Zum Inhalt der Seite

Wiedergeburt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da ich für gewöhnlich die Quenya-Namen der Charaktere verwende, hier noch mal eine kleine Übersicht darüber, wer wer ist:

Maedhros: Maitimo/Nelyafinwe/Nelyo
Maglor: Makalaure/Káno
Amras: Ambarussa/Pityo
Fingolfin: Nolofinwe
Finrod: Findaráto
Fingon: Findekáno Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Wiedergeburt

„Nelyo, nein. Du kannst nicht-!“

„Ich kann. Und ich werde.”

Hilflos sah Makalaure mit an, wie sich sein älterer Bruder mit zusammengebissenen Zähnen hochstemmte und die Beine vom Bett schwang. Schon seit einer Stunde versuchte er, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, doch wenn Maitimo sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war er nur schwer aufzuhalten.

Dabei war sein Bruder trotz der unermüdlichen Pflege durch seine Geschwister noch immer deutlich ausgemergelt von der langen Gefangenschaft in Angband und schien nur aus wenig mehr als Haut und Knochen zu bestehen. Doch sein Geist war schon seit Tagen wach und rastlos, und nach beinahe drei Wochen Bettruhe konnte er einfach nicht länger tatenlos bleiben.

Makalaure seufzte, als er zusah, wie sein Bruder versuchte, seine Robe überzustreifen, was ohne rechte Hand zu einer fast unmöglich zu bewältigenden Aufgabe wurde.

„Dann lass mich dir wenigstens helfen...“, sagte er schließlich und griff nach dem Stoff.

Dieses Mal hatte Maitimo keine Einwände.
 

Als sie schließlich aus der Unterkunft in den winterlichen Morgen hinaustraten, war die Luft klar, und so kalt, dass sie beim Atmen in den Lungen brannte.

Dennoch war sie für Maitimo in diesem Augenblick das Lieblichste überhaupt. Nach dem Rauch und Gestank von Angband war die eisige Winterluft eine Wohltat für seine Sinne.

Rufe wurden laut, als er, gestützt auf die Schulter seines Bruders, durch das Lager ging, und respektvoll neigten alle Elben, die ihnen begegneten, das Haupt. Dabei war Maitimo längst nicht mehr die imposante Gestalt, die er vor seiner Gefangenschaft gewesen war.

Sein Rücken war gebeugt, die Muskulatur entweder noch nicht wieder aufgebaut oder durch jahrelange Folter unwiderruflich beschädigt. Sein einst langes, rotes Haar war bei seiner Rückkehr so schmutzig und verfilzt gewesen, dass man es ihm hatte abschneiden müssen, und es war noch immer so kurz, dass es kaum seine Ohren bedeckte. Er trug am ganzen Körper Narben; eine der prominentesten davon zog sich quer über seine rechte Wange und bis über den Nasenrücken. Und dann war da noch der Stumpf, wo einst seine rechte Hand gewesen war...

Dank der sorgfältigen Arbeit der Heiler und der Pflege seiner Brüder spürte er kaum noch Schmerzen im Stumpf, doch der Drang, mit längst verschwundenen Fingern nach Gegenständen greifen zu wollen, existierte weiterhin, und es würde noch lange dauern, bis nicht nur sein Geist, sondern auch sein Körper begriffen hatte, dass die Hand nicht mehr da war.

„Káno!“ Ambarussa kam ihnen mit überraschter Miene entgegen, über der Schulter einen Jagdbogen. „Was habt ihr vor? Nelyo ist noch zu schwach für Ausflüge!“

„Erzähl ihm das, nicht mir“, entgegnete Makalaure kopfschüttelnd und schlang den Arm fester um die Taille seines Bruders.

Maitimos Atem ging stoßweise und von der Anstrengung ihres Spaziergangs stand ihm der Schweiß auf der Stirn, doch als er seinen jüngeren Bruder ansah, lag ein Lächeln auf seinen Lippen.

„Es geht mir gut, Pityo“, entgegnete er. „Bitte sei so gut und bereite ein Boot über den Mithrimsee vor. Ich habe Dringendes mit Nolofinwe zu besprechen.“

Ambarussa sah ihn zweifelnd an und auch Makalaure blieb stehen und musterte seinen Bruder.

„Die Überfahrt dauert Stunden“, sagte er. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee in deinem Zustand? Vor Sonnenaufgang werden wir nicht wieder zurückkehren können, und es gibt keine Garantie, dass Nolofinwe uns bis dahin willkommen heißen wird...“

„Was auch zwischen uns vorgefallen ist, er wird uns Gastfreundschaft gewähren“, erwiderte Maitimo mit leiser, aber entschlossener Stimme. „Und ich bezweifle nicht, dass er mich anhören wird – nicht bei dem, was ich ihm zu sagen habe...“

Seine Brüder tauschten einen fragenden Blick, doch da Maitimo sich nicht von seinem Beschluss abbringen ließ, gaben sie es schließlich auf, ihn umstimmen zu wollen, und Ambarussa eilte los, um seiner Bitte nachzukommen.
 

Im Boot war es noch einmal um mehrere Grad kälter als an Land.

Erst als sein älterer Bruder zu Makalaures Zufriedenheit bis zum Hals in einem Nest von dicken Decken und Fellen saß, legten sie ab.

Teile des Sees waren in der schon seit Tagen anhaltenden Kälte zugefroren und sie mussten immer wieder Umwege machen, um Eisschollen auszuweichen. Doch je weiter sie sich dem Lager ihres Onkels näherten, umso weniger Eis sahen sie, und das Südufer des Sees war schließlich gänzlich eisfrei.

