen, zwang sie sich Nate entgegenzukommen. Im letzten Jahr hatte sie deutlicher denn je zu spüren bekommen, dass sie gegen ihre Angst ankämpfen und handeln musste. Sonst war sie ihr Sklave.
 

Mit jedem Schritt erkannte sie seine recht große, schlanke Statur besser, erkannte seine zu einem losen Pferdeschwanz gebändigten langen, gewellten Haare, die für einen Mann vielen Schmuckstücke, die er trug. Das Dämmerlicht gab sein Haar als dunkles Grün preis. Sie wusste, dass es bei Tag viel heller war. Frühling – genau, wie der Frühling. Um sein rechtes Handgelenk lagen drei lockere, viereckige Armreifen, um sein Linkes ein schwarzes Band. Um den Hals trug er eine Kette mit einem runden Anhänger. An seinem Gürtel baumelte ein würfelartiges Gebilde herab und harmonierte mit seiner schlichten Kleidung. Wahrscheinlich sah nur sie diesen jungen Mann so genau an.

Er senkte den Blick und verbarg sich hinter Strähnen. Feigling! Sah ihr nicht einmal ins Gesicht. So oft hatte sie es mit Verständnis versucht, dieses Mal würde sie ihn nicht mehr mit Samthandschuhen anfassen. „Bist du stolz, ja? Auf Daddys Werk?“

Noch einige Schritte näher sah sie, wie er den Mund öffnete, um etwas zu sagen und doch verließ kein Laut seine Lippen. Im Schein der Kronleuchter erschien sein Gesicht jünger als das eines Siebzehnjährigen, noch weicher als sonst, noch wärmer, noch feiner gezeichnet.

Hayleys Unsicherheit war ungebändigter Wut gewichen, die entladen werden wollte. Mit festen Schritten überwand sie das letzte Stückchen, bis nur mehr eine Armlänge Entfernung zwischen ihnen lag. Für ein Mädchen gewöhnlich groß, musste sie den Blick heben, um direkt in seine Augen sehen zu können. Vermutlich sah es eher lächerlich aus, wenn sie ihre Hände zu Fäusten ballte und sich vor ihm aufbaute. Das war jetzt auch schon egal. „Kannst du nicht mehr reden?“, blaffte sie ihn an.

„Das ist mein Traum, nicht der meines Vaters“, entgegnete Nate schüchtern. Seine Gestik, seine Mimik, seine Sprache, ja sein gesamtes Verhalten war innerhalb eines Jahres natürlich geworden – menschlicher, nicht mehr ganz so gekünstelt und lebensfremd wie früher. Dass er bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Hayley und ihren Freunden begegnet war, fast nur in Gesellschaft einiger Pokemon gelebt hatte, schien tatsächlich nicht übertrieben gewesen zu sein.

„Dein Traum ist es, mir meine Pokemon wegzunehmen, ja?“

Fassungslos sah er sie an, vermutlich hatte er daran noch keine Gedanken verschwendet. „Dir nicht.“

„Allen anderen schon? Warum mir nicht?“

„Auch Lucas, Cheren und Bell nicht. Ihr seid sehr gute Menschen.“ Nate sah sie sanftmütig an, gab vielleicht etwas zu viel von sich preis. Wie hätte es auch anders sein sollen? Von jemanden, der nie gelernt hatte, wie man seine Gefühle verbarg, noch wie man sie richtig zeigte.

Noch versuchte sie ihren Zorn hinunterzuschlucken, sicherlich war sie auch nur enttäuscht von ihm, weil sie ihn in ihre „goldene Freundesmitte“ aufgenommen hatten und dann der ernüchternden Realität entgegensehen mussten. Sie entgegnete fest: „Andere auch. Wie willst du wissen, dass es nicht so ist? Du kennst nur uns. Du warst mit uns drei Woche auf Reise. Sei‘n wir mal ehrlich.“ Sie rief sich ins Gedächtnis wie eindringlich Cheren sie gewarnt hatte, mit ihm gäbe es bloß Probleme und wegen Nate – es war schwer ihm deswegen keinen Zorn entgegenzubringen – hatten sie sich gestritten. So etwas kannte sie gar nicht von ihren Kindheitsfreunden.

Niemals würde sie locker lassen, andernfalls blieb ihr keine andere Wahl als sich seinem Reshiram zu stellen. Daran wollte sie gar keine Gedanken verschwenden. Wer wollte schon einem dieser übermächtigen Wesen entgegensehen und wissen, seine letzte Stunde hätte geschlagen?

„Viele Trainer versklaven ihre Pokemon.“ Wie auswendig gelernt. „Ich habe es gesehen“, fügte er hinzu. „Sonst wüsst‘ ich es nicht. Es gibt kaum gute Menschen auf der Welt.“ Hörte er ihr denn richtig zu? Wie eine Maschine wiederholte er seine Gedanken und Träume, die nicht ihm entsprangen. Worin lag überhaupt seine eigene Persönlichkeit? Existierte sie oder konnte sie bis an den Grund graben, ohne auf etwas zu stoßen? War da … nichts? Sie wollte es nicht glauben. Sanftmütig, mitfühlend und höflich, so würde Ghetsis Puppe nicht werden. Nicht, wenn sie willenlos war.

„Was?“

Und wieder senkte er seinen Blick. Zornig packte Hayley ihn am Handgelenk. „Ich hab gefragt ‚was‘?“

„Menschen, die Pokemon grausam behandelt haben. Das war es.“ Er klang wie ein kleines Kind, welches versuchte seinen Schrecken in Worte zu fassen.

Hayley wurde schlagartig bewusst, dass er tatsächliche Qualen beschrieb und keine Trainer, die sich hier und da schroff ihren Partnern gegenüber verhielten. „Das hat mir vorhin schon … die blonde Frau erzählt. Sie scheint dich gut zu kennen. Nate, ich wollte wissen, was das war.“

Nate blinzelte, dann überkam ihn ein Ausdruck tiefer Traurigkeit, welche wohl Erinnerungen darstellten, die sie nicht erreichen würden. Zumindest nicht in absehbarer Zukunft. „So etwas darf nicht mehr passieren. Nie wieder.“

„Du bist so dumm!“ Ein Schrei aus voller Kehle, so laut, so schrill, dass sie die Vibration und Anspannung ihrer Stimmbänder spürte. „Und naiv. Ich versteh‘ nicht, wie man so sein und werden kann wie du. Menschen sind untereinander sehr grausam, sie sind zu Pokemon grausam. Richtig bestialisch manchmal. Willst du jeden für sich auf eine eigene, kleine Insel setzen? Nur damit die Welt ein schöner, pinker Ponitahof wird? Dein Vater wollte doch, dass du diese ganzen Grausamkeiten siehst. Damit du mitspielst. Siehst du das nicht?“ Aufgelöst tigerte sie im Saal umher, warf verzweifelt die Hände in die Luft und ließ all ihren Ärger hinaus, ohne zu wissen, was sie bezwecken wollte. Hier störte sich wenigstens niemand daran, wenn sie schrie, wütete, keifte und tobte. Vielleicht benötigte Nate sogar klare Worte. „Ein Schloss, Nate, ein Schloss! Und hat Daddy dich schon ‚gekrönt‘, ja? Das ist größenwahnsinnig. Genauso wie irgendein irrer Heldenmythos und dein Plan. Ghetsis Plan. Vorhin noch, er hat es mir fast unter die Nase gerieben, dass du nur eine Puppe bist. Und mein Arceus, dein Vater hat es geschafft, du bist verrückt geworden.“

„Ich bin nicht verrückt“, erwiderte er kleinlaut. „Es ist mein Traum, alles hier. Man muss etwas Neues versuchen, wenn das Alte nicht funktioniert.“ Nate lächelte und doch wirkten die Worte hohl. „Das alles sagst du nur, damit ich meine Ideen aufgebe. Ich hab alles immer und immer wieder durchdacht.“

Während sich Hayley unzählige Male mit ihm unterhalten hatte, hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, ihm in die Augen zu sehen. Hellgrün waren sie, von dünkleren Sprenkeln durchzogen. Jedes menschliches Auge wies besondere Muster auf, nur achtete sie bei anderen nicht darauf. So etwas fiel bloß auf, wenn man die Person aufmerksam betrachtete. Sie konnte sein Bild bereits eins zu eins, naturgetreu, in ihre Gedanken projizieren: das hier war nicht echt.

„Weißt du, was wir alles durchmachen mussten, nur weil dein wahnsinniger Vater anscheinend Isshu unterjochen will – oder was weiß ich, was der Verrückte noch für Pläne hat. Weil du dich ausnutzen lässt?“ Ihr war bewusst, dass sie wie eine Furie auf ihn zukam, als sie ihm die Hand mit aller Kraft gegen die Brust stieß, die Zähne fletschte und einen wütenden Aufschrei entließ. Anscheinend hatte er nie gelernt, wie er sich in einer solchen Streitsituation verhalten sollte, also sah er sie verwundert an, fing sich und versuchte zu verstehen, was sie eben getan hatte. „Weil es da draußen noch andere Menschen gibt, die einfach Ghetsis folgen, ohne nachzudenken? Weißt du, was ich alles durchmachen musste? Und Lucas? Und Cheren? Und Bell? Diese verdammte Drachenstiege sind wir raufgekrochen. Meine Mutter hat mich weinend angerufen, weil sie wollte, dass ich wieder nach Hause komme. Die Eltern meiner Freunde machen sich genauso Sorgen. Wir haben uns wegen euch durch’s Wüstenresort gekämpft.“

„Das tut mir leid.“ Ob sie es glauben konnte oder nicht, seine Mimik war derart aufrichtig, dass seine Bekundung nicht gespielt sein konnte.

„Leid?“, spie sie aus. „Du machst dich zu Ghetsis Spielzeug – und wir werden es auch. Es ist egal, ob wir wollen oder nicht: wir konnten ja nicht einfach Team Plasma zusehen. Auch, dass alte Knacker und ein Haufen eurer Leute den Weg versperrt haben und jetzt paar Arenaleitern und meinen Freunden das Leben schwer machen? Tut dir das auch leid?“

„Das wollte ich nicht.“

Aufgebracht hielt sie ihm den Zeigefinger entgegen. „Unterbrich mich nicht! Dass ich hier raufkommen muss, weil du irgendeiner dummen Sage, einer noch dümmeren Idee und Reshiram nachläufst? Die Leute aus Isshu glauben jetzt, sie würden einen ‚Helden‘ bekommen.“ Ungläubig schlug sie sich gegen die Stirn und lachte bitter. Wenn sie all das aussprach, konnte sie es selbst nicht glauben und hielt die gesamte Situation für einen bizarren Traum.

Da hatte sie auch in ihm ein Feuer entfacht, eindringlicher und doch nicht so explosiv wie sie, gab er ihr Konter. Wenigstens etwas. So drang sie eventuell zu ihm vor. „Der Lichtstein hat geleuchtet, als ich ihn die Hand genommen habe. Das ist doch -“

„Der Dunkelstein hat auch bei mir geleuchtet. Jetzt haben wir hier ein Problem. Isshu verträgt keine zwei Helden, die ganz unterschiedliche Dinge wollen.“ Hayley umrundete ihn selbstbewusst und wertete ihn mit ihren Blicken ab. „So sieht kein Held aus einer Sage aus.“ Reale Märchen waren aus einem anderen Material geschnitzt. Sie waren kompliziert und handelten von Prinzen, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten, dass die Heldin sie rettete. Niemand hatte sie davor gewarnt, dass das Gute verlieren konnte.

Vielleicht hatte sie sich vorgestellt, wie alles nachher werden würde. Sie wollte Nate die Welt zeigen, ihre Welt, eine, in der man selbstverständlich jeden Tag mit Menschen in Kontakt kam und es nicht als befremdlich empfand, in der man Freundschaften pflegte, neue Bekanntschaften machte und in der es selbstverständlich war mit jemanden zusammen zu sein. Eine Welt, in der Trainer ihre Pokemon kämpfen ließen und sie als Kameraden betiteln konnten, ohne sich in einen Widerspruch zu verstricken. „Aber mir reicht schon, wenn da jemand ist, der dem Ganzen hier ein Ende macht. Auf mich hört Team Plasma nicht. Auf dich schon.“

Etwas apathisch folgten seine Augen ihr. „Ich glaub' dir nicht. Du musst dich irren. Ich bin sicher kein Spielzeug für meinen Vater. Hayley, er ist mein Vater und er unterstützt mich …“

Hayley wusste nicht, ob in ihr Verständnis oder Zorn reifen sollte. Auch sie würde niemanden glauben, dass ihre Eltern sie in Wirklichkeit ausnutzten und Pläne auf ihre Kosten verfolgten. Aber Ghetsis war irre, das sah man doch … oder? Als Sohn auch?

„Und außerdem: deine Doppelmoral kotzt mich an“, warf sie provokant ein und hob herausfordernd die Augenbrauen.

„Doppelmoral?“, echote Nate verwundert.

„Du willst die Pokemon befreien und hältst selbst ein ganzes Team aus sechs Pokemon in Bällen.“ Besonders lange konnte sie ihren Triumpf nicht genießen.

Daraufhin nickte er nur wissend, als hätte er diesen Einwand von vorhinein bedacht. „Wenn sie, nachdem ich Reshiram gerufen habe, bei mir bleiben möchten, geschieht das aus freien Willen. Ich habe noch nie ein wildes Pokemon gewaltsam seiner Freiheit beraubt, es vielleicht aus einem Familienverband oder Rudel gerissen, nur damit ich es für mich wie ein Kampfwerkzeug verwenden kann. Damit es für mich kämpft und ich den gesamten Ruhm für die Anstrengung meines Partners ernte. Meine Partner haben sich mir aus freien Willen heraus angeschlossen. Sie haben es mir so gesagt.“

Es stand fest, er war anscheinend endgültig verrückt geworden. Jemand, der behauptete er könne mit Pokemon sprechen – abgesehen von einigen Ausnahmen, bei einem Simsala könnte sie sich etwas dergleichen gut vorstellen – gehörte doch in die Klapsmühle! Trotzdem verspürte sie Zuneigung wie zuvor auch.

„Gib mir den Lichtstein, Nate“, sagte sie betont eindringlich und streckte ihm eine offene Hand entgegen. „Sei vernünftig. Du weißt nicht, was du tust.“

„Ich weiß genau, was ich tu!“ Eisern, so wie er selten war. „Seit elf, zwölf Jahren hab ich an nichts anderes als meinen großen Traum mehr denken können! Ich habe alles durchdacht, alles.“

Sprach sein eigener Größenwahn oder der seines Vaters aus ihm? Sie hoffte inständig auf Zweiteres, schließlich erschien ihr das auch wahrscheinlicher. „Alleine oder hat Ghetsis für dich gedacht?“, erwiderte sie spöttisch und deutete mit einer heranlockenden Bewegung ihrer Finger an, er solle ihr den Lichtstein überreichen. Tatsächlich nahm er ihn aus der Tasche und betrachtete das makellose, schneeweiße Relikt melancholisch.

„Gib ihn mir, du willst mir sicher nicht Reshiram auf‘n Hals hetzen.“ Sie berührte mit Fingerspitzen seine Hand, öffnete sie sanft und erhielt ein vertrautes Lächeln. „Du kannst ein ganz neues Leben haben.“

„Ich will dir Reshiram nicht an den Hals hetzen“, bestätigte er. „Ich will nicht, dass dir was passiert.“ Unsicher ließ er vom Lichtstein ab. „Vielleicht …“
 

Just in dem Moment ertönten schwere Schritte. „Was tust du?“, jaulte eine ältere, krächzende Männerstimme.

Nate entzog ihr den Lichtstein und seine Hand wieder. „Vater!“ Jeder Muskel in seinem Körper verspannte sich. Sofort zog er seine Schultern an.

„Du bist wie ein kleines Kind. ‚Daddy sagt …‘ und ‚ja, Daddy, mach ich. Wenn du willst, dass ich Isshu zerstör‘, mach ich das, weil du es sagst‘“ Sie wollte ihn provozieren, alles aus ihm herauslocken. „Nate, du bist siebzehn. Rebellier. Widersetz dich. Geig ihm deine Meinung. Sag verdammt nochmal ‚nein‘. Nein!“

Sie wirbelte um und sah voller Verachtung Ghetsis entgegen. „Was für eine Freude, die dumme, kleine Hayley hier zu sehen, nicht? Sie gibt einfach nicht auf.“

„Wahrlich eine Freude.“ Ein schiefes Lächeln umspielte die dünnen, alten Lippen. Der betagte Mann war in eine bodenlangen, aufwendig bestickten Robe gekleidet. Als wäre er eben aus einem Portal des Mittelalters gesprungen und im einundzwanzigsten Jahrhundert gelandet. Sein grünes Haar, welches zu beiden Seiten über seine Schultern fiel, war beinahe ergraut. Auf seinem rechten Auge prangte stets ein rotes Monokel, welches darunter nichts erkennen ließ – vermutlich hatte er es verloren –, sein Anderes fixierte sie irr und starr. Hayley hatte noch nie einen Menschen gesehen, der ihr mehr Angst bereitet hätte. Desto trotziger musste sie sich ihm entgegenstellen.

