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Raftel (2)

The Rainbow Prism
von

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33 - In deinem Zimmer

Der verlorengegangene Mitstreiter hatte mit seinem üblichen Problem zu kämpfen. Ein lichterloh brennender Flur brutzelte vor und hinter ihm, und so sehr man sich auch suchend umsah, er war mutterseelenallein. Wo waren Usopp und Perona? Eben gerade waren sie doch noch zusammen gewesen. Es war ihm unerklärlich, dass es außerhalb jeder Möglichkeit lag, als Gruppe geschlossen beisammen zu bleiben. Bestimmt hatten die beiden Anderen den falschen Weg eingeschlagen, denn wenn sie die Treppe vor Kurzem emporgestiegen waren, so mussten sie doch jetzt wieder hinunter. Da war er sich total sicher. Diesmal wäre er sicherlich nicht derjenige Welcher, der hier orientierungslos umherirren würde. Pah, das wäre doch gelacht! Wenn doch nur diese Hitze und dieser Rauch nicht wären. Es gleißte ihm aus allen Richtungen gelborange entgegen. Züngelnden Schlangenzungen gleich griffen die Flammen gnadenlos nach ihrer Beute. So hell und so beißend, dass sein Auge auch geschlossen heftig tränte. Aus jeder einzelnen Pore perlte sich der Schweiß tropfnass über seine Haut und tränkten seine staubige Kleidung, so dass nur ein schmieriger Dreckfilm auf ihm klebte. Zoro unterdrückten jeden unnötigen Atemzug. Sauerstoff war in dieser Luft eh kaum noch vorhanden. Mit einem schnellen Sprint hatte er sich durch das Feuer zur Treppe gerettet und erkannte augenblicklich, wie die Brunst sich hinter ihm in die Treppenstufen fraßen. Brennende Flammenzähne verbissen sich in den Treppenteilen, jagten ihr vermeintliches Opfer in Richtung Erdgeschoss hinab und vernichteten die obersten Etagen. Keine Frage, dass Zoro schnell wie der Blitz war, doch die Flammen setzen gnadenlos zum Überholen an und brannten ihm die Stufen unter den Füßen weg. Durch den Qualm zum Blindsein verdonnert, stolperte Zoro planlos hinab und konnte das rechte Stufenmaß nur erahnen. Alle paar Schritte musste er in den sauren Apfel beißen und seine Lungenflügel belüften. Oh, wie das brannte! Obgleich er die Luft kräftig aufzog, war da kein Gramm Sauerstoff mehr herauszufilten. Ein Wunder, wie das Feuer ohne Sauerstoff noch so herrlich fackeln konnte. Zoro verlor den Wettlauf gegen die Brunst auf der Treppe zwischen dem ersten und zweiten Obergeschoss, durchbrach eine angekohlte Stufe und wankte in vollem Tempo hinüber zum Treppengeländer. Seinen Schwung mitnehmend, segelte er ungebremst über jenes hinüber und holte sich einige schmerzhafte Blessuren am ganzen Körper. Unzähligen Male schlug er entweder an der Stahlkonstruktion des Fahrstuhls oder am Treppengeländer auf. Seine Versuche, den freien Fall durch das ziellose Ergreifen des Geländers zu stoppen, scheiterten gnadenlos. Als er auch noch einen dumpfen Schlag gegen den Kopf hinnehmen musste, wurde ihm das Ganze zu bunt, zumal der Aufprall auf dem Fußboden sicherlich noch schmerzhafter sein würde, als der Vorgeschmack an Schlägen zwischendurch.

Zoro drehte sich im Fluge rücklings, breitete seinen Arme wie zwei Flügel aus und war schon in der nächsten Sekunde nicht mehr in dieser Welt. Eingetaucht in eine wohlige Wärme, die am ganzen Körper diese behaglich Kribbeln hervorrief, schwebte er ihm Zwielicht zwischen dem Diesseits und dem Jenseits irgendwo über der Treppe. Mit kräftigem Luftholen lüftete er seine Atemwege, rieb sich mit dem Handdrücken das tränende Auge trocken und genoss für den Moment das Gefühl der absoluten Schwerelosigkeit. Er wusste, dass die Entscheidung im Zwielicht zu wandeln riskant war. Nach wie vor zog es ihm unglaublich viel Lebensenergie ab, die er nur durch lange Schlafzeiten und Ruhepausen auszumerzen vermochte. Trotz hartem Trainings hatte er noch nicht herausgefunden, wie er seine Kräfte dosierter einsetzen konnte. Mit seinen Freunden hierher zu kommen, hatte ihn bereits sehr viel Energie gekostet. Nun nutze er seine Kräfte schon wieder. Ob es dann noch für den Rückweg reichen würde? Darüber mochte Zoro akut nicht nachdenken. Erstmal musste das aktuelle Rätsel des verschlossenen Raums gelöst werden, dann hätte er Zeit für weitere Problemlösestrategien. Doch zunächst nutzte er die Vorteile des Zwielichtes aus und musterte genaustens seine Umgebung. Da war nichts mehr von einem Feuer zu sehen. Noch nicht mal ein Glutnest. Das ganze Theater war also eine absolut perfekte Illusion gewesen. So täuschend echt, dass er doch tatsächlich darauf hereingefallen und geflohen war. Wo mochten seine Freunde sein? Im Zwielicht befindlich hatte er entdecken und trainieren können, nicht nur durch die Materie zu gehen, sondern teilweise auch in nächster Nähe durch diese hindurchzusehen. Er starrte nach oben, von woher er herabgestürzt war. Er sah das Haus nun nicht mehr so, wie seine Freunde es für gewöhnlich taten, sondern sondern aus einer anderen Dimension, schwarzweiß verzerrt mit flackernden Konturen. Usopp und Perona mussten außerhalb seiner Blickreichweite sein, denn da waren keine krisseligen Farbtupfer, die Lebewesen verrieten.

Er seufzte und entschied sich, da er ehe schon dem Erdgeschoss nahe war, wieder den Raum zu suchen, der sich wohl nur mit einem der vielen Schlüssel aus seinem Bündel öffnen ließ. Er hob die Arme leicht an und sank wie eine Feder durch die Treppenmaterie hindurch hinab bis er die altbekannte Empfangshalle wiedererkannte. Er ging nicht davon aus, dass er hier jemanden seiner Freunde antreffen würde, weil ihm soviel Glück einfach noch nie hold gewesen war. Dann stand er unschlüssig dort unten und konnte sich zum Teufel nicht mehr erinnern, wo dieser blöde Raum gewesen war. Viele Polstermöbel, linker Hand die Rezeption, hinter ihm das Treppenhaus mit dem Lift und vermutlich vor ihm die große Eingangstür. Aber dann gingen noch gut ein Dutzend Türen von dieser Lobby in die unterschiedlichsten Richtung ab. Sie alle abzuklappern und zu schauen, wohin sie führen würden, lagen weit außerhalb seines Zeitplans. Er spürte Müdigkeit und Kopfschmerzen in sich aufsteigen und musste geschwächt das Zweilicht wieder hinter sich lassen. Die Dunkelheit und Kälte hatte ihn wieder. Wo lang nun?

„Santoryu Tatsu Maki!“, hallte es durch die Lobby bevor ihre Zimmerwände unter Zoros Dreischwerttornado nachgaben und zerbarsten.

Der Rundumblick hinter die Wände war nun frei auf ein angegliedertes Café, eine Putzmittelkammer, ein kleines Museum über die Geschichte der Klinik und die Besuchertoiletten. Einen Schwenk weiter offenbarte sich der gesuchte Flur mit den Mondbildertüren. Zoro stürmte mehr taumelnd, als geradlinig laufend auf sein Ziel zu, gab der zerborstenden Korridortür noch einen Schwertschlag mit auf das diese auch wirklich nicht im Wege wäre und spürte nun förmlich die Aura der mystischen Tür. Nun stand er davor mit einem herausgekramten Bündel an Schlüsseln in der Hand. Genervt probierte er einen nach dem anderen aus, wobei die Nieten achtlos klimpernd auf den Boden fielen. Das Bündel war fast aufgebraucht und Zoro hatte schon die böse Vorahnung, es gäbe unter den ganzen Schlüsseln gar keinen passenden, da klickte es endlich erfolgreich im Schloss und die Tür war offen. Er drückte die Klinge und trat ein.

Mit welchen Erwartungen er auch immer diesen Raum verknüpfte hatte, konnte er gar nicht mal so genau sagen. Trotzdem baute sich Enttäuschung auf, denn das Zimmer bestach durch seinen totale Nüchternheit. Erst auf den zweiten Blick entpuppten sich sonderbare Dinge. Das Zimmer wirkte wie in der Zeit zurückgedreht, als würde es aktuell noch bewohnt werden. Es musste einem jüngeren Patienten gehören, denn auf einem Schreibtisch am Fenster lagen Malstifte und Kinderzeichnungen. Zoro trat näher an den Schreibtisch heran und blätterte im Licht der Tischlampe durch den übersichtlichen Stapel. Es waren ausnahmslos Wachsmalzeichnungen mit teils unheilvollen Motiven. Er überlegte, wie alt seine Tochter gewesen sein mochte, als sie diese Art von Zeichenstil beherrschte und schätze daher das Alters des Künstlers oder der Künstlerin auf fünf, vielleicht auch sechs Jahre ein. Ein Bild stach besonders hervor. Ein Kind mit weißem OP-Kittel und blauen Tränen, so groß wie Äpfel, wurde von etwas drangsaliert. Spritzen? Man konnte es kaum deuten, denn die Motorik des Kindes ließ es noch nicht zu, detailverliebt zu sein. Zudem musste ein ungeheurer Schmerz auf der kleinen Seele ruhen. Den Wachsstift gefäustet waren hier mit zornigen Bewegungen rote, gelbe und orangene Striche über das ganze Blatt gekritzelt worden ohne Rücksicht auf das weinende Kind zu nehmen. Es ging gnadenlos unter den Wachsschichten unter. Feuer! Das musste wohl oder übel das tragende Element dieser Klinikgeschichte sein.

Ein eiskalter Lufthauch zog an seiner Wange vorbei, strich im gefühllos über den Rücken und ließen ihm alle Nackenhaare zu Berge stehen. Ruckartig drehte sich Zoro um und starrte auf die wohlbekannte Geistererscheinung, von welcher sie schon seit ihrer Ankunft auf dieser Insel heimgesucht wurden. Sie stand mit dem Rücken zu ihm an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers vor einem Bett und hielt mit beiden Händen fest ein Schwert über dem Kopf. Irgendwer oder irgendetwas, was sich in dem Bett befand, sollte im nächsten Wimpernschlag zerteilt werden.

„Das letzte Kind!“, hallte es gespenstisch laut und dröhnend von Wand zu Wand.

Der Geist blieb definitiv ein Geist, doch das Schwert war so real, wie Zoro hier in diesem Zimmer stand. Geistesgegenwärtig griff er an, um das zur retten, was er selbst noch gar nicht ausgemacht hatte. Schon beim Ziehen seines Schwertes parierte er den Angriff des Gegners in der Luft. Drei wütende Augen voller Angriffslust fixierten sich gegenseitig. Zoro grinste. Der Kampf würde ein Herausforderung sondergleichen werden. Der Feind war schon vorher tot und der Raum für großartige Attacken viel zu eng. Genau nach seinem Geschmack. Einen ordentlichen Kampf mit Taktik und Können hatte er schon lange nicht mehr ausgefochten. Noch immer hielt er dem Druck des Gegners seine eigenen Kraft entgegen. Nicht schlecht für einen Geist, was der so aufbot, obwohl der doch transparent und hüllenlos war.

„Du bist keiner von uns“, stellte der Geist frostig fest und ergänzte: „Stirb!“

„Vergiss es!“, kam es gewohnt selbstbewusst zurück.