Es war bereits früher Abend, als sie die andere Seite des Sees erreichten, wo sie von mehreren mit Speeren bewaffneten Wächtern am Ufer willkommen geheißen wurden.

„Mein Herr Makalaure“, begrüßte sie einer der Männer mit kühler Stimme und verbeugte sich kurz. „Was kann ich für Euch tun?“

„Bitte richtet Nolofinwe aus, dass Maitimo Nelyafinwe ihn zu sprechen wünscht“, erwiderte Makalaure ruhig.

Die Wächter warfen sich überraschte Blicke zu, als Makalaure seinem Bruder aufhalf. Trotz seiner warmen Kleidung zitterte Maitimo am ganzen Körper, doch sein Blick war entschlossen und seine Stimme fest, als er sagte:

„Ich erbitte für diese Nacht Unterkunft für meinen Bruder und mich. Ich habe meinem Onkel Wichtiges mitzuteilen.“

„... gewiss.“ Der vorderste Wächter nickte einem seiner Kameraden zu, und dieser verschwand sogleich in der Dämmerung, um seinem Herrn von der Ankunft der Brüder zu berichten.

Während sie warteten, durchdrang plötzlich eine vertraute Stimme die angespannte Stille.

„Maitimo...?“

Eine schlanke, blonde Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, und bevor einer von ihnen reagieren konnte, war sie auch schon herangetreten und hatte die Arme um den Hals des überraschten Elben geschlungen.

„Findaráto“, sagte Maitimo mit rauer Stimme und versuchte unbeholfen, die Umarmung mit dem rechten Arm zu erwidern.

„Ich sah dich, als Findekáno zurückkehrte“, erzählte sein Cousin und löste sich wieder von ihm, Tränen in den blauen Augen. „Du warst so geschwächt und ausgemergelt, keiner von uns glaubte auch nur einen Moment daran, dass du die Nacht überleben würdest. Und nun sieh dich an...“

„Findo...“ Maitimo lächelte schwach. Er war überrascht, wie sehr er ihn vermisst hatte. „Es tut gut, dich zu sehen.“

„Tut es das.“ Der andere lachte auf und fuhr sich dann mit dem Handrücken über die Augen. „Lass dich von meinen Tränen nicht täuschen. Ich könnte dich ohrfeigen für das, was ihr uns angetan habt. Die Dinge, die wir gezwungen waren zu tun, um diesen Ort zu erreichen...“

Er erschauerte, als er daran zurückdachte. „Und dennoch freue ich mich, dich zu sehen, so seltsam es auch klingt.“

Maitimo lagen unzählige Worte auf der Zunge, doch egal, welche er als Entschuldigung vorgetragen hätte, sie wären mehr Hohn als Trost gewesen, und so hüllte er sich stattdessen in Schweigen.

„Findekáno hat dich sehr vermisst“, fuhr Findaráto nach einer Weile fort. „Wir mussten ihn in den letzten Wochen beinahe täglich davon abhalten, ein Schiff zu stehlen und zu eurem Lager überzusetzen, damit er dich sehen kann.“

„Warum habt ihr ihn nicht gehen lassen?“, fragte Makalaure. „Nelyo hätte sich sehr über seinen Besuch gefreut.“

Ihr Cousin quittierte dies nicht mit einer Antwort, doch er zog die Braue hoch und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Nolofinwe vertraut uns nicht“, sagte Maitimo leise. „Darum hat er es ihm verboten.“

„Das ist absurd! Was glaubt er denn, was wir ihm getan-“, begann Makalaure, doch sein Bruder unterbrach ihn.

„Ich hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt.“

Das brachte ihm sowohl von Makalaure als auch von Findaráto überraschte Blicke ein.

Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, kehrte der Wächter, der Nolofinwe über die Ankunft seiner Neffen informiert hatte, wieder zurück.

„Mein Herr heißt euch willkommen“, sagte er und verbeugte sich kurz. „Er stellt euch für diese Nacht einem Schlafplatz zur Verfügung und lädt euch außerdem ein, heute Abend an seiner Tafel zu speisen.“

Die Brüder bedankten sich mit einem Nicken, bevor sie sich, begleitet von Findaráto und flankiert von den Wächtern, auf den Weg zu Nolofinwes Zelt machten. Während sie das Lager durchquerten, warf man ihnen von allen Seiten feindliche Blicke zu. Doch Maitimo konnte es den Anhängern seines Onkels nicht verdenken. Das Unrecht, das sie ihnen angetan hatten, war zu schwerwiegend, als dass es jemals wieder gut gemacht werden konnte.

Ein Gewirr von Stimmen schallte ihnen entgegen, als sie sich schließlich dem Eingang des großen Zeltes näherten, in dem Nolofinwe derzeit lebte.

Die Brüder blieben stehen und Makalaure warf Maitimo einen fragenden Blick zu.

Bist du bereit?

Maitimo nahm die Hand von der Schulter seines Bruders und atmete tief durch. Makalaure würde nicht gutheißen, was er seinem Onkel zu sagen hatte, und seine restlichen Brüder noch viel weniger. Doch er wusste, dass es die richtige Entscheidung war, und dass die kaputte Beziehung zwischen ihnen und Nolofinwe auf andere Weise nicht wieder hergestellt werden konnte.

Und so straffte er sich schließlich und nickte.

Ich bin bereit.

Gemeinsam betraten sie das Zelt.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück