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The Heart Collector

von

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Kapitel 1: Busfahrt mit Höhen und Tiefen

Das rosahaarige Mädchen am Straßenrand seufzte resigniert, während sie ihren geliebten, mehrlagigen Tüllrock zwischen die Finger nahm und ihn notdürftig in die Länge zog.
 

Es war Montagmorgen, 7. 15 Uhr nach der Europäischen Zeitrechnung und für diese Jahreszeit, erschreckend frisch und nass. Der Wind zog heulend durch die Ritzen der Häuser und trieb ein paar einsame Blütenblätter über den grauen Asphaltboden, bis sie schließlich in der Abflussrinne landeten und dort liegen blieben. Auch der Himmel war noch grau, wolkenverhangen und die Sonne ließ erst recht auf sich warten. Ihr fehlen, gab den müden Menschen auf der Erde noch einen zusätzlichen Schlag in die Magengrube.
 

Ach...Was war das nur für ein beschissener Wochenstart!?
 

„Ich hasse Montage...“ Grummelnd begann das Mädchen nun auch an ihrem Oberteil zu zupfen und bemerkte dabei gar nicht, die neugierigen Gesichter der anderen Schüler, die mit ihr zusammen an der Haltestelle standen und auf den Schulbus warteten.
 

„In 3 Wochen ist der offizielle Sommerbeginn... und es fühlte sich so an, als würde der Herbst kommen...“
 

Maxime zog einen Schmollmund und warf einen flüchtigen Blick auf das kleine, mit Glitzersteinen verzierte Handy in ihrer Hand.
 

Aber der Bildschirm zeigte weder die Benachrichtigung eines Anrufes an, noch die, einer erhaltenden Kurzmitteilung. Sogar WhatsApp schwieg an diesem Morgen beharrlich! Und dabei hatte sie Raphael gestern Abend doch noch einmal deutlich darauf hingewiesen, dass sie heute in der ersten Unterrichtsstunde den Geschichtstest schrieben, und er auf keinen Fall verschlafen dürfte, wenn er nicht grade mit einer Sechs auf dem Zeugnis am Ende des Halbjahres die 9. Klasse abschließen wollte... Normalerweise schickte er ihr nämlich immer einen Guten Morgen-Gruß.
 

Das war doch... Arg!... wieder so Typisch Raphael! Am liebsten würde Maxime gleichzeitig anfangen zu weinen und zu lachen, wenn sie an ihren Klassenkameraden und zugleich besten Freund dachte.
 

Gab es überhaupt EINEN EINZIGEN Tag an dem bei Raphael alles glatt lief? Einen Tag, an dem er nicht verschlief, zu spät kam, sein Frühstück vergaß, oder wie ein hysterisch, kreischendes Fangirl über den Pausenhof rannte um die gegenüberliegende Tankstelle zu erreichen, und seine Drogen in Form von Zigaretten zu kaufen?
 

Bis jetzt hatte Maxime so was noch nie erlebt.
 

Na gut... Wahrheitsgemäß musste sie zugeben, dass sie sich mit ihren Verhalten in den letzten Jahren auch nicht besser gemacht hatte.

Immerhin versuchte Maxime seit knapp 3 Monaten ihrer Schule und dem gesamten Lehrpersonal des Gymnasiums weiß zu machen, dass sie WIRKLICH ein Mädchen war und kein Junge mit speziellen Neigungen.
 

Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst unterdrückte Maxime ein weiteres Seufzen; richtig erkannt. Biologisch betrachtet war Maxime nämlich gar keine SIE und auch kein Mädchen, sondern seit Geburt an ein ER und ein Mann! Ein Typ, der an sich nichts gegen seinen männlichen Körper ein zuwenden hatte, aber hin und wieder gerne in Frauenkleider schlüpfte und mit knallrot geschminkten Lippen, sowieso gefälschter Gucci-Tasche über die Straße ließ und der ganzen Stadt erzählte, das er Vaginalzäpfen zum Schreien fand.
 

Maxime liebte Sarkasmus und Ironie nun mal fast so sehr, wie Seidenunterwäsche und Rüschenkleider... Ohne sie konnte er einfach nicht leben.

Zu seinem Glück mochte man meinen, denn ohne seinen Humor hätte er sein „Hobby“ vielleicht schon lange aufgeben müssen, denn Menschen die etwas gegen Transvestiten oder Homosexuelle hatten, gab es leider immer noch zu Genüge. Vor allem in der Schule stellten sie ein hartnäckiges Problem für ihn dar. Aber Gottseindank war er nicht alleine denn Raphael stand immer an seiner Seite und zu zweit, trauten sich diese Schüler sowieso nicht so viel, als wenn sie einzeln gewesen wären.
 

Obwohl Maxime nach außen hin gerne die coole Socke spielte, nahmen ihn die Angriffe der Mitschüler immer wieder aufs Neue mit. Bis jetzt hatte er Raphael zwar noch nichts von seinem Geheimnis erzählt, aber wenn sein bester Freund in bestimmten Situationen seine Ringe auszog und einen frechen Typen der sie beleidigt hatte, mit einen geraden Fauststoß zu Boden streckte, dann wusste Raphael sehr wohl was Sache war...
 

Die Tatsache, dass Maxime gerne Frauenklamotten trug, war aber nicht das einzige Geständnis was er im Laufe seines Lebens ablegen sollte. Denn wie es das Schicksal so wollte, fühlte er sich der seit der Pubertät auch noch zu dem eignen Geschlecht hingezogen. Bis zu seinem dreizehnten Geburtstag vor 2 Jahren war er noch der Meinung gewesen, dass er nur auf Frauen stand, aber ein kleines, intimes Ereignis in der Jungenumkleide mit einen netten Klassenkameraden hatte seine gesamtes Weltbild auf den Kopf gestellt. Damit erfüllte er so ziemlich das Klischee der schwulen Tunte.
 

Demnach konnte man Maxime ganz gewiss nicht als herkömmlichen Teenager bezeichnen. Andere Jungen schminken sich nicht, fanden Katzenbabys süß und bekamen eine mittelschwere Panikattacke, wenn einer ihrer Fingernägel abbrach - Maxime schon!
 

Zu welcher Gruppierung man Raphael zählen sollte, wusste allerdings niemand so genau; Er trug zwar keine feminine Kleidung wie Maxime, aber für einen „normalen“ Mann hatte er eindeutig zu lange Haare und in Sachen Schminken und Tratschen konnte er locker mit ihren Klassenkameradinnen mithalten. Und das sollte bei der Klasse schon etwas heißen.
 

Die Scheinwerferlichter von vorbeifahrenden Autos malten Schattenspiele auf die feuchte Straße und in den zirkulierenden Zigarettenqualm in der Luft. Sie schaufeln sich ihr eigenes Grab, dachte Maxime die Mundwinkel bis zum Boden hängend und schaute dabei flüchtig über die Schulter nach hinten.
 

Da standen sie alle. Mitschüler, Klassenkameraden, Fremde, Berufspendler und beobachteten ihn im Stillen. Da Maxime sein Hobby nicht erst seit gestern ausübte, hatte er sich schon lange an die neugierigen Blicke der Leute gewöhnt, und solange es nur bei Blicken blieb, störte ihn das auch gar nicht. Aber wenn sie anfingen ihn zu ärgern oder eine flapsige Bemerkung machten, wuchs der Groll gegen die vermeidlichen Hasser.
 

Trotzdem konnte er seine Wut meistens zügeln und die negative Situation verlassen, ohne dass es zu einem Streit kam. Im Gegensatz zu seinem besten Freund, verabscheute Maxime nämlich körperliche Gewalt. Wenn es dann letzten Endes doch Konflikte gab und die Lage zu eskalieren drohte, kämpfte er lieber mit seinem Verstand, anstatt mit seinen Muskeln. Das ganze aggressive Getue der heutigen Jugend war ihm zuwider, und passte auch gar nicht zu seiner Lebensphilosophie. Und mit dieser Einstellung, hatte Maxime bisher schon die eine oder andere Schlacht für sich entschieden.
 

Vielleicht sollten sich auch noch ein paar andere Leute seine Strategie abgucken... Gewalt führte zu Gewalt. Es war einfach ein Teufelskreis, dem die wenigstens Menschen entkommen konnten.
 

Mit einen leisen Zischen wendete Maxime den Kopf ab und checkte noch einmal sein Handy auf neue Nachrichten, doch leider meldete sich keiner bei ihm: Weder Raphael und ebenso keine Scarlett...
 

Mist... Dann hatte der Typ also wirklich verschlafen! Normalerweise wäre er nämlich schon lange hier gewesen und nun würde es wirklich eng für ihn werden, da der Bus meistens zu früh kam, als zu spät. Also konnte Maxime nur eines tun um das nahende Chaos zu verhindern...
 

... Er suchte in seiner Kontaktliste die Handynummer seines besten Freundes raus und drückte langsam die grüne Taste, während er das Gerät an sein Ohr führte. Ein paar Sekunden hörte Maxime nur das übliche Tuten auf dem anderen Ende der Leitung, dann klickte es plötzlich leise und ein raue Stimme löste das Geräusch ab.
 

„Ja...“, brummte sie noch schlaftrunken in den Hörer.
 

„Wo bist du?“, fragte Maxime sofort und schnaufte genervt. „Liegst du immer noch im Bett? Guck mal auf die Uhr, wie spät es schon ist!“
 

„Hä? Was ist los? Steckst du in Schwierigkeiten?“, murmelte die Person leise und gähnte kurz.
 

Maxime schmunzelte. Er war es schon gewohnt das Raphael mal gerne die eine oder andere Frage übersprang: „Ich nicht. Du aber bald.“
 

„Warum? Warte mal...“ Nun klang Raphael doch ein wenig skeptisch und Maxime hörte im Hintergrund etwas quietschten, wahrscheinlich die Matratzen unter seinem Körper, und dann war es plötzlich leichenstill. „Scheiße...“, zischte er nur als er den leisen Fluch über die Lippen stieß. „Oh Scheiße... Ich muss schon wieder den Wecker überhört haben, Fuck ey! Ich hasse dieses beschissene Teil!“
 

Maxime legte die Stirn in Falten und betrachtete den Verkehr aus dem Augenwinkel heraus. „Jetzt schieb´ doch nicht die Schuld auf die Technik... Dein Wecker kann auch nichts dafür, dass du so tief wie ein Stein schläfst. Wenn du dich ein bisschen beeilst, dann bekommst du noch den nächsten Bus und schaffst es fast noch rechtzeitig zum Unterricht. Also, raus dem Bett und geh dich anziehen.“
 

„Heh! Ich bin schon lange im Bad, du Klugscheißer!“, murmelte Raphael gehetzt und merklich aus der Puste. „Warum hast du mich nicht früher anrufen?! Jetzt kann ich gucken wie ich in 15 Minuten fertig werde. Danke aber auch!“
 

„Woher soll ich wissen, das du schon wieder verschlafen hast?“ Maxime verdrehte die Augen und musste sich doch ein kleines grinsen verkneifen. Raphael war immer so schön gereizt wenn er verschlafen hatte und nicht wie sonst immer rumtrödeln konnte. „Bist du wieder die ganze Nacht aufgeblieben und hast gezockt, oder irgendwelche Filme geschaut?“
 

„Gesokt.“, lautete Raphaels schnelle, aber etwas undeutlich gesprochene Antwort. „Sorry – isch putze miir grade die Zähne.“ Danach ertönte das Geräusch von fließenden Wasser und für einen Moment lang, konnte Maxime nichts mehr von seinen besten Freund hören.
 

„Hat es sich denn wenigstens gelohnt?“, fragte der Rosahaarige nach ein paar Sekunden und machte geistesgegenwärtig einen Schritt zurück, da grade eine Junge und ein Mädchen mit den Fahrrad an ihm vorbei schossen. Er konnte sehen, wie der Junge breit grinste als der Zugwind Maximes Faltenrock anhob, aber dieser war schneller, und drückte den Stoff mit der Hand zurück nach unten. Schließlich wollte er nicht verantworten müssen, dass der arme Kerl auf dem Rad den Schock seines Lebens bekam und vor lauter Panik gegen den nächstens besten Laternenpfeiler knallte.
 

Da begann Raphael zu lachen – natürlich ohne Mundinhalt - und summte leise vor sich hin. „Und ob! Mein Sumpex hat die Top 4 volle Kanne in den Boden gerammt. Gegen mein Team hatten diese Loser nicht den Hauch einer Chance.“
 

„Ah, Cool! Dann hast du also an Pokemon-Rubin weiter gespielt? Jetzt bist du aber bald am Schluss angekommen, oder?“, fragte Maxime heiter.
 

Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie am Samstag vor zwei Wochen bei Raphael zuhause aufgeräumt hatten, und dabei ganz zufällig auf eine alte Kiste stießen, in der sich Raphaels alter, ziemlich ramponierter Game Boy Advance SP befand, sowie mehrere Spiele. Darunter war dann auch die Rubine Edition von dem Spielehit- Pokemon gewesen. Und die spielte sein bester Freund nun schon seit 14 Tagen wie ein Irrer. Maxime wusste aber nicht so genau, ob ihm die Edition jetzt wirklich Spaß machte, oder ob Raphael einfach nur beweisen wollte, dass er es auch nach so vielen Jahren Pause immer noch drauf hatte. Irgendwie tippte Maxime auf die letztere Variante.
 

„Ja genau, und ich habe mir auf der Siegesstraße sogar ein Flunkifer gefangen. Ich liebe dieses Pokemon einfach! Aber da ich die Top 4 nun besiegt habe, ist jetzt der Champ an der Reihe, und seine Stahl-Pokemon haben mir bis jetzt immer den Arsch aufgerissen. Alter, vor allem dieses Metagross macht mich fertig. Kannst du mir mal sagen, warum solche Overkills immer am Ende dabei sein müssen? In der Roten Edition war es dieser Gary und sein Turtok, in der silbernen Edition kam dann Siegfried mit seinen gefühlten 5000 Dragoranen um die Ecke, und jetzt ist es fucking Troy!“
 

„Hey!“, zischte Maxime und verengte seine Augen zu kleinen Schlitzen, während er die Hand für eine Drohgebärde in die Luft warf. „Nichts gegen Siegfried, ja! Der Typ war der heißeste Kerl im ganzen Spielverlauf. Außerdem hatte er zwei Dragonir im Team, keine zwei Dragoran, du hohle Nuss! Und zu deiner jetzigen Lage... ich habe dir doch von Anfang an gesagt, das es besser ist, wenn du Flemmli als Starter-Pokemon nimmst, anstatt Hydropi. Mit einem so starken Feuer-Pokemon im Team wie Lohgock würde dir so ein Gegner wie Troy keine Angst machen.“
 

„Oh Mann. Du und dein Siegfried... Schade das du ihn damals nicht auf ein Date einladen konntest, huh? Dann hättet ihr euch in der Siegeshalle zur Feier des Tages gegenseitig die Pokeflöte blasen können.“, murmelte Raphael sarkastisch und Maxime konnte sein gemeines, überhebliches Grinsen genau vor seinem geistigem Auge sehen. Errötend knabberte er an seiner Unterlippe. Ja, der Camp Siegfried aus der den früheren Pokemon-Spielen war für Maxime schon ein heikles Thema. Es wäre gelogen wenn er abstritt, dass er den rothaarigen Trainer damals nicht sehr attraktiv gefunden hatte.
 

„Und was willst du schon mit Flemmli groß anfangen?“ Raphael stöhnte genervt. „Das ist noch nur was für Mädchen, dieses kleine Hühnchen hat doch nichts auf den Kasten. Im Vergleich zu dem Küken da, war Glumanda aus der ersten Generation ein richtiges Phänomen – und wenn es dir da nicht schon den Kopf abgerissen hat, dann hat es spätestens Glurak getan. Junge, DAS war noch ein Feuerpokemon mit Stil! Dagegen können die neueren Pokemon wie Feuerigel und Flemmli aber echt einpacken. Für mich gibt es kein besseres Pokemon als Glurak.“, führte er seine Ansprache fort und auf seiner Seite der Leitung wurde es plötzlich ziemlich Laut, da er grade den Föhn einschaltete.
 

„Scheiße nein, was redest du da für einen Unsinn?!“ Fluchend rammte Maxime seinen Fuß gegen einen Stein und schoss das unschuldige, arme Ding wie eine Pistolenkugel einmal quer über die Straße. Glücklicherweise fuhr in diesem Moment kein Auto an ihm vorbei, ansonsten hätte es ziemlich hässlich für ihn ausgehen können. „Feuerigel und Flemmli finde ich grade noch cool. Alle Pokemon die danach kamen sind Scheiße, aber über die zweite und dritte Generation kann man wirklich nicht meckern. Du hast keinen Geschmack! Auf keinster Weise!“
 

„Alter!“, knurrte Raphael in den Hörer, aber dann seufzte er plötzlich leise und schnalzte mit der Zunge. „Maxime? Weißt du was? Wir sind voll die Freaks. Es ist noch nicht mal 8 Uhr und schon haben wir nichts besser zu tun, als über Pokemon zu diskutieren. Was soll das bloß geben, wenn wir uns nachher in der Schule sehen?“
 

„Wahrscheinlich reden wir dann über Dragon Ball. Oder über Detektiv Conan.“ Auch Maxime musste nun seufzen und schielte kurz auf seine Armbanduhr. Huch, es waren ja schon wieder 8 Minuten vergangen! Die Zeit lief und er war gewillt das Raphael sie auch sinnvoll nutze. „Hey. Wie weit bist du? Wenn du den nächsten Bus erwischen möchtest, würde ich jetzt mal so langsam los gegen. Schließlich musst du auch noch ein Stück laufen, bist du die Haltestelle erreicht hast, und dann...“
 

Ein Keuchen entglitt Raphaels Kehle und er verdrehte im Stillem die Augen. „Boor Maxime, nichts für Ungut ja, aber du bist nicht meine Mutter! >Mach dies, mach das. Und das hier ist sowieso Kacke.< Ich bin alt genug und weiß was ich zu tun habe. Ich bin ein ganzes Jahr älter wie du, aber trotzdem hängst du mir ständig wie eine Glucke im Nacken. Das kann doch nicht normal sein, Mann, eigentlich wäre das meine Aufgabe und nicht deine! So langsam kann ich verstehen wieso du schwul geworden bist und Kleider trägst. In dir steckt wohl doch eine echte Frau.“
 

„Ha! Damit könntest du sogar recht haben.“ musste Maxime seinem besten Freund zustimmen und kicherte leicht in sich hinein.
 

Auch wenn es nur die wenigstens glaubten wollten, aber Raphael besaß entgegen seiner manchmal doch recht groben Lebenseinstellung eine große Menge Empathie und behielt in den meisten seiner Aussagen und Ansichten zu bestimmten Situationen recht. Nur war bisher noch niemand auf ihn aufmerksam geworden. Raphael hatte es schon immer verstanden, was er machen sollte, um seine wahre Natur unter einer dicken Schale aus Sorglosigkeit und dummen Sprüchen zu verbergen.
 

Doch leider war Raphael viel zu faul um seine Intelligenz in den richtigen Momenten einzusetzen, was sich wiederum besonders stark auf seine schulischen Leistungen auswirkte.
 

„Aber bei so einen Chaoten wie dir, ist so ein kleiner Mutterkomplex doch was ganz Nützliches.“ Maxime lächelte bei diesen Worten liebevoll und wenn Raphael wüsste, was er so über ihn dachte, würde er ihn das bis zu seinem letzten Atemzug unter die Nase reiben. Mit Sicherheit. Ach, der arme Raphael hatte doch keinen blassen Schlimmer was er mit seiner Lernfaulheit alles kaputt machte – und darum hatte es sich Maxime auch zur Lebensaufgabe gemacht, den Kerl mit beiden Füßen durch das Gymnasium zu treten. „Ohne mich, hättest du schon viele wichtigen Dinge in deinem Leben vergeigt oder vergessen! Sei doch lieber froh das du jemanden hast, der sich so gut um dich kümmert!“
 

„Das bin ich doch auch, Schätzchen. Ich weiß ja das du es im Endeffekt nur gut mit mir meinst.“
 

Ein leichtes Frösteln konnte Maxime bei Raphaels Satz nicht unterdrückten, dafür war ein Lob aus seinem Mund zu unwirklich, und viel zu leicht daher gesagt. Wenn Raphael jemanden seinen Respekt entgegen bringen wollte, dann zeigte er dies mit Taten und nur selten mit Worten.
 

„Ist klar. Fast hätte ich dir dein Lob abgekauft, aber nur fast.“ Summend schaute Maxime die Straße runter, aber er konnte seinen Schulbus weder sehen, noch hören. Also konnte er noch ein paar Minuten telefonieren, bevor das Geplänkel im Bus wieder los ging und sich alle Schüler auf die wenigen Sitzplätze stürzten. „Na. Sagst du mir jetzt ob du endlich fertig bist?“
 

„Ja ja, immer mit der Ruhe. Ich bin fast soweit und stehe theoretisch gesehen schon mit einem Fuß im Treppenhaus.“, erwiderte Raphael kühl. Er schenkte seinem Spiegelbild ein letztens, strahlendes Lächelns und ignorierte dabei die Tatsache, dass es nicht bis zu seinen Augen reichte. Ja, ein strahlendes Lächeln war schon immer seine Geheimwaffe gewesen. Solange er nur lächelte und einen auf heile Welt machte, konnte Raphael selbst den Scharfsinnigsten unter den Menschen ein Schnippchen schlagen. Ach ja... was waren diese Kreaturen doch einfach zu blenden. Einer so feinfühligen Person wie er es war, wäre so ein wichtiges Detail wie ein falsches Lächeln sofort ausgefallen.
 

„Ich bin jetzt soweit.“, sagte Raphael als er nichts mehr von Maxime hörte und schnappte sich im Vorbeigehen seine Jacke. „ Alles klar, ich lege jetzt auf und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle, okay? Wir sehen uns später in der Schule und danke für den Arschtritt, Kleiner.“
 

„Schon gut, schon gut. Gib einfach Gas und sieh zu das du endlich aus dem Haus kommst.“, meinte Maxime ungeduldig und machte mit der Hand eine wegwerfende Geste, auch wenn ihm bewusst war, das Raphael diese durch den Hörer gar nicht sehen konnte. „Mein Bus müsste jetzt auch jeden Moment kommen... also, bis gleich.“
 

„Ja, bis gleich.“
 

Maxime wollte das Gespräch grade beenden, doch ein lautes „Maxime! Warte mal.“ ließ ihn in seiner Bewegung inne halten. Blinzelnd schaute er auf seine Hand und führte das Handy dann zurück zu seinem Ohr. „Ja? Was ist noch?“, fragte er verwundert, aufgeschreckt, von dem alarmierten Klang in der Stimme seines besten Freundes.
 

„Ich...“, Raphael öffnete den Mund ein paar Mal, doch kein Ton verließ seine Lippen. Er wusste nicht genau was er sagen sollte, aber irgendwie hatte er gerade das dringende Bedürfnis bei Maxime zu sein oder zumindest nicht zu wollen, dass er auflegte. Irgendwas lag in der Luft und dieses Irgendwas machte ihn schrecklich nervös.
 

„Raphael?“ Die Verwunderung konnte man Maxime genau anhören. Er zog die Augenbrauen zusammen und lauschte in die Stille hinein. Aber sein Gesprächspartner schwieg wie ein Grab. „Hey, was wolltest du sagen? Ich, irgendwas?“
 

„Ich will dass du auf dich aufpasst!“, sagte Raphael plötzlich energisch, die Stimme ernst und gebieterisch. Ihm entwich in Gedanken daran ein dunkles Knurren. Er hasste es wenn er Maxime Befehle erteilen musste, aber so war es nun einmal. Sein Bauchgefühl hatte Raphael noch nie getäuscht, und wenn er das Gefühl bekam, Maxime vor etwas warnen zu müssen dann entpuppte sich dieses Gefühl hinterher immer als goldrichtig. „Versprich mir, das du im Bus keine Dummheiten machst. Und wenn dich wieder irgend so ein Bastard blöd anguckt oder anlabert, dann machst du ein Foto von ihm und zeigst es mir später in der Schule.“
 

„Uh, da ist aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden. Kommen da etwa die Vaterkomplexe in dir hoch?“ Belustigt grinste Maxime und versuchte möglichst kühl zu klingen. Aber in Wahrheit verursachte Raphaels jähe Warnung ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch. Die Angst, dass sein bester Freund wie schon so oft die seltene Gabe besaß kritische Situationen meilenweit gegen den Wind zu riechen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich fahre nur 20 Minuten mit dem Bus. Was soll denn da schon viel passieren?“
 

„Oh oh... Sag das nicht, Maxime.“, warnte Raphael zähneknirschend. „Das sind Sätze, worauf in Filmen immer irgendetwas Schlimmes mit den betreffenden Personen geschieht.“
 

„Dann guckst du eindeutig zu viele Filme.“ Knurrend schüttelte Maxime seinen Kopf und versuchte so die lächerliche Panik los zu werden. Auch wenn Raphaels Eingebungen oft erschreckend genau eintrafen, war das noch lange kein Grund, um die Nerven zu verlieren! „Aber ja, ich passe schon auf das mich niemand im Bus umbringt. Dir zu liebe. Also kannst du ganz beruhigt sein.“
 

Raphael schnaubte, doch diesmal klang es nicht wie ein unterdrücktes Lachen, sondern eher wie ein... ein... ein Fauchen? „Das will ich dir auch nur raten.“, meinte er eisig und genoss das Gefühl der inneren Befriedigung, als er hörte wie Maxime für eine Sekunde erschrocken die Luft anhielt. Fünf Jahre auf diesem Gymnasium, wo Mobbing und ein zwielichtiges Geschwistergespann den Ton vorgaben, mussten schließlich für etwas gut sein und wenn nur um sich abzuschauen wie solche Leute ihren guten, beziehungsweise schlechten, Ruf behielten.
 

„Na, da sind aber mehr Gefühle im Spiel als nur harmlose Vaterkomplexe.“, sagte Maxime in einem Ton, als würde er Raphaels seltsamen Stimmungswandel auf das genauste verstehen. Das tat er aber nicht, doch das musste wiederum keiner wissen.
 

Ein vor Empörung getränktes Seufzen, konnte Raphael in diesem Moment nur schwer zurück halten. Natürlich wollte er Maxime mit seinem Gefühl nicht verängstigen, aber er verlangte dennoch dass diese Ahnung ernst genommen wurde. „Nimm es einfach an, Maxime. Irgendwie habe ich ein ganz komisches Gefühl im Magen, wenn ich daran denke, dass du gleich alleine im Bus sitzt. Sei einfach ein bisschen vorsichtiger als sonst.“
 

„Vorsicht ist mein zweiter Vorname.“, verkündete Maxime trocken und schnitt eine kleine Grimasse. Darin war er schließlich Weltmeister, an vorsichtig sein musste ihn niemand erinnern. „Also, war es das nun mit deinem Kopf-Kino, oder möchtest du mir noch etwas sagen? So langsam würde ich nämlich mal gerne auflegen. Sonst ist mein Handyakku in der Schule nachher leer.“
 

Raphael gab ein gequältes Schnauben von sich. „Wie rührend... Ich glaube, du hast grade einen neuen Höhepunkt des Charmes erreicht. Mein bester Freund scheint ja unglaublich viel Wert auf meine Bedenken zu legen, wenn er mich so schnell loswerden möchte. Ich bin zutiefst beeindruckt.“
 

Das betretene Schweigen, das daraufhin in der Luft hing, griff mit eiskalten Fingern nach Maximes Herz und quetschte es erbarmungslos zusammen. Das aufkeimende Gefühl der Schuld brachte ihn rasch in die Wirklichkeit zurück. „Tut mir leid, Raphael, so war das nicht gemeint. Natürlich finde ich deine Ratschläge wichtig, und würde niemals an ihnen Zweifeln. Das warf nur so daher gesagt.“
 

„Hoffentlich meinst du es auch wirklich so, wie du es grade gesagt hast.“, stellte Raphael die Situation klar und zog wenig elegant seine Nase hoch. „Gut, dann war es das nun von meiner Seite aus. Ich gehe jetzt los und gucke dass ich den zweiten Bus bekomme. Tschüss Kleiner.“
 

„Tschüss Großer.“ erwiderte Maxime leise und mit diesen letzten Worten legte er schließlich auf.
 

Für einen kurzen Augenblick behielt er das Handy noch in seiner Hand, starrte es an, und stopfte das Gerät dann es zurück in seine Brusttasche. Leider besaß sein Rock keine Seitenfächer und die seiner Jacke waren zu klein für große Gegenstände, deshalb musste er es in die Tasche seiner Bluse stecken. Das sah seiner Meinung nach zwar ziemlich bescheuert aus, aber es bildete nun mal das Mittel der Wahl.
 

Nun, nachdem Maxime seine Ruhe hatte, erschien ihm Raphaels Aussage immer absurder. Warum beunruhigte es seinen Freund so sehr, ihn alleine zu lassen? Eigentlich war Raphael selbst derjenige, der sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte, weil er sein Temperament nicht in den Griff bekam, sobald jemand Fremdes sie aufgrund ihrer Erscheinung beleidigte. Maxime hingegen behielt in solchen Stresssituationen immer einen kühlen Kopf. Er war immer ruhig, er konnte die meisten Konflikte mit ein paar Simplen Worten lösen. Und Raphael irgendwie nicht. Bei ihm flogen sofort die Fäuste wenn es ungemütlich wurde.
 

Es war ja nicht so, dass sein bester Freund generell zu Gewalt neigte, aber wenn es etwas gab, was Raphael so richtig reizte, dann waren es dumme Kommentare von noch dümmeren Leuten. Ansonsten gehörte Raphael wirklich nicht zu den Menschen die sich gerne prügeln. Die meiste Zeit war er ausgeglichen, verstand Spaß und konnte ziemlich schlagfertig sein. Aber Gewalt? Nein, darauf griff er erst in Ausnahmesituationen zurück.
 

Auf der anderen Straßenseite wurde es plötzlich ziemlich unruhig und die Jugendlichen die dort standen um nicht Mittel im Trubel zu sein, rannten plötzlich über die Straße. Maxime musste nicht erst den Kopf drehen um zu wissen, dass der Schulbus grade in Sichtweite gekommen war und ihre Haltestelle ansteuerte. Automatisch machte er einen kleinen Schritt nach vorne, strich eine Haarsträhne aus seine Augen und wartete bis das Gefährt am Bürgersteig anhielt.
 

Unruhig wippte er in einen undefinierbaren Rhythmus von einen Fuß auf den anderen, während er die Eingangstüre anstarrte und hoffte, dass sie bald aufschwang. Da der Bus sehr günstig zum Stehen gekommen war, stand er direkt vor der Türe und mit ein bisschen Glück konnte er für die kommende Fahrt sogar einen Sitzplatz ergattern.
 

Maxim seufzte zum wiederholten Mal und fuhr mit den Handrücken über seine Wange, bevor sich blaue Augen öffneten und ein selbstsicheres Lächeln auf seinem Mund erschien. Er konnte ein angenehmes Kribbeln auf der Haut spüren, als die warmen Abgase seine nackten Beine streichelten. Kurze Zeit später schwangen die Türen des Busses auf.
 

Jetzt konnte der Kampf beginnen! Er verdrängte Raphaels Warnung und ging in Angriffsstellung.
 

Maxime schultere seine Umhängetasche und drängelte sich geschwind aus der Menschentraube heraus und entdeckte ganz wie erhofft einen Sitzplatz in der Mitte. Sofort eilte er zu dem Sitz, doch plötzlich stieß er auf dem Gang mit jemanden zusammen und ein kurzes Poltern ließ ihn erschrocken innehalten.
 

„Oh!“, entfloh es Maxime vor Überraschung und er machte rein aus Reflex eine rasche Handbewegung, um nach den Arm des Jungen oder des Mädchen zugreifen, und ihn oder sie notfalls vor einem Sturz zu bewahren. Aber entgegen aller Erwartungen stand die Person so fest wie eine Statue auf den Beinen.
 

„Hey! Hast du deine Brille vergessen, oder was?!“, zischte der Junge, mit dem Maxime zusammen gestoßen war, jedoch unfreundlich und schlug seine Hand zur Seite. Der Typ senkte seinen Kopf und strich sich eine pechschwarze Haarsträhne aus den funkelnden Augen, während er sein Gegenüber von oben bis unten musterte. Frostig zog er seine Augenbrauen zusammen. „... wenn ich mich nicht irre, und das tue ich selten, dann bekommst du gleich ein ernsthaftes Problem, Mädchen.“
 

Unsicher machte Maxime einen Schritt nach hinten und tat es dem Fremden gleich, indem er den Blick flüchtig über ihn fahren ließ.

Der Dunkelhaarige Junge war sicher ein ganzes Stückchen Älter und überragte ihn um mindestens 20 Zentimeter.

Er wirkte athletisch und besaß einen beneidenswerten Körperbau, mit dem er sich schamlos in jedem Modelmagazin zeigen konnte. Einfach nur perfekt. Genauso wie sein Gesicht. Dort gab es keine Pickel, keine Rötungen, keine Narben, nur makellose Eleganz. Für sein Alter war der Junge groß gewachsen, schlank und hatte wie er erkennen konnte, einen sehr blassen Teint.
 

Für Maxime sah die Haut jedoch eindeutig zu blass aus und die Augen, welche ihn immer noch kühl betrachteten, konnten auch keinen gewöhnlichen Ursprung haben. Sie wiesen eine unnatürlich spitze Form auf, und waren zudem auch noch zweifarbig.
 

Ugh, hieß das jetzt Willkommen in der Freakshow oder was?
 

„Entschuldigung...“, nuschelte Maxime also und senkte schnell seinen Blick auf die Schuhspitzen.
 

Zwar war er den Männern in seiner Altersklasse rein körperlich betrachtet weit unterlegen - klardefinierte Muskeln sahen seiner Meinung nach verboten in Rüschenkleider aus - aber Maximes scharfes Mundwerk hatte ihm schon öfters den Hals gerettet. Doch heute konnte er nichts von seiner vermeintlichen Schlagfertigkeit spüren. In Wahrheit, war ihm beim Anblick des dunkelhaarigen Adonis sogar das Herz in die Hose gerutscht. Und dabei wurde er das komische Gefühl nicht los, dass er ihn von irgendwo her kannte. „Ich habe dich nicht gesehen, tut mir wirklich leid.“
 

„Ja, das habe ich auch bemerkt!“, fuhr ihn der junge Mann schon wieder an und perlweiße Zähne funkelten wie kleine Speere im Licht auf.
 

Die mühsam gespielte Selbstsicherheit begann in großen Stücken von Maxime abzubröckeln und nur ein schmächtiger, verängstigter Junge blieb von ihm übrig der nicht genau wusste, wohin er zuerst schauen sollte. Auf den Boden, oder in das Gesicht des Typen? Am besten machte er sie sofort zu und sah gar nichts mehr!
 

„Du kannst froh sein, das ich mein Handy nicht fallen gelassen habe. Das hätte Konsequenzen gegeben, das schwöre ich dir so wahr wie ich hier stehe.“ zischte der ältere Schüler weiter und starrte Maxime hasserfüllt an. „Und jetzt sieh zu das du Land gewinnst und mir aus dem Weg gehst. Alter, was gehen mir diese frechen Blagen doch auf den Sack! Fuck Montag, ey! Ich merke schon, das wird heute nicht mein Tag...“
 

Schnell sprang Maxime zur Seite und der Schüler rauschte wie ein Tornado an ihm vorbei. Zurück blieb nur ein verstörter Junge in Tüllrock und Bluse, der nach wie vor ein wenig unter Schock stand und der lebenden Naturgewalt verwirrt hinterher schaute. Abrupt legte er den Kopf in den Nacken, seine blauen Augen waren groß und weit vor lauter Konzentration geworden. Irgendwo hatte er diesen Typen doch schon mal gesehen...
 

Aber er wusste nicht mehr Wo!
 

Seine Schultern spannten sich an und auch sein restlicher Körper versteifte augenblicklich. Die Ahnung, das der Macho seine Drohung vorhin ernst meinte, erschien Maxime noch nicht einmal so abwegig. Wenn er Pech hatte, würde ihn der Junge in Zukunft auch noch auf den Kieker haben. Und so wie er ihn angeschnauzt hatte, schien er es wohl gewohnt zu sein die Macht zu haben, und seinen Willen zubekommen.
 

Doch...
 

Es war egal was der Junge für eine arrogante und ungehobelte Aura ausstrahlen mochte, es wäre grotesk ihm ins Gesicht zu blicken, ohne wenigstens einmal an das Wort >schön< zudenken.
 

Es dauerte einen Augenblick bis Maxime seinen Körper wieder unter Kontrolle hatte und den Trancezustand abschütteln konnte. Als er nochmal nach den Schwarzhaarigen schauen wollte, bemerkte er, dass der Junge in der letzten Reihe Platz genommen hatte und mit einigen Mädchen aus der zwölften Klasse beschäftigt war. An die Art wie sie ihn anschauten, wurde Maxime plötzlich bewusst, dass er offenbar zu den beliebten und coolen Schülern gehörte, denn die Mädchen sahen auch aus als wären sie angehende Topmodels. Dabei meinte Maxime diese Bezeichnung noch nicht einmal negativ.
 

Ihre Augen waren dick mit schwarzen Kajal umrandet, die Lippen der Meisten in ein sattes Rot getaucht und irgendwie erinnert Maxime dieses Make-up an sein Eigenes.
 

Er fand die Mädchen wirklich hübsch, aber als Homosexueller konnte er ihrem Charme einfach nichts abgewinnen. Außerdem forderte der freche Kerl neben ihnen sowieso Maximes Hauptaugenmerk ein. Im Vergleich zu IHM, konnten die Mädels wahrhaftig einpacken. Vor allem seine überhebliche Art - oder grade eben seine überhebliche Art- hatte es dem 15-Jährigen Jungen total angetan.
 

Maxime mochte schon immer dominante Männer und dieses Exemplar schien ein ganz besonderer Fang zu sein! Normalerweise geriet er für niemanden so leicht ins Schwärmen, aber der Typ bildete die große Ausnahme.
 

Er besaß einfach diese außergewöhnliche Ausstrahlung, die nur wenigen Männern anhaftet: Ein Blick in seine glühenden Augen konnte das Herz jeder Frau schmelzen, ein einziges Wort aus seinem göttlichen Mund genügte, und schon würde ihm die halbe Welt zu Füßen liegen. War das das Phänomen was man zu beschrieben versuchte, wenn man von dem Wort Charisma sprach? Diese kleine, aber entscheidende Prise verlieh dem Jungen das gewisse Etwas.
 

Mit diesen Gedanken im Kopf ging er zu dem „erkämpften“ Sitzplatz und ließ sich in die dunkelroten Polster des Sessels fallen.
 

Bah, was war ihm plötzlich elend zu Mute! Sollte dieser blöde Raphael letzten Endes doch recht behalten und Maxime Schwierigkeiten bekommen? Na, das war schon falsch! Er dachte in der Vergangenheitsform, bekommen, dabei er hatte dem Problem schon lange von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Arg, warum wusste er nicht wie dieser unhöfliche Penner hieß? Dann hätte er ihn bei Raphael anschwärzen können...!
 

In dem Moment wo der Knallkopf Maxime angeschaut hatte, fühlte sich sein Innerstes wie Eis an. Als würde eine unsichtbare Macht alles an Wärme aus seiner Seele ziehen und er selbst, sein ganzer Körper, durch ein Becken mit spitzen Nadeln geschliffen werden.
 

Einen Augenblick später spürte Maxime die Vibration des Motors und der Schulbus setzte sich träge in Bewegung.
 

Hmm, Komisch. Aber es passierten trotzdem nicht jeden Tag, dass man einen so attraktiven Mann schon am frühen Morgen begegnete. Die meisten Bekanntschaften knüpfte er sonst erst zu den späten Abendstunden in seiner Lieblings-Diskothek und nicht morgens im Schulbus. Zum Glück hatte ihn der Kerl mit seiner rüden Art aber sofort auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und damit vom Sabbern abgehalten!
 

Automatisch zog Maxime die Unterlippe in seinen Mund und bearbeitete sie nachdenklich mit den Schneidezähnen. Okay, so langsam wurde die Geschichte peinlich. Er himmelte einen fremden Kerl an, der ihn fast über den Haufen gerannt hatte, rüberkam wie das letzte Hetero-Arschloch auf Erden und jetzt wahrscheinlich auch noch schlecht auf ihn zu sprechen war. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen um eine tiefgreifende, seelische Verbindung zu einander aufzubauen.
 

Aber Angst verspürte Maxime trotzdem keine. Auch wenn er auf den ersten Blick wie ein kleiner, schmächtiger Drei-Käse hoch wirkte- als Mann war er nur 165 cm groß- sollte man ihn besser nicht unterschätzen. Wenn er wollte, und erst recht wenn er angepisst war, entwickelte Maxime Bärenkräfte und bekam ordentlich Power in den Armen.
 

Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und sah wie ein kleines, digitales Briefchen auf dem Bildschirm erschienen war, als er die Uhrzeit überprüfen wollte. Huch, dachte Maxime und vertrieb schnell die Gedanken an den Typen in der letzten Reihe aus seinen Kopf.
 

Mit einer simplen Berührung öffnete er den Nachrichten-Speicher und das erste was ihm ins Gesicht sprang, war der Name des Absenders. Scarlett Nemesis. Dann folgte das übliche Gefühl von bleierner Schwere in seinem Magen, was er immer bekam, wenn Scarlett sich überraschenderweise bei ihm meldete.
 

Scarlett war nicht einfach nur ein Mädchen was er kannte oder gerne hatte, sondern seine kalte, spießige Mitbewohnerin, die normalerweise nur ihn Ausnahme-Situationen Kontakt suchte und Maxime ansonsten links liegen ließ. Sie lebten erst seit 11 Wochen zusammen unter einem Dach und das noch nicht einmal freiwillig. Aber Scarlett, wie sowohl auch Maxime hatte eine Sache gemeinsam; beide waren Waisenkinder.
 

Bis vor kurzen hatte er noch in einem gewöhnlichen Kinderheim gelebt und war dort eigentlich auch ziemlich glücklich gewesen, aber eines Tages kam die Dame vom Jugendamt auf ihn zu und fragte, ob er Lust hätte an einem neuen Projekt teilnehmen. Natürlich hatte Maxime Lust darauf, denn zugleich erklärte sie ihm, dass er dabei in eine gestellte Wohnung von der Stadt ziehen dürfte. Und Maxime konnte so glücklich im Waisenhaus sein wie er wollte - eine eigene Wohnung übertrumpfte Alles.
 

Er erinnerte sich noch genau daran, dass er die kommende Nacht vor Aufregung gar nicht schlafen konnte. Maxime war in dieser Nacht so furchtbar nervös gewesen, dass seine Finger einfach nicht aufhören wollten zu zittern. Allerdings sollte ihm die Euphorie schon bald wieder vergehen...
 

Nur zwei Wochen später hatte die Verwaltung alle nötigen Maßnahmen in die Wege geleitet, um das Projekt ins Leben zu rufen. Das Protokoll war geschrieben und abgeschickt, das alte Mehrfamilienhaus am Waldrand gekauft und für gut befunden. Nach gründlicher Prüfung und Abwägung finanzieller und gesellschaftlicher Verhältnisse waren die Ämter zu dem Schluss gekommen, dass das Projekt einen positiven Einfluss auf die jungen Erwachsenen haben würde, und gab dem Leiter des Waisenhauses sein Einverständnis.
 

So, und dann kam der lang ersehnte Tag an dem Maxime endlich seine Koffer packen und den Zimmerschlüssel abgeben konnte...
 

„... noch frei?“
 

Irritiert zuckte Maxime zusammen und riss die Augen auf. Er schien irgendwo zwischen Erinnerung und Sekundenschlaf gependelt zu haben, was auch erklärte, wieso er den blonden Junge erst jetzt wahrnahm, der plötzlich neben dem Sitz stand und ihn fragend anschaute.
 

„Kann ich mich setzen, oder hältst du für jemanden den Platz frei?“ fragte der Junge noch einmal als er keine Reaktion von Maxime bekam und deutete mit einen Nicken auf die pink-schwarze Umhängetasche, welche auf dem freien Sitzplatz lag.
 

Maxim strich sich einige Haarsträhnen aus den Augen und lächelte freundlich. „Kein Problem, setzt dich nur hin. Ich wartete auf niemanden.“
 

Der Junge nickte leicht. „Cool, danke.“ Dann nahm er neben Maxime Platz und blickte etwas verlegen drein. Langsam und unsicher setzte er die Schultasche auf seine Beine , während er Maxim noch ein herzerwärmendes Schmunzeln schenkte. Dieser erwiderte die Geste offenherzig und mit einem Mal ging es ihn ein Stückchen besser. Noch vor wenigen Minuten hatte ihm der Trübsinn geplagt und nun raste sein Herz vor Aufregung.
 

Na, vielleicht würde dieser Montag doch nicht so schlimm werden, wie er bis jetzt angenommen hatte. Plötzlich beschlich Maxim das Gefühl, das er etwas Wichtiges vergessen hatte, aber schnell verwarf er diesen Gedanken wieder.
 

Viel lieber konzentrierte er sich auf den niedlichen, unschuldig wirkenden Junge mit den blonden Haaren und wollte versuchen, ihn im Laufe der Busfahrt in ein Gespräch zu verwickeln. Vielleicht könnte sich aus dieser Bekanntschaft noch etwas Interessantes entwickeln. Der Kleine strahlte so eine betörende Keuschheit aus, wie es keiner seinen jungen Liebhaber zuvor getan hatte. Diese Reinheit faszinierte Maxime unheimlich.
 

Die Nachricht von Scarlett verweilte nach wie vor ungelesen und vergessen in Maxims Handy.
 

„Ich bin übrigens Maxime.“, stellte er dem Blonden seine Person vor, und legte den Kopf auf die Seite damit er ihn besser anschauen konnte. „Besuchst du auch das Gymnasium?“
 

Anscheinend schien sich der Junge erschrocken zu haben, denn nun war er es, der zusammenfuhr und Maxime entgeistert anschaute. „Bitte?“ Beinahe automatisch zog er seine schmalen Augenbrauen zusammen und lief im gleichen Augenblick rot an. Unter seiner hellen Haut begann sein Puls zu pochen, plötzlich und so unvermittelt stark, dass er für einen Moment erstarrte.
 

„I-ich...“, stotterte der jüngere Schüler unbeholfen und seine Wangen wurde mit jeder weiteren, verstrichenen Sekunde immer dunkler. „Ich heiße Marcel. Und ja, ich bin jetzt in der achten Klasse.“
 

„Ei, dann bist du ja eine Stufe unter mir. Ich in der Neunten.“, erwiderte Maxim sofort und nutzte die Gelegenheit um diesen Marcel noch einmal genauer zu betrachten. So kindlich und rund wie sein Gesicht aussah, könnte man ihn auch glatt für einen Sechstklässler halten. Aber da haftete noch etwas Anderes an ihm, was ihm nicht wirklich Jünger machte... sondern eher... femininer? Ja, feminin war genau das richtige Wort! Marcel war nicht nur Jünger als er, sondern auch ohne Rock und aufwendig geschminkten Augen sah er eindeutig weiblicher aus! Da standen die Chancen natürlich hoch, das der Kleine ebenfalls zu den Homosexuellen gehörte. Das läuft ja immer besser, schoss es Maxime durch den Kopf und unterdrückte ein breites Grinsen. Mit der Aussicht auf eine nette, kleine Nummer am Wochenende würde er sogar die kommenden Mathestunden mit einen breiten Lächeln ertragen!
 

„In einem halben Jahr werde ich da auch sein.“, sagte der Blonde seufzend und riss Maxime damit aus seinen Gedankengängen. „Ist der Unterschied zu der achten Klasse denn groß?“
 

„Oh ja!“, nickte Maxime eifrig. „Im Vergleich zu der neunten Klasse ist die Achte echt ein Kinderspiel! Ich ärgere mich wirklich im letzten Jahr so faul gewesen war. Und wenn ich an die letzte Klasse denke... Dann urg... dann wird mir so richtig schlecht.“
 

Marcel schnalzte mit der Zunge.„Ist das nicht immer so? Ich könnte dasselbe von mir auch behaupten... Meine Geschwister haben mir immer geraten um mehr zu lernen, aber ich war einfach viel zu Faul dafür. Jetzt habe ich den Salat. Am meisten merke ich meine Faulheit am Mathe Unterricht, bei den anderen Fächer habe ich gottseidank keine Probleme. Da läuft alles gut. “
 

„He he. Du sprichst mir aus der Seele. Mathe ist auch mein absolutes Hassfach, echt jetzt, das habe ich noch nie gemocht.“
 

„Die meisten hassen Mathe.“, erwiderte Marcel mit einem Augenrollen. Er grinste Maxime an und dieser bemerkte, wie der Jüngere langsam etwas lockerer wurde. „Und ich dachte immer, dass das nur auf euch Mädchen zutrifft.“
 

„Ach ja?“ Maxime hielt Marcels Blick mit seinen eignen gefangen und beschloss seine Aussage erstmals so stehen zu lassen. Wenn sie sich gut verstanden, und im Moment machte Marcel wirklich einen netten Eindruck, konnte er ihm später immer noch beichten, das er eigentlich ein Junge war. Immerhin er liebte es, Kontakt zu fremden Menschen zu knüpfen und neue Freunde zu gewinnen.
 

„Du weißt aber, das dass nur ein Vorurteil ist, oder? Die Statistiken besagen das Mädchen in der Regel sowieso besser in der Schule sind, als Jungen. He, dann habe ich die Nase vorne.“
 

Ein kleines Lachen schoss aus Marcels Mund und er schüttelte seinen Kopf. „Dafür habe ich einen Bruder in der zwölften Klasse, und noch einen, der in der Sonderklasse für die kommenden Medizinstudenten sitzt. Wenn ich nett zu ihnen bin, helfen sie mir bei meinen Problemfächern.“
 

„Wirklich? Wie cool ist das denn? Mann, ich will auch ältere Geschwister haben.“ stöhnte Maxime und boxte Marcel spielerisch gegen den Oberarm, der nur noch lauter lachte und Maxime sanft auf seinen Platz zurück stieß. Okay, in Gedanken machte er an dieser Stelle einen Punkt: Ältere Geschwister waren nicht immer ungefährlich, und brachten so ihre Eigenarten mit sich. Entweder beschützten sie ihre jüngeren Geschwister vor so kleinen Casanovas wie ihn, oder Maxime konnte bei der passenden Gelegenheit auch noch seinen Spaß mit ihnen bekommen. „Diese Sonderklasse ist schon eine gute Sache.“, meinte er lächelnd. „Die ganzen Schüler die keinen Studienplatz ergattert haben, oder noch nicht bereit dafür sind, können dorthin gehen und schon mal einen Vorgeschmack auf das erste Semester bekommen. Wenn meine Noten am Ende des letzten Jahres ausreichen, dann möchte ich auch Medizin studieren. Aber dafür müsste ich mich wirklich noch richtig anstrengen.“
 

„Mhm, große Wünsche nenne ich das.“ Marcel legte seine Hände auf die Schultasche und verschränkte sie dort, bevor er kurz über die Schulter schaute und seine Augen über die einzelnen Sitzreihen gleiten ließ. Anscheinend suchte er dort hinten jemand. „Dann solltest du mal ein Wort mit meinen Bruder wechseln... Ich möchte ja wirklich nicht prahlen, aber er ist einer der intelligentesten Menschen, denen ich jemals begegnet bin. Ich kann gar nicht nachvollziehen, wieso er diese Sonderklasse eigentlich besucht, und nicht sofort sein Studium anfängt. Das ist doch alles nur vertane Zeit. Ein Schüler, der so gute Noten hat wie er, muss irgendwo doch einen Platz finden.“
 

Maxime zog leicht die Augenbrauen zusammen und beobachtete wie Marcel an seinen schulterlangen Haaren spielte und nachdenklich eine Strähne um seinen Finger wickelte. Mhm, dieser Junge wurde ihm von Sekunde, zu Sekunde immer sympathischer. Und ähnlicher. Wenn er überlegte, dann spielte er auch oft mit seinen Haaren, oder knabberte an seiner Unterlippe. Vielleicht hatte Maxime in ihm seinen Seelenpartner gefunden? Auf jeden Fall schienen sie auf Anhieb gut mit einander auszukommen.
 

„Wer weiß, welchen Grund dein Bruder hat? Vielleicht fühlt er sich noch nicht bereit für das Studium. Immerhin warten 6 harte Jahre auf ihn, das sind ungefähr 12 Semester. Und wenn er das geschafft hat, dann muss er auch noch das zweite Staatsexamen machen, ansonsten kann er hier in Deutschland den Beruf als Arzt vergessen. Ach, das ist alles schon nicht einfach wenn man in diese bestimmte Richtung möchte. Außerdem wird er wahrscheinlich noch eine Promotion anstreben, damit er sich überhaupt mit den Titel eines Doktors schmücken darf.“
 

„Wow.“, machte Marcel und bekam mit einem mal große Augen. „Woher zur Hölle weißt du das alles? Anscheinend bist du ja doch intelligent!“
 

Maxime, der grade auf seine rosa Armbanduhr schaute , musste den Kopf rum reißen und laut lachen. „Anscheinend? Das ist kein Schein, das ist die Realität.“, Gespielt Arrogant warf er seinen langen Pony nach hinten. „Wir kennen uns keine 10 Minuten und schon hast du mich bis auf die Knochen gekränkt. Besten Dank, Marcel.“
 

Dieser presste die Lippen zusammen und Maxime befürchtete schon für einen Moment, das er seine Worte vielleicht ernst genommen hatte, aber dann kicherte Marcel glücklicherweise. „Heißt das nicht eigentlich, jemanden bis auf die Knochen blamieren?“
 

Schockiert riss Maxime die Augen auf. „Was?“, rief er leicht entsetzt und sagte sich den Satz noch einmal in Gedanken auf, stockte, und schlug danach die Hände auf seine plötzlich sehr heiß gewordenen Wangen. „Du hast recht, oh Gott... Uhh, das ist so uncool wenn man Klugscheißen möchte und die Nummer versaut.“ Maxime war ein sehr genauer Mensch und legte großen Wert auf seine Wortwahl, also kam er sich selbst grade ziemlich bescheuert vor. Es dauerte aber nur ein Räuspern lang, ehe er seine Fassung zurück erlangt hatte und dann wieder an Selbstsicherheit zurück gewann.
 

Inzwischen war eine richtig gute Atmosphäre zwischen ihnen entstanden und der erste Eindruck den Maxime von Marcel bekomme hatte, verschwand. So schüchtern wie er sich in den ersten Augenblicken verhalten hatte, war er offenbar gar nicht. Im Gegenteil. Marcel hatte sogar Humor und konnte auch mal eine Schlagfertige Antwort raus hauen. Und das fand Maxime noch besser, als seine Niedlichkeit. Aus diesen Grund beschloss er auch in die Vollen zu gehen, und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen.
 

„Hey.“, sagte Maxime schließlich als die Schule in Sichtweite kam und der Bus immer langsamer fuhr. Er lehnte seinen Oberkörper auf die Seite und wartete, bis Marcel den Blickkontakt herstellte. „Hast du was dagegen wenn wir unsere Handynummern austauschen? Vielleicht kann ich dir mal ein paar meiner Schulbücher ausleihen. Dann kannst du dir ein Bild von dem Lernstoff der neunten Klasse machen. Mm, wie findest du das?“
 

Augenblicklich erstarrte Marcel zur Salzsäule. Seine dichten Wimpern zuckten und er betrachtete den Anderen mit einem undefinierbaren Blick, angespannt zog er die Schultern nach oben. Plötzlich entstand wieder die steife und verschlossene Körperhaltung, die Maxime schon am Anfang gesehen hatte.
 

„Oder möchtest du nicht?“, fragte Maxime deshalb vorsichtig. Auch wenn er gerne Kontakte knüpfte, und es wirklich bitter für ihn wäre, wollte er niemand seine Freundschaft oder Anwesenheit aufzuzwingen. Wenn Marcel keine Freundschaft wollte, dann musste Maxime damit klar kommen.
 

„Nein. Das ist es nicht.“ Marcel senkte die Augen auf den Boden und verweilte einen kurzen Moment in seiner gebückten Haltung. Anscheinend ging es ihm plötzlich schlecht, er machte eine so trostlose Miene, als ging er zu einer Beerdigung. „Aber... dein Angebot überrascht mich. Es gibt nicht viele Menschen die mit mir befreundet sein möchten.“ Ein bitteres Lächeln verdunkelte seine feinen Züge und die nächsten Worte kamen nur flüsternd über seine Lippen. „Die meisten finden mich komisch oder haben Angst vor meiner Familie. Und das kann ich ihnen noch nicht mal verübeln, wenn ich ehrlich bin.“
 

„Komisch?“, wiederholte Maxime und stand auf, da der Bus anhielt und alle Schüler und Schülerinnen wie die wilden Tieren zu den zwei Ausgangstüren stürmten. „Was meinst du mit komisch?“
 

Marcel seufzte und erhob sich dann auch um den Sitzplatz zu verlassen. Er wartete aber, bis die Hälfte der Jugendlichen ausgestiegen waren und trat erst in den Gang, als er ruhiger geworden war. Erst jetzt als er stand, bemerkte Maxime wie klein und schmächtig der blonde Junge in Wirklichkeit war. Sogar er, der selbst nicht zu den Größten gehörte, überragte Marcel um eine halbe Kopflänge.
 

„Ich weiß aber immer noch nicht was du meinst.“, murmelte Maxime und beobachtete den Anderen aus dem Augenwinkel heraus. „Ich finde dich jetzt nicht eigenartig, falls du das meinen solltest.“
 

„Die meisten aber schon!“, zischte Marcel plötzlich heftig und unvermittelt scharfzüngig. „Ich wundere mich wirklich, das du mich nicht kennst oder schon mal von mir gehört hast. Normalerweise eilt mir mein ach so toller Ruf meilenweit voraus.“
 

Er ließ zwei junge Mädchen vorbei gehen und folgte ihnen dann in Richtung Ausgang, Maxime machte das gleiche. Für ein paar Sekunden herrschte Stille zwischen ihnen, während er versuchte, Sinn aus Marcels Aussage zu ziehen
 

„Ja vielleicht kommt das daher, das ich noch nicht so lange auf der Schule bin. Mein Wechsel liegt erst 3 Monate zurück.“, antwortete Maxime leicht keuchend und eilte dem Blonden hinterher. Huch,

was war denn jetzt kaputt? Warum verhielt sich Marcel auf einmal so seltsam? Hatte er etwas Falsches gesagt und ihn irgendwie beleidigt? „Hey, nicht so schnell! Bist du auf der Flucht oder was?!“
 

Es war zwar nur ein Ahnung, aber irgendwie wurde Maxime das sichere Gefühl nicht los, dass Marcel eigentlich ein ganz anderes Problem hatte. Wieso würde er sonst wie ausgewechselt wirken? Er hatte ihn doch nur nach seiner Handynummer gefragt! Eben war der Kleine noch total schüchtern und unsicher gewesen, jetzt fauchte er wie eine schlecht gelaunte Kobra.
 

„Marcel! Warte doch mal! Ich komme gar nicht mit!“
 

Aber der Angesprochene lief einfach weiter und schenkte Maximes Frage keine Beachtung.
 

Marcel gibt ja ein echtes verdammt hohes Tempo vor, dachte er gehetzt, da komme sogar ich ins Schwitzen.

Und das, obwohl Maxime die letzten 3 Jahre im Leichtathletik-Kurs seiner ehemaligen Schule verbracht hatte und seiner Meinung nach eigentlich ziemlich fit war. Zu mindestens schwärmte Raphael bei Sportunterricht immer von seinen strammen Beinen.
 

Inzwischen war Marcel am Schultor angekommen und Maxime musste einen kurzen Sprint hinlegen, um ihn noch rechtzeitig abzufangen und an der Schulter festzuhalten.
 

„Wenn ich etwas Falsches gesagt oder gemacht habe, dann tut mir das leid.“ sagte Maxime aufrichtig und seine blauen, schwarz geschminkten Augen nahmen für einen kurzen Moment einen traurigen Ausdruck an. Dennoch schaffte er es seine Emotionen im Zaun zu halten und die Fassung zu bewahren. Nein, so oft wie er schon in den sauren Apfel gebissen hatte, der auf den Namen >das Leben< hörte, konnte ihn so schnell nichts mehr erschüttern. Maxime wusste ganz genau was für einen abartigen, sadistischen Humor die Schicksalsgötter dieser Welt besaßen. Allerdings würde er Marcel nicht ohne eine angemessene Erklärung gehen lassen, schließlich begegnete man so einen süßen Jungen nicht jeden Tag. „Wir haben uns so gut unterhalten und plötzlich ist die ganze Atmosphäre gekippt. Was ist passiert? Stört es dich, das ich deine Nummer haben wollte?“
 

Das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen, schüttelte Marcel die fremde Hand ab und senkte seinen Blick zu Boden. „Das habe ich dir grade doch gesagt.“, murmelte er leise. „Aber wenn du es genau wissen möchtest; Mit mir will niemand etwas zu tun haben, weil ich bin das Mobbingopfer dieser Schule bin. Demnach wäre es wirklich klug von dir wenn du aufhören würdest, mich so freundlich zu behandeln. Es kann leicht passieren, dass du nachher selber in der Scheiße steckst.“
 

„Aber...“, stammelte Maxime geistesgegenwärtig, doch Marcel unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung.
 

„Lass es gut sein. Du kannst dir deine Gegenargumente sparen. Ich komme bestens mit diesen Hass-Parolen zurecht, da ich von Zuhause auch nichts anderes gewohnt bin. Es war gelogen das mir meine Brüder Helfen – sie quälen mich genauso schlimm wie hier die Leute. Wenn du mir etwas Gutes tun willst, dann lass mich einfach in Ruhe.“
 

Ein kurzer Schauer glitt Maxime bei dieser eisigen Erklärung über den Rücken. Obwohl er selbst schon so einiges an Hass ertragen hatte, der ihn eigentlich vor solchen Sachen immunisieren sollte, fror sein Herz bei Marcels zerrissenes Selbstbewusstsein ein. So ein beschissenes Leben konnte dieser Junge doch unmöglich haben. Es reichte schon, das er in der Schule von den anderen Kindern gehänselt wurde, und wie es aussah, schikanierte ihn auch noch seine eigene Familie?
 

Er würde Marcel ja gerne helfen, da er seine Situationen bestens verstehen konnte, aber wenn der Jüngere diese Hilfe nicht annehmen wollte, dann waren Maxime die Hände gebunden.
 

„Na gut...Wenn das so ist.“ Maxime machte einen kleinen Schritt nach hinten und erschuf eine Mauer aus Distanz. Seine Augen verzogen sich zu Schlitzen, die Daumen hakte er in die Seitentaschen seiner Lederjacke ein. Eigentlich gab er ja nicht so schnell auf, aber Marcels Verhalten machte ihm deutlich, dass er hier nur auf Granit beißen würde. „Dann kann ich nichts mehr für dich tun, Süßer. Es war nett mit dir geplaudert zu haben.“
 

„Fand ich auch.“, meinte Marcel und klang so kalt wie ein Kühlschrank. Er spiegelte Maximes Verhalten wieder und ging ebenfalls ein Stück zurück. Währenddessen ließ er den älteren Schüler nicht für eine Sekunde aus den Augen, missmutig fielen seine Mundwinkel nach unten. „Es ist schon lange her, dass jemand in der Schule so normal mit mir gesprochen hat. Tschüss, Maxime.“
 

Müde zog dieser die rosaroten Lippen nach oben. Hallo?! Wenn Marcel SO dachte, dann konnte er ihm auch genauso gut seine Handynummer geben. „Tschüss Marcel.“, sagte er aber stattdessen. Der abrupte Stimmungswechsel verwirrte ihn zwar immer noch ein wenig, aber nach außen hin ließ er sich nichts anmerken. „Es ist schade dass wir nun so auseinander gehen.“
 

„Tja, daran kann man leider nichts machen.“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Aber es ist besser so. Letzten Endes würde ich dich sowieso nur in Schwierigkeiten bringen. Eine Freundschaft wie diese würde nicht lange halten. “
 

„Glaubst du?“ Maxime runzelte die Stirn, während er beobachtete, wie Marcel den Kopf drehte und kurz zum Schulgebäude schaute. Wenn er die Lage richtig beurteilte, dann wollte Marcel so schnell wie möglich weg kommen. Tzz, sollte er doch! Mittlerweile wunderte er sich auch gar nicht mehr, das Marcel gehänselt wurde; Wer wollte den schon freiwillig mit einem so pessimistischen Typen befreundet sein? „Das ist Ansichtssache. Aber ich glaube das eine Freundschaft ewig halten kann, wenn sich beide Seiten Mühe geben.“
 

Danach atmete Maxime die angestaute Luft aus, ihr Gespräch sollte damit wohl beendet sein.
 

Scheinbar dachte Marcel dasselbe. Er nickte Maxime ein letztes Mal zu und ging dann geschwind durch das Tor. Zufrieden, wie Marcel nun aussah, warf ein keinen einzigen Blick zurück und verschwand sehr bald in der Masse auf dem Pausenhof. Obwohl er gemobbt wurde, schien Marcel offenbar genau zu wissen was er wollte und was nicht.
 

Na!, dachte Maxime und zog skeptisch seine Augenbrauen zusammen, höflich ist was anderes.
 

Klasse. Ein weiterer Seufzer entwich ihm, als er den Blick hob und dem gerade Verschwundenen hinterher zu schauen. Einfach nur wunderbar. Da verschwand sein perfektes Wochenende und nun durfte er sich einen anderen Typen suchen, mit dem er die kommende Zeit totschlagen konnte. Dass es mit Marcel nicht geklappt hatte, fand er erstmals wieder ernüchternd. Nur wenige Männer hatten sich Maxime Charme bis jetzt erfolgreich entzogen, 6 von 10 Homosexuellen fand ihn mehr als nur attraktiv. In Marcels Fall also, hätte er niemals mit einer Abweisung gerechnet!
 

Besonders übel nahm er es dem Jungen aber trotzdem nicht, immerhin konnte er nicht allen Menschen gefallen und von daher gab er sich mit den Gedanken, einen Korb kassiert zu haben, schulterzuckend ab.
 

Hmm. Aber naja, was soll´s? Spätestens wenn er das nächste Mal mit Raphael in die Disko ging, würde er einen neuen jungen Mann finden mit den er Spaß haben konnte. Dafür brauchte er kein so prüdes Mauerblümchen wie Marcel.

Kapitel 2: Eine besondere Freundschaft

„HEY! Maxime!“
 

Der junge Mann erwachte aus seiner Trance und blinzelte irritiert. Die Realität kehrt mit einem Mal zu ihm zurück und Maxime verharrte in seiner Position.
 

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend drehte er sich zu dem Ausgangspunkt der Stimme um und sah einen blonden Jungen, der schon auf dem Pausenhof stand und ihm mit einer Hand winkte.
 

„Hi.“, meinte er und kam dem Jungen mit großen Schritten entgegen. In dem Moment als er seinen besten Freund erblickte, fiel ein unglaublich schwerer Stein der Erleichterung von ihm ab. Er hatte schon damit gerechnet, dass das wieder so ein Idiot war der ihn Ärgern wollte. „Raphael! Wie kann das denn sein?! Warum bist du vor mir hier?!“
 

Der Blonde schmunzelte leicht und wackelte vielsagend mit seinen Augenbrauen. Mit einen kleinen Nicken deute er das Mountainbiken, was neben ihm stand. „Weil ich mit dem Fahrrad gefahren bin. Ich habe den zweiten Bus nicht mehr bekommen und musste deshalb auf meinen alten Kumpel hier zurückgreifen. Und hey, ich bin fitter als ich dachte.“
 

Mal von der Tatsache abgesehen das Raphael gerade maßlos übertrieb, gehörte er zur der Sorte von Menschen, die Sport nur gerne vom Sofa aus im Fernsehen verfolgten. Oder sich auf diese Art von körperliche Betätigungen spezialisiert, die meistens im Schlafzimmer und mit einen Partner stattfand.
 

Also verdrehte Maxime die Augen, verzichtete auf die Umarmung und schlug Raphael gegen den Oberarm. „Tzz! Du bist doch nur aus der Not heraus mit dem Fahrrad gekommen.“, brummte er leise. „Es wissen doch alle, wie faul und träge du bist!“
 

„Aha! Und du Primaballerina bist seit kurzem unter die Sportjunkies gegangen, oder was? Früher warst du auch mal aktiver, heute hängst du noch nur vor dem Rechner und ziehst dir haufenweise Cola und Chips rein. Wenn du so weiter machst, siehst du irgendwann aus wie ein Nilpferd. Ein rosa Nilpferd, mit massigem Übergewicht.“
 

„Halt deine Klappe!“, schoss Maxime bitter zurück und konnte sich nur mühevoll davon abhalten, Raphael diesmal nicht mit seiner ganzen Kraft zu schlagen.
 

Aber leider hatte er Recht. In den letzten Monaten hatte Maxime sicher fünf Kilo zugenommen und das passte ihm ganz und gar nicht. Vor allem, weil er regelmäßig joggte und auch sonst alles essen konnte was ihm gefiel. Doch bei seiner momentanen Ernährungsweise würde früher oder später sogar der beste Stoffwechsel kapitulieren. Frustriert verzog er sein Gesicht und spürte das Gefühl von Enttäuschung in sich aufsteigen.
 

„Ich bin nicht fett, du Elch! Das ist.... das sind... Nebenwirkungen. Ja genau, das sind alles Nebenwirkungen von den Hormonen die ich immer nehme.“, fauchte Maxime weiter und Raphael ging sicherheitshalber einen Meter auf Abstand, da der rosa Zwerg in so einer Gemütslage wirklich schnell gegen seine eigenen Prinzipien verstieß.
 

Da Maxime noch nicht volljährig war aber mit der Pubertät zunehmend immer männlicher wurde, hatte er sich dazu entschieden, weibliche Hormone zu nehmen und damit seinen >geschlechtsneutralen< Körper zu behalten. Natürlich war das mit 15 Jahren illegal und nicht gerade ungefährlich, aber dank dem Internet und eigenen Freunden die sich auf diesem Gebiet auskannten hatte er eine Hormonbehandlung begonnen. Diese bescherte ihm zwar die weiche Haut eines Mädchens, wenig Pickel, geringe Schambehaarung, aber leider auch die weibliche Fettverteilung. Und an manchen Tagen an denen es besonders schlimm war, bekam er sogar Erektionsstörungen, oder plötzliche Schwächeanfälle da seine Muskulatur abbaute.
 

Das Unfaire daran war, das Maxime diese ätzenden Nebenwirkungen doch gar nicht haben wollte. Schließlich nahm er diese Medikamente nur, weil es keinen anderen Weg gab, um ein Kind zu bleiben. Aus diesem Grund reduzierte er die Tablettenmenge, bekam im Umkehrschluss zwar wieder mehr Pickel und diese noch lästigere Behaarung an gewissen Körperstellen zurück, aber dafür musste er keine anderen Pillen mehr schlucken, wenn er mit einer seiner nächtlichen Errungenschaften schlafen wollte.
 

Und es war noch unfairer, wenn dann so ein attraktiver Kerl wie Raphael neben einen stand und jedes bisschen Aufmerksamkeit auf sich lenkte, das er finden konnte.
 

Früher, als Maxime ihn kennenlernte, hatte ihm sein dermaßen perfektes Äußeres fast in den Abgrund getrieben. Raphael war mit allen Dingen ausgestattet, die er sich insgeheim auch wünschte; Eine wohlgeformte Figur, weiche gepflegte Haare, kindliche Augen und fast schon feminine Gesichtszüge. Raphael besaß, platinblond gefärbte Haare die in weichen Wellen über seine schmalen Schultern fielen. Er hatte große, leuchtende Augen in denen wie so oft farbige Kontaktlinsen steckten, und mit denen konnte er das Herz ihrer Betrachter so richtig zum Glühen bringen. Heute trug er seine Lieblingsfarbe Lila, in Kombination mit schwarzen Lidschatten und mega langen, mega künstlichen Fliegenbeinen an den Augen.
 

Fragte man Maxime nach seiner ehrlichen Meinung, dann würde er Raphael ohne mit der Wimper zu zucken zu einem der hübschesten Männer auf dieser Welt erklären.
 

Raphael ließ den Jüngeren noch ein paar Minuten toben, dann tippte er sich mit den Zeigefinger gegen die Stirn. „Das ist doch Unsinn, Maxi! Dass du dick wirst ist nicht NUR die Schuld der Hormone, das liegt auch an deiner Einstellung. Seitdem du mit diesen Tussen unter einem Dach lebst, lässt du dich total gehen. Auf nichts mehr hast du Bock! Wann waren wir denn bitteschön das letzte Mal Feiern, oder im Kino? Es kommt mir so vor als ob das alles schon Jahre her ist.“
 

Kurz geriet Maxime ins Stocken, hielt inne und presste die Lippen zusammen. Schon wieder musste er dem blonden Recht geben.
 

„Ich kann doch nichts dafür...“ Eine kühle Brise fegte Maxime durch die langen rosa Haaren, ehe sein Blick kraftlos auf den Boden fiel. „Du weißt doch, wie sehr mich diese Ziegen fertig machen. Wenn es nach mir ginge, würden wir uns jeden Tag sehen und irgendetwas Cooles unternehmen. Ach, wäre ich doch niemals aus dem Jugendheim gezogen und hätte nie an diesem beknackten Sozialprojekt teilgenommen. Fuck!“
 

Scheinbar hatte Raphael seine Enttäuschung und Niedergeschlagenheit bemerkt, denn er lächelte entschuldigend. „Nicht traurig sein, mein Schätzchen. Wärst du nicht hierher gezogen, hätten wir niemals die gleiche Schule besuchen können. Erinnerst du dich noch daran, wie oft ich dich damals mit dem Zug besuchen kam? Sehe es doch mal von der positiven Seite: Diesen ganzen Kram brauchen wir jetzt nicht mehr. Theoretisch gesehen, ist der Einzug in diese WG das Beste, was dir passieren konnte. So, jetzt haben wir uns aber genug gezankt. Kannst du mir jetzt auch mal richtig Hallo sagen, oder sollen wir uns demnächst wie die Hopper per Handschlag begrüßen?“
 

So schnell wie möglich zauberte Maxime ein nicht sehr überzeugendes Lächeln auf seine roten Lippen und atmete erleichtert aus, als er die Fingerspitzen in die Höhe streckte.
 

Raphael verstand diese Geste sofort und ergriff die Hände, um Maxime für eine tiefe Umarmung in seine Arme zu schließen. „Guten Morgen, Prinzessin.“ Vorsichtig nahm er das Gesicht seines besten Freunden zwischen seine Finger, schaute ihm eine Sekunde in die Augen und als er in ihnen nichts sah, was auf ein Verbot hinwies, senkte er sein Haupt und führte ihre Lippen für einen zärtlichen Willkomens-Kuss zusammen.
 

Maxime verschränkte die Finger in Raphaels Nacken und hielt den ungefähr 10 cm größeren Jungen damit in der bückenden Position gefangen, während er ihn aus funkelnden Augen mustere. „Morgen mein Hübscher. Hmm, ich dachte, es wäre besser wenn wir uns hier auf den Schulhof nicht mehr küssen. Hast du deine Meinung geändert?“
 

„Habe ich das...? Komisch, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, so was Bescheuertes vorgeschlagen zu haben...“
 

„Eigenartigerweise erinnerst du dich an nichts, was dich stört oder irgendwie in Verlegenheit bringen würde.“, erwiderte Maxime und befreite sich rasch von Raphaels Lippen. „Zum Beispiel erinnerst du dich nicht mehr an letztes Jahr, wo du mich einfach in der Kneipe sitzen gelassen hast, und mit diesen rothaarigen Typen abgehauen bi-...“
 

„Ach ja! Jetzt fällt es mir wieder ein....!“, unterbrach Raphael seinen Freund lautstark und winkte Lächeln mit der Hand ab. „DIESES Versprechen meinst du! Man, kannst du dich nicht klarer ausdrücken und das sofort sagen?“ Bestimmtet drückte er Maximes Kinn nach hinten und durfte voller Befriedigung dabei zu schauen, wie Maxime die Augen aufriss und leicht panisch den Mund schloss. „Ich habe gesagt dass wir uns besser nicht mehr die Zunge in den Hals schieben. Nicht, dass wir uns nicht mehr küssen sollen. Das ist ein großer Unterschied, Schatzi.“
 

Maxime schluckte peinlich berührt und wich dem Blick des Älteren aus.
 

Natürlich wusste er das Raphael ihn nur ärgern wollte, denn bis auch auf diese wenigen küsse zum Hallo oder Tschüss, gab es nichts Besonderes zwischen ihnen. Trotzdem lief es ihm bei jeder einzelnen Berührung immer wieder eiskalt den Rücken runter. Vielleicht lag es daran, das Maxime am Anfang unheimlich in Raphael verknallt deswegen war und er erst später begriff, dass Raphael nichts anderes als Freundschaft von ihm wollte. Vielleicht reagierte sein Körper gewesen so empfindlich auf die einzeln Kontakte; Irgendwas in ihm sehnte sich immer noch nach den Blonden, auch wenn er vom Kopf her schon lange verstanden hatte, das er nach 2 Jahren Bilderbuch Freundschaft auf nichts anderes mehr hoffen brauchte.
 

„Du lügst. Wir haben doch abgemacht, das wir solche Sachen in der Schule lassen. Willst du die Gerüchte über uns noch mehr schüren?“, murmelte Maxime etwas unwirsch.
 

Es gab viele Schüler die behaupteten und felsenfest davon überzeugt waren, dass Raphael und er ein Paar waren. Unter homosexuellen Männern wie ihnen gab ihrer Meinung nach gab es keine normalen Freundschaften, und das wäre angeblich ja nur eine Masche, um ihre wahren Gefühle zu verbergen. Unsinn. Aber Leider gab es diese oder ähnliche Vorfälle immer wieder in den letzten drei Monaten.
 

Natürlich gab es freundschaftliche Beziehungen zwischen Schwulen. Nicht Alle waren hormonelle, dauergeile Teenager die jeden „Artgenossen“ sofort ins Bett zerren mussten und mit jedem dahergelaufenen Mann auf Tuchfühlung gingen. Bei Maxime und Raphael funktionierte das doch jetzt auch schon mehrere Jahre!
 

Er konnte alle möglichen Dinge in Sachen Liebe und Sex ertragen, aber bei einer simplen Beleidigung oder Anschuldigung von seinen Mitschülern versagten ihm die Nerven. Nicht jeden Tag verfügte Maxime über die Kraft, Ruhe zu bewahren und Nachsichtig zu sein. Manchmal war er einfach nur ein kleines Sensibelchen, was man schon mit einen gezielten Spruch zum Weinen bringen konnte.
 

Mit einen schelmischen Funkeln in den Augen, deutete Raphael eine durchaus glaubwürdiges Schluchzen an. „Was?! Ich darf dich nicht mehr küssen? Liebst du mich den nicht mehr, oder... Oder hast du einen andern Macker gefunden der dich glücklich macht?“
 

„Weder das eine, noch das andere!“,
 

Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr bestätigte ihn, das sie nicht mehr viel Zeit zum Quatschten hatten. Es wäre besser, wenn sie in ihre Klasse gingen, damit sie schlussendlich nicht doch zu spät kamen.„Aber du weißt warum ich das nicht möchte. Du kennst doch diese ewigen, dämlichen Spielchen von und dann heißt es wieder, das bei uns doch was läuft. So eine Kinderkacke. Und die Uhr tickt übrigens weiter, wir müssen los.“
 

„Jetzt schon?“ Murrend führte Raphael seine Zigarette für einen langen Zug zwischen seine Lippen und verdrehte die Augen. „Warum denn? Es sind doch noch 8 Minuten. Die können wir auch hier draußen bleiben und noch was Chillen bevor der Stress wieder los geht. Ist dir kalt oder was?“
 

„Nein, ich möchte nochmal in meine Unterlagen schauen.“
 

„Warum?“, zischte Raphael genervt. Vor einer halben Stunde hatte er sich noch auf den heutigen Tag mit Maxime gefreut, jetzt bereute er es schon überhaupt aus dem Bett gekrochen zu sein. „Du Streber weißt doch sowieso schon alles, du musst NIE für irgendetwas lernen. Trotzdem schreibst du bei jeder gottverdammten Klausur eine eins. Wenn ich mich auf meine Intuition verlassen kann, dann sehen die Lehrer in dir schon das Genie der Neuzeit.“
 

Kühle Finger umschlossen Raphaels Handgelenk und zwei Sekunden später zerrte ihn Maxime zu dem Fahrradkäfig ihrer Schule, drehte sich dann zu seinen besten Freund um und schaute ihn auffordernd in das Gesicht.
 

„Bring dein Rad weg.“, befahl Maxime und die düstere Stimmlage brachte Raphael zum Grinsen, auch wenn ihn das Verhalten des Kleinen ein wenig verwirrte. „Ich gehe dann schon mal vor und stelle unsere Tische für gleich auseinander. Beeil dich lieber, das geht sonst alles von der Klausurzeit ab.“
 

Als hätte Raphael soeben einen Geistesblitz gehabt, riss er den Mund auf und stieß einen erstickten Schrei aus.„Was denn für einen Test!? Maxime, jetzt sag mir bitte nicht, dass wir heute eine Klausur schreiben? Das... Das geht nicht...!! Ich habe doch gar nicht gelernt, Mensch!“
 

Doch Maxime zeigte keine Gnade. Mahnend hob er den Zeigefinger und stemmte die andere Hand in seine Hüfte. „Ich rede von dem Geschichtstest. Aber weißt du was, du bist selbst schuld an deinem Unglück. Ich bin dir Tage lang hinterher gelaufen und habe versucht mit mir zu lernen, aber du hattest nie Lust darauf. Na, siehst du? Das hast du jetzt davon. Jetzt kann ich dir auch nicht mehr helfen! Pech gehabt.“
 

Er hasste es so hart zu sein , aber damit Raphael endlich mal den Arsch hoch bekam und mehr für die Schule tat, musste er nun einmal in den sauren Apfel beißen und das Arschloch spielen.

Nach der 10 Klasse kamen sie in die Gymnasiale Oberstufe und spätestens ab diesem Zeitpunkt, hörte jeglicher Spaß auf. Dann war es vorbei mit der Freizeit und den Wochenendpartys, dann hieß es nur noch lernen, lernen, und nochmal lernen. Und wenn Raphael bis dahin nichts an seiner momentanen Einstellung zur Schule geändert hatte, sah Maxime leider Schwarz für ihn. Saß er dann später aufgrund seiner Faulheit mit einem Blackout in der Abschlussprüfung, konnte Raphael nichts mehr retten, außer vielleicht ein Wunder.
 

„Maxime! Du musst mir helfen! Bitte. Du bist doch mein Kumpel. Mein bester Freund. Meine kleine Prinzessin. Lass mich nicht hängen, man.
 

Skeptisch zog Maxime seine Augenbrauen hoch. „ Nein. Du musst erwachsen werden und aus deinen Fehlern lernen!“
 

„Tzz, witzig. Das sagt der, der den ganzen Tag nur Pink und Rosa trägt.“ Raphael zuckte müde mit den Schultern und schob sein rotes Mountainbike endlich in den Fahrradkäfig, während er seine Zigarette weg warf und den Schlüssel in seiner Hosentasche verstaute. Kurz überprüfte er das Schloss auf seine Richtigkeit, dann schulterte er seinen schwarzen Rucksack.
 

„Können wir jetzt hoch?“, fragte Maxime spitz. „Du kannst dir schon mal überlegen, was du mir anbieten möchtest, damit ich dich nachher abschreiben lasse.“
 

Für ein Sekunde wirkte Raphaels Mund wie zugenäht. „Abschreiben?“, fragte er leise und schaute Maxime so verdutzt an, als ob er zwei Köpfe auf der Schulter sitzen hätte. „Ich darf von dir abschreiben? Woah, was ist los mit dir?! Hat dich heute Morgen der Bus angefahren?“
 

Maxime schmunzelte. Mit dieser, oder so einer ähnlichen Reaktion hatte er schon gerechnet. Unwillkürlich musste er an die letzte Deutschklausur denken, wofür Raphael natürlich auch nicht gelernt hatte, und ihn genau wie heute um Hilfe bat. Da hatte er Nein gesagt und Raphael war am nächsten Tag so mies auf ihn zu sprechen gewesen, das er Maxime die ganze Zeit lang ignorierte.
 

„Ich habe einfach nur einen guten Tag!“, antwortet Maxime grinsend. „Sei Dankbar dafür und belohne mich gut. Du kannst mir nach der Schule ja eine Pizza ausgeben.“
 

„Natürlich, und ab morgen bist du dann wieder für 2 Wochen auf Diät.“, schnaubte Raphael und schnappte sich im selben Atemzug Maximes Handgelenk, damit er auf seine Uhr schauen konnte.
 

Beleidigt blähte Maxime seine Wangen auf und knuffte Raphael noch einmal in die Seite.„Arschloch! Dann nehme ich eben eine Pizza Margarita, die hat nicht so viel fett wie die anderen Pizzen. So! Bist du nun zufrieden?“
 

„Sorry, ich habe keine Kohle um dir was zu spendieren, vielleicht ein anderes Mal... Wie wäre es, wenn du stattdessen nach der Schule mit zu mir kommst? Ich habe gestern einen ganzen Topf voll Chili con carne gemacht und du musst mir helfen, wenn du nicht möchtest, das mindestens die Hälfte im Müll landet.“
 

„Chili con carne?“, wiederholte Maxime und legte den Kopf schief.
 

Okay, er musste zugeben dass sich Raphael mit seinen Kochkünsten wirklich nicht Verstecken brauchte. Ganz im Gegenteil. Sein bester Freund war der talentierteste Hobbykoch weit und breit; Wenn in ihrem Freundeskreis irgendeine Feier gemacht wurde, und Raphael für das Essen zuständig war, hatte Maxime immer das Gefühl das viele der Leute nur wegen seinen leckeren Speisen kamen.
 

„Das klingt gut, ich glaube ich nehme dein Angebot an. Aber hoffentlich hast du nicht so viel Chili rein gehauen, wie beim letzten Mal. Alter, ich kann mich noch genau daran erinnern. An diesen Tag habe ich sicher einen Großteil meiner Geschmacksnerven verloren.“ Maxime grinste leicht und öffnete mit der linken Hand die Eingangstüre der Schule, mit der Rechten bot er Raphael den Vortritt an. „Bitte. Alter vor Schönheit.“
 

„Fick dich!“ Grollend schubste Raphael den Rosahaarigen durch die Türe. „Das war das letzte Mal das ich dich zum Essen eingeladen habe!“
 

Der plötzliche Angriff brachte Maxime so sehr aus dem Gleichgewicht, das er ein paar Schritte nach vorne stolperte und um Haaresbreite mit einer Gruppe Mädchen zusammenstieß, die schon von alleine zur Seite sprangen.
 

„Pass doch auf!“, zischte die Erste erschrocken.
 

Die Zweite hatte nicht so viel Glück wie ihre Freundin; Sie landete mit einem lauten Knall gegen einen Schuldspind im Flur. „Ahh?!“, knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und schlug unglücklicherweise der Länge nach hin.
 

Das dritte Mädchen im Bunde schenkte Maxime nur einen Blick von der tödlichen Sorte und rannte schnell zu der Freundin, welche gegen den Schrank gefallen war um ihr wieder hoch zu helfen.
 

Geschockt riss Maxime die Augen auf. Scheiße, so war das nicht geplant gewesen! „Tut mir leid!“, rief er panisch und wollte zu dem Mädchen am Boden laufen, aber diese stand schon wieder auf ihren Beinen. Sie wandte den Blick von ihrer Freundin ab und entdeckte Maxime, der einige Meter entfernt wie versteinert auf dem Gang stand. Die Schülerin klopfte sich den Schmutz von der Kleidung, und betrachtete den Schuldigen mit tränennassen Augen.
 

„Hey du Miststück!“, fauchte sie wütend und funkelte Maxime an. „Hast du keine Augen im Kopf, oder was?! Das hätte echt böse ausgehen können!“
 

Noch bevor Maxime eine Reaktion auf die wohlgemerkt, echt harten Worte des Mädchens geben konnte, wurde er durch ein leichtes Räuspern abgelenkt und ein ihm nur allzu bekannter Blondschopf gesellte sich an seine Seite.
 

„Wie hast du meinen besten Freund da grade genannt?“, fragte die Person mit tiefer, ehrfurchtgebietender Stimme. Schon alleine aus Überlebensinstinkt verschlug es den drei Schülerinnen die Sprache und sie wichen einen Schritt nach hinten.
 

Oh Scheiße... da sah jemand aber gar nicht fröhlich aus! Auf Raphaels sonst so schönem Gesicht zeichneten sich die Züge der puren Mordlust ab.
 

Stöhnend riss Maxime seine Augen von dem Älteren los und schickte ein stilles Gebet an den Himmel, oder viel mehr, an die Decke der Schule. Ganz gleich was auch immer Raphael in den nächsten paar Sekunden für eine Schandtat anstellte, er hoffte, dass es nichts mit Gewalt oder wüsten Beleidigung zu tun hatte.
 

„Sie hat mich gegen den Schrank geschubst!“, gerechtfertigte sich das Mädchen knurrend. „So was kann ich nicht auf mir sitzen lassen! Von so einer Schlampe lasse ich mir gar nichts bieten!“
 

„Er hat dich noch nicht einmal angefasst!“, spie Raphael angriffslustig zurück. „Er ist gestolpert und IHR seid vor Schreck ausgewichen. Wenn du nicht guckst, wo du hin springst und gegen den Schrank läufst, ist das nicht unser Problem!“
 

Langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, fasste Maxime Raphaels Arm und zog in sachte von den drei Mädchen weg. „Beruhige dich, Mann! Wir sind hier in die Schule, du kannst dich nicht so aufführen als ob wir in der Disko wären. Außerdem sind das immer noch Frauen!“
 

„Gemeine Schlampen sind das...“, korrigierte Raphael ihn unfreundlich. Er wollte sich aus dem Griff wenden, und Maxime beweisen was er über solche Frauen dachte, aber dieser gab noch nicht mal für einen Millimeter nach.
 

Schuldbewusst biss Maxime die Zähne aufeinander. Eigentlich hielt er sich grundsätzlich aus Raphaels Streitigkeiten raus, aber in diesem Fall musste er eingreifen und die Schülerinnen vor den blonden Racheengel beschützen. Sonst war es nachher womöglich zu spät.
 

„Nein Raphael! Sei doch Vernünftig! Willst du wirklich einen Streit anzetteln und dann später im Lehrerzimmer sitzen, weil du mal wieder Mist gebaut hast? Das ist es nicht doch Wert.“, versuchte es Maxime noch einmal eindringlich und bohrte seine Fingernägel in Raphaels schwarze Lederjacke.
 

„Oh doch! Das ist es mir wert. Niemand, absolut niemand, beleidigt einen Freund in meiner Gegenwart und kommt ungeschoren davon. Noch nicht mal ein Weib!“ Wie erwartet wollte Raphael nicht von seiner Meinung abweichen, stattdessen betrachtete er Maxime mit einem vernichtenden Blick und zog seinen Arm endlich aus dessen Finger heraus.
 

Stirnrunzelnd kniff Maxime die Augen zusammen. Scheiße! Auch wenn er Raphaels Sorge wirklich zu schätzen wusste, wollte er ihn nicht wegen einer Dummheit vor die Hunde gehen lassen. „NEIN Raphael! Es REICHT. Komm mit, wir gehen jetzt in die Klasse! Es ist sowieso schon viel zu spät.“
 

Mit diesen Worten auf den Lippen packte er zum zweiten Mal energisch den Ärmel der Lederjacke, und zog er den Angesprochenen mit sich mit. Dabei musste er nicht nur die Ungläubigen Blicke der anderen Schüler ignorieren, sondern auch die wütenden Protestschreie, die ihm die 3 Schülerinnen an den Kopf warfen. Oder viel eher… Er versuchte, die Ausrufe zu ignorieren, er versuchte es wirklich, aber er konnte es nicht. In Gedanken hätte er den fauchenden Mädchen schon dreimal den verdammten Hals umdreht!
 

Trotzdem ließ er sich seinen Zorn nicht anmerken. In Sachen Maskenspiel machte ihm so schnell keiner etwas vor!
 

Raphael, dessen gezwungene ruhige Körperhaltung, die eines Raubtieres glich folgte Maxime steifbeinig und nur äußerst widerwillig durch die verschiedenen Gänge der Schule.. „Finger weg.“, zischte er drohend und löste seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde von dem voranlaufenden, rosa Hinterkopf, was ihm die Gelegenheit gab, um kurz mit der Zunge zu schnalzen. „Lass mich auf der Stelle los, Maxime. Das hier ist kein Spaß mehr.“
 

Doch Maxime schnaubte nur verächtlich ohne der Bitte nach zukommen. „Genau deswegen halte ich dich Idiot auch fest. Ich will nicht das du einen Amoklauf hinlegst.“
 

„Amoklauf? Jetzt mach dich bitte mal nicht lächerlich, ja? Ich hätte den Tussen schon kein Haar gekrümmt.“, erwiderte Raphael, die Miene regungslos und kalt.
 

Natürlich, jetzt spielte der Mistkerl das Unschuldslamm. Maxime seufzte beim Gehen und verengte die Augen erbost zu kleinen Schlitzen. Ein Mädchen zu Schlagen gehörte eigentlich nicht zu Raphaels Lieblingsbeschäftigungen, aber wenn es gerechtfertigt war - in seinen Augen zumindest– dann hatte er keine Schwierigkeiten damit.
 

„Heh! Das glaubst du doch wohl selbst nicht, du standest kurz vor der Explosion. Wenn das eine Mädchen auch nur noch ein Wort gesagt hätte, wärst du ihr in Nullkomma nichts an die Gurgel gegangen. Ich kann die Zeichen deuten bevor du ausflippst, Raphael. Wir kennen uns nicht erst seit gestern.“
 

Inzwischen waren die zwei Jungen bei ihrem Klassenzimmer angekommen und Raphael stieß grollend die Türe auf, ohne darauf zu achten, das vielleicht jemand im Weg stand, der von dem soliden Holz umhauen werden konnte.
 

„Ich gebe dir gleich Zeichen!“, giftete Raphael übellaunig und seine Mitschüler machten ihm erschrocken Platz, als sie den angepissten Ausdruck in seinen violetten Augen sahen. Krachend schmiss er den Rucksack auf den Boden und ließ sich ebenso krachend auf einen Stuhl in der letzten Reihe am Fenster fallen. „ Boor, ich habe die Schnauze jetzt schon voll! Ich brauche dringend eine Zigarette.“
 

„Ja, ja. Wie immer wenn du schlecht drauf bist.“ Ohne seinen älteren Freund anzuschauen nahm Maxime neben ihm Platz und seufzte leise, während er ihn los ließ und gemächlich die Schulsachen auf seiner Hälfte des Tisches ausbreitete. Unterdessen schielte er flüchtig auf die Armbanduhr. Bis jetzt war ihr Geschichtslehrer zwei Minuten zu spät, das hieß, es würde bestimmt noch mindestens fünf Minuten dauern, bis er dann auch wirklich die Klasse betrat und den Test begann. Hoffentlich zog er ihnen diese Zeit nicht von der Klausur ab!
 

„Tja! Und ich weiß auch, wer die Schuld für diesen Umstand trägt.“, brummte Raphael und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Der Sturm in seinem Herzen wurde immer schlimmer und die eisige Kälte immer gefährlicher.
 

„Du?“, erinnerte Maxime Raphael nur allzu gerne an die Tatsachen zurück. „Immerhin hast DU mich geschubst, worauf ich fast mit den Mädchen zusammen geprallt bin. Von alleine passiert so was nicht.“
 

„Davon rede ich doch gar nicht mehr.“ Die Wange in seine Hand gebettet schaute Raphael aus dem Fenster und zeigte Maxime die kalte Schulter, während er brummend die Augen verdrehte. „Du kapierst aber auch gar nichts, was? Ich wollte dich vor ihren Anschuldigungen retten, aber natürlich musstest du, kleiner Kämpfer für Gerechtigkeit, mir wieder mal in die Quere kommen. Pah! Dabei wollte ich dir wirklich nur helfen!“
 

„Indem du Anderen an die Kehle gehst?“, fragte Maxime unbeeindruckt, der den Kopf ebenfalls abgewendet hatte und gegen seine Faust lehnte. „Dann kann ich gerne darauf verzichten. Danke der Nachfrage!“
 

Weitere Minuten verstrichen in denen sie sich bissige Kommentare um die Ohren hauten, dann ging plötzlich die Klassenzimmertüre auf und ein großer, schlanker Mann, Anfang dreißig betrat den Raum mit federnden Schritten. Nach außen hin wirkte der Lehrer wie ein unangenehmer Wadenbeißer, aber sobald man ihm seine Augen sah, erkannte man, dass er eigentlich ein ziemlich netter Kerl war. Bis jetzt hatte er noch keinen Schüler eine schlechte Note gegeben, es sei denn, sie war gerechtfertigt.
 

Maxime grinste als er den Stapel weißer Blätter in der Hand des Lehrers erblickte, Raphael und alle anderen Schüler stöhnten genervt. Ahh, da fing der Montagmorgen doch schon mal Wunderbar an...
 

„Guten Morgen.“, begrüßte der Lehrer die Klasse freundlich und blieb mit einem lächelnd auf den Lippen vor der Tafel stehen. „Bitte nehmt alle Taschen und Unterlagen vom Tisch. Wir schreiben jetzt den angekündigten Geschichtstest, und ich hoffe, ihr habt alle dafür gelernt. Dies ist eure letzte Klausur in meinen Fach, das heißt, das ihr euch anstrengen müsst wenn ihr mit einer guten Noten in das nächste Halbjahr möchtet. So, mal sehen...“ Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr über der Türe, dann schaute er wieder in die Menge. „Ihr habt spätestens bis um 9. 15 Uhr Zeit, danach möchte ich alle Bögen hier vorne auf dem Schreibtisch haben. Diejenigen die früher fertig sind, können mir die Klausur natürlich schon früher abgeben und leise in die Pause gehen. Danach geht es wie gewohnt weiter.“
 

Freudig klatschte sich Maxime bei diesen Worten in die Hände und räumte eiligst die ausgepackten Materialien in seine Schultasche zurück. Mit auf Halbmast gesenkten Lidern suchte er Raphaels Blick, um zu sehen, wie er mit der „freudigen“ Nachricht umging, und wann die ersten Hilfeschreie zu erwarten waren. Doch Raphael sah entgegen allen Erwartungen ziemlich gefasst aus. Er hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst und rieb Gedankenversunken über seine schwarz lackierten Fingernägel. So ein Anblick war für Maxime ungewohnt. Vor Klausuren wurde Raphael normalerweise zum Knallfrosch und verbreitete überall Unruhe und Panik, aber heute saß er so steif da wie ein Zinnsoldat.
 

Danach hörte Maxime ein leichtes Kratzen und sah wieder nach vorne, wo ihrer Lehrer grade die vorgegebene Klausurzeit und die verschiedenen Themen an die Tafel schrieb.
 

„Bist du nun zufrieden?“, sprach Raphael ihn plötzlich von der Seite an.
 

„Mir könnte es nicht besser gehen!“, zischte Maxime dennoch ruhig zurück, was ihn selbst verwunderte. „Und? Siehst du jetzt ein das du einen Fehler gemacht hast?“
 

Arrogant schnippte sich Raphael eine Strähne aus dem Gesicht. „Nein.“, sagte er kalt und vollkommen gelassen. In den violetten Augen lag das Gefühl von sicherer Entschlossenheit, das man nicht so einfach verstecken konnte.
 

Maxime zog beleidigt eine Schnute. Dieser eingebildete Idiot wollte selbst im Angesichts des Todes nicht klein bei geben! Möglicherweise hatte Raphael doch für die Klausur gelernt und vorhin nur eine Show abgezogen? Bei ihm wäre Alles möglich. Es gab nicht viele Menschen, die das Talent besaßen Maxime zu überraschen, doch Raphael gehörte zu den Menschen, die solche Wunder zu vollbringen vermochten.
 

Aber es gab sowieso nur wenigsten Leute, die Raphael wirklich kannten.
 

Sogar Maxime, sein bester Freund, hatte viele Jahre gebraucht um aus Raphaels Verhalten schlau zu werden. Anfangs, dachte er wie die anderen Menschen die ihn zu kennen glaubten. Zu Beginn war Maxime auch der festen Überzeugung gewesen, das Raphael nur ein aufgeblasener Vollidiot wäre, der sich gerne in den Mittelpunkt drängte. Aber mit der Zeit fiel ihm auf, dass sein bester Freund das nicht bewusst tat, sondern seine charismatische Ausstrahlung ihn immer wieder unweigerlich zum Zentrum des Geschehens werden ließ.
 

Anstatt weiter darüber nachzudenken, bemerkte Maxime plötzlich die Anwesenheit des Lehrers und streckte seine Hand aus, damit er den angebotenen Papierbogen entgegen nehmen konnte.
 

„Danke, Herr Asthon.“, schnurrte er und lächelte den jungen Mann mit einen lasziven Ausdruck auf den rot geschminkten Lippen an.
 

Wie immer wenn Maxime ihn so offenkundig anbaggerte begann Herr Asthon zu grinsen, schüttelte amüsiert seinen Kopf und gab Raphael auch einen Test, bevor er zur der nächsten Sitzreihe ging und dort die restlichen Blätter verteilte.
 

Vermutlich hatte Raphael die Szene aus dem Augenwinkel beobachtet, denn er zeigte seine Abscheu mit einem genervten Stöhnen. .„Wie erbärmlich. Flirtest du wieder mit ihm?“, fragte er spitz und leise.
 

„Na und? Ich darf flirten mit wem ich will. Ich bin Single und niemanden Rechenschaft schuldig. Und dir erst recht nicht.“
 

Maxime beäugte seinen besten Freund misstrauisch, er konnte sich den jähen Anflug von Eifersucht in seiner Stimme nicht erklären. Wie konnte er es wagen, nach der Situation von eben im Schulflur, solche Anforderungen zu stellen? Wo lag Raphaels Scheiß-Problem?
 

Er klang wie ein ausgehungerter Wachhund dem man seinen Knochen abgenommen hatte!
 

„Das ist dein Lehrer.“, sagte Raphael unbeeindruckt im Flüsterton. Dem Klausurbogen vor seiner Nase schenkte er nur kurz seine Aufmerksamkeit, dann fixierte er Maxime wieder . „Und das ist verboten. Irgendwie... kommt es mir so vor... als ob du in der letzten Zeit ein bisschen unterfordert bist. Wann hattest du eigentlich deinen letzten One-Night-stand? Wenn man bedenkt, dass wir schon wer weiß wie lange nicht mehr Feiern waren, ist das sicher auch schon eine Weile her.“
 

Mit einen Fauchen wollte Maxime nach Raphaels Bein treten, doch leider verkalkulierte er sich vor Wut und stieß den Fuß heftig gegen das Tischbein. Kurz musste er die Zähne zusammen beißen um keinen Schmerzensschrei auszustoßen, stattdessen begnügte er sich damit einen kleinen Fluch in den Raum zu werfen.
 

Bis auf Raphael schien das aber niemanden zu stören; in Wahrheit waren die meisten schon mit der Klausur beschäftigt und kümmerten sich gar nicht um ihre Klassenkameraden. Wie es aussah, zeigte die Mahnung von Herr Asthon auf den einen oder anderen seine Wirkung...
 

„Wenn du lachst, bringe ich dich um!“
 

Das waren nur sieben, kleine Wörter und doch hatte Maxime sie so intensiv ausgesprochen, dass das aufkeimende Grinsen in Raphaels blassen Gesicht so schnell verschwand, wie es gekommen war.
 

Den Atem anhaltend beobachtete Maxime die wechselnden Emotionen in den Augen seines Freundes: Zuerst war da Anspannung, weil er nicht wusste was er machen sollte, dann Trauer, weil er seelisch sofort Mitleid wenn Maxime Schmerzen hatte und dann... Faszination? Ärger? Maxime konnte nicht definieren was er sah.
 

„Okay...“, murmelte Raphael und biss sich kurz auf die Unterlippe. „Wir streiten nachher weiter. Jetzt müssen wir erst mal produktiv werden...“
 

*xXx*
 

Schweißgebadet und mit zitternden Fingern legte Maxime den Kugelschreiber endgültig auf den Tisch zurück. Igitt! Seine langen Haare klebten ihm vor lauter Nervosität wie ein lästiger Kaugummi im Gesicht fest. Die Kontrolle über die Panik hatte er schon bei der ersten Testfrage verloren, jetzt war er bereit zu sterben und in die Hölle zu gehen.
 

Maxime schluckte schwer und kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals an, der ihn immer mehr zu

ersticken drohte.
 

Diesen Druck konnte er nicht länger aushalten! Scheiß auf das Abitur, scheiß auf das verfickte Medizinstudium.
 

Maxime nahm ein letztes Mal den Klausurbogen in die Hand und las die einzelnen Aufgaben sowie seine geschriebenen Antworten durch, aber mittlerweile konnte er keine Fehler mehr finden.
 

Okay... Die Geschichtsklausur war schwerer gewesen, als er vermutet hatte.
 

Die Zeit war so schnell an Maxime vorbei geflogen, dass er es sich kein einziges Mal gewagt hatte um auf die Uhr zu schauen. Aber jetzt war es vorbei. Nun stand er Wort wörtlich vor der Qual der Wahl; Sollte er die Klausur zum vierten Mal durchlesen, oder sie endlich bei Herr Asthon abgeben?
 

Hoffentlich konnte er sich auf seinen Verstand verlassen, hoffentlich hatte er Raphael gegenüber keine zu großen Töne gespuckt. Apropos, ob es ihm bei der Klausur ähnlich ergangen war?
 

Nach Luft ringend löste Maxime den Blick von den Papieren und nutze die Gelegenheit, um seine Augen über die vorderen Sitzreihen gleiten zu lassen. Für ein paar Sekunden streift ihn das beißende Gefühl der Enttäuschung. Keiner saß mehr im Klassenraum – bis auf ihn natürlich. Mal wieder war Maxime der letzte Schüler, der seinen Test abgab. Wieso, verdammt nochmal, mussten alle anderen immer schneller fertig sein? Dabei hatte er doch sicher doppelt so viel gelernt wie sie!
 

Unwillkürlich musste Maxime lächeln, auch wenn es ein trauriges Lächeln war. Tja, als Streber hatte man es schon nicht einfach. Und als solcher gab es auch gewisse Spielregeln, an die er sich halten musste... aber schon alleine dieser Gedanke verpasste Maxime schlagartig Übelkeit.
 

Er wollte zwar gute Noten bekommen und die gewissen Vorteile eines Strebers genießen, aber wenn es bedeutete, das ihn seine Mitschüler deswegen noch schlimmer hänselten als ohne hin schon, wäre er lieber ein Idiot. Ein Idiot, der keine guten Noten schrieb, aber dafür beliebt war.
 

„Bist du fertig?“, fragte Herr Asthon plötzlich mit sanfter Stimme und lächelte den zögernden Schüler vom Lehrerpult aus an.
 

Maxime konnte die Geste nur halbherzig erwidern. Hoffentlich waren seine Ängste unbegründet und nur eine Laune seiner Fantasie. „Ja, bin ich.“
 

Langsam stand er auf, nahm den Klausurbogen in die Hand und warf sich seine Lederjacke über die Schulter, damit er sofort in die Pause gehen konnte. Als er beim Pult ankommen war, zogen sich seine Mundwinkel kaum merklich nach unten.
 

„Und? Bist du gut durchgekommen?“, wollte der Lehrer wissen als er den Bogen entgegen nahm.
 

„Es geht.“ Maxime schluckte, zwang sich aber ein Lächeln auf den Mund. „Ich war ehrlich gesagt ein bisschen überrascht über den Umfang der Klausur. Aber ich denke dennoch, dass ich es nicht total vergeigt habe.“
 

„Das denke ich auch. Ich weiß ja das du viel lernst und sehr genau bist.“ Herr Asthon legte den letzten Test auf den Papierstapel aus weißen Blättern und ein tiefer Seufzer entwich ihm, weil er den zweifelnden Blick von Maxime bemerkt hatte. „Warum guckst du mich so ungläubig an? Ich sagte die Wahrheit. Du bist erst wenige Monate hier auf dem Gymnasium, und doch gehörst du schon zu den leistungsstärksten Schülern dieser Stufe. Was möchtest du denn noch erreichen? 110 Protzend? Du musst ein bisschen mehr Vertrauen in deine Fähigkeiten haben.“
 

Ein sanftes Strahlen erhellte Maximes düstere Miene. Es tat unglaublich gut wenn er mal für seine Bemühungen gelobt wurde – Oft hatte er das Gefühl, das niemand seine Anstrengungen bemerkte.
 

„Ich weiß dass meine Leistungen gut sind. Aber es ist nicht so einfach für mich selbstbewusst zu sein.“ Er ließ den Kopf hängen, betroffen wandte Maxime den Blick ab damit er dem Lehrer nicht in die Augen schauen musste. „Gute Noten sind für mich was Selbstverständliches. Auch wenn ich keine Eltern mehr habe die ich damit glücklich machen kann, fühlte es sich trotzdem falsch an, wenn ich nicht mein Bestes gebe und das höchstmögliche Maß der Dinge erreichen will.“
 

Herr Asthon schaute Maxime feste in die Augen. Er war ein guter Beobachter und natürlich hatte er von der Klassenlehrerin erfahren, dass ihr neuer Schüler bis vor Kurzem in einem Kinderheim lebte. „Du machst dir viel zu viel Druck, Maxime. Wem möchtest du etwas beweisen? Wie gesagt, willst du 110 von 100 Prozent erreichen? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und darüber hinaus eine Sache, die du niemals erreichen kannst, weil sie nicht existiert. Du gibst dein Bestes, deine Noten befinden sich fast alle im oberen Bereich und damit solltest du wirklich mehr als nur zufrieden sein.“
 

Langsam hob Maxime den Blick an und musterte seinen Lehrer einen Moment lang. Jetzt er war wieder auf der Höhe. Unglaublich, wie viel der Mann nach so kurzer Zeit schon von ihm wusste. Ja, er neigte zum Perfektionismus. Ja, er gab sich mit allen Sachen die machte viel Mühe, weil er sonst das Gefühl bekam, jemanden zu enttäuschen.
 

„Sie haben Recht.“ Verstimmt darüber, dass jemand hinter seine wie sonst immer perfekt sitzende Fassade gesehen hatte, zog Maxime die Unterlippe zwischen seine Zähne. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung, um Herr Asthons Aufmerksamkeit wieder von seiner Person zu lenken. So sehr ihn die Fürsorge und Aufmerksamkeit des Lehrers auch gefiel: Er konnte keinen Lehrkörper gebrauchen, der ihn wie einen labilen Schwächling behandelte! Er wollte respektiert werden, verdammt nochmal, und geheucheltes Mitleid gehört nun mal nicht dazu. „Ich muss anfangen mich mehr schonen, sonst habe ich später im Berufsleben ein echtes Problem. Das sagt mir Raphael auch immer wieder.“
 

Zufrieden mit dieser Antwort räumte Herr Asthon die Klausurbögen in seine Tasche und stand danach auf.„Gut so. Dann solltest du wenigstens auf ihn hören. Er meint es doch nur gut mir dir und man sieht, wie sehr er dich mag. Für beste Freunde ist so was doch selbstverständlich, oder?“
 

Maxime runzelte die Stirn… So langsam wurde ihm das hier ein wenig zu brenzlig. Woher wusste der Kerl dass Raphael sein bester Freund war?
 

DAS waren ja pikante Details, die ein Lehrer nicht unbedingt wissen musste. Wie genau hatte Herr Asthon ihn bitteschön beobachtet? Hoffentlich dachte er nicht, dass er bei Maxime landen konnte nur weil er ihn des Öfteren provokant an grinste, oder andere Andeutung machte. Das Flirten lag ihm zwar in den Adern, aber mit einen Lehrer in die Kiste zu hüpfen gehörte nicht unbedingt zu Maximes Absichten.
 

Lässig legte er den Kopf auf die Seite und betrachtete Herr Asthon eindringlich. Na gut, zugegebenermaßen sah der Mann nicht schlecht aus, sein Körper wirkte trainiert und auch sein Gesicht war nett an zuschauen, aber Maxime bevorzugte doch eher jüngere Partner welche sich in seiner ungefähren Altersklasse befanden.
 

„Ich gehe jetzt in die Pause. Bis später.“, murmelte Maxime und versuchte, nicht zu verführerisch auszusehen, was ihm mit den schwarz geschminkten Augen und den aufreizenden Klamotten nicht leicht fiel.
 

Damit sollte ihr Gespräch wohl beendet sein. Währenddessen schlüpfte Maxime in seine schicke Designerjacke und drehte sich langsam zur Türe um. Auch er wollte wenigstens noch 20 Minuten von der Pause haben und sich von den Strapazen der Klausur erholen. Außerdem musste er auch noch mal Raphael den Kopf waschen. Sein Versprechen ihren Streit in der Pause fortzusetzen hatte er nicht vergessen; Schließlich wollte Maxime die Sache nun klären und aus der Welt schaffen.
 

Er nickte seinen Geschichtslehrer zum Abschied und entfernte sich aus seinem Blickfeld. Auf dem Weg in Richtung Ausgang bemerkte Maxime jedoch, dass ihm Herr Asthon hinterher schaute und das gefiel dem rosahaarigen Schüler gar nicht. An welcher Körperstelle die dunklen Augen klebten, konnte er sich nur denken. Dieser Widerling, pfui!

Sein Hintern war natürlich durchaus anziehend, ja… und doch würde der Typ ihn niemals in die Finger bekommen. Das war ausgeschlossen. In seinen Händen begann es zu kribbeln und er spürte, wie der Wunsch in ihm aufstieg, sie dem Perversling mit ordentlichem Schwung gegen die Wange zu klatschen.
 

Wo war Raphael wenn man ihn brauchte!? Jetzt hätte er seinen blonden Freund gerne in der Nähe gehabt. Und dabei war es ihm auch egal ob er grade nicht ein bisschen überreagierte, und Herr Asthon eben vielleicht nur freundlich zu ihm sein wollte. Trotzdem, Maxime brauchte einen Grund um ihn schlecht zu machen. Es hasste es wenn sich fremde Leute in seine Angelegenheiten einmischten, oder meinten den Psychologen zu spielen nur weil sie mit anderen Menschen zusammen arbeiteten und Maxime aus einen schwierigen sozialen Umfeld kam.
 

Der Typ sollte sich gefälligst aus seinem Leben raus halten! Nur weil er bis vor Kurzen in einem Kinderheim gelebt hatte, war er nicht gleich mit Problemen geschlagen! Das war schon wieder so ein Vorurteil mit dem sich Maxime des Öfteren auseinander setzten musste. Alle Lehrer dachten immer dass er spezielle Fürsorge benötigte, nur weil er ohne seine Eltern lebte.
 

Als Maxime endlich auf dem Gang stand musste erst Mal durchatmen. „Gerettet.“, murmelte er leise und schloss kurz seine Augen. Himmel, Arsch und Zwirn! Zum Glück war er hier draußen alleine, da sich grade doch ein wenig Panik in seiner Magengrube breit machte.
 

Was war das denn schon wieder für ein schräges Erlebnis gewesen?! Bis jetzt hatte ihn noch nie eine Lehrperson angemacht. Aber wenn wunderte das schon? Er war wohl der einzige Transvestit auf dieser Schule, vielleicht sogar in der ganzen Stadt. Natürlich wurde der eine oder andere Kerl da neugierig und wollte wissen, wie es sich mit einen anderen Mann so anfühlte. Aber Maxime wollte sich für diesen Zweck ganz sicher nicht freiwillig zu Verfügung stellen, eine Schlampe war er noch lange nicht.
 

Verdammt, dachten die Leute denn so abwertend von Transvestiten? Sahen sie in ihnen nur ein Spielzeug...? Eine nette, kleine Gelegenheit um ihre geheimen Fantasien zu stillen...?

Angepisst zog Maxime die Nase hoch und schüttelte seinen Kopf. Tzz! Er hatte etwas Besseres verdient als so was Primitives!
 

Er sollte Raphael suchen gehen... ihn anschnauzten.... dann die Ohren wegen Herr Asthon voll heulen... und zu guter Letzt verlangen, dass er ihn Zukunft nicht mehr mit ihren Lehrer alleine in einem Raum zurück ließ...
 

Jede Art von Schutz und Zweisamkeit war Maxime jetzt willkommen. Er wollte auf andere Gedanken kommen und hoffte doch sehr, dass er das in Raphaels Gegenwart konnte...
 

Wenige Sekunden später hatte er den Pausenhof erreicht.
 

Der Wind blies eine kühle Brise über den großen Platz und er schauderte. Maxime wusste, dass sein bester Freund in den Pausen immer irgendwo hier draußen stand und eine Zigarette mit seinen ehemaligen Klassenkameraden rauchte. Im 7. Schuljahr war Raphael nämlich sitzen geblieben, aber im Gegensatz zu Maxime konnte er sich eines hohen Beliebtheitsgrades erfreuen und hatte noch viele Freunde in der alten Klasse.
 

Manchmal versetzte Maxime diese Tatsache einen Stich. Natürlich freute er sich für Raphael, doch er spürte jedes Mal das ihm die Eifersucht in die Kehle kroch, wenn der blonde Herzensbrecher mal wieder besonderes innig mit einem seiner ehemaligen Kollegen umging.
 

Aufmerksam und konzentriert suchte Maxime den Schulhof nach seinem Freund ab; Zuerst schaute er bei der Raucherecke nach wo Raphaels meistens war, dann besuchte er ihren Stammplatz unter der alten Eiche mit der kleinen Rasenfläche zu seinen Wurzeln, und zum Schluss trugen ihn seine Füße zum Fahrradkäfig, wo Raphael heute Morgen sein Mountainbike abgestellt hatte. Und tatsächlich fand er ihn dort. Aber nicht nur er, sondern auch eine größere Gruppe von Jugendlichen verbrachte ihre Pause am Fahrradkäfig. Sie lachten mit einander und zogen ebenfalls an ihren Zigaretten.
 

Schon von weiten war ein Mädchen mit haselnussbraunen Haaren, kleiner Stupsnase und dunkelgrünen Augen auf Maxime aufmerksam geworden, und betrachtete den Neuankömmling mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
 

„Hi Maxi! Hier sind wir!“, rief das Mädchen mit heller Stimme und riss beide Arme in die Höhe.

Kapitel 3: Das Wiedersehen - alle guten Dinge sind... zwei!

Die bunte Gruppe aus Teenagern schien ganz in ihre Gespräche vertieft zu sein, doch Maxime entging trotzdem nicht, dass sich ein Mädchen aus der Formation gelöst hatte und beide Hände in die Luft streckte. Sie lächelte und ihre dunkelgrünen Augen funkelten spitzbübisch im Sonnenlicht.
 

„Hey.“, sagte Maxime nur ruhig. Seine blauen Augen verengten sich zu Schlitzen, als er seinen Blick über den Körper des Mädchens gleiten ließ und richtete den Zeigefinger dann drohend auf ihre Nasenspitze. „Warum trägst du heute einen Rock?“
 

„Weil es laut Wetterbericht heute warm werden soll.“ Irritiert zog die Braunhaarige ihre schmalen Augenbrauen zusammen und schien offensichtlich nicht zu wissen, was Maxime von ihr wollte. „Sieht der denn so mies aus, oder warum fragst du?“
 

„Nein! Im Gegenteil, der sieht total süß aus. Das ist es doch grade!“, stieß Maxime hervor und machte einen kleinen Schritt nach vorne um das Mädchen in eine feste Umarmung zu schließen.  Für ein paar Sekunden hob er ihre zierliche Gestalt in die Luft und drückte sie kurz an seine Brust. „Jetzt muss ich wieder aufpassen, dass dich kein Perversling anbaggert!“
 

„Ach so!“, quietschte sie etwas von der Rolle und erschrocken von dem plötzlichen Überfall. „Ich dachte schon, das du  Sauer auf mich bist, oder so.“
 

Maxime lachte leise und setzte die Schülerin behutsam auf den Boden zurück. Glucksend sah er auf das Mädchen hinab, die wieder auf ihren Füßen stand und sich immer noch an ihm festhielt. „Wäre ich sauer auf dich, würde ich gar nicht mit dir reden.“
 

Das Mädchen hieß Charlotte und gehörte zu den besagten Freunden aus Raphaels alter Klasse. Leider war sie für ihre 16 Jahre ein wenig zu klein geraten und in Sachen weibliche Rundungen schien der liebe Gott es auch nicht gut mit ihr gemeint zuhaben. Charlottes Hüfte und Busen waren trotz der Pubertät und die der damit einhergehenden Hormonumstellung, immer noch so flach, wie die eines Jungen.
 

Und da Maxime nun mal Raphaels bester Freund war, dauerte es natürlich nicht lange, bis er selbst Charlotte kennenlernte und sich irgendwann mit ihr anfreundete. Anfangs war sie ihm gegenüber sehr schüchtern und zurückhaltend gewesen, aber mittlerweile hatte sie Vertrauen gefasst und genoss seine Anwesenheit sichtlich. 
 

„Du benimmst dich immer, als wärst du mein Vater!“ Murrend rümpfte Charlotte ihre Nase. Plötzlich spürte sie die Blicke der anderen Schüler im Nacken und das verursachte ihr eine unangenehme Gänsehaut. Alle starrten sie an, nur Raphael nicht. Er ignorierte die beide und beschäftigte sich lieber mit seinen anderen Freunden. Unwillkürlich ließ sie von Maxime ab. „Wie heißt es nochmal so schön: Big Brother is watching you, hmm? Da kommt man bei euch nicht dran vorbei.“
 

„Natürlich. Leider bin ich noch nicht mal älter als du, aber das passt schon.“
 

„Da hast du recht..“ Nun war es Charlotte, die grinste und dem Rosahaarigen den Zeigefinger in die Wange rammte. „Du bist erst 15 Jahre und benimmst dich schon wie ein alter Mann! Wann hattest du eigentlich deinen letzten Freund? Du bist neuerdings immer so unausgeglichen und übertrieben anhänglich...“
 

„Hey, habt ihr euch abgesprochen oder was? Raphael hat mich das vorhin auch schon gefragt.“ Mit einem gequälten Seufzen rieb sich Maxime über sein Gesicht, dann griff er nach Charlottes Arm und zog sie zum Fahrradkäfig. Dort angekommen lehnte er den Rücken gegen die Gitterstäbe und ließ den Blick einmal über den Pausenhof wandern. „Warum denken alle, dass ich mich verändert habe? Mir geht es doch gut, Mensch!“
 

„Das stimmt nicht, Maxime. Du bist unglücklich und wir als deine Freunde bemerken das nun mal.“ Charlotte tat es Maxime gleich und drückte ihre Kehrseite ebenfalls gegen die kühlen Gitter des Fahrradkäfigs. „Die Wohngemeinschaft und deine neuen Mitbewohner machen dir das Leben schwer und ich kann verstehen, wenn du mit dieser Situation alles andere als zufrieden bist. An deiner Stelle würde es mir nicht anders ergehen.“
 

„Das sind keine Mitbewohner, das sind Abgesandte des Teufels.“, knurrte Maxime plötzlich frostig und stopfte die Daumen in die Seitentaschen seiner Lederjacke. „Wenn ich gewusst hätte,  mit welchen Menschen die mich zusammen stecken, hätte ich das Projekt wohl abgelehnt. Aber na ja, dafür wohne ich nicht mehr 20 km weit entfernt und kann mit dir und Raphael auf eine Schule gehen. Das ist das einzig Positive an dieser Geschichte.“
 

Charlotte nickte mitfühlend. „Stimmt. Diese Mädchen sind schon anstrengend, wenn das wahr ist, was du immer über sie erzählst. Aber irgendwie ist das doch voll die Ironie. Du bist schwul und musst mit 2 Mädels zusammenleben. Ein heterosexueller Mann würde sein Glück kaum fassen können. Ähm... Die beiden sind Geschwister, oder?“
 

„Nein, eher so was wie beste Freunde.“ Von hier aus hatte Maxime einen guten Blick auf die Raucherecke, wo sich allerdings leider keine attraktiven Schüler tummelten, sondern nur die langweilen Typen die dort wie jeden Tag standen und ihren Lungen etwas Gutes taten. „Trotzdem sind sie ätzend und stärken sich gegenseitig den Rücken. Die eine ist total spießig und die andere ein männergeiles Flittchen. Eigentlich müsste man meinen, dass die nicht gut mit einander auskommen, aber das Gegenteil ist der Fall. Schlimm, ey. Und mit so was muss ich unter einem Dach leben.“
 

„Hmm, gib ihnen doch noch etwas Zeit. Vielleicht, musst du dich einfach noch an sie gewöhnen.“ meinte Charlotte und versuchte ein aufmunterndes Lächeln auf ihre Lippen zu legen. 
 

„Charlotte…Diese beiden werden sich niemals ändern. Wir waren uns von der ersten Sekunde an unsympathisch und an dieser Tatsache, wird sich niemals etwas ändern. Wenn ich volljährig bin, sind die mich sowieso los. Also muss ich mir auch keine Mühe geben, um doch mit ihnen klar zu kommen. Sie hassen mich, ich hasse sie. Daran gibt es nichts zu rütteln.“
 

„Na und?“, brummte Charlotte plötzlich und bohrte ihren Zeigefinger mit Nachdruck in Maximes Hüfte. „Und was war damals mit Raphael? Als du ihn vor 3 Jahren kennengelernt hast, habt ihr euch auch nicht verstanden. Das ist erst nach und nach gekommen. Und jetzt guck mich nicht so böse an, du weißt das ich Recht habe!“
 

„Das mit Raphael war etwas anderes.“, konterte der Angesprochene. Er rieb sich über die Stirn und seufzte laut. Oh Mann, Charlotte war einfach viel zu gut für diese Welt; sie versuchte immer an jeder schlechten oder ausweglosen Situation etwas positives zu finden. „Wir haben uns nicht gehasst und da gab es von ersten Moment an etwas, das uns mit einander verbunden hat. Bei Scarlett und dieser japanischen Sumpfkuh gibt es so was nicht.“ 
 

„Aber...-“ 
 

Doch Maxime drückte ihr blitzschnell die Hand auf den Mund bevor sie weiter sprechen konnte. „Nein, kein aber.“, sagte er bestimmend. „Ich werde die beiden niemals akzeptieren, genau so wenig, wie sie es mit mir tun. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie sich immer für Gemeinheiten ausdenken, um mich zu quälen. Jeden Tag muss ich mich ihren verrückten Spielen stellen. Scarlett und Yukiko sind Menschen, die meine Freundschaft nicht verdienen.  Und können wir jetzt bitte über ein anderes Thema reden? Ich mache mir sowieso schon viel zu viele Gedanken über diese dummen Ziegen.“
 

Charlotte ging die Sache ruhig an: zähneknirschend nahm sie die schmalen, fremden Finger von ihrem Mund weg und presste bedrohlich die Lippen zusammen. „Du bist eine Zicke. Es ist kein Wunder, das es bei euch zuhause den ganzen Tag Terror gibt. Ihr seid doch alle aus dem gleichen Holz geschnitzt!“
 

„Tough!“ Maxime grinste, worauf Charlotte ihre angespannte Muskulatur etwas lockerte. Neugierig folgte sie seinem Blick über den Pausenhof und lächelte, als sie bemerkte, wohin Maxime schaute.
 

„Bespannst du wieder die Leute?“, fragte sie und ihre Augen richteten sich nun ebenfalls auf die Ecke mit den rauchenden Mitschülern. „Und, ist heute Mr. Right für dich dabei?“
 

Schnaubend schubste Maxime das Mädchen ein Stückchen zur Seite. „Heh, Niemals! Auf dieser Schule gibt es keine anständigen Männer, nur Flaschen und Arschlöcher. Und das weißt du auch.“ 
 

Ohne die Antwort abzuwarten huschten Maximes Blick wieder zu der Raucherecke und betrachteten gelangweilt die einzelnen Leute. Dort standen allerhand Personengruppen. Streber, Machos, einige Lehrer, Normalos und aufgetakelte Tussen. Nichts Neues und vor allem nichts Interessantes für Maxime. Seinen Mr. Right gab es hier nicht.
 

Maxime seufzte zum wiederholten Mal und drückte sich noch mehr gegen die Metallstangen in seinem Rücken. 
 

Mr. Right nannte Charlotte ihn also. Ob sie das wohl von Raphael aufgeschnappt hatte? Warum, zum Geier, wollte ihn alle Welt plötzlich mit einen Partner sehen...? Ob sie meinten, dass er dadurch vielleicht eher die Probleme „Zuhause“ geregelt bekam? Maxime bezweifelte dies stark.
 

Der blinde Punkt, welchen Maxime die ganze Zeit über unbewusst fixiert hatte, bewegte sich plötzlich und ein jäher Schatten erweckte seine Aufmerksamkeit. Geistesgegenwärtig reckte er den Kopf in die Höhe um zu sehen, was ihn da aus der Konzentration gerissen hatte.
 

In Mitten der Raucherecke entdeckte er eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Jugendlichen, die ein wenig abseits standen und offenbar gut mit einander auskamen. Sie lachten, rissen Scherze und sahen trotzdem irgendwie... erhaben... aus? 
 

Maxime verengte seine Augen zu Schlitzen und betrachtete die seltsamen Schüler etwas genauer. 
 

Sie alle wirkten wie die Kinder von reichen Leuten. Jeder von ihnen trug teure Markenklamotten, hielt ein noch teureres Smartphone in der Hand und über den Schmuck an ihren Armen oder Hälsen, musste man sowieso nicht sprechen. Jedes noch so kleine Detail unterstrich ihre Macht und das Ansehen innerhalb der Schule deutlich. Für solche Leute waren andere Schüler wie Maxime oder Charlotte nur billige, namenlose Statisten in dem Film, der ihr Leben ablichtete. Nichts, wo nach was man schauen musste oder kennen sollte, da sie ohnehin in der Masse aus tausenden Gesichtern verschwanden.
 

Arztkinder oder Anwaltskinder mutmaßte Maxime und leckte sich mit der Zunge über seine weißen Schneidezähne. Mit solchen Leuten hatte er bis jetzt noch nie etwas zu tun gehabt. Sie spielten in einer ganz anderen Liga als er, und mussten sich ihr Reich ganz sicher nicht mit 2 nervigen Gören teilen. Früher an seiner alten Schule hatte Maxime ein schlechtes Bild von diesen Menschen gehabt. Neid verschleierte seine Sicht auf die Realität. Wieso lebten Einige in so günstigen Verhältnissen und andere, so wie er, in so Ärmlichen? Aber mit der Zeit begriff er, dass sie doch nichts dafür konnten; Sie waren nun mal in eine reiche Familie mit einen gewissen Status geboren worden und Maxime eben nicht. Das war nichts, was er ihnen vorwerfen konnte. Heute akzeptierte er sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, was sie im Gegenzug von ihn dachten, konnte Maxime egal sein.
 

Er wollte seinen Blick grade in eine andere Richtung drehen, doch dann sprang ihn plötzlich wieder der Schatten in die Augen, welcher sein Interesse überhaupt erst geweckt hatte.
 

Einen von diesen Snobs kannte Maxime doch! Zuerst hatte er ihn nicht bemerkt weil er nicht solche teuren Klamotten wie die Anderen trug, aber dafür strahlte er in der Masse wie ein schwarze, mit Dornen versehene Rose.
 

Was zum Teufel... das war ER! So eine blasse Gesichtsfarbe, in Kombination mit so dunkeln Haaren gab es nur einmal.  Das war der Kerl, der ihn vorhin angerempelt hatte... Dieser Penner aus dem Bus!
 

Ungläubig klappte Maxime seine Kinnlade wieder zu, welche ihm vor Schreck beinahe auf den Boden gefallen war. Scheiße, dachte er nur und versuchte schnell wo anders hin zuschauen, aber die Person bahnte seinen Blick mit ihrer bloßen Präsenz.
 

Oh Fuck! Das war übel... was war richtig übel! Maxime wusste doch, dass er diesen unhöflichen Typen von heute Morgen schon mal irgendwo gesehen hatte und jetzt wusste er auch wieder, wo das gewesen war! 
 

HIER, in ihrer Schule! 
 

„Hey...“, zischte Maxime leise und griff nach Charlottes Handgelenk. Jetzt wollte er natürlich auch wissen mit wem er es womöglich zu tun bekam. Das er bei den Snobs stand, war schon mal ein schlechtes Zeichen. Leider besaßen solche immer einen gewissen Einfluss auf andere Menschen und konnte die Masse in Hysterie versetzen. 
 

Die Angesprochene neigte den Kopf und schaute ihm fragend in die Augen. „Ja?“, summte sie neugierig.
 

„Guck mal nach da hinten.“, wies er sie an und deutete mit einen kleinen Nicken auf die Gruppe der reichen Kinder. „Siehst du diesen Jungen mit den schwarzen Haaren? Neben ihm stehen zwei Mädchen. Die eine ist blond, die andere rothaarig.“
 

„Ja.“, murmelte Charlotte ungewohnt kalt und ihre Stimme sank plötzlich ein paar Oktaven in die Tiefe. „Wieso? Interessierst du dich für ihn?“
 

„Naja, nicht direkt... er hat mich heute Morgen im Bus fast umgerannt. Kennst du ihn?“
 

Bei diesen Worten knirschte Charlotte mit den Zähnen und umfasste eine der Stangen des Fahrradkäfigs so fest, dass ihre Knöchel zum Vorschein kamen. Auf einmal hatte ihr schönes, herzförmiges Gesicht eine große Ähnlichkeit mit einem weißen Blatt Papier. „Natürlich kenne ich ihn. Jeder kennt ihn! Also wundere ich mich, wieso nur du nicht.“
 

„Keine Ahnung. Darum?“  Irritiert blinzelte Maxime gegen die Sonne und fühlte sich plötzlich wie in einen schlechten Horrorfilm hinein versetzt. Was war nur mit Charlotte los? Ihr war anzumerken, dass sie den dunkelhaarigen Rempler nicht gerade sympathisch fand. Obwohl sie ihm immer alles erzählte, hatte Maxime das Gefühl, dass er gerade dabei war, etwas wirklich Ernstes in ihr bewegt zu haben. 

Etwas in ihren großen, grünen Augen strahlte eisige Kälte aus. 
 

Wenn Alle diesen Jungen kannten und nur Maxime nicht, klang das irgendwie ziemlich beängstigend.  
 

Charlotte rieb sich mit dem Finger über die Schläfe und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Es ist nur so, dieser Junge gehört zu den Menschen... die du kennen solltest damit du weißt... mit wem du lieber keinen Streit beginnst. Er heißt Kiley Sandojé. Na, klingelt es nun bei dir?“
 

„Nein? Dann erzähl mir doch von ihm. Ich habe noch nie von einen Kiley gehört.“ Maxime sah seine langjährige Freundin gespannt an und schob seine auf einmal kalten Hände in die Innenseite seiner Jackentaschen. Da lag doch irgendwas im Busch! Verflucht! Er hatte es doch geahnt, dass ihn dieser Typ von heute Morgen nochmal Schwierigkeiten bereiten würde. Ein Hoch auf die Zukunftsvisionen seines besten Freundes!
 

Charlotte schluckte laut. „Er ist ein gemeines Arschloch...“
 

Maxime zuckte erschrocken zusammen. Oha...! Seit wann gab es solche Ausdrücke in ihrem wortkabular ?!
 

„Er ist ein Arschloch...“, wiederholte sie scharf. „Er ist das größte Arschloch in dieser Stadt. Der König der Mistkerle! Egal wie sehr die Anderen für ihn schwärmen, für mich ist er einfach nur ein Alptraum.“ Charlotte und legte so viel Verachtung in ihre Stimme, dass Maxime innerlich zusammen zuckte. „Er gehört zu den beliebtesten Schülern und alle mögen ihn weil er ja ach so zuvorkommend ist. Aber wenn man ihn erst einmal so richtig kennt, verflüchtigt sich dieser gute Eindruck ganz plötzlich und der heldenhafte Samariter wird zum egoistischen Eisschrank. Seine ganze Freundlichkeit, Toleranz und Fürsorge ist alles nur gefaked, erstunken und erlogen.  Im Inneren ist Kiley unberechenbar und kennt nur seine eigenen Bedürfnisse. Um Andere kümmerte er sich nicht im geringsten; Solange es seinem Arsch gut geht, ist alles in Ordnung!“
 

„Das war ja eine Ansprache.“, murmelte Maxime leise. Was auch immer der Kerl verbrochen hatte; Es war eine Meisterleistung, da Charlotte so schnell auf niemanden wütend wurde. „Dann hält man sich also besser von ihm fern, oder? Ich habe den Eindruck, dass er auch sehr schnell, sehr ausfallend werden kann. Im Bus habe ich heute Morgen nichts von seiner vermeintlichen Freundlichkeit gespürt, ganz im Gegenteil, er hat mich sogar richtig zur Schnecke gemacht...“ Maxime verzog sein Gesicht. „ Aber ich muss zugeben, dass ich verstehen kann wieso er so beliebt ist; Er ist schon ziemlich attraktiv.“
 

„Ich kann gar nicht nachvollziehen, was alle immer so toll an ihm finden! Nur weil er gut aussieht, ist er nicht so sofort ein besserer Mensch. Ha! Und dabei macht Kiley die Leute, die er nicht mag,  sogar nieder. Und sowas nennst du also attraktiv?“ Charlotte verschränkte die Arme vor ihrer Brust und schoss die wildesten Verwünschungen in die Richtung des Schulstars. „Vor Gewalt und Mobbing schreckt er absolut nicht zurück. Es ist wirklich zum Heulen was er sich alles erlaubt! Gerüchte besagen, dass Kiley sogar schon dafür gesorgt hat, dass einige Schüler wegen ihm die Schule verlassen haben.“
 

Maximes Blick verschwamm leicht. In seinem Bauch begann es zu kribbeln und doch tat er nichts weiter, als einen kleinen Seufzer über seine Lippen zu stoßen. 

Beliebtheit und Schönheit. Kileys demnach erschreckend kleine Welt drehte sich nur um diese beiden Eigenschaften. Wer anders war, wurde also ausgegrenzt und konnte nach einer neuen Bleibe suchen.
 

„Dann hast du Recht. Er ist wirklich ein Arschloch.“, bestätigte Maxime und nickte zustimmend.
 

Ein weiteres leises, kaum hörbares Knurren drang über Charlottes rote Lippen. Ein Schütteln durchfuhr ihren schmalen Körper und die Finger umschlossen so stark die Gitterstäbe in ihren Händen, dass die einzelnen Knöchel unter der Krafteinwirkung knackten.
 

„Na, über wenn lästert ihr da schon wieder?“
 

Kaum realisierend was die Person gesagt hatte, tauschten Maxime und Charlotte einen kurzen Blick und drehten den Kopf  dann synchron in die Richtung, aus der die Unterbrechung gekommen war.

Neben ihnen stand ein  Junge mit einer Zigarette im Mundwinkel. Das war Raphael, unverkennbar mit seinen hellblonden Haaren und den farbigen Kontaktlinsen.
 

„Du darfst drei Mal raten...“, zischelte Charlotte unwirsch und bohrte ihre Zähne in die Unterlippe. „Über Mister. Mir-scheint-die-Sonne-aus-dem-Arsch.“
 

Irritiert hob Raphael eine Augenbraue an und runzelte seine Stirn. „Über... wen?“
 

„Über Kiley.“, antwortete Maxime stellvertretend für Charlotte und vermied es aus Sturheit dem anderen in die Augen zu schauen. „Heute Morgen gab es … nun ja, wie soll ich sagen?... Eine Art Auseinandersetzung.“
 

„Aha. Was war denn los?“ Jetzt schien Raphaels Interesse doch geweckt zu sein. Ihre kleine Meinungsverschiedenheit wegen der Mädchenclique vor Schulbeginn nagte noch immer an ihm; Die Tatsache, dass Maxime seine >Hilfe< in den Wind geschlagen hatte und nicht zu würdigen wusste, ebenso. Aber wenn Maxime ein Problem mit Kiley bekommen hatte, musste er hellhörig werden. Seitdem er diese Schule besuchte, verband er viele negative Dinge mit diesem Jungen und er wusste, wie gefährlich dieser unter Umständen werden konnte. Unwillkürlich glitt sein Blick zu der Raucherecke hinüber. Natürlich kannte Raphael die eingebildeten Geldsäcke dahinten und der Nachname Sandojé war ihm erst recht ein Begriff.
 

„Ach... irgendwie ist das ziemlich blöd gelaufen.“, meinte Maxime etwas kurzsilbig. In der Zwischenzeit schaute er  flüchtig auf seine Armbanduhr, um zu sehen, wie lange ihre Pause noch dauerte. Glücklicherweise hatten sie noch ein paar Minuten Zeit, bevor Herr Asthon seinen Unterricht wieder anfing. „Als ich heute Morgen in den Schulbus eingestiegen bin, sind wir zusammen gestoßen. Daraufhin hat er mich etwas blöd angemacht und ist dann wie ein geölter Blitz verschwunden. Also ein bisschen empfindlich ist der schon, wenn ihn das direkt so aufregt.“
 

„Das ist ganz normal, das ist das typische Sandojé-Temperament. Diese ganze Familie zieht den Ärger nahezu magisch an. Die kriegen selbst mit den ruhigsten Menschen Stress.“ Raphael presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und atmete hörbar aus. Irgendwie wurmte es ihn tierisch, das er erst jetzt von diesem Streit erfahren hatte, aber er behielt seine Gedanken lieber für sich. „ Du kannst froh sein das du Kiley begegnet bist, und nicht seinem Bruder Daimon.“
 

Maxime schluckte, unterdrückte aber das mulmige Gefühl in seinem Magen. So, so, Kiley hatte also noch einen Bruder? Alles klar, wenn ein Mensch schon so einen Namen trug konnte das unmöglich etwas Gutes heißen. Welche halbwegs gescheiten Eltern benannten ihr Kind schon nach einem bösen Geist, ohne sich irgendwelche Hintergedanken darüber zu machen? Was für ein Leben musste dieser arme Junge doch führen!
 

„Er hat einen Bruder?“, wiederholte Maxime mit etwas piepsiger Stimme. Jetzt war es an der Zeit ihren dämlichen Streit zu vergessen und Raphael wieder ernst zu nehmen.„Ist der wenigstens etwas netter wie Kiley oder kommt der vom selben Schlag?“
 

„Schlimmer.“ Mürrisch zog Raphael an seiner Zigarette und inhalierte für wenige Sekunden den Rauch, ehe er ihn wieder über die Lippen nach draußen stieß. „Mit Kiley kann man noch Reden, aber bei Daimon ist Hopfen und Malz verloren. Wenn du mit ihm Streit bekommst, kannst du dich warm anziehen und am besten schon mal das Weite suchen. Der Typ hat ein ziemlich übles Temperament im Leib sitzen, dagegen ist Kiley ein Unschuldslamm.“
 

Plötzlich begann Maxime zu frösteln und rieb sich unbehaglich über seinen Arm. Das waren ja tolle Neuigkeiten, die ihm Raphael und Charlotte da vermittelten. Kurz öffnete er seinen Mund, entschied sich aber dazu ihn wieder zu schließen und grunzte nur. Wirklich, ganz tolle Neuigkeiten. 

Maxime hatte noch nie gesehen, dass seine Freunde so einen Ausdruck in den Augen trugen wie jetzt gerade. Sie waren geweitet und verdunkelt. Dort war Angst zu lesen, und Wut. 
 

„Aber mach dir keine Sorgen.“, schaltete Charlotte ihre Person wieder zum Gespräch dazu und versuchte es mit einem zittrigen, nicht sehr überzeugenden Lächeln. „Wenn Kiley keine Andeutungen gemacht hat, um dir das Leben zur Hölle zu machen, kannst du froh sein. Wenn das Unglück heute Morgen passiert ist, hat er das morgen sicher schon wieder vergessen.“
 

„Hoffentlich!“, sagte Maxime zugleich. Er betrachtete die Raucherecke noch eine Weile, währenddessen bohrte sich ein schrecklicher Schmerz in die Mitte seiner Brust. Es fühlte sich nicht so an, als würde er gleich einen Herzinfarkt bekommen, sondern eher so, als würde ihm jemand ein Messer in das Herz rammen.
 

„Ich auch, Alter.“, flüstere Raphael und drehte den Kopf auf die andere Seite, da gerade die Schulglocke erklang und damit das Ende der Pause verkündete. Er warf die Zigarette auf den Boden, wo er die zischende Glut sofort mit seinem Fuß zertrampelte. „Daimon und Kiley sind zwei Typen mit denen ich am Liebsten nichts zu tun habe. Die machen einen nur Schwierigkeiten, gemeines Rumänen-Pack! Mit der Ausnahme ihrer eingeschworenen Fangemeinde besitzen diese möchte-gern Promis doch gar keine „richtigen“ Freunde, sondern alles nur Speichellecker, die ihnen wie Schoßhündchen überall hin folgen.“
 

„Oder Leute, die Angst haben und sich durch ihre Freundschaft Schutz erhoffen.“, fügte Charlotte hinzu und machte sich mit ihren beiden männlichen Kameraden auf den Weg in das Schulgebäude. „Naja, ihre Ideologie werden wir  wohl niemals verstehen. Was habt ihr jetzt für einen Unterricht?“
 

                              *xXx*
 

„Endlich! Endlich Schluss! Oh mein Gott, ist das ein geiles Gefühl. Freiheit!“ Brüllend warf Raphael seine Arme in die Luft und führte einen spontanen Freudentanz auf „Ich bin im Himmel!“
 

„Danke für das Kompliment, ich wusste doch schon immer das ich eine überirdische Ausstrahlung habe!“, sagte Maxime mit einen Schmunzeln und schlug seinem besten Freund leicht auf den blonden Hinterkopf.
 

„Aua! Sind wir heute mal wieder gewalttätig veranlagt, he!?“ Raphael hob seine Hand und machte eine abwertende Geste, während er mit Maxime über den Pausenhof schlenderte. Vor Fünf Minuten hatten sie ihr letzte Unterrichtsstunde beendet und jetzt hieß es ab nach Hause, rein in den Feierabend. .„Das mit dem Himmel wird nicht auf dich bezogen! Die haben da oben sicher noch viel attraktivere Teile rumlaufen wie dich!“ 
 

„Pah! Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Beleidigt zog Maxime einen Schmollmund. „Als Gott mich erschaffen hat, wollte er sicher angeben...“ Er rieb mit der Hand über seine hauchzart geröteten Wangen und fuhr sich anschließend durch die langen, rosa Haare. „...Aber wenn du sagst noch viel attraktiver, dann findest du mich wenigstens ein bisschen attraktiv, oder?“
 

„Ja, so attraktiv wie man einen pinken Kaugummi eben finden kann.“
 

„Hey!“ Zischend holte Maxime aus und verpasste Raphael einen weiteren Hieb, diesmal aber deutlich brutaler. „Wenn du so weiter machst kannst du deine Chili Con Carne alleine essen. Dann gehe ich jetzt sofort nachhause!“ 
 

„Ist ja schon gut, Mann! Beruhige dich.“ Brummend schob Raphael seine Hände in die Hosentaschen. „Also nimmst du das Angebot mit den Essen an?“
 

Maxime schnaubte. „Sieht wohl so aus.“
 

„Das ist cool.“ Das Grinsen war auf Raphaels Lippen zurückgekehrt und er betrachtete den Kleineren mit einem ehrlichen Ausdruck der Freude in den Augen. „Wir haben schon lange nichts mehr zusammen nach der Schule unternommen. Wann war eigentlich das letzte Mal? Mm, das ist sicher auch schon drei oder vier Wochen her.“
 

„Ich weiß es auch gar nicht mehr genau.“ Maxime deutete ein Schulterzucken an. „Aber das ist doch egal. Wir gehen jetzt zu dir und machen uns einen netten Tag zusammen. Aber... sag mal, wie wollen wir eigentlich zu deiner Wohnung kommen? Du bist doch mit dem Fahrrad da und der Bus ist um diese Uhrzeit immer so voll, das wir das Ding unmöglich mit rein nehmen können. Die Anderen würden uns erschlagen.“
 

Bei diesen Satz hatten die beiden Freunde den Fahrradkäfig erreicht und Raphael ging hinein um  sein Mountainbike herauszuholen.
 

„Ach, mach dir mal keine Sorgen!“, rief er Maxime zu, welcher vor der Eingangstüre stehen geblieben war. „Dann fahren wir eben so. Du kannst dich doch hinten auf den Gepäckträger setzen, dafür habe ich den doch schließlich extra gekauft.“
 

Doch Maxime konnte das Lächeln nicht ins Gesicht bekommen, er quälte es sich auf die Lippen und trotzdem wirkte es nur wie ein Verziehen seines Mundes, damit er Raphael nicht verletzte. Sein Enthusiasmus  war mit einem mal verflogen.  „Aber ich habe doch einen Rock an...“, murmelte er ausweichend. „Außerdem wird das meinen Hintern verdammt wehtun, wenn ich die ganze Strecke bis zu dir nachhause auf diesen Stahlträger sitze.“
 

„Stell dich nicht so an, dein Hintern hat genug Fettdepots um das bisschen Metall auszuhalten.“ 
 

Inzwischen war Raphael mit seinem Mountainbike wieder draußen angekommen und stieß Maxime spielerisch in die Seite.  Dieser lächelte etwas gequält. Natürlich könnte er die Zähne zusammen beißen und den Weg zu Raphael überstehen, aber er hatte auch Angst, dass ihm während der Fahrt der Rock hochflog und alle Welt einen Blick auf seine Spitzenunterwäsche bekam. Dieses Gut war nur ausgewählten Menschen vorgesehen.
 

Raphael runzelte seine Stirn und streckte seine Hand aus, um Maxime eine helle Haarsträhne aus den Augen zu streichen..„Hey... Keine Schläge oder Gemecker wegen dem Fett? Stimmt was nicht mit dir?“ 
 

„Ich...“, setzte Maxime an, verstummte aber, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel vernahm. 

Aus dem Schulgebäude waren grade zwei junge Männer gekommen und steuerten ihren momentanen Aufenthaltsort an, der Ausdruck welcher in ihren Augen lag, versprach nichts Gutes. „Scheiße... nicht die schon wieder.“ knurrte er leise.
 

„Na, wenn haben wir denn da? Unsere beiden Lieblingsschwuchteln!“, tönte auch schon einer der Jungen von weitem und blieb stehen, als er Maxime und Raphael erreicht hatte. 
 

Raphael schnaubte nur. Auch wenn die Schüler sie gerade provozierten, blieb er diesmal überraschenderweise ruhig und hob nur höhnisch seine Mundwinkel. „Immer wieder dasselbe. Stehst ihr auf uns, oder wieso hängt ihr uns wie ein Kaugummi an den Fersen? Echt mal. Aber Sorry, wir stehen nur auf intelligente Männer und nicht auf so Vollpfosten wie euch.“ Rein aus Reflex griff Raphael nach Maximes Handgelenk und zog ihn ein Stück näher an sich heran. Nur für den Fall, dass einer der beiden Arschlöcher jetzt die Kontrolle über sich verlor.
 

Die Schüler wechselten einen kurzen Blick und begannen dann spöttisch zu lachen.
 

„Hättet ihr wohl gerne.“, antworte der andere, etwas kleinere Junge und fuhr sich mit der Zunge über seine silbernen Lippenpiercing.  Er strahlte schon eine düstere Aura aus und seine schwarzen, etwas längeren Haare unterstrichen diesen Eindruck nur noch mehr. „Aber wir sind nicht schwul. Also müsst ihr euch ein paar andere Arschficker suchen, die eure abnormalen Bedürfnisse befrieden. Wobei... Hey... ihr habt doch euch! Ein bisschen FreundschaftPlus hat bis jetzt den wenigsten Beziehungen geschadet.“
 

„Da würdest du wohl gerne zuschauen, nicht wahr, Jaromir?“, knurrte diesmal Maxime und zischte Raphael ein gut gemeintes. „Lass es...!“ zu, dem das Blut vor Wut schon in den Kopf schoss. Und das war ein schlechtes Zeichen, wenn man ihn kannte.

Schnell hakte er sich bei seinem besten Freund unter, dadurch könnte er ihn wenigstens festhalten, wenn er den beiden Jungen an die Kehle gehen wollte.
 

„Lass Du mich!“ Fauchend riss Raphael an seinen Arm, doch Maxime bohrte seine Fingernägel kraftvoll in seine Haut. Irgendwie hatte er plötzlich ein Déjà-vu und fühlte sich ganz leicht an heute Morgen zurück erinnert. Allerdings, war diese im Vergleich hierzu eine harmlose Situation gewesen, diese Mädchen heute Morgen auf dem Gang hatte Maxime noch nie zuvor gesehen – die Jungen welche ihn anscheinend wie die Pest hassten, schon, und sie waren viel gefährlicher.
 

Die beiden Teenager in Raphaels Alter, hatten es schon seit Beginn des Schulwechsels auf Maxime abgesehen und wurden mit jedem neuen Aufeinandertreffen gemeiner, und gewalttätiger. Der dunkelhaarige Emo hieß Jaromir, und der andere Schüler Sebastian. Von dem Duo war sein Aussehen noch das natürlichste; Er war groß gewachsen, ein bisschen schlaksig und besaß hellbraune Haare, im modernen Skaterschnitt. Leider gehörte der Charakter nicht zu seinen positiven Eigenschaften, was eigentlich sehr schade war, da er an sich nicht schlecht aussah. Das Gleiche galt für seinen Freund Jaromir; Hübsch anzuschauen, aber ein Arschloch auf der zwischenmenschlichen Ebene.
 

Beide gingen in die zehnte Klasse und überragten Maxime um etliche Zentimeter. Was sie genau störte, war ihm bereits am Anfang klar geworden; Sie verabscheuten homosexuelle Männer und solche, die sich mit Frauenkleidern schmückten, noch viel mehr. Es war nur Raphael zu verdanken, das Jaromir und Sebastian es bis jetzt bei verbalen Angriffen belassen hatten, und Maxime Schlimmeres erspart geblieben war. Jedoch verloren sie auch langsam den Respekt vor ihn.
 

Der Kloß von vorhin hatte sich aufgelöst, doch das unangenehme Ziehen in Maximes Bauch hielt an. Dann ließ er Raphael los und schlang seine Arme um sich. Der Emo und der Schönling waren seine ärgsten Widersacher, sie hänselten ihn am schlimmsten!
 

„Maxime? Wir gehen. Die beiden Wichser verderben mir die Laune.“ Raphael starrte Jaromir und Sebastian hasserfüllt in die hübschen Gesichter und versuchte ruhiger zu atmen, während er sich bemühte, weiter zu reden ohne dabei in Raserei zu verfallen. „Das ihr euch überhaupt noch im Spiegel betrachten könnt, ohne ihn zu zerschlagen. Es ist eine Schande, was aus euch geworden ist, früher habt ihr zwei euch nie so verhalten. Pfft, aber da sieht man mal wieder, was alles aus den Menschen werden kann! So was ist traurig.“
 

Was Raphael noch erzählte hörte Maxime kaum, es drang nur ganz leise und dumpf wie durch Watte an seine Ohren, und als er die Tränen in seinen Augen spürte, erschrak er sich fast zu Tode. Er bemerkte, dass Raphael ihn am Arm fest hielt und langsam auf den Ausgang zuschritt, mit der anderen Hand schob er sein rotes Mountainbike. Auch seine Finger zitterten vor Wut.
 

„Fuck...“, zischte Maxime und rieb sich über den Hals, der von innen auf einmal ganz trocken und rau geworden war. „Diese verdammten Mistkerle.“
 

„Ignorieren!“, befahl Raphael monoton. „Du weißt wie gestört die Penner sind. Denk immer daran, dass sie das Problem haben und nicht du!“
 

Doch Maxime lachte nur bitter. „Ich kann die nicht ignorieren! Ich habe nicht so ein dickes Fell wie du und nehme mir nun mal alles zu Herzen, was mich stört!“
 

„Tja.“, murmelte Raphael und hielt an, um sich auf den Fahrradsitz zu schwingen. Er drehte den Kopf nach hinten und klopfte mit der Hand auf den kleinen, frisch montierten Gepäckträger. „Hoch mit dir, Puppe. Wir sollten Jaromir und Sebastian vorerst vergessen. Die sind es nicht wert, dass wir uns jetzt selbst Vorwürfe machen und dadurch den ganzen Tag vermiesen. Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut, wieder was mit dir zu machen. Jetzt lass mich nicht hängen, ja Kumpel?“
 

Irgendwie besaß Raphael immer die Gabe andere Menschen aufzumuntern, und so wechselte Maximes Gesichtsausdruck von betrübt zu erleichtert, dann schaute er mit einen winzigen Lächeln auf den Lippen zur Seite. Aber bei so einer Grinsebacke ist das wirklich keiner Wunder, dachte er und langsam kehrte die Wärme zurück in seinen Körper.
 

„Okay, du hast ja Recht.“ Keine Sekunde später hatte Maxime genügend Kraft gesammelt und sprang auf den Gepäckträger des Mountenbikes, seine Arme wickelten sich dabei wie von selbst um Raphaels Hüfte.
 

                              *xXx*
 

„Da sind wir. Alles absteigen bitte.“, verkündete Raphael dreißig Minuten später und bremste scharf ab als er und Maxime die Garage des mehrstöckigen Etagenhauses erreicht hatten, indem er seit seinem zwölften Lebensjahr wohnte.
 

Bergedorf, ein Bezirk und gleichzeitig ein Stadtteil von Hamburg, gehörte zu den ruhigeren Plätzen der berühmten Hafen- und Handelsstadt. Maxime und Raphael liebten ihr kleines Paradies, hier ticken die Uhren alle noch ein bisschen anders; die Gegend war viel ländlicher und die Mieten im Vergleich zur der Großstadt relativ günstig.
 

Nachdem Raphaels Mutter vor 4 Jahren an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs gestorben war, hatte er noch die ersten Jahre zuhause bei seinem Vater verbracht, aber es gab so heftige Auseinandersetzungen zwischen ihnen, dass Raphaels Vater ihn wenig später zu einer eigenen Wohnung verhalf. Er verlangte zwar, dass sich sein Sohn alle 2 Wochen meldete und über seine Lage berichtete, aber damit hatte er kein Problem. 
 

Für seine 16 Jahre war Raphael schon richtig selbstständig. Wahrscheinlich wäre er auch von Anfang an alleine zurecht gekommenen, denn in dieser Sache war er unschlagbar; Wenn jemand die Anforderungen der heutigen Zeit bestehen konnte, dann er. In der langen Zeit alleine bei seiner alkoholkranken Mutter musste Raphael schließlich auch die Verantwortung für die Familie tragen. Sein Vater hatte die Augen vor der Sucht seiner Frau fest verschlossen. Wenn sie wieder in ein Tief zu rutschen drohte, schickte ihn sein Chef immer ganz spontan auf eine Geschäftsreise – dabei konnte er die Situation zuhause einfach nicht mehr ertragen!

Und erst als es zu spät war, sah er ein, was er durch sein Wegschauen in Wirklichkeit verloren hatte; seine Familie. Nicht nur seine Frau, sondern auch noch einzigen seinen Sohn.
 

Nach den Tod seiner Mutter hätte Raphael gerne den Kontakt abgebrochen, aber das brachte er trotz des ganzen Hasses, den er gegenüber seinen Vater empfand, einfach nicht übers Herz... Außerdem konnte er neben der Halbwaisenrente, das monatliche Unterhaltsgeld gut gebrauchen.
 

„Danke.“, sagte Maxime und kletterte mit einigen Schwierigkeiten von dem Gepäckträger. 
 

Stöhnend rieb er sich über sein pochendes Hinterteil; die Metallstangen auf denen er bis jetzt gesessen hatte waren wirklich verdammt unbequem gewesen! Hoffentlich lud ihn Raphael in der nächsten Zeit nicht mehr auf eine spontane Spritztour ein, ansonsten würde er ein dickes Sofakissen mitnehmen und gleich dazu eine große Tube Schmerzsalbe...
 

Inzwischen hatte Raphael sein Mountainbike in der Garage untergebracht und zog das dunkle Tor mit einem lauten Knall hinter sich zu. Schnaubend atmete er die kühle Luft aus.
 

„Geht es dir nicht gut?“, fragte er mit einen kleinen, gemeinen Grinsen als er Maximes verzerrten, eindeutig von der Fahrt resultierenden, Gesichtsausdruck bemerkte. „Na, tut dir der Arsch weh, oder was?“
 

Die Gegend in der Raphael lebte war ziemlich ruhig für einen Jugendlichen. Hier wohnten eigentlich nur ältere Ehepaare, ein paar kinderlose Familien oder so arme Leute, wie Raphael. Die Mieten der einzelnen Wohnungen waren nicht sehr hoch und durchaus bezahlbar, aber dafür gab es auch keine Möglichkeiten wo man als junger Mensch hin gehen konnte. Auch die Busverbindungen waren ziemlich schlecht und die angesagten Lokale leider kilometerweit entfernt. Wenn Raphael abends irgendwo hin wollte, musste er später meistens laufen um nach Hause zu kommen, oder auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Aber Gott sei Dank hatte er in dieser Sache meistens Glück. Fast immer fand sich jemand, der Raphael nett fand und nachts in seinem Auto nach Hause fuhr.
 

„Blitzmerker!“, konterte Maxime und verengte die Augen zu Schlitzen.. „Können wir jetzt hoch gehen? Es ist kalt und ich habe Hunger.“
 

„Oi! Ich wollte aber noch schnell eine Zigarette rauchen!“, warf Raphael ein. „Du weißt doch, dass mich der Vermieter killt wenn der erfährt, dass ich in der Wohnung rauche!“ 

Bei dem Gedanken daran lief ihm ein Schauer über den Rücken und er erstarrte für kurze Zeit um seine Erinnerungen zu sammeln. Sein alter Vermieter, Herr Meierbaum, hasste junge Leute und war, ohne übertreiben zu wollen, wirklich ein Mistkerl. Wenn er von jemanden nicht pünktlich sein Geld bekam, drohte er sofort mit einem Gerichtsverfahren, oder der sofortigen Kündigung.
 

Schmunzelnd verschränkte Maxime die Arme vor der Brust und stieß einen kleinen Pfiff aus. „Was du natürlich NIEMALS tun würdest. Du hältst dich ja IMMER an die Regeln weil du so ein ehrlicher Mensch bist, und niemals etwas machst, was andere stören könnte. Habe ich nicht recht?“
 

Das hatte gesessen. Bei solch einer Ironie blieb Raphael im ersten Moment der Mund offen stehen.   
 

„Nicht so laut du Schreihals! Willst du, dass uns die ganze Nachbarschaft hört?!“, zischte er unwirsch.  Selbst jetzt, wo er in diesem Niemandsland wohnte und es nicht viele Menschen gab die zuhören konnten, sprach er mit gedämpfter, leiser Stimme. Immerhin wollte Raphael sein Glück nicht provozieren und schüttelte ergeben seinen Kopf. „Alles klar, du hast gewonnen. Dann gehen wir erst etwas essen, aber danach kommen wir nochmal runter und dann darfst du mir beim Qualmen zu schauen. Abgemacht?“
 

„Abgemacht. Darf ich dich dann auch anzünden?“
 

Die zwei Freunde betraten immer noch zankend das enge, etwas nach Putz riechende Etagenhaus und mussten erstmal mehrere Treppen erklimmen, da das Haus fünf Etagen besaß und Raphael natürlich ausrechnet in der letzten wohnen musste.

Auf dem Weg nach oben konnte er sehen, dass hier keine Kinder lebten. Nirgendwo lag Spielzeug im Flur verteilt, keine Kinderwägen standen vor den Türen und alles wirkte sauber und ordentlich. Hier und da entdeckte Maxime mal ein Schuhpaar auf einer Fußmatte, oder einen Willkommensgruß an  der Eingangstüre, aber das kam ziemlich selten vor - Anscheinend mochten die Bewohner keinen Schnickschnack und fanden langweile Ödnis viel interessanter.  Wenn sich mal eine Katze im Treppenhaus verirrte, war das für die Leute schon ein kleines Highlight. 
 

Nach wenigen Minuten hatten Maxime und Raphael ihr Ziel erreicht. 
 

„Ein Glas Cola wäre jetzt nicht schlecht.“, keuchte Raphael und lehnte sich dankbar an die kühle Wand. Er atmete schwer, sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Irgendwann würde er dafür sorgen, dass der geizige Meierbaum eine Firma bestellte, die hier in das Treppenhaus einen Aufzug einbaute -  die alten Leute wären über diese Änderung sicher hoch erfreut! 
 

Schweigend beobachtete Maxime, wie sein bester Freund den Haustürschlüssel aus seiner Hose zog und die Türe zu der Wohnung aufschloss. „Du musst mehr Sport machen, Raphael. Du bist total aus der Puste und dabei waren das noch nicht viele Treppen. Mein Haus hat doppelt so viele Stufen.“
 

Ertappt zog Raphael den Kopf zwischen seine Schultern. „Ich bin sportlich! Nur meine Ausdauer ist ein bisschen auf der Strecke geblieben! Ansonsten strotze ich nur so vor Energie.“ 
 

„Was du nicht sagst.“ Maxime folgte dem Blondhaarigen in die Wohnung und schaute sich kurz in der großen, hell eingerichteten Behausung um. Es war wirklich schon eine Weile her, das er Raphael das letzte Mal besucht hatte. Viele Dinge kamen ihm verändert vor. Besaß Raphael schon immer einen Schuhschrank? Und die dunkelrote Lederjacke an der Garderobe kannte er auch nicht. 
 

„Wo ist Freya?“, wollte Maxime wissen als er die Inspektion des Raumes beendet hatte.
 

Raphael streifte sich die Schuhe von den Füßen warf seine Jacke über den Haken der dunkel angestrichenen Garderobe.  „Keine Ahnung. Entweder pennt sie auf meinem Bett, oder sie bettelt bei der alten Dame von nebenan um essen.“
 

„Oh Mann. Ist sie immer noch so verfressen?“ Lächelnd strich Maxime eine rosa Haarsträhne aus seinen blauen Augen. „Du kannst froh sein das sie noch so jung ist und einen guten Stoffwechsel hat. Ansonsten könntest du sie schon lange durch die Gegend rollen.“
 

„Tja, dafür kriegt sie bei mit umso weniger.“, meinte Raphael und ging danach in die Küche, wo er seinen Kühlschrank öffnete und einen Topf, sowie eine große Flasche Fanta raus nahm. Nach einen Blick zurück in den Flur fragte er. „Möchtest du auch was trinken, Maxime?“
 

„Gerne.“ 
 

Summend schritt Maxime durch den Flur und betrat das helle Wohnzimmer. Das Ton-in-Ton-Konzept zog sich hier ebenfalls durch den Raum: Der Boden bestand aus einem dunkelbraunen Laminat, die Couch war in einem schönen creme Ton gehalten und farblich abgestimmte Schränke rundeten das ganze Bild harmonisch ab. An den Wänden hingen ein paar Poster von irgendwelchen Pop-Bands in modischen Metallrahmen und kleine, kreisrunde Lichter an der Decke erhellten Maxime den Weg, als er nun auch in die Küche ging und sein Glas von der Anrichte nahm. 
 

Auch wenn Raphael nach außen nicht unbedingt so wirkte, war er ein sehr ordnungsliebender Mensch; Alles hatte seinen festen Platz in der kleinen 4-Zimmer Wohnung und wenn Maxime wollte, hätte er das Mittagessen auch vom Boden essen können ohne Angst zu haben, innerhalb weniger Stunden später von Bakterien oder Würmern zerfressen zu sein. Dieser Punkt ging eindeutig an Raphael - Maxime besaß noch nicht mal die Motivation, um jeden Tag sein Zimmer auf zu räumen. 
 

„Hast du Freya gefunden?“, fragte Raphael und sah dabei zu, wie Maxime das Glas an seine Lippen führte und einen großen Schluck von der Fanta trank. 
 

Freya war nicht irgendjemand. Oh nein, Freya war Raphaels geliebte Katze welche er vor 6 Monaten aus dem Tierheim geholt hatte und sie war einzige Frau, die ihren Füßchen in sein Schlafzimmer bewegen durfte ohne gleich erschlagen, gevierteilt oder in Blausäure getaucht zu werden. 
 

„Nein. Aber ich habe auch nur im Wohnzimmer nachgeschaut.“ Er lehnte sich mit den Rücken gegen den freistehenden Küchenblock und hielt für eine Sekunde in seiner Bewegung inne. Etwas schüchtern hob er den Blick, stellte Kontakt mit einem violetten Augenpaar her. „Aber wegen vorhin... Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich für deinen Mut wirklich bewundere. Ich bin immer wieder überrascht wie gut du mit Jaromir und Sebastian umgehen kannst. Erinnerst... du dich dabei nicht oft an eure gemeinsame Zeit zurück?“
 

Raphael zog seine Mundwinkel hoch, aber das Lächeln welches seinen roten Mund schmückte wirkte grausam verzerrt und gespielt. „An die, wo wir uns noch gut verstanden haben? Oder an die Zeit, wo sie mir die Freundschaft gekündigt haben, als ich ihnen erzählt habe das ich schwul bin?“ 
 

„An die Zeit davor.“ Maxime schaute kurz zu Boden und ließ seinem Freund die Zeit, die er braucht, damit die Worte zu ihm durchdrangen. Als er den Kopf wieder hob, hatte Raphael sein Gesicht abgewandt und starrte aus der kleine Dachluke der Küche. Ein wenig trotzig reckte Maxime das Kinn vor. „Oder willst du nicht darüber sprechen? Ich weiß, dass das Thema nicht sehr einfach für dich ist.“ 
 

„Nein.“, murmelte Raphael, die Augen noch immer in die Ferne gerichtet. „Ich versuche mich nur an die Zeit zu erinnern. Es kommt mir heute alles so verzerrt vor, so unwirklich.  Manchmal habe ich das Gefühl, das wir uns von Anfang an etwas vorgemacht haben, dass unsere ganze Freundschaft nur ein riesengroßer Bluff war und nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Weißt du was ich meine? Das Gefühl, als ob dich dein Leben von vorne bis hinten verarschen will.“
 

Maxime nickte mitfühlend. „Natürlich. Immerhin waren sie deine besten Freunde und haben dich dann von heute auf morgen einfach sitzen gelassen. Und das nur weil du homosexuell bist – als ob das eine Krankheit wäre.“ Er schüttelte seinen Kopf und bereute es schon fast das Thema angeschnitten zu haben – es war Raphael anzusehen wie sehr er immer noch unter den Verlust seiner ehemaligen Freunde litt.
 

„Das ist Vergangenheit. Nun habe ich dich und Charlotte an meiner Seite. Ihr seid viel besser wie  Jaromir und Sebastian, bei euch kann ich so sein wie ich bin und brauche mich nicht wegen meiner sexuellen Neigung zu verstecken. Aber jetzt mal etwas anderes...“ Während Raphael sprach befüllte er einen Mikrowellenteller mit den Inhalt des Topfes und schüttete etwas Flüssigkeit über das Essen, damit es beim Aufwärmen nicht austrocknete. Danach schob er den Teller mit der Chili con Carne in den grauen Metallkasten.„...der Typ der dich heute Morgen im Bus anrempelt hat ist viel schlimmer als die beiden zusammen. Ich meine Kiley Sandojé.“
 

Jetzt wurde Maxime wieder hellhörig. Er riss den Blick von der Mikrowelle los und schaute seinen besten Freund in die Augen. Verwunderung machte sich auf seinem Gesicht breit.„Wie jetzt? Ich dachte, dass das alles schon gelaufen wäre. Charlotte hat doch gesagt das er mich morgen wahrscheinlich schon wieder vergessen hat!“
 

„Das möchte ich auch hoffen. Trotzdem solltest du besser vorsichtig sein falls er dir nochmal im Bus begegnet, da ihr offensichtlich mit derselben Linie fahrt.“, antwortete Raphael und lächelte etwas nervös. Er schluckte schwer und widerstand dem Drang nochmal den Kopf weg zu zudrehen. „Wie Charlotte dir richtigerweise schon erklärt hat, ist er relativ beliebt... aber leider auch ziemlich ungemütlich wenn es darauf an kommt. Du musst dich vor ihm in Acht nehmen – ich habe gehört, dass er einigen Leuten von der Schule schon wirklich übel mitgespielt haben soll. Kiley kann dir das Leben innerhalb weniger Tage zur Hölle machen.“
 

„Was?“, fragte Maxime ungläubig. „Aber es ist doch gar nichts passiert! Dieser Kiley hat gar keinen Grund um mich fertig zu machen, geschweige denn, dass er mich bei einem erneuten Treffen überhaupt wiedererkennt! So besonders bin ich jetzt auch nicht.“ Verärgert über so viel Ungerechtigkeit schüttelte er seinen Kopf und wollte gerade den Mund aufmachen, um weiter zu schimpfen, doch Raphael kam ihm zuvor und legte ihm einen Finger auf den Mund. 
 

„Der Typ braucht keinen Grund, um andere zu mobben. Wenn er einen schlechten Tag hat und du zur falschen Zeit, am falschen Ort bist, hast du bei ihm bereits verloren. Kiley ist niemand der sich von moralischen Werten beeindrucken lässt.“ 
 

Vorsichtig schlang Raphael die Arme um die Hüfte des murrenden Maximes, zog ihn nach hinten an seine Brust und bettete das Kinn auf die nach Apfel riechenden Haare. Seufzend schloss er die Augen. Inzwischen kannte er Maxime gut genug um zu wissen, dass er ein Profi war wenn es darum ging, seine Gefühle in der Öffentlichkeit hinter einem Lächeln zu verstecken - doch in solchen Momenten ließ er die Maske fallen. Hoffentlich behielt Charlotte recht. Aber so auffällig wie Maxime immer aussah, bezweifelte Raphael, dass Kiley ihn morgen vergessen hatte.
 

„Dann bin ich also tot wenn ich Kiley das nächste Mal sehe?“, fragte Maxime und quälte sich ein kleines Feixen auf den Mund. Es wirkte in dieser Situation so ehrlich wie das Lächeln was Raphael gebraucht hatte, als die Lage auf seine ehemaligen Freunde zu sprechen kam. 
 

„Gehe ihm bei der Gelegenheit einfach aus dem Weg. Das ist das Beste, was du machen kannst. Wenn du Kiley die kalte Schulter zeigst, wird er das Interesse an dir verlieren und sich ein anderes Opfer suchen.“, sagte Raphael, bemüht die angespannte Atmosphäre wieder zu lockern.  Mit einen Seufzen ließ er die Arme von Maximes Hüfte gleiten und drückte ihm flüchtig die Lippen auf den Kopf. „Aber es ist ganz gleich, was auch immer geschieht; Du kannst auf mich zählen und wenn dieser eingebildete Grobian meint dich ärgern zu müssen, wird er ein ernsthaftes Problem mit mir bekommen.“
 

Maxime nickte sachte. Er ignorierte die Übelkeit, die Angst und die Wut in seinem Magen, welche ihn erzittern ließ und das Fass fast zum Überlaufen brachte. Abscheu schüttelte ihn, während er immer noch das höhnische, arrogante Gesicht von Kiley vor seinem geistigen Auge sah, als er ihn heute Morgen so unvermittelt angefahren hatte. Dennoch zwang sich Maxime selbst zur Ruhe und versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Er war nicht alleine. Charlotte und Raphael standen auf seiner Seite - demnach brauchte er keine Angst von diesem Jungen zu haben. Außerdem war er nicht auf den Mund gefallen und konnte ziemlich gut diskutieren. Notfalls würde er Kiley eben die Ohren voll quatschen, bis er ihn irgendwann von alleine in Ruhe ließ und die Flucht ergriff. 
 

Raphael behauptete zwar, dass dieser Sandojé schlimmer war wie seine Erzfeinde Sebastian und Jaromir, aber wie sollte ein einzelner Schüler die Gemeinheiten übertreffen, die zwei Leute gleichzeitig verursachten? Das ging einfach nicht. Dafür brauchte er schon einen zweiten Mann, der ebenfalls verbal austeilen konnte.
 

Wenige Sekunden später begann die Mikrowelle zu piepen und Raphael eilte zu ihr um den Teller heraus zunehmen, und Maxime begab sich in der Zwischenzeit auf die Suche nach dem Besteck. So konnten sie das Mittagessen im Wohnzimmer auf der gemütlichen Couch verspeisen. Nachdem Maxime die Gabeln und Messer gefunden hatte, ging er schon mal vor um sich Fernbedienung unter den Nagel zu reißen - immerhin war er der Gast und damit der König im Haus!
 

Zu dieser Tageszeit ließ zwar nichts Atemberaubendes im Fernsehen, aber vielleicht strahlte RTL2 gerade in diesem Moment ein paar alte Animeserien von früher aus. Da würde sich Maxime sogar mit einer Sendung wie Hamtaro zufrieden geben, dem kleinen, niedlichen Hamster der mit seinen Freunden immer nervenaufreibende Abenteuer erlebte. 
 

„Sollen wir nicht lieber einen Film gucken, oder irgendein Spiel von Sonic zocken? Was läuft denn jetzt schon im Fernsehen?“  Mit diesen Worten stellte Raphael den Mikrowellenteller auf eine Zeitschrift, welche auf seinem Wohnzimmertisch lag und zog beides an die Tischkante. 
 

Noch im vorbei gehen nahm er Maxime die Fernbedienung ab, überhörte dessen wütende Protestschreie und entschied sich für die DVD, die er gestern Mittag angefangen hatte zu schauen und grinste den Kleineren bösartig an.
 

„Das ist meine Bude.“, meinte Raphael barsch und startete den DVD-Player. „Auch wenn du der Gast bist, entscheide immer noch ICH was wir gucken. Mein Zuhause, meine Regeln. Du hast mich auch schon um meine Zigarette gebracht und das darfst du jetzt ausbaden, indem du schön brav bist und dich dem Älteren fügst.“
 

Maxime schnaubte belustigt, nahm Raphael die etwas ruppige Behandlung aber nicht übel. Der arme Süchtige stand immerhin unter Nikotin-Entzug und seine Psyche brachte ihn jetzt schon an den Rand des Wahnsinns. In solchen Momenten ließ man sie besser in Ruhe.
 

„Das ist mir egal. Was gucken wir denn? Irgendwas Lustiges?“, fragte Maxime deshalb betont freundlich. Enthusiastisch schnappte er sich schon mal eine Gabel und ließ eine große Portion von der dampfenden, dunkelbraunen Bohnenmasse in seinen Mund verschwinden.
 

Raphael nickte gedankenverloren. „Ja, das ist eine Komödie. Die wird dir sicher gefallen.“ Seine Augen waren violett und kalt, doch seine Mundwinkel kräuselten sich nach oben, als er Maximes entgeisterten Blick begegnete. „Hey, guck doch nicht so blöd. Du magst doch witzige Filme, oder?“
 

Aber Maxime schaute nicht etwa wegen dem Film so schockiert. Er hatte gerade ein ganz anderes Problem! Die Augen weit aufgerissen, saß er einfach nur da, schlug sich die Hände vor den Mund und rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. Panisch summend begann er auf einmal den Kopf hin und her zu schütteln. In der nächsten Sekunde brach ihn auch schon aus allen erdenklichen Poren der kalte Schweiß aus, und Raphael runzelte verwirrt seine Stirn.
 

„Maxime?“ Fragend beugte Raphael den Oberkörper zur Seite und musterte Maxime mit wachsendem Interesse. „Ist alles okay... bei dir? Deine Gesichtsfarbe sieht ein bisschen ungesund aus.“
 

Dieser konnte ihm jedoch keine Antwort geben; Maximes Körper verkrampfte sich immer mehr und er schnaubte leise, die Augen geschlossen. Er rang verzweifelt um seine Selbstbeherrschung, doch das Essen - DAS HÖLLISCH SCHARFE  ESSEN - in seinem Mund, machte jedes bisschen Durchhaltevermögen zunichte und wenige Sekunden später sprang Maxime auf seine Beine, gewillt, Raphael das Höllenzeug auf den beigefarbenen Teppich zu spucken.   

Kapitel 4: The Haunted Mansion

Der Himmel trug am nächsten Morgen noch immer sein dunkles Abendkleid von der gestrigen Nacht. Graue, schwere Wolken hingen über der kleinen Stadt Bergedorf in der Nähe Hamburgs und nur vereinzelte Sonnenstrahlen, konnten die düstere Masse teilen und sich bis zur Erde vorkämpfen. Aber die kleinen, goldenen Lichter waren hartnäckig. Wenn sie wollten, dann schafften sie es durch jede Wolke, durch jeden Nebel... und sogar durch den winzig kleinen Schlitz in den Rollladen eines ganz bestimmten Mehrfamilienhauses.
 

Ein kleines Stöhnen schlich sich aus Maximes Mund, als die Sonne ihn mit ihren hellen Strahlen begrüßte und die letzten Momente der Entspannung zunichte machte. Ein heftiger Stich fuhr im gleichen Moment durch seine Glieder. Maxime blinzelte leicht und schielte auf die Seite zu seinen Wecker.
 

Die Zeiger des alten Prachtstückes in der Form eines niedlichen Katzenkopfes, verkündigte die aktuelle Tageszeit von 6.05 Uhr
 

Maxime stöhnte umso lauter und drehte sich wieder auf den Bauch, während er die Bettdecke über seinen Kopf zog. In solchen Momenten verfluchte er seine innere Uhr; Er hätte mindestens noch 10 Minuten schlafen können, aber nein, natürlich musste er früher aufwachen.
 

Dennoch blieb er noch ein paar Minuten liegen. Eigentlich hatte Maxime keine Durchschlafprobleme, aber gestern Abend war es ziemlich spät geworden und er kam erst um 22.30 Uhr von Raphael nach Hause.
 

Natürlich war er dann nicht sofort ins Bett gekommen, wie jeder andere Junge der vielleicht noch bei seinen Eltern wohnte: Maxime musste noch seine Hausaufgaben erledigen und mit ungewaschenen Haaren, wollte er am nächsten Tag auch nicht unbedingt in die Schule gehen.
 

Kein Problem sollte man meinen, aber bei ihm die Sache ein bisschen anders aus; Seine Rosa-Mähne gehörte zu der störrischen Sorte. Die einzelnen Strähnen waren ziemlich dick und schwer und so dauerte es stundenlang, bis sie mal endlich trocken waren. Föhnen konnte er seine Haare leider auch nicht da sie sich unten der heißen Luft sofort verknoteten.
 

Und jetzt fühlte sich Maxime wie ausgekotzt. Fünf Stunden Schlaf waren für ihn EINDEUTIG zu wenig.
 

Maxime hob seine Arme und versteckte das Gesicht zwischen den Fingern, sodass er die Sonnenstrahlen nicht mehr sehen musste.
 

The Haunted Mansion - Die Geistervilla, oder eher Die verfluchte Villa, wie Maxime sie gerne nannte, war das große Mehrfamilienhaus indem er schon seit 3 Monaten lebte. Und wenn er sagte groß, dann meinte er das wortwörtlich wortwörtlich. The Haunted Mansion war ein altes, 4 Stöckiges Gebäude, plus Dachboden, welches im Rahmen des Sozialprojektes einmal komplett kernsaniert und umgebaut wurde. Vom Baustil her erinnerte es eher an eine Villa aus den letzten Jahrhunderten - deshalb hatte sich Maxime auch für diesen Spitznamen entschieden.
 

Das Haus an sich gefiel ihm sehr gut, nur seine Mitbewohner störten Maxime gewaltig. Da das „Zimmer“ von jedem Projektteilnehmer früher einmal als eigenständige Wohnung gedacht war, bot es alles, was man zum Leben brauchte: Ein Schlafzimmer, ein einiges Bad und zwei leer stehende Räume, wovon einer wohl die Küche darstellen sollte. Aber die zwei Räume fielen den Händen der fleißigen Bauarbeiter zum Opfer, sodass die zwei kleinen Zimmer in ein großes Zimmer umfunktioniert wurden.
 

Maxime war diese Begebenheit nur ganz recht. Er benutzte diesen separaten Raum heute als eine Art private Abstellkammer. Dort stand sein Computer und allerhand Gegenstände, welche er nicht jeden Tag brauchte, aber trotzdem gerne in seiner Nähe wusste. Zum Beispiel die Nähmaschine, die er von seiner Erziehern zum Abschied geschenkt bekommen hatte, seine ausgefallenen Halloween- oder Karnevalskostüme oder die alte Kassettensammlung aus seiner Kindheit...
 

Kurze Zeit später stand Maxime auf und streckte seinen Körper genüsslich in die Länge. So langsam sollte er sich mal fertig machen und runter in die Küche kommen. Sie fungierte als Treffpunkt für die Hausbewohner. Es war die einzige Küche im ganzen Gebäude und wer etwas essen wollte, musste runter gehen und da jeder nun mal Nahrung brauchte um zu leben, fanden Maxime und die beiden Mädchen dort mindestens einmal am Tag zusammen.
 

Die warme Luft der Heizung schlug Maxime entgegen als er sich in das Badezimmer schleppte und Blick in den Spiegel warf.
 

„Na super...“, murmelte er und berührte mit den Fingern die kühle Glasscheibe. Der Junge im Spiegel tat es ihm sofort gleich, die blauen Augen blickten ihm müde und schwer entgegen.
 

Er sah so schrecklich aus wie er sich fühlte!
 

*xXx*
 

Nach 20 Minuten war Maxime fertig und stieg die Treppen von der zweiten Etage zum Erdgeschoss runter. Immerhin hatte er es noch geschafft, seine scheußliche Gesichtsfarbe mit einen Haufen Make-up zu verstecken und seine müden Augen mit knalligen Lidschatten in das richtige Licht zu rücken.
 

Trotzdem fühlte er sich immer noch Scheiße. Hinter seiner Stirn vernahm er ein dumpfes Pochen. Auch seine Lieblings-Klamotten konnten seine miese Stimmung heute nicht aufhellen.
 

Abgeschlagen und genervt betrat Maxime die Küche und entdeckte am Essenstisch eine junge Japanerin mit langen, fliederfarbenen Haaren und großen, himmelblauen Mandelaugen. Sie hob den Blick als sie den Neuankömmling bemerkte, ihre Miene blieb jedoch kalt und ausdruckslos.
 

„Guten Morgen.“, sagte Maxime betont freundlich.
 

Auch wenn er seine beiden Mitbewohnerinnen nicht ausstehen konnte bemühte er sich trotzdem um eine entspannte Atmosphäre. Immerhin musste er hier noch knapp 3 Jahre wohnen, da wollte er es sich nicht mit ihnen verscherzen.
 

„Morgen.“, erwiderte das Mädchen monoton. Danach wendete sie ihre Aufmerksamkeit sofort wieder der Tageszeitung zu, die ausgebreitet auf den Tisch lag und offenbar sehr viel interessanter war, wie Maxime.
 

Das Mädchen sah wirklich hübsch aus, das konnte niemand bestreiten. Ihre langen Haare reichten ihr bis zur Hüfte und glänzten im Licht als wären sie mit tausenden Diamanten bestückt. Das kleine, herzförmige Gesicht strahlte eine kühle, fast schon königliche, Erhabenheit aus welche zwar so gar nicht zu ihrem jugendlichen Aussehen passen wollte, aber einfach zum Gesamtpaket dazu gehörte.

Das Mädchen brauchte noch nicht mal Schminke oder andere Hilfsmittel um sich des Morgens herzurichten, sie war von Natur aus eine Schönheit!
 

Sie hieß Yukiko – und diesen Namen trug sie zurecht; Er bedeutete so viel wie Schneekind. Und Schnee passte so gut zu ihr, weil ein Blick in Yukikos blaue Augen jedes Wesen sofort zum frösteln brachte. In seinen Gedanken bezeichnete Maxime sie auch gerne als die Schneekönigin der Herzen.
 

Als hätte das Mädchen Maximes schändliche Gedankengänge erraten, wandte sie ihren Blick von der Zeitung ab und schaute zu ihm hoch. Missmutig rümpfte sie ihre feine Nase.

„Frühstückst du nicht oder wieso setzt du dich nicht hin?“, fragte sie zischend und der Angesprochene zuckte durch den eisigen Klang in ihrer Stimme zusammen.
 

Na toll, ging das schon wieder los...
 

Seufzend schüttelte Maxime seinen Kopf. Seine andere Mitbewohnerin Scarlett war vielleicht kalt und verklemmt, aber dennoch hatte er lieber mit ihr zu tun, als wie mit Yukiko. Scarlett suchte wenigstens keinen Streit und wollte am liebsten ihre Ruhe haben, aber für Yukiko gab es offensichtlich nichts Schöneres, als hitzige Diskussionen und Wortgefechte. Sie fand immer eine Möglichkeit um ihn zu triezen.
 

Wer hatte Küchendienst? Maxime. Wer musste als nächstes die Badezimmer putzen? Maxime. Wer war mit dreckigen Schuhen im Hausflur rum spaziert? Maxime. Wer hatte den letzten Erdbeerjoghurt aus dem Kühlschrank genommen? Auch Maxime!
 

Der, der alles machen musste, oder immer an allen Unglücken die Schuld trug, war er!
 

Bemüht, sich seine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen, zog Maxime einen Stuhl zurück und setzte sich mit einer plumpen Bewegung neben Yukiko an den reichlich gedeckten Küchentisch. Kurz musterte er das Angebot des heutigen Tages. Wie jeden Morgen gab es dasselbe zu essen: Getreideflocken, kalte Milch, Jogurt, frisches Obst, Butter, Marmelade, Aufschnitt und ein paar Scheiben Graubrot.
 

Schlusslicht fiel die Wahl auf das normale Brot und Maxime war ziemlich froh darüber, noch vorgestern eingekauft zu haben. Yukiko und Scarlett aßen zum Frühstück bis auf ihr Obst und Müsli so gut wie nichts anders. Und hier machten sich wieder die Typischen Frauen-Probleme bemerkbar: Obwohl Maxime fand das beiden Mädchen wirklich gute Figuren besaßen – vor allem Yukiko war gertenschlank und konnte trotzdem sehr üppige Kurven vorweisen - ernähren sich die beiden Damen als wären sie auch einer Dauerdiät. Bei ihnen kam nichts anders als Gemüse oder Obst auf den Teller. Da sprangen einem die Vitamine schon förmlich ins Gesicht und Maxime bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
 

Er scherte sich nicht viel um seine Essgewohnheiten. Er war genügsam und verspeiste so gut wie Alles was ihm unter die Nase kam, Hauptsache, er hatte es selbst zubereitet.
 

Nach 10 Minuten ertönte vom Treppenhaus her plötzlich wüstes Gepolter und ein Mädchen mit wehender Lockenmähne stürmte in den Raum. Hektisch warf sie ihre Schultasche auf die Anrichte, murmelte ein kurzes „Guten Morgen.“ in die Runde und knallte dann ein dickes Schulbuch auf den Tisch. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug sie es auf und verschwand auf Nimmerwiedersehen hinter den weißen Blättern.
 

Diese Szene hatte noch nicht mal Fünfzehn Sekunden gedauert und trotzdem war die ganze Atmosphäre in der Küche geplatzt.
 

Maxime und Yukiko staunten nicht schlecht und betrachteten die dritte, und gleichzeitig letzte Mitbewohnerin des Mehrfamilienhauses voller Skepsis. Es war ungewöhnlich, wenn die sonst so gradlinige Scarlett mal aus dem Konzept fiel und so deutliche Stresssymptome zeigte, wie gerade eben.
 

Die Erste, die ihre Sprache wieder gefunden hatte, war Yukiko. „Schreibst du einen Test?“, fragte sie das blondhaarige Mädchen und ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen.
 

Scarlett schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich muss gleich eine Präsentation halten, dafür wollte ich mich noch ein bisschen vorbereiten.“ erklärte sie kurz ohne den Blick von ihrem Buch abzuwenden. „Ich bin die Erste aus meiner Klasse, dementsprechend hoch sind auch die Erwartungen der Lehrer.“
 

„Ach so.“, sagte Yukiko und nickte leicht. Im Gegensatz zu ihrer Freundin oder Maxime hatte sie mit der Schule nicht allzu viel am Hut. Obwohl sie gute Noten schrieb, wollte Yukiko ihre schulische Laufbahn eigentlich schon nach der 10. Klasse beenden, aber die Sozialarbeiterin vom Jugendamt hatte ihr nahe gelegt, das besser zu lassen, wenn sie weiterhin in diesen Haus wohnen wollte. Dies war nämlich eine Voraussetzung um an dem Projekt teilzunehmen: Alle Bewohner mussten einen regulären Abschluss erlangen und durften die Schule nicht früher abbrechen, nur weil sie keine Lust mehr hatten.
 

Ja, es gab auch Regeln an die sich die drei Jugendlichen halten mussten.
 

Eine weitere Grundvoraussetzung besagte außerdem, dass alle Teilnehmer aus einem Waisenhaus oder Kinderheim kommen sollten und mindestens das 12 Lebensjahr vollendet hatten.
 

Die Älteste von den dreien war mit ihren 16 Jahren Yukiko, Maxime und Scarlett belegten den zweiten Platz, beide waren ein Jahr jünger und damit die Nesthäkchen im Haus. Aber den Altersunterschied merkte man ihnen kaum an – jeder, sowohl Maxime als auch die Mädchen, hatten so ihre Phasen in denen sie sich besonderes erwachsen, oder besonderes kindisch benahmen.
 

Maxime runzelte seine Stirn als er über die Gläser und Flaschen hinweg einen Blick in Scarletts Buch warf. „Was trägst du denn vor? Wie lautet das Thema deiner Präsentation?“, fragte er sie, die Konzentration auf die Überschrift geheftet, welche er nur schlecht entziffern konnte da sie auf den Kopf stand. Er erkannte nur, dass es sich um ein Englischbuch handelte.
 

„Ach, das kann dir doch egal sein.“ Scarlett hielt die Augen stur nach unten gerichtet, doch auch wenn ihre Stimme einen sehr weichen Klang besaß, konnte man den tiefen Groll in ihr unmöglich überhören. Die langen, dunkelblonden Haare mit den schweren Locken umrahmten ihr zartes Gesicht wie eine Stichflamme und brachte ihre Himbeerfarbenden Seelenspiegel zum leuchten. Sie waren erfüllt von Wut und Abscheu, als Scarlett ihren Blick auf Maxime richtete.
 

Ein Schauer lief ihn über den Rücken, doch er riss sich zusammen. Diesmal würde Maxime nicht still bleiben. Er wollte Scarlett wenigstens dieses eine Mal die Stirn bieten und ihr zeigen, dass er keine Angst hatte.
 

„Geht das nicht ein bisschen freundlicher?“, zischte Maxime daher und funkelte das Mädchen mit den dicken Locken ebenso wütend an. „Ich habe dir doch nichts getan, Mann, komm mal runter...“
 

Scarlett zog ihre schmalen Augenbrauen in die Höhe und betrachtete ihr Gegenüber herablassend. „Es interessiert dich sonst auch nicht was ich mache, also kannst du dir deine dämlichen Fragen sparen. Ich bin vielleicht eine Blondine, aber das heißt noch lange nicht, das ich dumm bin und mich verarschen lasse!“
 

„Bitte was?!“ Erstaunt riss Maxime seinen Mund auf. Er konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte! Was sollte das heißen, er interessierte sich nicht für sie?! Scarlett und Yukiko waren doch die denjenigen die ihn ständig übersahen, und nicht andersherum.
 

„Du hast mich schon genau verstanden.“, antwortete Scarlett ruhig und schob sich einen Löffel mit Müsli in den Mund, während sie wieder so gleichgültig und gefasst wirkte wie immer. Der kurze Wutausbruch vor ein paar Sekunden war ihr nicht mehr anzumerken.
 

Zornig schlug Maxime seine Hand auf die Tischplatte. Die Ruhe die Scarlett ausstrahlte machte ihn seltsamerweise nur noch wütender „Nein, das habe ich eben nicht verstanden! Was soll das heißen, ich beachte euch nicht!? Ihr seid es doch, die sich nur um ihre eigenen Sachen kümmern und mich ständig wie Luft behandeln!“
 

Bei diesen Satz musste Yukiko ein kleines Lachen unterdrücken und pustete stattdessen in ihre Kaffeetasse. „Und das wundert dich ernsthaft, so wie du dich immer in unserer Gegenwart aufführst? Du bist zickig, meckerst nur rum, verbringst deine Wochenenden fast immer in der Disco, schleppst einen Kerl nach dem anderen ab... “
 

„Halt deinen Mund! Mit dir rede ich doch gar nicht!“, fuhr Maxime sie an und schnaubte befriedigt, als er feststellte, wie Yukiko vor Überraschung das Lachen im Hals stecken blieb.
 

„Maxime!“ Nun war Scarlett diejenige die ihre Faust auf den Tisch schlug. „Yukiko hat Recht! Es ist wirklich schwer mit dir zusammen zu leben. Du musst immer das letzte Wort haben, merkst du das eigentlich gar nicht? Wenn man mit dir diskutieren möchte, wirst du sofort ausfallend und aggressiv!“
 

„Ich und aggressiv?!“ Jetzt riss Maxime die Augen auf und starrte Scarlett vollkommen entgeistert an. Diese Aussage traf ihn wie ein Messerstich mitten ins Herz. Er hatte lange genug über ihre dämlichen Aktionen hinweg gesehen – jetzt war der Punkt erreicht, wo auch bei ihm die Nerven versagten. Er wollte und konnte Scarletts und Yukikos Gemeinheiten nicht länger ertragen!
 

„Habt ihr einen Knall?!!“
 

Noch bevor die beiden Mädchen etwas erwidern konnten, war Maxime schon auf die Beine gesprungen und stieß dabei den Stuhl zur Seite. Schwer atmend stemmte er die Hände auf die Tischplatte. Zu seiner großen Missgunst musste er gestehen, dass Scarlett mit ihrer Behauptung noch nicht mal ganz unrecht hatte; Auch Raphael hatte ihm schon mal vorgeworfen, dass er rechthaberisch war und nur selten auf die Meinungen der Anderen hörte...
 

„Ihr nennt mich aggressiv, nur weil ich mir nicht mehr kommentarlos eure dummen Sprüche anhöre?“, spie Maxime den Mädchen wütend entgegen. „Und Diskutieren kann ich also auch nicht, obwohl ich mich täglich mit zwei Puten gleichzeitig rumschlagen muss?! Was würdet ihr denn in meiner Situation machen, he? Hätte ich keine Erziehung genossen und wäre ich ein Mädchen, dann würdet ihr spätestens jetzt gegen die nächstbeste Wand geklatscht!“
 

Die Angesprochenen wechselten nur einen kurzen Blick und zuckten dann mit den Achseln.
 

„Wenn du meinst...“, erwiderte Scarlett kühl und nippte an ihrem Glas Milch.
 

„Und schliess nicht von dir auf andere.“, fügte Yukiko genauso kaltschnäuzig hinzu.
 

„Ach, denkt doch was ihr wollt! Ihr seid ja total durch und krank. Sucht euch bei der passenden Gelegenheit doch mal einen guten Psychologen!“ Zischend drehte Maxime den Kopf in die Richtung der Wanduhr herum.
 

Oh Scheiße....! Verzweiflung stieg ihm in die Kehle, als er auf das Ziffernblatt schaute und feststellte, dass er nur noch 10 Minuten Zeit hatte um seinen Schulbus zu bekommen. Jetzt musste er aber wirklich Gas geben!
 

Hektisch und unter dem Einsatz all seiner zu Verfügung Kräfte flitzte Maxime hoch in die zweite Etage. Schnell holte er sein Handy und die Schultasche aus dem Schlafzimmer, ehe er die Treppe wieder zurück nach unten wetzte. Dabei stolperte er vor lauter Panik über die letzte Stufe und konnte sich nur retten, indem er seine Arme um den Treppenpfeiler schlang und ihm eine stürmische Umarmung schenkte.
 

„Fuck.“, knurrte Maxime angepisst und wischte mit den Handrücken über sein pochendes Kinn. „Ich hasse die Kombination aus Treppenstufen und Socken!“
 

Als die Haustüre nach weiteren fünf Minuten endlich in die Angel gefallen war, seufzten die Mädchen in der Küche erleichtert auf.
 

„Irgendwie habe ich das kommen gesehen.“, meinte Yukiko höhnisch. Sie strich sich grinsend eine violette Haarsträhne aus dem Porzellangesicht und atmete auf. „Endlich ist der Mistkerl weg. Ich dachte schon, dass er dir gleich eine gepfefferte Ohrfeige verpasst.“
 

„Hn!“ machte Scarlett, welche jetzt auch auf die Uhr schaute. „Er ist aber nicht der Einzige der sich beeilen muss. Wir sind auch ziemlich spät dran.“
 

*xXx*
 

„Woah, was ist mit deinem Gesicht passiert? Bist du gegen eine Wand gelaufen? Das habe ich eben ja noch gar nicht gesehen!“
 

Maxime zog eine Augenbraue hoch, beide Mundwinkel nach unten zeigend. „Das möchtest du gar nicht wissen...“
 

„Ähm...“ Nachdenklich zupfte Raphael an seinem Ohrläppchen und musterte seinen besten Freund eindringlich. „Doch, eigentlich schon. Als ich dich gestern Abend bei der Bushaltestelle abgesetzte habe, hattest du diesen roten Flecken noch nicht gehabt... Hat dich jemand auf den Weg nach Haus verprügelt?“ Er lehnte sich nach vorne und wollte seinen Finger auf Maximes gerötetes Kinn drücken, aber der Rosahaarige schlug sie unsanft zur Seite.
 

„Finger weg! Das tut weh, du Trottel! Ich bin auf der Treppe ausgerutscht und mein Gesicht musste mehr oder weniger die Bremse spielen. Reicht dir das als Information?“
 

„Was?! Ach Herm, du bist aber auch ein kleiner Trottel!“ Raphael kicherte leise und erntete dafür einen zornigen Blick, weil er die Dreistigkeit besaß, Maxime in so einer kritischen Lage auszulachen. Die beiden Jungen waren vor wenigen Minuten aus dem Schulbus gestiegen und liefen jetzt grade die letzten Meter zu dem Eingangstor des Städtischen Gymnasiums hoch.
 

Genervt strich Maxime seinen roten Faltenrock glatt, ehe er leise und seufzend die Luft ausatmete. Wie er es geschafft hatte, die Bushaltestelle noch rechtzeitig zu erreichen, war ihm unbegreiflich.
 

Raphael, der neben ihn her lief, verschränkte die Arme hinter seinen Kopf. „Ach, es ist schade dass wir Kiley nicht im Bus gesehen haben. Ich bin echt neugierig wie er reagiert und was er macht, wenn er dich nochmal sieht.“
 

„Ach, Raphael. Hör doch mal auf mit den Kerl.“ Maxime beschleunigte seine Schritte und schob brummelnd die Daumen in seine Jackentaschen. „Ich kann den Namen Kiley langsam nicht mehr hören! Was soll denn schon Schlimmes passieren wenn ich ihn wieder sehe? Und selbst wenn er mich verprügelt... na und? Dann zeige ich ihn eben bei der Polizei an und dass ist dann das Ende der Geschichte. Punkt. Ich weiß gar nicht, warum du und Charlotte so empfindlich auf dieses Thema reagiert. Das ist doch nur ein verwöhnter und verzogener, arroganter Bengel, der eine große Klappe hat. Mehr nicht.“
 

Ein gequältes Grinsen hüpfte auf Raphaels Lippen. „Oho! Du bist heute ja Mutig! Gestern klang das aber alles noch ein bisschen anders.“, meinte er und zwickte Maxime in die Seite. „Wir machen uns solche Kopfschmerzen weil wir diesen Typen kennen. Du bist noch relativ neu hier - Im Gegensatz zu dir, haben wir schon die einen oder anderen Sachen mitbekommen.“
 

„Na und? Ich bin doch nicht so dumm und lasse es auf ein zweites Treffen ankommen. Ich werde ihm die kommenden Tage aus dem Weg gehen und mit der Zeit wird sich die Lage wieder entspannen. Herr Gott nochmal, als ob ich hier der Einzige wäre, den er mobben kann...“, erwiderte Maxime ungerührt, wobei ihm jedoch nicht entging, wie schwer es ihm fiel, die letzten beiden Sätze laut auszusprechen. Aber diese Tatsache beschloss er vorerst zu übergehen. Tief in seiner Seele verstecken sich natürlich so manche Zweifel was Kiley anging, aber davon wollte er sich beirren lassen.
 

„Das stimmt irgendwie auch schon wieder. Kiley hat genügend Leute mit denen er sich beschäftigen kann.“, sagte Raphael in einem Ton, als würde er noch eher an Aliens glauben, als an seine eigenen Worte. Er ließ eine Hand in seiner Hosentasche verschwinden und zog eine dunkelrote Packung Zigaretten heraus.
 

Der Pausenhof wirkte ungewöhnlich leer und ruhig, als die zwei Teenager ihn betraten. Neugierig drehte Maxime seinen Kopf in alles Himmelrichtungen, aber es brachte keinen großen Unterschied, wenn hier draußen vielleicht zwanzig Schüler und Schülerinnen standen, war das viel. Noch nicht mal eine der Lehrkräfte patrouillierte heute Morgen das weitläufige Gelände.
 

„Oh... und wobei wir schon mal bei den Thema sind, guck mal nach da vorne.“, zischelte Raphael plötzlich und stieß Maxime den Ellbogen in die Seite. „ Da sind Sebastian und Jaromir auf zwölf Uhr... Und anscheinend haben sie ein neues Opfer gefunden!“
 

„Hmm..?“ Neugierig drehte Maxime seinen Blick in die besagte Richtung.
 

Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte er die großen und düsteren Gestalten von zwei männlichen Schülern, die eine dritte Person in die Ecke gedrängt hatten.
 

Sebastian stützte eine Hand an der roten Ziegelsteinmauer ab und beugte sich wie eine Hyäne über sein Opfer. Seine Gesichtszüge wirkten hämisch und der kalte Ausdruck in seinen vor Wut funkelnden Augen, deutete auf Schwierigkeiten hin.
 

„Möchtest du dir noch eine Schelle einfangen, oder redest du langsam mal Klartext?!“, zischte der braunhaarige Sebastian ungeduldig und packte den schmächtigen, bedeutend kleineren Jungen am Kragen und riss ihn brutal von der Wand weg. Sofort keuchte der Schüler erschrocken auf und ein gemeines Grinsen verzerrte Sebastian hübsches Gesicht, als er sah, wie der Junge vor Angst und Schmerz im ersten Moment die Luft anhielt.
 

„Ich habe... doch gesagt, dass ich nichts dabei habe...!“, presste der Junge zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
 

Jaromir, Sebastians Kumpel, stand ein paar Meter abseits und lachte laut auf. „Ha! Was für ein Witzbold. Naja, jetzt haben aber wir genug geschäkert. Mal schauen ob du wirklich Recht hast, und dein Portemonnaie tatsächlich zuhause liegt! So, dann kann jetzt der Spaß beginnen!“
 

Der dunkelhaarige Schüler mit den kleinen Metallringen in seiner Unterlippe hielt eine Schultasche in den Armen und seine Beobachter konnten sich nur denken, was als nächstes passierte; Jaromir öffnete die silbernen Schnallen der Tasche und drehte sie auf den Kopf, worauf der Inhalt der Schwerkraft nachgab und wenige Sekunden später den ganzen Boden bedeckte.
 

Auch wenn die kleine Gruppe immer noch ein ganzes Stück von ihnen entfernt stand, konnten Maxime und Raphael den Aufschrei des in die Ecke gedrängten Jungen deutlich hören.
 

„Nein!“
 

Der Junge wollte toben und seinen Schmerz in diese große und ungerechte Welt hinaus brüllen, doch Sebastian machte eine flinke Bewegung als er einen Schritt nach vorne ging, und schleuderte ihn mit den Rücken zurück gegen die Wand. Noch bevor der blonde Junge einen weiteren Versuch starten konnte, wurde die Luft von einen tiefen Knurren zerrissen.
 

„Nichts nein! Du bleibst schön da, wo du bist.“, fauchte Sebastian und rammte dem Anderen seinen Ellbogen in die Magengrube. „Und schrei* nicht so rum! Du machst noch allen Leuten Angst mit deinen panischen Gebrülle! Bist du eine Weib, oder was?“
 

„Boa, so was ist doch wirklich ekelhaft.“
 

Mit einen ebenso tiefen Knurren biss Raphael auf seine Zigarette und hielt den Blick stur auf die Gruppe gerichtet. Er war stehen geblieben und sah so aus, als ob er sich nie wieder bewegen würde. Die Lippen fest zusammen gepresst, schüttelte er seinen Kopf. „Das ist... abartig! Wie Alt mag der Junge sein? 12 Jahre vielleicht...? Warum müssen sich Sebastian und Jaromir immer solche wehrlosen Menschen aussuchen? Weißt du was? Wir sollten rein gehen und einen Lehrer holen.“
 

Nervös biss sich Maxime auf die rote Unterlippe und verbarg seine dunkelblauen Augen, unter einem dichten Kranz schön geschwungener Wimpern.
 

„Du sagst es.“, flüsterte er mit vor Kummer erstickter Stimme.
 

Nicht ganz wütend, aber dafür umso schockierter, wendete er sein Gesicht ab. Dieses gemeine, ungerechte Leben...

Maxime wollte nicht mehr sehen, wie Sebastian und Jaromir diesen Schüler quälten. Er wollte auch nicht mehr hören, wie sie ihn auslachten, nur weil er jetzt schon leise wimmerte und ihn mit Bezeichnungen wie „Heulsuse“, oder „Weichei“ beschimpften.
 

Niemand, der keine sadistische Ader besaß, würde so etwas freiwillig beobachten. Gerne würde Maxime eingreifen, zu den Schüler laufen und die Übeltäter verscheuchen, aber seine Beine wollten sich einfach nicht von der Stelle rühren.
 

Diese blonden Haare... dieser schmale und zierliche Körper....diese großen Augen... dieses feine, mädchenhafte Gesicht...
 

Das war Marcel, der Junge von gestern Morgen!
 

„Oh Fuck! So eine Scheiße! Der Bastard hat ja wirklich recht gehabt. Mann, dann war die ganze Mühe doch umsonst gewesen!“ Frustriert warf Jaromir die Hände in die Luft und verschränkte sie kurz darauf hinter seinen Kopf. „Und dabei dachte ich schon, dass das heute ein richtig großen Fang wird... aber Fehlanzeige. Der Pisser hat noch nicht mal einen Fünf Euro Schein dabei! Ist das armselig.“
 

Sebastian legte seinen besten Freund wie zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter. „Hey Jaro, mach dir nichts daraus. Der Zwerg wird uns sicher morgen das Geld mitbringen, oder habe ich nicht recht, du Pisser?!“
 

Er warf Marcel einen vernichtenden Blick zu und hielt den Kontakt mit ihm so lange, bis der Junge schließlich ergeben nickte. Dieser konnte sich kaum noch rühren, während er völlig verkrampft da stand und versucht, irgendwie Luft zu kriegen.
 

„Bitte...“, Keuchend und kraftlos fiel Marcel vor dem älteren Schüler auf die Knie.
 

Sebastians Augen verdunkelten sich bei dem Anblick des gebrochenen Jungen, der nun weinend auf den Boden saß und wie Espenlaub zitterte. Das hatte zur Folge, dass er den Fuß hob und ihn noch einmal kräftig in die Seite trat.
 

„Kannst du auch mal aufhören zu jammern?“ Er rümpfte angewidert seine Nase. „Wir haben dir doch gar nichts getan, Mensch. Du Memme, jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen und benimm dich wie ein Mann! Du bist eine Schande für das „Starke“ Geschlecht.“
 

In der Zwischenzeit zündete sich Jaromir in aller Ruhe eine Zigarette an und schmunzelte ein wenig. Er zog den Rauch tief ein, atmete ihn langsam und genüsslich wieder aus und wirkte dabei wie jemand, der unter Hypnose stand. Doch plötzlich machte sich ein nachdenklicher Zug auf dem blassen Gesicht breit.
 

„Sebastian?“ Neugierig ging er einen Schritt nach vorne. „Hör mal... das ist jetzt zwar eine blöde Frage, aber du bist dir sicher, dass dieser.... dieses Individuum tatsächlich ein Junge ist? Also wenn ich ihn mir einmal so von der Nähe betrachtete, bin ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher.“
 

„Was?!“
 

Erschrocken riss Sebastian den Mund auf und musterte Marcel noch einmal von oben bis unten. Plötzlich sah er ebenfalls unsicher aus, Jaromirs Bedenken brachten ihn zum Grübeln. Trotzig hob er eine Augenbraue und starrte Marcel an.

Für einen Jungen war sein Gesicht wirklich sehr fein geschnitten... Auch seine großen Kulleraugen besaßen definitiv einen weiblichen Touch.
 

„Hey... Hey du da, auf dem Boden...“
 

Marcels Züge entglitten ihm. Er hob den Blick und starrte seine Peiniger mit einer Mischung aus Furcht und Verzweiflung in die Augen. „Was ist?“
 

„Du bist ein Kerl, oder?“, fragte Sebastian herablassend.
 

„Natürlich.“, erwiderte Marcel zugleich, irritiert über so eine unsinnige Frage.
 

Sebastian nickte zufrieden und ein breites Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Die Angst ein Mädchen verprügelt zu haben, war mit Marcels Antwort so plötzlich verwunden, wie sie gekommen war.
 

Mit einem gezischten „Siehst du?!“, wendete er sich wieder an Jaromir. „Was denkst du eigentlich von mir? Ich bin doch nicht so scheiße und schlage ein Mädchen. Also ein bisschen Würde besitze ich nach all den Jahren auf dieser Schule immer noch. Ich bin doch kein gewissenloses Arschloch, verdammt!“
 

Regungslos stand Maxime da und starrte Marcel und die beiden Jungen an, während ihm sein Herz mit einen sanften „Plopp“ in die Hose rutschte.
 

Die Hand erhebend griff er nach Raphaels Oberarm. „Wollten wir nicht rein gehen und einen Lehrer holen?“, fragte Maxime und wendete den Blick von der Gruppe ab. Er konnte diesen abscheulichen Anblick nicht länger ertragen.
 

Erneut sah er, wie Marcel zu weinen begann. Die Tränen liefen ihm als feuchte Rinnsale über die schöne, makellose Haut und tropften dann von seinem Kinn auf den Boden. Sebastian und Jaromir entfernten sich währenddessen vom Tatort und lachten miteinander über die Situation.
 

Unfähig seine Emotionen noch länger im Zaun zu halten wischte Marcel die Tränen aus seinem Gesicht, doch es kamen immer wieder neue nach, die seine Haut befleckten. Er griff nach seiner Schultasche und klaubte die ausgeschütteten Sachen wieder zusammen. Ein paar Mal musste er innehalten, da ihn neue Tränenschübe schüttelten, aber so langem versiegten die feuchten Bäche. Mit jeder verstrichen Sekunde die an Marcel vorbei zog, gewann er an Fassung und Stärke zurück. Am Ende stand er auf, warf sich seine Schultasche über die Schulter und folgte seinen Peinigern in die Schule.
 

„Ein Tag wie jeder anderer...“, zischte Marcel sarkastisch. Das Leben war beschissen. Genauso wie das Gefühl, unerwünscht zu sein. Ihm graute es jetzt schon vor den kommenden Schultag, aber Marcel wusste, dass er den unangenehmen Teil für heute schon überstanden hatte. Zumindest, wenn er nicht an Zuhause dachte – Dort warteten nämlich noch weitaus schlimmere Dinge auf ihn, als nur gemeine Sprüche und ein paar harmlose Schläge. Zuhause wartete die Hölle.
 

Aber sein Zuhause war nun mal sein Zuhause. Deswegen ging Marcel auch immer wieder zurück, obwohl ihn seine Familie jeden Tag zeigte wie sehr sie ihn verabscheuten und es so aussehen ließen, als wäre es ihnen ganz Recht wenn er bald von der Bildfläche verschwand. Oftmals hatten sie noch nicht mal einen Grund um ihn so quälen, sie betrachteten es einfach als einen netten Zeitvertreib. In ihren Augen war Marcel doch sowieso ein Niemand – ein lästiger Schmarotzer ohne Rechte.
 

Dieses Leben war für Marcel normal, aber es versetzte ihm trotzdem jedes Mal einen Stich. Es ist wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Man weiß, dass der Schmerz kommt, und doch kann man sich nicht darauf vorbereiten wenn es passiert.

Marcel war diesem elenden Dasein schutzlos ausgeliefert. Für ihn gab es keinen Ort, an dem er sich verstecken konnte – seine Familie würde Amok laufen wenn sie erfuhren, dass es passieren könnte, dass er womöglich ihr wohlgehütetes Geheimnis ausplauderte.
 

In dieser Angelegenheit kannten sie keine Gnade. Niemand von ihnen, noch nicht mal Marcels ältester Bruder. Sogar Jeremy verlor seine Geduld, wenn irgendjemand Fremdes eine Gefahr für seine Familie darstellte. Dann wurde aus dem großen, fürsorglichen Bruder ganz schnell ein kaltschnäuziges und herzloses Monster, welches jedes Lebewesen niedermetzelte, was ihm in die Quere kam.
 

Marcel schaute nicht mehr zurück als er durch die Eingangstüre ging, deswegen bemerkte er auch nicht die Anwesenheit von Maxime und Raphael, die ihm in das Innere der Schule folgten.
 

Mit schnellen Schritten bahnte sich Raphael seinen Weg durch die Masse und zog Maxime wie einen übergroßen Staubsauger hinter her. „Der Kleine ist ganz schön zäh. Ich dachte schon das er draußen bleibt und nach der Aktion vielleicht nach Hause läuft, aber er bleibt tatsächlich hier in der Schule... Mhm, zäher Bursche. Er hat schon Mut, das muss ich ganz offen zugeben.“
 

Oder einfach kein richtiges Zuhause, dachte Maxime bitter und schluckte seine Gedanken herunter.
 

Irgendwie wollte er Raphael nicht erzählen dass er Marcel kannte. Er schämte sich, einen Jungen wie ihm nicht geholfen zu haben. Marcel hätte sicher nichts dagegen gehabt wenn Maxime an seiner Seite erschienen wäre, auch wenn er ihn gestern noch vielleicht abgewiesen hatte. In so einer Situation würde sich jeder über einen Retter freuen. Aber als er Sebastian und Jaromir erblickte, wie sie sich über Marcel beugten... wie sie ihn verletzten... wie sie ihn auf das übelste Beleidigten... wie sie Marcel voller Abscheu und Hass ansahen... da verließ Maxime sein ganzer Mut.
 

Er fühlte sich wie das letzte Stückchen Dreck auf der Welt – Er war nicht besser wie Marcels Peiniger, denn im Endeffekt war er genauso feige wie sie, da er lieber Abstand hielt und seine Augen vor der Angst niederschlug.
 

Ja, Maxime hatte auf der ganzen Linie versagt.
 

*xXx*
 

„Hey Kleiner, was ist los mit dir? Du bist auf einmal total blass geworden. Ist dir schlecht oder was?“
 

Maxime spürte, wie Raphael ihm die Hand auf den Kopf legte und vorsichtig durch seine Haare streichelte.
 

„Ich...“, flüsterte Maxime heiser, doch mal als dieses eine Wort bekam er nicht über die Lippen. In Wahrheit war er am Ende und total erschöpft. Natürlich hatte er Raphaels jähe Anspannung bemerkt und das machte ihn noch viel nervöser als die Tatsache, dass er Lügen musste.
 

„Ja...Ich?“, wiederholte Raphael leise. Den Mund zu einer strengen Linie verzogen beugte er seinen Oberkörper nach vorne und musterte das Gesicht seines besten Freundes.

„Was ist los mit dir, Maxime? Wurdest du wieder von deinen Mitbewohnern schikaniert, oder warum ziehst du so ein langes Gesicht?“
 

Das stimmte zwar, aber das war nicht der Grund für Maximes Stimmungstief. Sein Problem hieß Marcel und wurde durch die Schuldgefühle in seinem Bauch nur noch stärker.
 

„Ich hasse es wenn jemand gehänselt wird. Warum sind keine Lehrer in der Nähe, wenn man einen braucht? Sonst hängen die einen doch auch immer wie Kaugummi an den Fersen...!“ Mürrisch packte Maxime seine Schultasche aus und knallte die Bücher auf die Tischplatte.
 

„Dann meinst du, wir hätten doch einen Lehrer zu den Jungen schicken sollen? Ich weiß nicht so recht... das ist eine Sache die uns nichts angeht. Außerdem wird er den Überfall sicher selbst melden – es ist total unnötig, wenn wir uns da jetzt auch noch da einmischen.“
 

„Wer weiß, vielleicht hast du recht... Wir haben immerhin unsere eigenen Probleme.“ Gerade noch rechtzeitig konnte Maxime seinen Blick von Raphaels dunkel umrandeten Augen abwenden, die ihn fragend in Grund und Boden starrten. Diesen Satz laut auszusprechen fühlte sich so falsch an, dass er befürchtete, gleich eine lange Nase zu bekommen...

Kapitel 5: Der Ausflug nach Hamburg

Das laute Schrillen der Eieruhr hallte durch den Raum. Augenblicklich legte sich eine blasse Hand auf das elektronische Gerät und schmale Finger drückten den Knopf, welcher die tobende Uhr sofort zum Schweigen brachte.
 

„Hmm, ja das sieht gut aus....“ Mit einem Murmeln ging Maxime vor dem Backofen in die Hocke und ein warmes Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. Er warf einen Blick in den Kasten und summte zufriedenen, als ihm der leckere Duft von der selbstgemachten Lasagne in die Nase stieg.
 

Heute war Freitag, der beste Tag in der Woche, und jetzt lagen erst mal zwei volle Tage der Faulheit und des Nichtstuns vor ihm. Vor knapp 2 Stunden war Maxime von der Schule nachhause gekommen und bis jetzt hatte er die ganze Zeit in der Küche gestanden, wo er brav das Mittagessen vorbereitete.
 

Im Gegensatz zu anderen Männern war Maxime in diesem Haus für das Kochen zuständig. Seine beiden Mitbewohner verstanden davon nämlich so gut wie nichts – jedes Mal, wenn Scarlett oder Yukiko den Herd anschalteten, endete das in einem großen Durcheinander und ER durfte hinterher das Chaos beseitigen. Es war Maxime wirklich ein Rätsel, wie sich die Mädchen dann trotzdem so gesund ernähren konnten; woher kam das Essen bloß, wenn sie es nicht selber machten?!
 

Die Sache am Dienstagmorgen mit Marcel hatte er dagegen schon fast verdrängt. Es passierte ständig, dass irgendjemand in ihrer Schule verprügelt oder ausgeraubt wurde. Das war bei Weitem nichts Neues...

Und doch fühlte sich Maxime miserabel in seiner Haut. Er hatte förmlich danebengestanden und trotzdem hatte er nichts anderes getan, außer wegzuschauen und sich später dafür zu schämen.
 

Sobald Maxime von da an die Augen schloss, sah er Marcels verweintes Gesicht wie ein Spiegel aus der Dunkelheit hervor blitzen. Es verfolgte ihn Regelrecht. Beim Schlafen gehen, wenn er den Bus betrat, in der Schule... es war einfach Überall, wo Maxime es nicht haben wollte!
 

Vielleicht ging ihm diese Sache ja so nahe, weil Maxime solche Situationen selbst kannte. Aber im Gegensatz zu Marcel, stand er selten alleine da. Seine Freunde Raphael oder Charlotte befanden sich meistens in der Nähe...
 

Aber bei Marcel gab es anscheinend niemanden, der ihm half.
 

Maxime bohrte bei diesen Gedanken die Zähne in seine Unterlippe und horchte auf, als er plötzlich ein leises Klicken aus der Ferne hörte. Zuerst ertönte nur das sanfte Quietschen der Eingangstüre, dann das Schleichen leichter Füße über ebenerdigen Laminatboden und zum Schluss, das Schnaufen einer weiblichen und unglaublich müde klingenden Stimme.
 

„Geschafft... Endlich Wochenende... “
 

Das Schnaufen veranlasste Maxime dazu, in seiner Bewegungen inne zu halten. Er drehte seinen Kopf nach hinten und entdeckte ein Mädchen mit dunkelblonden Locken im Hausflur stehen, welches sich gerade die schwarzen Lackschuhe von ihren Füßen streifte.
 

Mit einem neugierigen Ausdruck im Gesicht, schob Scarlett Nemesis ihren Kopf durch die Küchentüre und reckte erwartungsvoll die Nase in die Luft.
 

„Hast du gekocht. ..?, fragte sie monoton.
 

Der neckende Ton in ihrer Stimme, der erschöpfte Blick ihrer runden Augen, die dunkeln Schatten auf ihrer Porzellanhaut... Das alles zusammen sorgte dafür, dass Maxime ruhig blieb und nickte. „Natürlich. Ich koche doch immer für uns, wenn ich dafür Zeit habe.“
 

Mit flinken Fingern löste Scarlett den obersten Knopf des schwarzen Jacketts und atmete erleichtert auf; der scharfe Kragen der Bluse schnitt sich wie immer unangenehm in ihre Haut. Genauso unangenehm saß der eng anliegende Faltenrock auf ihrer Hüfte – der Rand des schwarzen Rockes rieb beim Gehen, immer wieder über ihren Beckenknochen.
 

Scarlett trug eine klassische Schuluniform und besuchte die St. Lilium Girls ‘Academy, eine private Mädchenschule, wo noch viel Wert auf alte Traditionen und Moralvorstellungen gelegt wurde. Hier lernten die Schülerinnen neben gewöhnlichen Fächern wie Mathematik und Deutsch auch noch Singen und Tanzen. Ihnen wurde nahe gelegt, dass sie sich in der Öffentlichkeit stets höflich und zuvorkommend verhalten sollten; Ein Mädchen der St. Lilium Girls Academy hatte schließlich einen Ruf zu verlieren!
 

Die Schülerinnen bekamen regelmäßig Gesangsunterricht, gingen jeden Morgen vor Schulbeginn zur Andacht, und wurden nicht von normalen Lehrern unterrichtet, sondern von Nonnen.
 

Wie Scarlett sich wiederum so eine Schule leisten konnte, war für Maxime unbegreiflich. Woher nahm sie bitteschön das Geld um die teuren, monatlichen Gebühren zu bezahlen, wenn sie doch keinen Nebenjob hatte? Außerdem verlangte das Schulsystem einen überirdischen guten Notenabschnitt von ihren Absolventen...

Natürlich hatte Maxime schon oft bemerkt, dass Scarlett alles andere als dumm war, aber war sie wirklich so intelligent, dass sie diesen strengen Auflagen erfüllen konnte?
 

Doch so genau wollte Maxime das eigentlich gar nicht wissen. Auf der einen Seite hatte er Mitleid mit ihr, auf der Anderen, bewunderte er sie für ihren Ehrgeiz und Mut. Ihr Unterricht begann jeden Tag um 7.45 Uhr und endete um 15.10 Uhr – manchmal sogar erst um 17.00 Uhr, da die Mädchen nach dem regulären Unterricht noch verschiedene AGs oder Workshops besuchten.
 

„Was gibt es denn zu essen?“, murmelte Scarlett plötzlich leise.
 

„Lasagne.“
 

Das Mittagessen schmorte fröhlich in der Teilzeit-Hölle und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Mahlzeit angerichtet werden konnte. Die verbleibende Zeit wollte Maxime jedoch nicht verstreichen lassen, sondern sinnvoll nutzen. Es gab da noch eine gewisse Sache, die er gerade stellen musste...
 

„Scarlett?“, durchbrach Maxime ihre Gedanken. Nach ein paar Sekunden trat er an den Tisch heran und lächelte die Angesprochene unsicher an. „Hör mal... ich weiß jetzt, warum du am Dienstagmorgen so wütend auf mich warst. Du... hast mir am Montag eine SMS geschickt und ich habe dir nicht geantwortet. Ich wollte mich dafür entschuldigen.“
 

Verdutzt hob Scarlett ihren Kopf. „Wie bitte?“
 

Maxime deutete mit einen Nicken auf das Handy in seiner Hand. „Am Montag hast du mich gefragt, ob ich Lust habe, mit dir nach Hamburg zufahren. Heute hätte ich Zeit für dich...“
 

„Ach ja.“ Nickend bestätigte Scarlett, dass sie nun verstand, was Maxime von ihr wollte. Aber anscheinend passte ihr dieses Gespräch im Moment gar nicht – ein aggressives, unmenschliches Knurren schoss aus ihrer Kehle und jagte dem Anwesenden einen eisigen Schauer über den Rücken.
 

Das war es also? Das war ihre Reaktion auf seine ernst gemeinte Entschuldigung? Erst motzte Scarlett ihn an Dienstag total unvermittelt an und jetzt war sie zu stolz, um Maxime zu verzeihen?
 

Aber von so einem kleinen Rückschlag ließ er sich nicht entmutigen. Er konnte Scarletts Missmut ja sogar verstehen; er selbst wäre auch angepisst und sauer, wenn er jemanden eine Nachricht schrieb, und die Person tagelang mit seiner Antwort wartete.
 

Und wenn Charlotte sich am Montag nicht arg verguckt hatte, dann wollte Scarlett ihn sogar von der Schule abholen, da sie des Nachmittags plötzlich vor dem Gymnasium stand. Seine Freundin und Schulkameradin hatte das blondhaarige Mädchen nach ihrer letzten Unterrichtsstunde zufällig am Eingangstor entdeckt.
 

Tief seufzend kniff Maxime die Augen zusammen, während er sich gleichzeitig so feste auf die Zunge biss, dass der körperliche Schmerz den Seelischen für einen Moment verdrängt.

Das war alles Marcels schuld!

Er hatte Maxime mit seinem Auftauchen im Bus total aus der Bahn geworfen. Und damit wäre er auch schon wieder bei dem zierlichen Jungen angekommen, der ihn ein seit Tagen durch den Kopf spukte...
 

„Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist.“ Auch wenn Maxime versuchte ehrlich zu sein, wollte das Lächeln einfach nicht seine Augen erreichen. Die Erkenntnis, dass er Scarletts Gefühlslage verstehen konnte, führte nicht unbedingt dazu, dass er sie gleich sympathischer fand. „Aber ich habe deine Nachricht am Montag wirklich nicht gesehen. Ich werde meinen Fehler wieder gut machen und gleich mit dir nach Hamburg fahren. Ist das okay für dich?“
 

„Nein, das ist nicht okay. Ich habe heute keine Zeit. Am Mittwoch schreibe ich einen Test, wofür ich jetzt gleich lernen wollte...“
 

„Sei nicht immer so eine Spaßbremse!“, unterbrach Maxime sie unwirsch. „Du hast noch 5 Tage Zeit, da musst du nicht unbedingt heute mit den lernen anfangen! Du fährst ja nicht gerne alleine mit S-Bahn, habe ich recht? Dann nimm mein Angebot doch an! Ansonsten kommst du nie in die Stadt.“
 

*xXx*
 

Eine dreiviertel Stunde später hatten die beiden Teenager das Mehrfamilienhaus verlassen und steuerten den Bahnhof von Bergedorf an. Normalerweise legte Maxime die Strecke zur S-Bahn mit einem kurzen Sprint zurück, doch mit Scarlett an seinen Fersen musste er sein Tempo zügeln.
 

Trotz Maximes Bemühungen, die angespannte Atmosphäre etwas zu lockern, blieb Scarlett eisern und ihre Stimmung im Keller.

„Wenn ich wegen dir den Test versaue, kannst du dein blaues Wunder erleben...“ Mit einen für sie typisch eiskalten Blick starrte Scarlett auf den Boden und ignorierte Maxime den ganzen Weg zum Bahnhof über.
 

Erst als sie das große, graue zum Teil aus Fenster bestehende Gebäude erreicht hatten, entspannte sich ihre Körperhaltung etwas und Maxime konnte beobachten, wie Scarletts Augen über die einzelnen Zeilen der Leuchttafel huschten, welche an der Decke hing.
 

„Wir müssen die S21, in Richtung Hamburg Elbgaustraße nehmen. Dann sind wir in knapp 30 Minuten am Hauptbahnhof angekommen.“, murmelte Maxime leise. Er hatte bemerkte, dass Scarlett aus der Leuchttafel nicht schlau wurde und das herzförmige Gesicht verzog.
 

Maxime dagegen kannte sich bestens mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus. Bevor er an dem Sozial-Projekt des Kinderheims teilnahm und nach Bergedorf zog, lebte er mitten in Hamburgs Innenstadt und war jeden Tag auf die Bahn angewiesen gewesen.

Woher Scarlett ursprünglich kam, wusste er nicht. Im Grunde genommen wusste Maxime fast gar nichts über seine beiden Mitbewohner; Sie sprachen doch so gut wie nie mit ihm!
 

Sie gegen ihren Willen herzuschleppen, war nicht gerade die schonendste Methode gewesen, aber Maxime wollte sein schlechtes Gewissen Scarlett gegenüber beruhigen und ihr ihren Wunsch erfüllen. Sie wollte mit ihm nach Hamburg fahren? Dann würde er das auch machen.
 

„Ja... wenn du das sagtest wird es wohl so stimmen. Immerhin... kennst du dich besser damit aus als ich.“, meinte Scarlett und zupfte nervös an einer ihrer langen Locken. Die Situation fühlte sich komisch an; normalerweise war sie die starke und gefasste Person welche immer wusste, wo es langging, doch die Aufregung ließ sie viel unsicherer und schwächer erscheinen als sonst.
 

Ungläubig wischte sich Maxime eine Haarsträhne aus seinen Augen. Sollte das ein Kompliment sein? „Wir müssen nach Süden gehen. Dann sind wir gleich beim richtigen Gleis angekommen.“
 

Während die anderen Passanten fluchend und gehetzt durch die Bahnhofshalle flitzen, blieben die zwei Teenager ruhig und liefen zielstrebig zu der Treppe mit der großen Ziffer 3 am Eingang. Der ekelige Duft von verschwitzten Körpern und abgestandenem Nikotin hing in der Luft, doch die Wenigsten störten sich an dieser Begebenheit.

Nur Maxime und Scarlett schenkten dem jungen Mann Beachtung, der wie von einer Tarantel gestochen an ihnen vorbei rannte, Maxime mit der Schulter anrempelte und so schlimm stank, als hätte er schon seit Wochen kein Wasser mehr gesehen.
 

„So ein Idiot!“, zischte Scarlett dem Mann hinterher und griff nach Maximes Oberarm - Gerade rechtzeitig, denn sonst wäre er womöglich auf die Nase geflogen. „Darum hasse ich diese überfüllten Orte. So viele Menschen auf einem Haufen ist die pure Hölle!“
 

Danach wendete sie ihr Gesicht von dem Mann ab und schaute zu Maxime, der keuchend ausatmete und versuchte, sich wieder auf die Beine zurückzukämpfen. Besorgnis überzog ihr feines Gesicht. „Bist du okay?“
 

„Ja, mir geht es... gut.“ Maxime warf ihr ein kurzes Nicken zu, welches seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. „Das ist nun mal das harte Bahnhofsleben, hier scheißen die Leute auf Respekt und Höflichkeit. Wenn der Zug einfährt, vergessen die meisten irgendwie schlagartig ihre Erziehung.“
 

„Traurig.“, kommentierte Scarlett das Gesagte monoton.
 

Keine zwei Minuten später bestiegen die beiden die Treppe zu ihrem Bahngleis und staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass hier oben mindestens doppelt so viele Menschen standen, wie unten durch die Halle liefen.
 

Scarlett hielt erschrocken die Luft an und musterte ängstlich die Masse. „Ist das normal, dass hier so viele Leute sind?“
 

„Jap. Es ist Freitagmittag, was erwartest du? Erstens kommen die ganzen Arbeiter von Hamburg nach Hause und zweitens wollen viele Jugendliche des Abends in die Altstadt gehen. Feiern, Party machen.“
 

Ihre Fingern zitterten leicht, als Scarlett die Hand anhob, um ihre Augen vor dem hereinfallenden Sonnenlicht zu schützen. „Ich wusste es doch. Ich hätte zuhause bleiben sollen...“
 

Es dauerte noch eine Weile, bis der Lautsprecher an der Decke ertönte und alle Passanten aufforderte, von dem Gleis weg zugehen, da in Kürze die Bahn einfahren würde. Natürlich hörten die wenigstens Menschen auf die Warnung und viele der Anwesenden drängelten sich schon mal nach vorne, damit sie auch möglichst schnell eine der Türen erreichen konnten.
 

Maxime wartete etwas abseits der Masse und stieß Scarlett seinen Ellbogen in die Seite: vor lauter Nervosität sprang sie wie ein gescheuchtes Huhn hin und her.
 

„Beruhige dich, Mann.“, zischte Maxime genervt und zog das Mädchen zurück an seine Seite.. „Du benimmst dich, als ob du das erste Mal mit dem Zug fährst.“
 

„Tue ich auch !“, piepste Scarlett. Sie bedauerte es jetzt schon, Maximes Angebot angenommen zu haben. Schnell schüttelte sie seine Hand ab und verschränkt die Arme so lange vor ihrer Brust, bis sich Maxime in Bewegung setzte.
 

Wenige Minuten später erreichte der Zug den Bahnhof und mit einem Schlag brach die Hölle aus. Alle Menschen verfielen in Panik. Sie fanden sich vor den Türen zu einer großen Traube zusammen, packten ihre Ellbogen aus und drängelten, was das Zeug hielt.
 

Mit Gewalt versuchten auch Maxime und Scarlett einen der Eingänge zu erreichen. Mittlerweile saß schon die Hälfte der Passagiere im Zug und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er abfuhr. In der Masse mussten Maxime und Scarlett einige Ellbogenstöße einstecken, eine Entschuldigung dafür erhielten sie aber nicht. Nach einigen Minuten gelangten sie schließlich in das Innere des Zuges und Maxime nutze seine jahrelange Erfahrung als Bahnkunde und schlängelte sich mit Scarlett zu einer freien Sitzreihe hindurch.
 

Keuchend ließen sich die beiden auf die Sessel fallen. Den schlimmen Teil der Geschichte hatten sie nun überstanden. jetzt durften sie erstmals eine halbe Stunde mit dem Zug durch die Walachei düsen und hoffen, dass es keine Zwischenfälle gab.
 

Draußen vor dem Fenster zogen inzwischen die vertrauten Gebäude und Häuser vorbei.

Ihre Heimat Bergedorf war sehr einfach zu beschreiben. Es gab viel Landfläche, schöne und teure Häuser, die prächtige Altstadt mit ihren kleinen Schlössern und Cafés in der Fußgängerzone, saftige Grünanlagen und natürlich der bekannte Hafen an der Bille, einer der Nebenflüsse der Elbe. Am Wochenende oder nach der Schule joggte Maxime dort gerne am Fluss entlang. Besonderes im Sommer, wenn die Sonne kräftig genug schien und alles in helles Licht tauchte, gab es keinen schöneren Ort als diesen hier.

Die Straßen wirkten im Gegensatz zu Hamburgs Innenstadt ziemlich leer und verlassen - in Bergedorf war die Bevölkerungsdichte sehr gering. Hier lebten durchschnittlich nur 7 Menschen auf einem Hektar.
 

Plötzlich wurde Maxime mit einem Ruck aus seinen Gedanken gerissen. Scarlett griff nach seinem Arm, wobei sie ihre Fingernägel in seine Haut bohrte. Kurz war er in Versuchung sie anzuschreien, aber dann belehrte ihr eindringlicher Blick ihn eines Besseren. Scarlett bewegte ihre Lippen und machte eine Kopfbewegung nach rechts, welche Maxime in die besagte Richtung schauen ließ.
 

Ihnen gegenüber saß ein junger Mann mit stechenden Augen. Er war von Kopf bis Fuß in dunkle Klamotten gehüllt und es war unverkennbar, dass er sie bis gerade eben beobachtet hatte - doch jetzt schaute er einfach nur gelangweilt aus dem Fenster.
 

Maxime beugte sich zu Scarlett, aber das Mädchen stieß ihn energisch zur Seite und zog ein Handy aus ihrer Hosentasche. Schnell, schneller als es Maxime für möglich gehalten hätte, tippte sie einen Text in das kleine Nachrichtenfenster ein und hielt das Gerät so, dass er den Blickschirm gut erkennen konnte.
 

„Er beobachtet uns schon die ganze Zeit.“, schrieb Scarlett flink. „Das ist der Typ, der dich vorhin angerempelt hat – erinnerst du dich an ihn? Er hat gestunken wie eine Jauchegrube. Aber verhalt dich unauffällig, ja? Der Kerl sieht eigenartig aus und wir können im Moment wirklich keinen Streit gebrauchen. Also rede auch nicht laut über ihn.“
 

Die feinen Härchen auf Maximes Unterarm streckten sich in die Höhe. Er spürte wie ihn ein kalter, jeher Luftzug zum Frösteln brachte. Ohne zu zögern, holte er sein eigenes Handy hervor und tat es Scarlett gleich, indem er ebenfalls einen Text schrieb und ihr den Bildschirm zeigte.
 

„Was?! Warum glotzt er uns an?! WIR haben IHM doch nichts getan! Wenn einer einen Grund hat zu starren, dann sind das Wir.“
 

Scarlett seufzte theatralisch. Wieder huschten ihre Finger über die Tasten und wieder staunte Maxime, wie schnell das Mädchen schreiben konnte. „Ignoriere ihn! Willst du dass wir Schwierigkeiten bekommen? Ich nicht, also halt dich zurück!“
 

Nein, das wollte Maxime natürlich nicht.
 

Und trotzdem musste er sich arg zusammenreißen, mittlerweile schaute der schmierige Typ wieder zu ihnen. Auch wenn Maxime versuchte in eine andere Richtung zu gucken, huschten seine Augen immer wieder zu den Kerl zurück. Maxime war ein Mobbingopfer, er war Schlimmeres gewöhnt, er hatte so viele furchtbare Dinge gesehen und dennoch trieb ihn der Blick des Mannes einen eisigen Schauer über den Rücken.
 

Mit seinen dunklen Sachen und den fettigen, zerzausten Haaren wirkte der junge Mann schrecklich deplatziert an diesem Ort. Nicht weil er so sonderbar aussah, sondern weil er etwas so Ungewöhnliches ausstrahlte, was man einfach nicht in Worte fassen konnte.
 

Maxime schluckte unbehaglich und rutschte etwas näher an Scarlett heran. „Ich habe Schiss...“.
 

„Dann hör auf ihn an zu starren.“, zischte Scarlett zurück. Auch wenn sie nach außen hin die Coole spielte und Maxime beweisen wollte wie stark sie war, bemerkte er, dass ihre Hände vor Angst zitterten.
 

*xXx*
 

Der Horrortrip endete nach 25 Minuten und Maxime und Scarlett konnten gar nicht sagen, wie schnell sie aus dem Waggon gehüpft waren und in die Innenstadt flüchteten. Sie warfen keinen einzigen Blick zurück, sondern rannten so schnell, als ob der Leibhaftige hinter ihnen her wäre.
 

Die Mönckebergstraße, auch liebevoll „Mö“ genannt, war die berühmte Einkaufmeile der Hansestadt und mit unzähligen Kaufhausketten, Imbissen und Cafés besiedelt. Würde sich Maxime nicht so gut in der Gegend auskennen, hätten sie sich schon dreimal in der überfüllten Fußgängerzone verlaufen.
 

Erst an einer Straßenlaterne blieb Scarlett stehen und presste sich japsend eine Hand in die Seite.

„Nie wieder...!“, keuchte sie der Ohnmacht nahe. „Nie wieder fahre ich mit dir nach Hamburg! Das war das erste und letzte Mal, verdammt!“
 

„Ja ja, dass hast du mir heute schon mehrmals gesagt.“, erwiderte Maxime und putzte sich den Schweiß von der Stirn. Er ignorierte Scarletts angefressen Blick und ließ die Augen über die einzelnen Läden in ihrer Nähe gleiten. Von hier aus konnte er die ganze Einkaufmeile überblicken. Er sah mehrere Fast-Food Restaurants wie McDonalds oder Burger King, und schließlich ein großes Einkaufszentrum – welches ihr Ziel war.
 

Maxime machten einen Schritt nach vorne, stemmte die Hände in die Hüfte und sah an der weißen Fassade des riesigen Gebäudes entlang nach oben. „Was möchtest du hier eigentlich?“
 

„Ein Haus bauen!“, fauchte Scarlett spitz.
 

Maxime rollte die Augen. Weiber...
 

Als selbst Scarlett genug von Böse-Gucken hatte und wieder Luft bekam, betraten sie das Einkaufszentrum. „Yuki hat mir erzählt, dass es hier diese Woche mehrere Angebote gibt. Ich brauche unbedingt ein gutes Vorkabelbuch für die 10. Klasse. In Französisch bin ich wirklich eine Niete.“, erklärte sie etwas freundlicher und suchte nach einem Plan, der ihr zeigte, wie sie so schnell wie möglich in die Etage mit den Büchern kam, ohne sich hundertmal zu verirren.
 

Das Einkaufszentrum war in 5 Stockwerken aufgeteilt, mehrere Geschäfte tummelten sich auf den einzelnen Etagen. Überfall herrschte reges Treiben. Passanten flitzen von A nach B, die ihre Augen gestresst nach neuen Schnäppchen offen hielten. Auch Scarlett ließ sich von der Hektik anstecken und lief gleich zwei Mal hinter einander an der Buchhandlung vorbei.
 

„Guck mal.“, rief Maxime deshalb nach 2 Minuten und deutete mit dem Finger auf einen unscheinbaren Laden auf der rechten Seite. „Da vorne ist doch die Buchhandlung, wo du hin wolltest, oder?“
 

Sofort vollführte Scarlett eine halbe Drehung auf den Fersen und folgte Maximes Finger mit ihren Augen. Verdutzt blieb ihr im ersten Moment der Mund offen stehen. „Oh...“
 

„Du kommst alleine zurecht, oder?“, fragte Maxime und folgte Scarlett mit einem respektablen Abstand in den Laden. „Also ich werde jetzt zu den Mangas gehen und dort kannst du mich in einer Stunde abholen. Wenn du mich brauchst, ich bin in der 2 Etage.“
 

Scarlett nickte knapp. Dann rauschte sie davon und kämpfte sich wie eine Amazone durch die Menschenmasse.
 

Naja, bis auf die Zugfahrt war das bis jetzt doch gar nicht so schlimm gewesen. Maxime hatte sich den Nachmittag mit seiner Mitbewohnerin ein bisschen anders vorstellt. Aber er war überrascht, wie freundlich sich Scarlett in gewissen Situationen verhalten konnte und wie sehr ihm dieses Verhalten gefiel.
 

Gerade als sich Maxime zu der Ecke mit den Mangas und Comics umdrehen wollte, bemerkte er einen hellen Lichtschweif auf der linken Seite des Ladens.

Und oh... aus irgendeinem unerfindlichen und beunruhigenden Grund, begann sein Herz vor Aufregung zu rasen.
 

Neugierig, weil ihn dieser sanfte Farbton so nervös machte, ging Maxime zu den besagten Regalen und nutzte sie als Versteck, damit er die Person beobachten konnte.

Leise ging er in die Hocke, so hatte er die beste Sicht auf den blonden Jungen, der ihm den Rücken zukehrte und anscheinend in einem Buch vertieft war.
 

„Marcel...“, knurrte Maxime und bohrte seine Fingernägel in einen Buchrücken. Das war ja wirklich mal wieder so typisch Schicksal. Wer spukt ihm schon die ganzen Tage im Kopf herum? Marcel! Und wenn musste er jetzt inmitten Hamburgs entdecken? Natürlich Marcel!
 

Und wie konnte es andere sein? Natürlich war der kleine, schmächtige Junge war mal wieder Mutterseelen alleine unterwegs und hatte keine starken Freunde dabei, die ihn vor schrägen Typen beschützen konnten.
 

Während der vergangenen Tage hatte Maxime den Anderen öfters in der Cafeteria gesehen und heimlich beim Essen beobachtet. Von sozialen Kontakten fehlte jede Spur. Immer fand er ihn alleine vor, nie saß jemand bei Marcel am Tisch und redete in der Pause mit ihm.
 

Am liebsten wäre Maxime aus seinem Versteck gesprungen und hätte Marcel angeschrien. So langsam ertrug er diesen jämmerlichen Anblick nicht mehr! Nicht nur weil er Mitleid mit ihm hatte, sondern auch weil er wusste, dass Marcel immer der Fußabtreter der Leute bleiben würde, wenn er immer alleine blieb und sich keine Freunde suchte.
 

Verdammt. Warum begriff Marcel dass nicht!? Warum ertrug er diesen ganzen Terror lieber alleine? Waren ihm seine Mitschüler vielleicht nicht gut genug... oder hütete Marcel womöglich ein Geheimnis, dass niemand erfahren durfte? Vielleicht hatte er ja auch eine ansteckende Krankheit und wollte darum keine Freunde haben...
 

Maxime beobachtete Marcel noch eine ganze Weile aber dann bemerkte er, dass es keinen Sinn hatte hier noch länger zu stehen und einen Jungen zu beobachten, dem er sowieso nicht helfen konnte. Er wollte sich schon abwenden und zu den Mangas gehen, als ihm ein tiefes Stöhnen unter die Haut fuhr.
 

„Wie lange brauchst du noch?“, fragte plötzlich eine Stimme aus der Ecke und Maxime zuckte zusammen, da er dachte, dass er angesprochen war. Aber es war Marcel, der sich um umdrehte und die Augenbrauen hochzog. Ein harter Zug umspielte seinen Mund.
 

„Ich bin gleich so weit.“, erwiderte Marcel und stellte das gelesene Buch zurück in das Regal.
 

Die Körperhaltung des Jungen hatte etwas Gezwungenes an sich... Selbst ein Laie konnte sofort erkennen, wie nervös Marcel war und wie sehr sich sein Körper versteifte. Auch Maxime musste die Situationen nicht lange bewerten um zu sehen, dass es dem Kleinen im Augenblick ziemlich beschissen ging. Ihm stand die Panik förmlich ins Gesicht geschrieben. Diesen Ausdruck hatte er noch nicht mal getragen, als er am Dienstag von Sebastian und Jaromir verprügelt und ausgeraubt wurde.
 

„Warum wartetest du eigentlich auf mich? Du kannst doch schon mal zur Tierhandlung gehen und dir deine Mäuse kaufen...“ Marcel biss die Zähne zusammen und eine dicke Gänsehaut überzog seine dünnen Arme. „Dafür brauchst du mich nicht. Ich weiß nicht, ob dein Vogel lieber graue oder weiße mag...“
 

Die Person – eindeutig ein Junge – lachte schnaubend. „Weil ich Jeremy versprochen habe, dass ich auf dich aufpasse wenn wir in die Stadt fahren. Und da ich ihn nicht reizen möchte, mache ich das auch. Hast du ein Problem damit?“
 

Brennend füllte sich Maximes Gesicht mit heißem Blut. Er ging auf die Zehenspitzen und schob neugierig die im Weg stehenden Bücher zur Seite.
 

In der Ecke saß ein junger Mann in einem roten Lesesessel und hielt eine Sonnenbrille in der Hand. Seine dunklen Augen flackerten vor Schalk, als er Marcel musterte. „Es ist ja schon grenzwertig, dass ich dich an diese Begebenheit erinnern muss. Jeremy würde dich doch nie ohne Geleitschutz in die Stadt lassen, wo heute Freitag ist und nachher am Hauptbahnhof die Hölle abgeht. Da würde doch so ein Zwerg wie du gnadenlos untergehen.“
 

Für Maxime gab es nur zwei Möglichkeiten; entweder war der Typ ein Freund von Marcel... oder ein pädophiler Wahnsinniger, der den Jungen bei der erstbesten Gelegenheit in eine Seitengasse zog und vergewaltigte.
 

Angespannt hielt Maxime die Luft an. Er verdrängte das auskeimende Gefühl der Angst und setzte eine emotionslose Miene auf – wenn der Kerl an Marcels Seite wirklich ein Verbrecher war, musste er ihn aufhalten. Diesmal würde er eingreifen!
 

Weiße, halblange Haare im modernen Stufenschnitt, reichten dem Fremden bis zum Kinn und verdeckten nur sporadisch seine glühenden Augen. Sein Gesicht war schmal geschnitten, vielleicht etwas zu schmal und auch seine Haut schimmerte in einem ungesunden Grauton. Die Züge dagegen wirkten noch jungenhaft und frisch, doch beim genaueren Hinsehen konnte man die feinen Adern und Venen an der Oberfläche erkennen.
 

Maxime schluckte und betrachtete den Rest seines Körpers. Der Albino war eher sehnig und schlank gebaut. Sein flacher Bauch wurde durch ein enges, weißes T-Shirt betont, das ziemlich teuer aussah. Von der Größe her gehörte der Junge zum normalen Durchschnitt – glücklicherweise musste man wohl sagen, denn sonst sähe sein Körper noch schlaksiger und kränklicher aus als ohne hin schon.
 

„Ich bin dann jetzt fertig. Wenn du hier nichts mehr brauchst, können wir gehen.“ Ein paar Sekunden verharrte Marcel in seiner Position, dann begannen seine blauen Augen zu funkeln und er ging zu dem Sessel. „Meinst du... wir sind vor Sonnenuntergang wieder Zuhause?“
 

„Natürlich.“, sagte der Angesprochene und runzelte seine Stirn. „Wieso fragst du? Hast du etwa Angst im Dunkeln? Mensch Marci, ich bin doch bei dir!“
 

„...Genau deswegen mache ich mir doch Sorgen.“ Auch wenn Marcel nicht wusste, wovor er sich eigentlich genau fürchtete, so konnte die Kombination aus Wahnsinn und einer ausgeprägten, sadistischen Ader, nicht viel Gutes bringen.
 

Grummelnd schüttelte Maxime seinen Kopf und schloss die Augen. So langsam kam er sich wie ein Spanner vor. Im Grunde genommen ging es ihn nichts an mit wem Marcel verkehrte, da konnte seine Begleitung noch so seltsam sein. Was konnte Maxime denn schon groß ausrichten? Marcel war kein kleines Kind mehr und wusste sehr wohl, mit welchen Menschen er seine Freizeit verbrachte...
 

„Da bist du ja schon wieder. Und hast du etwas gefunden, was dir gefällt?“, murmelte Scarlett als sie Maxime aus dem Augenwinkel bemerkte, welcher gerade die Treppe runter stieg.
 

Der Angesprochene schüttelte seinen Kopf. „Nein, ich kenne schon alle Mangas die es hier gibt. Und was ist mit dir? Hast du das Buch bekommen, was du für die Schule haben wolltest?“
 

„Natürlich, dieser Laden hat alles was das Herz begehrt. Hätte ich gewusst dass es in Hamburg so tolle Geschäfte gibt, wäre ich schon viel eher hier gewesen.“
 

„Dann kannst du ja froh sein, dass ich dich überredet habe.“ Maxime schnaubte lachend. Er schob die Hände in seine Jackentaschen und musterte sein Gegenüber flüchtig. Irgendwie wollte er den heutigen Tag noch nicht beenden. Erstens, weil er Spaß mit Scarlett hatte, und zweitens... zweitens? Es gab kein zweitens!
 