Zoro war bereit, sämtliche Informationen aus dem Geist herauszuschneiden. Wenn es sein musste auch scheibchenweise leicht filetiert. Er zog das zweite Schwert, holte aus und zwang seinen Gegenüber erstaunlich lässig auszuweichen. Dieser macht keine Anstalten sich zu wehren, sondern verharrte in kurzer Schlagdistanz auf das, was da nun kommen würde. Keinen Millimeter ließ Zoro die Erscheinung aus dem Auge, während er sein schwarzes Tuch vom Oberarm löste und sich über den Kopf zog. Er hatte noch nicht einmal den Knoten richtig festgezogen, da änderte die transparente Gestalt die Strategie. Unruhig tänzelnd schwebte sie knapp über dem Boden und schien luftig und unverwundbar. Plötzlich schoss sie wie ein Pfeil auf ihn zu und griff mit einer derart hohen Geschwindigkeit an, dass selbst Zoro Mühe hatte, die Bewegungsrichtung zu verfolgen. Dann war sie wie vom Erdboden verschluckt, doch er wusste, dass der Schein trog. Totenstille herrschte. Man hätte selbst Staubkörner auf dem Fußboden aufschlagen hören können. Es war nur eine Frage von Sekunden, dass ein Angriff aus dem Hinterhalt zuschlagen würde. Er sollte recht behalten. Kaum verschwunden, tauchte die Gestalt tänzelnd wieder auf. Diesmal hinter ihm. Und wieder trieb sie das Spiel des direkten Pfeilangriffs.

Zoro schob das zweite Schwert zurück in die Saya, hielt nur noch das Erste mit beiden Händen fest im Griff und lauerte aus der Defensivhaltung heraus. Bei jedem dieser Angriffe hatte er bis jetzt nur ausweichen und keinen Treffer landen können. Sein Schwert glitt durch das tänzelnde Etwas einfach hindurch. Dennoch musste es einen wunden Punkt geben. Jeder Gegner hatte diesen, und es lag noch an Zoro, diesen herauszufinden. Solange der Geist seine Strategie nicht änderte, konnte er noch etwas mit ihm spielen und mehr über die Kampftechnik herausfinden. Dabei sollte mehr zu Bruch gehen, als ihm lieb war. Erst eine Holztruhe, dann ein Paravent. Fliegende Daunenfedern zeugten von einem aufgeschlitzten Kissen. Die Kinderzeichnungen flogen ebenso durch die Luft wie die Splitter des Schreibtischstuhls. Tiefe Schnitte verzierten die Wände. Und plötzlich schmeckte Zoro eine eiserne Flüssigkeit in seinem Mund. Rote Suppe lief warm von seiner Schläfe hernieder. Ein Hauch von grünen Haaren zerstoben sich in der Luft. Da hatte das spirituelle Ding es doch tatsächlich durch die Enge dieses Raumes geschafft, ihn zu streifen. Aber es sollte zu spät für den Gegner sein, potentiellen Schaden anzurichten. Zoro hatte den Trick durchschaut, denn immer, wenn das Gespenst seine Position wechselte, musste es für den Bruchteil des Augenblickes eine festen Form annehmen. Es konnte nicht einfach so entschwinden und wieder auftauchen. Meist tauchte es hinter ihm wieder auf.

Als es nun wieder einmal mehr angriff und an ihm vorbeiflog, dreht Zoro das Schwert in der Hand einmal locker um sich selbst, so dass es nun mit der Klinge nach hinten zeigte. Einen ausholenden Schwung aus dem Ellenbogengelenk heraus später erschütterte ein Kreischen den Raum, was man sicherlich auf der ganzen Insel hätte hören können. Scheppernd fiel das Geisterkatana zu Boden und verzerrt löste sich dessen Schwertführer in Luft auf. Zurück blieb an der Stelle des Entschwindens eine Schriftrolle liegen. Etwas enttäuscht darüber, dass der Geist nichts weiter zu sagen gehabt hatte, nahm Zoro neugierig die Schriftrolle an sich. Kaum berührten seine Fingerspitzen das alte Papier, da durchzuckte ihn ein Blitzschlag. Bewegte Bilder spulten sich vor seinem geistigen Auge ab. Ein Mensch mit grellgrünen Augen saß festgeschnallt auf einem Stuhl und wehrte sich unter Schmerzen mit Leibeskräften. Kanülen saugten Blut aus seinen Venen. Dann war die Vision wieder verschwunden. Zoros Finger hatten sich um die Schriftrolle verkrampft. Langsam öffnete er wieder seine Faust, löste das Siegel, konnte dann aber nur einen Teil der längst vergessenen Schrift lesen. Er seufzte wiederholt und schob die Rolle in seine Hosentasche. Ein Fall für Robin!

Ihm kam das Bett wieder in den Sinn. Der Grund weshalb er den Kampf überhaupt erst begonnen hatte. Er staunte nicht schlecht, als er zu dem Bett hinüberblickte. Tatsächlich lag dort jemand unter die Bettdecke gekuschelt und schlief. Der Größe nach musste es das Kind sein, welches wohl die Bilder gemalt hatte. Er trat an das Bett heran, sah aber nichts weiter außer einem schwarzen Haarschopf, dessen Strähnen zerzaust in alle Himmelsrichtungen abstanden. Zoro versuchte das Kindsgesicht zu erhaschen und schreckte auf.

„DAS kann nicht sein!“, entfuhr es ihm überrascht.

Er riss ungestüm die Bettdecke beiseite, um sich das Kind von Kopf bis Fuß anzusehen. Er wollte Gewissheit haben, ob er sich nicht verguckt hätte. Doch kaum hatte sich die Bettdecke auf dem Boden niedergelegt, war auch diese Illusion aufgelöst. Zurück blieb eine Krankenakte. Obig prangte auf dem Karteireiter unverwechselbar der Name des kleinen Patienten. Und obwohl Zoro den Namen immer wieder und wieder las, änderte sich die Buchstabenreihenfolge einfach nicht.

„Das letzte Kind“, murmelt er.

Er saß auf der Bettkante und überlegte nun, was zu tun wäre. Natürlich musste er seine Freunde wiederfinden. Hoffentlich waren sie wohlauf. Sein Blick schweifte durch den Raum und die frisch veranstaltete Zerstörung. Die Kinderbilder lagen überall auf dem Fußboden verstreut. Er nahm sie auf und legte sie in die Krankenakte. Es war ruhig, viel zu ruhig. Selbst das Wellenrauschen, das der Wind vom Meer herübergetragen hatte, war verstummt. Zoro lauschte in die Stille und in sich hinein. Erst jetzt in dieser Phase der Entspannung kehrten die Kopfschmerzen und die Müdigkeit zurück. Ein tiefer Schlaf überfiel ihn. Er sackte zur Seite in das zerwühlte Bett und gab sich der Erschöpfung hin.
 

Schlagartig schreckte er aus dem Schlaf wieder auf. Wie lange mochte er hier geschlafen haben? Nach wie vor schien der Mond durch das dreckige Fenster und zeichnete unruhige Schatten auf den Fußboden. Kerzengerade sitzend beäugte er das Krankenzimmer. Nichts hatte sich verändert. Er hatte also geträumt. Aber da war etwas, dass war so unglaublich real in seinem Traum gewesen. Jemand hatte ihn gerufen. Verzweifelt. Panisch. Dem Tode nahe. Er kannte diese Stimme. Das war doch..., das war doch... Zoro brauchte eine Weile, bis er alle bekannte Stimmen innerlich abgeglichen hatte. Usopp! Mochte der Mitstreiter häufig den großen Feigling spielen, der Unterschied zwischen vorgetäuschter Panik und akutem Notfall war Zoro jedoch bekannt. So gab es unterschiedliche Ton-Nuancen zwischen einem Kreischen und einem Schreien. Und das hier war glaubhaft ernst.

Mit einem Satz schwang er sich aus dem Bett und hatte keine Zeit, sich um Wege oder gar eine lange Suche zu kümmern. Also ließ er seine Schwerter mit den Wänden kommunizieren. Die ersten Trennwände zwischen den Räumen brachen zusammen. Nur hatte er nicht bedacht, dass nicht alle Wände allein der rein dekorativen Raumgestaltung galten, sondern die eine oder andere Wand eine Tragende war. Das Gewicht der steinernen Etagen über ihm lasteten nun übergewichtig auf den verbliebenen Mauerteilen. Sie kapitulierten unter dem Eigengewicht. Die Zimmerdecke kam runter. Zoro erhöhte sein durchschlagendes Tempo. Er würde Usopp schon finden.