„N, das ist also dein Dank? Du enttäuscht mich. Vielleicht hast du es tatsächlich nicht verdient, mein Sohn zu sein? Solch eine Schande, wie du bist. Solch ein undankbares Etwas. Vergiss niemals, wer dich aufgezogen hast.“

Das Mädchen zuckte unter den Worten mehr zusammen, als Nate selbst. Vermutlich hatte er sie nur schon viel zu oft gehört.

„Er heißt Nate“, widersprach sie. Sie erinnerte sich, wie schwer es für sie gewesen war, seinen richtigen Namen zu erfahren. Mit N hatte er sich ihr auch vorgestellt, vermutlich war er sich es nicht einmal selbst Wert gewesen, etwas Menschliches an sich sehen zu dürfen. Vielleicht hatte er sich auch bis vor kurzem als Pokemon im falschen Körper angesehen.

Wieder dieses zynische Lächeln. „Ist zu bezweifeln.“ Egal ob er ein alter Mann war, Hayley wollte ihn am Ende dieses Tages im Staub kriechen sehen, vor ihr auf den Knien und sie um Verzeihung anflehen. Nein, nicht vor ihr, besser noch vor seinem Sohn.

„Es tut mir leid, ich wünschte, du würdest das verstehen.“

„Wehe dir!“, keifte sie und rieb mit der linken Hand auf Nate auf.

„Ich werd dir nicht deine Pokemon wegnehmen – oder Lucas, Cheren, Bell. Nur den anderen Menschen, die …“
 

Nate riss selbst verwundert die Augen auf, als der Lichtstein zu leuchten begann. Zwischen seinen Fingern bannte sich lohendes, reinweißes Licht hindurch und erfüllte den Saal. Warum? Was hatte er dazu beigetragen? Vielleicht hatte ein sehnlicher Wunsch von ihm ausgereicht. Einer, den sie zu gerne gekannt hätte.

Im selben Moment begann das Relikt in ihrer Hand zu glühen, heiß wie Kohlen. Fast hätte sie es von sich geschleudert. Die schwarzen Strahlen deckten sich mit denen seines Gegenstückes und malten seltsame Muster an die Wände und in ihre Gesichter.

„Was hast du getan?“, wisperte sie fassungslos.

In den ersten Sekunden geschah nichts, ihr pochendes Herz wollte glauben, dass sie alle nur auf einen alten, dummen Mythos hereingefallen waren, der nicht existierte. Auch als weitere Sekunden vergingen, blieben sie in Alarmbereitschaft. Hayley durfte nicht in Panik geraten.

Dann geschah es, wie aus dem Nichts. Die Boten waren regelrecht harmlos, wenn sie daran dachten, was weiters geschehen könnte. Zwei sich überkreuzende Schatten bildeten sich am Marmorboden ab. Hayley hatte als Kind den Kopf in den Nacken gelegt, um eine landende Boeing zu betrachten. Die gesamte Welt war für sie damals einige Sekunden lang schwarz geworden, als das Flugzeug die Sonne verdeckt hatte.

Doch diese Schatten eben konnte sie mit nichts Gesehenem vergleichen.

Ein Orkan riss sie alle von den Beinen, wie ein schwebendes Blatt im Wind, ohne Standfestigkeit. Etwas Zierliches und Leichtes, das einfach so davontreiben konnte. Erst einige Momente nach dem Sturz, fühlte sie den Schmerz in ihren Gliedern. Am liebsten wäre sie dort liegengeblieben, mit gesenktem Blick und hätte einfach auf das Ende gewartet, jenes, welches sie Nate nicht zutraute, das er ihr bereitete. Seinem Vater umso mehr.



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