Den Schutthaufen des einstigen Mondtürentraktes hinter sich lassend, preschte er wieder zum Ausgangspunkt aller Erkundungstouren zurück: der Lobby. Er staunte nicht schlecht, als ihn dort, wo das Treppenhaus und der Fahrtstuhl zuvor gewesen waren, die sich drehenden Winde eines Tornados begrüßten. Es blitzte grell und donnerte krachend. Alles, was im Empfangssaal nicht niet- und nagelfest war, wurde mit dem heftigen Sog mitgenommen. Es war ohrenbetäubend laut. Der Sturm verschluckte nicht nur alle möglichen Gegenstände, sondern übertönte auch jegliche Geräusche. Reflexartig hatte Zoro sich an einem Türrahmen gekrallt und starrte fasziniert auf die Wand aus reinstem Wind, die man nur sah, weil allerlei Hausrat, Staub und Blitze ihm eine sichtbare Figur verpassten. Wie in einem Karussell drehten sich Stühle, Steine und Tische immer wieder an ihm vorbei. Mal höher mal tiefer. Sein Erstaunen über diese Naturgewalt im Wohnzimmer wurde noch größer, wie er ihm Auge des Tornados etwas durchrauschen sah. Welch riesiger Felsbrocken war da herabgestürzt. Das halbe Haus musste in dieser Windhose stecken. Aber da war doch etwas Sonderbares an dem Felsen. Was das eben nicht gerade eine Orgel, die da hinabstürzte? Und flatterten da nicht angstvoll seine Freunde hinterdrein?

Dieser Ort war einer der verrücktesten Ort, die er jemals auf allen Reisen besuchen musste. Der Sturzflug seiner Freunde in die Tiefe war das definitive Zeichen zum Aufbruch und den Wahnsinn hinter sich zu lassen. Zoro öffnete seine Handflächen, flog quer durch den Saal, trudelte in der Tornadodrehung mit und gab sich dann ganz dem freien Fall im Inneren des Strudels hin. Ja, dort weit unter ihm waren seine Mitstreiter. Welch Glück! So schnell hatte er nicht erwartet, sie wiederzufinden.

„Usopp!“, rief er ihnen nach und alle Augenpaare aus der Tiefe trafen ihn, als wäre er eine Fata Morgana.

„Zoro!“, kreischte Chopper mit Tränen in den Augen zurück, während Usopp sich längst heiser geschrien hatte und ihm somit alle Worte ihm Halse stecken blieben.

Auf Laws Gesicht zeichnete sich eine breites Grinsen der Erleichterung ab, obwohl er noch gar nicht richtig fassen konnte, dass es Zoro zeitnah geschafft hatte, zu ihrer Gruppe zu stoßen. Perona hingegen machte sich nicht viel aus überschwänglichen Begrüßungen. Sie ruderte wild mit ihren Armen, um sich in eine andere Flugposition bringen. Der Erfolg blieb nicht aus. So schoss sie wie eine Rakete auf Zoro zu und umklammerte seinen Oberarm wie eine Rettungsboje auf hoher See. Dabei verbarg sie ihr Angesicht in seiner Kleidung und murmelte so leise, dass nur er es hören konnte:

„Warum hat das mal wieder so lange gedauert, Idiot!“

Er ging nicht auf ihre Frage ein, sondern machte ihre Ruderbewegungen nach. Im freien Fall fielen alle gleich schnell hinab. Also gab es keine Möglichkeit, die anderen mit ihrem merklich großen Vorsprung einzuholen, wenn man nicht kräftig nachhalf.

„Ab nach Hause!“, rief er ihnen aufmunternd zu.

Choppers Hufe verworren sich in seinen grünen Haaren, Usopp erwischte einen seiner Füße und Law seine noch freie Hand. Und dann war da nichts mehr, als dieses magische Kribbeln unter der Haut und die Wärme des Zwielichts, die sie allesamt aufsaugte und bettete wie eine Wiege.
 

Gerade genossen sie alle Fünf ihre wundersame Rettung, verloren ihre Seelen für die Zeit der Reise in der vollkommenen Tiefenentspannung und trieben mühelos durch Raum und Zeit. Die knallharte Realität holte sich die Reisenden viel zu schnell wieder zu sich zurück. Harte spürten sie die Holzplanken des Schiffsdecks der Sunny an ihren Körpern, obgleich der Aufschlag doch recht milde ausgefallen war. Da lagen sie nun. Verstört, erschöpft und am Ende all ihrer Kräfte. Keiner von ihnen wäre eben auf die Idee gekommen, sich jetzt wieder zu bewegen. Am Liebsten wären sie hier einfach alle liegengeblieben. Mitten in der heißen Nachmittagssonne unter einem herrlichen azurblauen Himmel bei einem ruhigen Seegang des tiefblauen Meeres. Franky, der an Deck etwas an der Takelage der Sunny repariert hatte, brachte es trocken auf den Punkt:

„Ihr seid schon wieder zurück? Ihr seht reichlich fertig aus.“

Amüsiert beobachtete er die an Zoro festhaltende Truppe und stutze über die Geisterprinzessin, die bei der Abreise noch nicht mit von der Partie war. Er zuckte mit den Schultern, würde eine Erklärung doch sicherlich noch folgen, und alarmierte die restlichen Piraten. In Windeseile füllte sich das Deck mit den Strohhüten und Laws Bande. Man rappelte gemeinsam seine Freunde wieder hoch und gönnten ihnen die Pause bis zum Abendessen, auch wenn die Neugier alle im Griff hatte.

Später, als die Nacht hereinbrach, alle Neuigkeiten bei einer feucht-fröhlichen Runde ausgetauscht worden waren, zerstob die Menge wieder. Die einen suchten ihre Kojen, die anderen noch anderweitige Zerstreuungen auf.

Zoro hatte Robin nur als einziges Fundstück die Schriftrolle übergeben. Über die Krankenakte wollte er zunächst allein nachdenken. Robin hatte sich hellauf begeistert sofort mit ihrer neuen Beute in die Bibliothek zurückzog. Vom Krähennest aus sah er sie durch die Fensterscheiben drüben im Kerzenschein an ihrem Schreibtisch sitzen, wälzte mit einem Finger dicke Bücher und schrieb parallel dazu etwas auf. Vermutlich eine Übersetzung des Textes oder Randnotizen.

Müde und erschöpft hatte er den Platz am Fenster gegen sein Nachtlager eingetauscht und lag nun auf einer Futonmatte. Er wollte allein sein und vermied sein Bett unten im Schlafraum. Während er einen kräftigen Zug Sake aus einer Flasche seine Kehle hinablaufen ließ, musterte er seine Trophäen, die er seit Beginn der Fahrt eingesackt hatte. Es waren ja, mal abgesehen von der Schriftrolle nur noch zwei weitere Beutestücke. Die Krankenakte hatte er neben sich gelegt. Natürlich mit dem Patientennamen nach unten verdeckt. Bis er einen Entschluss gefasst hatte, was er mit diesem goldenen Puzzleteil voller Aha-Effekte anstellen würde, war die Akte hier bei ihm sicher verwahrt. Takerus Herzbox thronte oben auf der Mappe. Dessen Herz schlug ruhig und gleichmäßig wie ein Uhrwerk vor sich her. Die Seiten des Würfels waren so rein und klar, dass Zoro kaum ein passender Vergleich einfallen wollte. Er kramte aus seiner Hosentasche Taiyokos Vivrecard hervor. Kaum merklich bewegte sie sich ihn seiner Hand von ihm weg. Das Blatt war absolut perfekt und makellos. Wenn er es nicht besser wüsste, dann wären dieses optimale Zeichen, dass die beiden in Sicherheit wären und dass es ihnen gut ginge.

Noch ein weiterer Schluck aus der Flasche fand seinen Weg in Zoros Mund. Tashigi war nicht da. Was konnte da passiert sein? Dass es keine zufriedenstellende Antwort auf diese brenzlige Frage gab, machte ihn innerlich komplett wahnsinnig. Wut und Verzweiflung rangen miteinander. Einen Sieger gab es nicht. Am Liebsten wäre er wieder aufgesprungen und hätte sie gesucht. Egal wo. Sie sollte wieder bei ihm sein Und sie sollte nicht mehr so sauer sein. Es machte ihn für die Außenwelt unausstehlich, wenn sie beide Streit hatten. Noch schlimmer war der Gedanke, dass er in Bezug auf sie so durchschaubar wie Glas war. Keine seiner Gefühle drang jemals nach außen. Wenn es um Tashigi ging, war das anders. Die Bande wusste sofort, woran sie war, wenn er eine bestimmte Art von Übellaunigkeit an den Tag legte.

Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und starrte durch die Fensterscheiben des Ausgucks in die unendliche Weite eines wunderschönen Sternenhimmels. Tashigi mochte gerne in die Sterne sehen. Sie kannte alle Sternbilder und sogar die Geschichten dazu, wie die Sternbilder zu ihren Namen gekommen waren. Er hingegen hatte sich nie dafür interessiert, aber weil sie es liebte, hatte er manchmal die eine oder andere Nacht stundenlang mit ihr ihm Arm die Sterne angeguckt. Lange vor ihr war er dabei eingeschlafen. Manchmal hatten ihre Küsse ihn zärtlich aufgeweckt. Dann fuhren ihre sanften Hände über seinen geschundenen Körper voller Narben. Ihr Kulleraugen und ihre Beharrlichkeit brachten ihn jedes Mal wieder um den Verstand, bei allem klein beizugeben, obwohl das gegen seine eigene Natur war. Wenn es um Tashigi und ihren Einfluss auf ihn ging, musste er sich manchmal doch sehr über sich selbst wundern, akzeptierte es aber so, wie es war.

Aber jetzt sie war nicht da. Sauer auf sich selbst, sich so sehr in melancholischen Gefühlsduseleien verloren zu haben, knallte er die mittlerweile geleerte Flasche am langen Arm laut auf den Holzboden. Er konnte nichts zu tun, außer abzuwarten. Er hasste diesen Zustand des Wartens, glich er doch einer Hilflosigkeit. Und das wiederum war ein Zeichen von Schwäche. Schwäche passte jedoch nicht in ein Profil von jemanden, der zeit seines Lebens bestrebt war, immer stärker und stärker zu werden.

Es klirrte kurz. Die Flasche hatte nicht stehen bleiben wollen und rollte nun lärmend davon. Zoro drehte seinen Kopf zu ihr und verfolgte ihren Weg mit müdem Auge, bis sie am anderen Ende des kleinen Ausgucks im dunklen Schatten verschwand. Immer noch unzufrieden mit sich und der Welt wälzte er sich noch einige Male auf der Futonmatte herum. Der nächste Tag würde nicht leichter werden als der heutige, und wenn man dort draußen dem Lichteinfall glauben durfte, dämmerte es bereits. Eine viel zu kurze Nacht neigte sich dem Ende entgegen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  pbxa_539
2016-07-31T16:51:49+00:00 31.07.2016 18:51
Soll Zoro sich ruhig weiter einreden, dass die anderen ihre Wege nicht finden, er hingegen schon.
Irgendwann glaubt ihm das ja vielleicht jemand. Ich höre jetzt schon den Rest der Crew und alle anderen, die ihn kennen, laut lachen.
Zumindest ist das Zwielicht recht praktisch, wenn man nach unten fällt. Und ne eigene Sauerstoffversorgung hat es auch noch.
Ich frag mich bei dem Geisterhaus gerade, ob die sämtlichen Zerstörungen, die dort von Zoro & Co. produziert werden, bestehen bleiben oder auch einfach verschwinden, wie die Illusion mit dem Feuer.
Warum geht die Zaubertür nicht eigentlich mit einem (oder drei) Schwertstreich(en) auf? Sondern nur ganz banal mit einem Schlüssel?

Zoro hat also ne Akte mitgenommen. Was ist eigentlich aus den anderen Akten, die Chopper und Law beäugt haben, geworden? Sind die dageblieben oder auch mitgekommen?
Na, wer weiß, wer (oder was) da noch mitgekommen ist.
Und wie lange Perona dann bei der Truppe bleibt. Wird sicherlich spannend.
Antwort von:  sakemaki
31.07.2016 18:56
Die Tür ist magisch versiegelt. Und wie es bei all diesen Horror-Adventures so ist: MAn hat einen ganzen Sack voller Equipment dabei, aber man bekommt nur mit dem Gegenstand X die Tür auf. Also rennt man von A nach B und wieder zurück.
Wichtig ist später nur die Akte, die Zoro hat.
Von:  fahnm
2016-07-16T14:11:09+00:00 16.07.2016 16:11
Ein Super Kapitel



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