„Hast du eigentlich noch Lust mit mir ein Café zugehen bevor wir nach Hause fahren? In der Nähe gibt es einen kleinen, schnuckeligen Italiener, der das beste Eis der ganzen Straße anbieten. Das darfst du dir nicht entgehen lassen.“
 

Scarlett legte ihren Kopf schief, einen verzweifelten Ausdruck in den pinkfarbenen Augen. „Ähm, eigentlich gerne... Zu einer süßen Leckerei sage ich nie nein, aber meine Klausur. .. Ich wollte heute doch noch mit dem Lernen anfangen."
 

„Ach was, Papperlapapp. Wir sind doch erst vor einer Stunde angekommen, willst du jetzt schon wieder abhauen? Dann hat sich die Fahrt hierher doch gar nicht gelohnt und wir hätten uns das ganze Geld für das Zugticket auch sparen können. “
 

Schnell und mit Nachdruck machte Maxime einen Schritt nach vorne und griff nach Scarletts Handgelenk und obwohl sich das blonde Mädchen zierte, konnte er sie nach einigen Schwierigkeiten von seiner Idee überzeugen.

Glücklicherweise.

Wenn Scarlett bei ihrem Nein geblieben wäre, hätte er sich an ihr die Zähne ausbeißen können – der Punkt ging zweifelsohne an sie. Was Scarlett nicht wollte, das wollte sie nicht. Außerdem waren die beiden Teenager nicht nur gleich alt, sondern auch gleich groß und gleich stark.
 

„Das ist es also?“, fragte Scarlett, als sie nach einigen Minuten das kleine Haus am Ende der Straße erreichen hatten. Sie ließ ihre Augen über das Café gleiten und legte eine kleine Kunstpause ein. „Das Lokal sieht.... besser aus, als wie ich es mir vorgestellt habe...“
 

„Natürlich sieht es gut aus! Ich kenne die besten Läden der ganzen Straße.“ Grinsend führte Maxime Scarlett in das Café und eine Wolke aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen schlug ihnen entgegen. Fast sofort erschien eine junge Kellnerin an ihrer Seite und wies den beiden Teenagern einen Platz am Fenster zu.
 

Während Scarlett schon die Liste mit den verschiedenen Kaffeesorten durchging, schaute sich Maxime flüchtig um; Das Lokal war ziemlich klein, rustikal gebaut und zählte seit 3 Jahren zu seinem festen Stammplätzen der Mönckebergstraße. Immer wenn er und seine Freunde nach Hamburg fuhren, ließen sie hier ihren Tag bei einen warmen Getränk ausklingen.
 

…Hmm, Freunde. Da musste Maxime doch sofort wieder an Marcel zurückdenken. Ob er inzwischen zu Hause angekommen war? Anscheinend machte sich Marcel Sorgen um mit seiner Begleitung alleine zu sein, wenn er unbedingt vor Sonnenuntergang nach Hause wollte. Warum war ihm das nur so wichtig?
 

Na, aber bei dem zwielichtigen Aussehen des jungen Albinos, konnte Maxime so ein Verhalten ganz gut verstehen. Er selbst, hätte sich wohl noch nicht mal am helllichten Tag mit ihm vor die Türe getraut.
 

Weiter kam Maxime mit seinen Gedanken aber nicht, denn in diesem Augenblick tippte Scarlett ihn mit der Schuhspitze an. Sie starrte ihm in die Augen und ein kleines Feixen erhellte ihre Miene
 

„Na, wovon träumst du? Auf einmal hast du einen ganz glasigen Blick bekommen...“
 

Inzwischen hatte Scarlett die Einkaufstüte auf den Tisch gelegt und ihr neues Wörterbuch hervor geholt. Maxime beobachtete sie dabei und bemerkte, dass sich in der Tüte noch ein weiteres Buch befand. Neugierig, was das kleinkarierte Mädchen noch so las, streckte er seine Hand nach dem Gegenstand aus, doch Scarlett erkannte sein Vorhaben und schlug Maxime auf die Finger.
 

„Hände weg von meinen Sachen!“, zischte sie plötzlich angriffslustig.
 

Doch auch wenn Scarlett flink war und die Plastiktüte rechtzeitig aus Maximes Reichweite gezogen hatte, konnte er trotzdem einen kurzen Blick in sie werfen.
 

In der Tüte lag ein dickes Buch mit einem roten Einband. Es wirkte schon ziemlich alt und verschlissen. Auf die Schnelle hatte Maxime nur gesehen, dass die einzelnen Seiten des geheimnisvollen Buches bereits ausgefranst und von dem Zahn der Zeit gezeichnet waren.

Warum zur Hölle kaufte sich Scarlett so ein mangelhaftes Exemplar? Gab es keine Neuauflagen von diesem Buch? Den Titel hatte Maxime dank Scarletts schneller Reaktion nicht lesen können, er hatte nur ein paar einzelne Satzbausteine erkannt: „Sagen und Legenden...“, und das Wort “Schattenkreaturen.“
 

„Du interessierst dich für Mythologie?“, fragte Maxime neugierig und verblüfft zugleich. Scarlett sah vielleicht etwas seltsam aus. Aber nach außen hin erschien sie nicht wie eine okkulte Person, die sich für solche Sachen interessierte.
 

Die Angesprochene senkte den Blick und ließ die Einkaufstüte nun endgültig unter der Tischplatte verschwinden. Auf einmal begannen ihre blassen Wangen zu glühen. „Na und? Findest du das vielleicht lustig? Jeder Mensch hat seine verschiedenen Hobbys - meins dreht sich eben um paranormale Ereignisse. Für mich sind Legenden und Märchen, mehr als nur belanglose Erzählungen aus dem Mittelalter.“
 

„Du und paranormale Ereignisse?! Ich dachte eigentlich, dass du für solche Dinge viel zu bieder bist.“
 

„Machst du dich gerade über mich lustig?“, fragte Scarlett spitz und starrte Maxime abschätzend in die Augen. „Auf diesem Gebiet verstehe ich absolut keinen Spaß!“
 

„Nein! Niemals! Das klingt nur so sonderbar... Und das ist echt heftig! Wenn ich an übernatürliche Phänomene denke, dann erscheint vor meinen Augen sofort das Bild von irgendwelchen komischen Leuten in schwarzen Kutten. Du siehst dafür viel zu brav aus.“
 

Diese Bezeichnung schien ihm das Mädchen übel zu Zunehmen. Wütend verschränkte sie ihre Arme vor der üppigen Brust. „Aha! Was soll das denn heißen? Aber es ist besser, dass ich so etwas gut finde als dein dämliches Hobby! Welcher Mann läuft schon freiwillig in kurzen Röckchen und High Heels durch die Gegend?!“
 

Die Jugendlichen funkelten sich wütend an. Maxime unterdrückte das Bedürfnis Scarlett noch einen fiesen Spruch bezüglich ihrer Verklemmtheit rein zu würgen, und diese verzichtete auf den Wunsch, Maxime als männliche Schlampe zu betiteln.
 

So saßen die beiden die nächsten 10 Minuten schweigend an ihrem Tisch und waren ziemlich froh, als die junge Kellnerin erschien, und die Getränke brachte. Eigentlich hatte Maxime vorgehabt sein Gegenüber als Friedensangebot einzuladen, aber nun verwarf er diesen Gedanken ganz schnell wieder.
 

Dieser muffigen Zicke würde er sicher nichts ausgeben!
 

*xXx*
 

Maxime seufzte innerlich, als er und Scarlett eine halbe Stunde später das kleine italienische Café verließen. Bis jetzt hatten sie sich die restliche Zeit über angeschwiegen und den jeweils anderen ignoriert. Es war einfach zum Heulen. So sehr sie es auch versuchten; sie kamen einfach nicht miteinander zurecht...
 

„Wann kommt der nächste Zug nach Bergedorf?“, fragte Scarlett irgendwann gelangweilt. Sie schaute kurz zu der Kirche mit ihrer riesigen Uhr in der Mitte und verglich die Zeit mit ihrer digitalen Handyuhr.
 

Es war kurz nach 18 Uhr und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel.
 

Maxime verzog das Gesicht, als der eisige Klang ihrer Stimme ihm einen schmerzhaften Stich versetzte. Er blickte auf sein eigenes Handy, das die Internetseite der Deutschen Bahn zeigte und die Sicht auf die einzelnen Fahrpläne und Zugverbindungen freigab.
 

„Ach, erst in 45 Minuten. Dann haben wir noch reichlich Zeit und können in aller Ruhe zum Bahnhof gehen. Jetzt um diese Uhrzeit ist da sowieso die Hölle los. Der Freitagabend-Verkehr kommt so langsam in die Gänge..“
 

Gerade als Maxime einen Schritt in die Richtung der Innenstadt setzen wollte, bemerkte er, wie ihn plötzlich eine zierliche Hand zurück hielt. Neugierig blickte er über die Schulter und begegnete Scarletts pinken Seelenspiegeln. Sie waren seltsam erstarrt und weit aufgerissen.
 

Verblüfft hielt Maxime die Luft an, doch Scarlett schnitt ihm kurz entschlossen das Wort ab, knurrte leise, und zerrte ihn ziemlich ruppig hinter sich her. „Komm einfach mit!“, zischte sie eindringlich.
 

Maxime gehorchte ohne zu murren. Er schluckte, weil er spürte, dass Scarletts Finger kalt und zittrig in seiner warmen Hand lagen. Irgendwie... fühlte sich das schrecklich eigenartig an. Bis jetzt hatte er noch nie mit einem Mädchen Händchen gehalten. Oder zu mindestens mit keinem, welches er nicht schon Jahre lang kannte und als „Freund“ schimpfte.
 

„Warum hast du es auf einmal so eilig?“, fragte Maxime schließlich gedämpft, als ihm das Verhalten der Goldhaarigen so langsam unheimlich wurde. „Willst du jetzt doch nicht zurück nach Hause? Das kannst du mir auch gerne sagen...“
 

„Bist du eigentlich so blöd, oder tust du nur so?!“ Zornig schaute Scarlett nach hinten und fixierte Maxime mit ihren vor Wut sprühenden Augen. „Nein? Dann drehe dich bitte mal um, aber UNAUFFÄLLIG, ja?“
 

Noch im gleichen Moment hob Maxime sein Handy in die Luft und benutzte das Display als Spiegel. So musste er nicht seinen Kopf umdrehen wenn nach hinten schauen wollte.

Und im Display sah er... Nichts. Gar nichts! Nur eine halb volle Seitenstraße, mehrere Lokale und ein paar Tauben auf dem Bürgersteig.
 

„Hast du einen Knall? Da ist doch nichts! Was soll ich da denn sehen?“
 

Einen Moment verharrte Scarlett auf der Stelle. Unschlüssig, ob sie das Richtige tat, führte sie Maxime sicherheitshalber noch ein Stückchen nach vorne und schaute selbst noch mal zurück. Ihre himbeerfarbenen Augen huschten flink über die Straße und nahmen in Sekundenschnelle alle Einzelheiten auf, welche sie erblickten.
 

Ein Mann, gekleidet in einer schwarzen Kapuzenjacke, stand wie festgewachsen im Schatten der Häuser und starrte den zwei Teenagern Löcher in den Rücken. Doch leider konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, ein rotes Halstuch verdeckte seinen Mund und den Großteil seiner Nase. Aber dieser stechende Blick konnte er nicht verbergen. Ihn, spürte Scarlett selbst aus dieser Entfernung wie heiße Nadelstiche auf ihrer Haut.
 

Knurrend schüttelte sie ihre buschige Löwenmähne. „Wir müssen hier schnell weg. Ich glaube das er uns wiedererkannt hat!“
 

„Er? Wovon redest du? Wer soll uns wieder erkannt haben?“, sammelte Maxime sichtlich verwirrt und wollte schon wieder seinen Kopf umdrehen, aber Scarletts Finger schlossen sich wie eine Schweißzwinge um seinen Arm. Energisch zog sie ihn auf den Bürgersteig, weg aus dem Blickfeld des unheimlichen Mannes, und huschte leichtfüßig in eine dunkele Gasse.
 

Jetzt erst wurde Maxime sich darüber bewusst, wovon Scarlett sprach. Jemand musste ihnen nachstellen und sie verfolgen! Stumm folgte er ihr in die Seitengasse. Die Lichter der Laternen verloren hier drinnen den Kampf gegen die Dunkelheit. Auch die enorme Geräuschkulisse der Stadt wurde von den dicken Hausmauern aufgefangen und absorbiert.
 

„Beeil dich, Maxime. Gleich haben wir es geschafft, gleich sind wir in Sicherheit! “, rief Scarlett atemlos. Immer noch knurrend, streckte sie ihre freie Hand aus und deutete mit dem Finger auf einen düsteren Spalt am Ende der Gasse.
 

Dort angekommen, drängte sie Maxime in eine Ecke und blieb mit versteinerter Miene vor ihm stehen. Ihren Blick richtete sie auf die weit entfernte Straße und wartete auf das, was kommen würde, oder auch nicht...
 

„Wer verfolgt uns denn?“ Maxime drückte seinen Rücken noch fester gegen die scheußlich kalte Hausmauer. „Und findest du es wirklich so gut, in eine abgelegene, menschenleere Sackgasse zu flüchten? Im Notfall kann uns hier doch keiner finden...!“
 

„Sei Still! Ich weiß was ich tue.“, unterbrach Scarlett ihn äußerst ungehalten und ging leicht in die Knie. „Siehst du nicht, dass ich versuche, dich zu beschützen!?“
 

Kurz darauf erschien eine düstere Gestalt am Eingang der Gasse. Sie spähte neugierig in die Finsternis und so etwas wie ein dröhnendes Fauchen brachte ihre schlaksige Gestalt zum Beben. Mit glühenden, blutunterlaufenen Augen ging die Person einen Schritt nach vorne, reckte ihren langen Hals noch weiter und Maxime, wie sowohl auch Scarlett, hielten erschrocken die Luft an.
 

„Ich kann sie riechen. Hier irgendwo muss dieses Miststück doch sein und sich vor mir verstecken...“
 

Die tiefe Stimme klang grausam verzerrt und hallte hundertfach von den hohen Wänden wieder. Aber interessanterweise blieb die Gestalt da, wo sie war. Sie begnügte sich damit lediglich in die Gasse zu starren und ihre Hassparolen kundzutun. Entweder wollte die Person die Kinder nur hinters Licht führen und verängstigen, oder sie fürchtete sich vor dem, was dort in der Gasse auf sie wartete.
 

„Das ist doch der Kerl auf dem Zug!“, fiel es Maxime plötzlich wie Schuppen von den Augen.
 

Verdammt, der Junge biss sich auf die Zunge. Als Antwort rammte ihn Scarlett den Ellbogen in die Rippen und schleuderte einen wütenden Blick über die Schulter.
 

In diesen Moment war Maxime das alles jedoch egal. Er schämte sich noch nicht mal, dass er hier wie ein verschüchtertes Kleinkind in der Ecke kauerte und tatsächlich von einem Mädchen, die auch noch seine verhasste Mitbewohnerin war, beschützt wurde.
 

Alles, an was Maxime Denken konnte, war aus dieser Gasse rauskommen und Hamburg auf dem schnellsten Wege zu verlassen!

Kapitel 6: Die eine Katastrophe jagt die Nächste

„Wem schreibst du da?“
 

Irritiert hob Marcel seinen Blick und schaute in die rot funkelnden Augen des Albinos, welcher neben ihn her ging und sich gerade seine fertig gedrehte Zigarette zwischen die Lippen schob.
 

Die Sonne über ihren Köpfte neigte sich langsam dem Abendhimmel und trotzdem waren die beiden Jungen noch immer in Hamburg unterwegs, und nicht zu Hause, wie es sich Marcel wünschte. Bis zum Bahnhof war es noch ein weiter Weg - Ihr Aufenthalt in dem Tiergeschäft hätte länger gedauert, als erwartet.
 

„Mit niemanden.“, lautete Marcels ehrliche Antwort und er ließ das Handy geschickt in seiner Hosentasche verschwinden.
 

„Stimmt ja. Du hast ja keine Freunde mit denen du schreiben könntest.“
 

Die Gedanken an seine missliche Lage in der Schule wischte Marcel sämtliche Emotionen aus dem Gesicht. Frustriert rammte er seinen Fuß gegen eine leere Cola Dose, welche ein mal quer über die Straße flog.
 

„Woher willst du das wissen?! Beobachtest du mich etwa?“, zischte Marcel vielleicht eine Spur zu scharf und starrte den Weißhaarigen wütend an.
 

„Pfft! Als ob ich dass nötig hätte. Hast du schon vergessen, dass die Zwillinge ständig in deiner Nähe sind und mitbekommen, was abgeht? Weiß Jeremy schon wie es dir in der Schule ergeht, oder hast du ihm verschwiegen, dass du täglich gehänselt und verprügelt wirst?“
 

Kaum hatte Marcel diesen Satz richtig verarbeitet, schon stand er wie festgewachsen da und spürte mit Schrecken, wie ihm ein gewaltiger Kloß die Kehle zuschnürte. „Was hast... du gesagt?“
 

„Gar nichts...“, summte der Albino nun zufrieden. „Ich wiederhole nur die Beobachtungen der Andern. Aber im Grundgenomen, kann es uns doch egal was mit dir passiert... Solange du dich nicht veränderst, bist du kein richtiges Mitglied unserer Familie und nicht schützenswert.“
 

Ich weiß, dachte Marcel bitter und trottete mit hängenden Schultern neben den Älteren her.
 

Jemanden zu lieben, ohne dass die Gefühle von der betreffenden Person erwidert wurden, war nicht nur schrecklich schmerzhaft, sondern auch ein Grund um seine Lebensfreude zu verlieren. Von dem Moment an wo er vor 14 Jahre zum ersten Mal seine Augen aufschlug, hatte er seine Familie bedingungslos geliebt. Früher hatte Marcel seine älteren Geschwister verehrt und sie für ihre Stärke bewundert. Aber heute konnte er nicht mehr sagen, was von diesen Gefühlen übrig geblieben war und was er nun für sie empfand. Hass, weil sie ihn verspotteten? Angst, weil sie ihn gerne leiden sahen? Oder Verachtung, weil der Bruder, der eingreifen könnte, nicht zwischen die Fronten geraten wollte und lieber im Hintergrund blieb?
 

„Der Bahnhof kommt und kommt nicht näher... Ist das zum Kotzen! Wäre ich doch nur mal alleine gegangen...“
 

Die zischende Stimme des Weißhaarigen holte Marcel mit einen Schlag in die Realität zurück. Geschwächt, durch seine Erringungen, bemerkte er gar nicht wie der Mann plötzlich anhielt und bestimmend nach seinen Handgelenk griff.
 

„Warte mal, Marci...“, knurrte der Ältere auf einmal scharf und zog Marcel mit einen kräftigen Ruck an seine Seite. „Wie es aussieht, muss der Bahnhof noch einen Augenblick warten...“
 

„Was meinst du damit?“
 

Aber offenbar war es dem Albino ziemlich egal was Marcel von seiner Äußerung hielt, denn er fixierte anstatt zu Antworten nur eine Gruppe aus Jugendlichen, die ein paar Meter entfernt hinter ihnen herliefen.

Die Gruppe bestand hauptsächlich aus jungen Männern. Sie waren alle vielleicht zwischen 18 und 25 Jahren alt und sahen aus wie normale Partygäste, die mit Bierflaschen bewaffnet und einen dümmlichen Grinsen durch die Stadt spazierten.
 

„Avalon.“, knurrte Marcel leise und bohrte seine Fingernägel in die schwarze Bikerjacke des Jungen. „Warum hast du auf einmal angehalten...? Wir sollten weitergehen und hier keine Wurzeln schlagen.“
 

„Halt deine Klappe!“, zischte der Albino namens Avalon wütend und umklammerte Marcels Hand so feste, dass der zierliche Junge ein leises wimmern ausstieß. „Siehst du eigentlich nicht, dass wir verfolgt werden? Entweder wollen die unser Geld haben, oder die wollen uns verprügeln.“
 

„Oder beides!“, brummte Marcel über die Schulter blickend. Auch wenn Avalon nach außen hin wie ein schwacher und gebrechlicher Junge wirkte, gehörte er zu den Personen, die man auf keinen Fall unterschätzen sollte wenn man an seiner Gesundheit hing. Und Marcel gehörte definitiv nicht zu den Personen, die Avalon in solchen Situationen bändigen konnte!
 

„Alles klar, dann kratzen wir jetzt die Kurze. Aber sag nachher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt...!“
 

Mit diesen Worten warf sich Avalon den Jüngeren wie einen Mehlsack über die Schulter und schenkte ihren Verfolgern einen letzten finsteren Blick, bevor er zwischen ein paar Hausmauern verschwand. Reflexartig schlug er Marcel die Hand auf den Mund, da der Kleine offenbar nicht viel von seiner Momentanen Lage hielt und seinem Unmut schnaufend Luft machte.
 

Marcel konnte sich schon vorstellen, warum Avalon lieber in eine finstere Gasse flüchtete, anstatt im Hellen auf der sicheren Straße zubleiben. Der Weißhaarige konnte kein Licht gebrauchen. Eben sowenig, lästige Passanten oder Schaulustige Menschen. Avalon brauchte den Schutz der Dunkelheit, wenn er sich und Marcel retten wollte...
 

Ein paar Sekunden später bog der Angesprochene um eine Ecke und fand sich in einer verwinkelten Sackgasse wieder. In dieser abgelegenen Ecke gab es noch nicht mal eine einzige Laterne. „Das ist der perfekte Ort...“, zischte Avalon leise und ließ seinen Blick andächtig über die alten, schon halb zerfallenen Hausmauern gleiten.
 

Empört Marcel riss den Mund auf. „Was soll der scheiß, Avalon?! Willst du, dass wir auffliegen? Ich weiß genau warum du hierher gekommen bist, aber Jeremy wird dir das Genick brechen wenn du das machst, was ich mir denke!“
 

„Ich sehe hier aber keinen Jeremy!“ Avalon schüttelte grimmig lachend seinen Kopf und rammte Marcel genervt seinen Ellbogen in die Magengegend. Stumm lauschte der Weißhaarige in die Dunkelheit. Wenn ihn seine Ohren nicht täuschten, hörte er das Getrampel von wütenden Füßen und grinste, weil die Männer seinen Köder ohne Schwierigkeiten geschluckt hatten. Die Geräusche kamen immer näher und mittlerweile spürte er auch, wie sein Blut unter der Oberfläche zu kochen begann.
 

Ungefähr zu gleichen Zeit stürzten die ersten Männer in die Gasse und kniffen ihre Augen zusammen. „Hier sind sie!“, brüllte einer und stieß seinen Kumpel an. „Du schnappst du dir den Freak und ich mir das Mädchen, hast du verstanden?“
 

Währenddessen stand Marcel einfach nur da und konnte nichts dagegen unternehmen, oder sich von der Stelle rühren. Die Männer betraten die fast leere Sackgasse und Avalon zeigte ihnen ungeniert seine weißen Zähne, welche plötzlich eine Größe Ähnlichkeit mit den langen Fangzähnen eines Löwen bekommen hatten.
 

Eingeschüchtert ging Marcel einen halben Meter nach hinten. Diese Kerle sahen definitiv gefährlich aus und wollten ihnen wie Avalon schon prophezeit hatte, wirklich an die Geldbörse gehen. Instinktiv presste Marcel die Tasche an seine Brust und funkelte die zwei Gestalten am Fuße der Gasse, abschätzend an. Wenn diese gemeinen Typen tatsächlich so dumm waren, wie sie auf den ersten Blicken aussahen, würden sie Avalons Drohgebärde nicht ernst nehmen...
 

„Sorry. Ich habe nichts was ich euch gebe könnte.“ Avalon schob seine Hände in die Hosentasche und zeigte den Räubern, das sie bis auf eine Zigarettenpackung, leer waren. „Tut mir leid Jungs, aber ich bin total ausgebrannt. Der kleine Stricher hier neben mir... hat mich im wahrsten Sinne des Wortes total ausgesaugt...“
 

*xXx*
 

Es dämmerte bereits, als Maxime von seinen Ausflug zurück nach Hause kam. Scarlett, seine Begleitung, hatte sich die ganze Zeit über sehr angespannt und reserviert verhalten; Anscheinend saß ihr immer noch der Schock in den Knochen. Ihr heimlicher Verfolger, dieser komische Typ aus dem Zug, wollte dem Mädchen einfach nicht aus den Kopf gehen. So paranoid es auch klingen mochte, aber Scarlett hatte an jeder Straßenecke inne gehalten und einen Blick über die Schulter geworfen.
 

Langsam ließ sich Maxime auf sein Bett sinken und schloss für einen kurzen Moment seine Augen. Warum war ihnen der Mann gefolgt und warum kam es ihn so vor, als wäre er nur ganz knapp an einer wirklichen Katastrophe vorbei geschlittert?
 

Anderseits wollte er auch nicht so ängstlich wie Scarlett erscheinen. In Hamburg wäre er zwar vor Angst fast gestorben, aber jetzt, mehr als 20 km von diesen geisteskranken Typen entfernt, fühlte er sich gleich viel mutiger...
 

Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet Maxime, dass es noch zu Früh war um schlafen zu gehen.
 

An einem Samstagabend sollte man lange aufbleiben... vielleicht in die Disko gehen... und sich einen heißen Liebhaber besorgen... Aber Raphael war für diesen Monat pleite. Immer noch. Und ohne seinen besten Freund, machte ein Besuch in der Disko nur halb soviel Spaß wie sonst.
 

Also konnte Maxime nur eine Sache tun: Zuhause auf seinen Bett hocken bleiben und vielleicht noch eine weile im Internet surfen. Nachher, wenn es draußen richtig dunkel und unheimlich geworden war, konnte er immer noch seine Horrorspiele starten und eine runde Zombies abschlachten. Oder Aliens. Oder Dämonen.
 

Oh ja, das klang nach einer tollen Idee. Nur er, seine PS3 und ein paar ausgedehnte Stunden mit dem neuen Teil aus der Spiele-reihe von Silent Hill.
 

Aber jetzt war Maxime noch nicht in Stimmung dafür. Nachher, vielleicht so um 22.00 Uhr, wollte er mit dem zocken beginnen und in der zwischen Zeit...? Hmm, was konnte er da nur machen? Mal schauen was alles auf Facebook los war.
 

Gesagt, getan. Kaum hatte Maxime seine Startseite aufgerufen, wurde er auch schon von einen Haufen Posts und Mitteilungen überflutet. Und Nachrichten waren auch dabei, eine gewaltige menge sogar. Nachrichten, von seinen alten Freunden aus dem Jugendheim, die sich demnach wohl immer noch für ihn Interessieren.
 

Maxime chatte fast eine Stunde lang mit seinen ehemaligen Zimmernachbarn, und erfuhr dabei den neusten Tratsch und Klatsch von seiner alten Unterkunft. Erika hatte endlich eine Ausbildung gefunden. Nils jobbte seit 2 Wochen bei der Tankstelle zwei Straßen weiter um seine neue Wohnung zu finanzieren. Und Melissa war Schwanger... schon wieder!
 

In diesem Moment wurde es dem Jungen etwas schwer ums Herz. Auch wenn er es bis jetzt nicht so richtig wahrgenommen hatte, aber in gewissen Momenten vermisste der das Heim schon. Dort hatte er mehr als 7 Jahre seines Lebens verbracht. Dort hatte er viele Freunde und Bekannte gefunden. Dort gab es eine ganze handvoll Erzieher und Pädagogen, mit denen er eine enge Beziehung pflegte, und mit denen Maxime über jedes Problem sprechen konnte...
 

Da ihn diese Gedanken nur Deprimierten, verabschiedete er sich schnell von seinen Leuten und beendete die zermürbenden Gespräche.
 

Eigentlich fand Maxime die neuen Meldungen auf Facebook, bis auf ein paar Ausnahmen, eher langweilig. Die Meisten kannte er schon aus der Tageszeitung, andere interessierte ihn schlicht und ergreifend einfach nicht. Gerade wollte Maxime das Fenster schließen, als ihn auf einmal doch eine Idee in den Sinn kam. Vielleicht gab es da doch noch eine Sache, die eine Neugierde entfachen konnte.
 

Zuerst klickte Maxime auf das Eingabefenster der Seite und gab dann den Namen: „Kiley Sandojé“ in der Suchleiste ein. Da dieser Name nicht zu den geläufigsten gehörte, fand Maxime schon kurz darauf das richtige Profil und das Anzeigebild des dunkelhaarigen Schönlings, ähm, Bus-Remplers, erschien auf dem Bildschirm.
 

Mit weit aufgerissenen Augen an starrte Maxime das kleine Profilbild an. Es zeigte Kiley von seiner besten Seite: Die kurzen, stufigen Haaren fielen ihm frech ins Gesicht, seine Augen funkelten spitzbübisch in die Kamera und er trug die ersten Knöpfe seines roten Hemdes offen, so dass man einen guten Blick auf seine makellose und trainierte Brustmuskulatur werfen konnte.
 

Maxime fühlte sich zwar miserabel in seiner Haut, aber Kiley sah immer noch gut aus wie bei ihren ersten Treffen und obwohl seine besten Freunde so schlecht über ihn redeten, wollte er nichts anders tun, als ihn aus der Ferne an zu himmeln.
 

Der Typ sah einfach umwerfend aus!
 

Und leider... schien Kiley dass auch ganz genau zu wissen. Es gab mehr als 200 Bilder von ihm auf Facebook und alle zeigten einen selbstbewussten und strahlenden Jungen, welcher den Eindruck erweckte, als könnte ihn nichts auf der Welt etwas anhaben.
 

Man sah Kiley mit vielen verschiedenen Leuten zusammen in die Kamera grinsen, sein Freundeskreis musste demnach galaktische Ausmaße aufweisen. Wie brachte er bloß diese ganzen Leute unter einen Hut? Traf er sich am Montag mit 50, am Dienstag mit 50, und am Mittwochs mit 50...?
 

„Der braucht sich keine Gedanken über Mobbing machen. Der hat alles, was man sich nur Wünschen kann.“, murmelte Maxime in seinen nicht vorhandenen Bart und klickte eins der vielen Fotos an.
 

Natürlich war es, wie alles an diesem Kerl, PERFEKT: das Licht, die Qualität, der Hintergrund, die Pose...

Insgeheim fragte sich Maxime schon, ob diese Bilder wirklich selbst gemacht waren. Einige von ihnen saßen eindeutig professionell aus. So langsam kam ihn der Verdacht, dass Kiley mit seinem Aussehen auch bei einer Modellfirma arbeiten könnte – solche Bilder hatte unmöglich eine Leihe geschossen. Da konnte Kiley so hübsch sein wie er wollte!
 

...ansonsten war die Seite relativ leer. Kiley machte keine persönlichen Angaben zu seiner Person, dabei hatte Maxime eigentlich gedacht, dass er zu den Menschen gehörte, die alle paar Stunden irgendeinen Hirnlosen-Scheiss auf Facebook posteten - dieser Sorte gehörte Kiley offenbar doch nicht an.

Er verriet nicht wo er zur Grundschule gegangen war, welche Hobbies er hatte, oder welche Filme er gut fand. Um ein eingebildeter Schönling zu sein, der ständig im Rampenlicht stand, wirkte er schon fast eine Spur zu verschlossen.
 

Kopfschüttelnd kehrte Maxime schließlich auf die Anfangsseite zurück. Na gut. An sich fand er es ja nicht schlecht das der Sandojé seine Privatsphäre schütze, aber Maxime hätte gerne mehr über ihn erfahren!

Seit 3 Wochen erschien der Junge immer wieder in seinen Gedanken, dabei hatte er noch nicht mal 5 Minuten am Stück mit ihm gesprochen. Bis jetzt konnte er nur auf die Erzählungen und Meinungen seiner Freunde zurückgreifen, doch eine Münze besaß bekanntlich immer zwei Seiten, oder nicht?
 

Mehrere Minuten später fand Maxime auch Kileys Bruder auf einen Foto, dass erkannte er aufgrund seines Nachnamens: Ein junger Mann mit smaragdgrünen Augen stand dicht gedrängt neben Kiley und hatte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter geschwungen. Dem Namen nach zu urteilen, handelte es sich bei dieser Gestalt um seinen Zwillingsbruder, Daimon Sandojé.
 

Von den Gesichtszügen her sah man ihnen ihre Verwandtschaft sofort an, ansonsten hatten die Brüder offenbar nicht viel mit einander gemeinsam. Mal abgesehen, von ihrer blassen Hautfarbe. Daimon besaß rote, schulterlange Haare, Kiley schwarze und kurze. Daimon wirkte von der Statue her wie ein Panzerschrank auf zwei Beinen, da sah eine dunkelhaarige Schönheit wie Kiley im Vergleich sogar schon zierlich aus!
 

Aber der größte Unterschied brachte am Ende ihre Ausstrahlung. Der eingebildete Kerl aus dem Bus war von Natur aus vielleicht ein arrogantes, gemeines und herablassendes Arschloch... aber sein Rothaariger Bruder, sah aus wie ein Krimineller, dem man des Abends im Dunkeln besser nicht über den Weg lief.
 

Na, wenn diese Ausstrahlung Rückschlüsse auf Daimons Charakter zuließ, war Maxime im Endeffekt also doch froh, dass er Kiley in die Arme gelaufen war und nicht ihm... Aber hatte Raphael nicht auch schon mal so was in der Art erwähnt? Mhm...
 

*xXx*
 

Zur gleichen Zeit, an einen anderen Ort:
 

Nun klappte Marcel endgültig die Kinnlade runter.
 

Das... Das hatte er sich nur eingebildet, oder? Das könnte doch nicht wahr sein? Seine Ohren mussten ihm einen Streich spielen! Hatte Avalon ihn gerade tatsächlich als „Stricher“ betitelt?!
 

Anscheinend hatte Avalons Aussage nicht nur einen wunden Punkt bei Marcel getroffen, sondern auch bei den Männern, welche sich nun irritiert anschauenden. Inzwischen waren auch die anderen 3 Kerle angekommen und warfen neugierige Blicke in die Gasse.
 

„Was hat der Freak gesagt?“, fragte einer verunsichert.
 

„Das, dass Mädchen eigentlich ein Kerl ist und auf den Strich geht!“
 

„Aha! Dann hat er also die Kohle...“
 

Ein junger Mann, so groß und breit wie ein Wandschrank, löste sich aus der Formation und kam mit großen Schritten auf Marcel und Avalon zu. „Hey Blondie...“, säuselt er zärtlich. „Wenn du hier in Zukunft noch deine Brötchen verdienen möchtest, würde ich an deiner Stelle jetzt alles an Geld raus rücken, was ich bei mir trage...“
 

Natürlich besaß Marcel kein Geld. So ignorierte er den Groll gegenüber Avalon, bemühte sich um Ruhe und schüttelte seinen Kopf. „Ich habe keins... Und ich bin auch kein Prostituierter. Der Kerl hat einen Knall, er lügt!“
 

„Also vor 10 Minuten klang das aber noch ein bisschen anders...“, murmelte Avalon, die verwirrten Blicke der Männer ignorierend. „Vorhin schien es dir gar nicht schnell genug zu gehen, und jetzt ziehst du auf einmal den Schwanz ein, wo es prinzlich wird?“
 

Knurrend riss Marcel seinen Kopf herum. „Hallo?! Was erzählst du da für einen Unsinn? Als ob ich mein Geld mit so einer niederträchtigen Arbeit verdienen würde! Außerdem bringst du uns mit deinen dämlichen Gequatsche, nur noch mehr in Schwierigkeiten...!“
 

Bevor Avalon eine Antwort auf die Anschuldigung geben konnte, wurde Marcel auch schon am Kragen gepackt und gegen eine naheliegende Hauswand geschleudert.
 

„Hey! Hier spielt die Musik! Ihr könnt später aus diskutieren wer nun Recht hat, ich will jetzt erst mal mein verficktes Geld sehen!“, zischte der Räuber ungeduldig.
 

„Der Typ ist ein mieser Verräter. Ich habe ihm doch eben meine letzten 50 Euro für einen Blow-job gegeben!“, erklärte Avalon mit gespielter Entrüstung. „Er verarscht euch von vorne bis hinten! Aber wenn ihr mir nicht glauben wollt, bitteschön... dann schaut doch selber nach. Irgendwo muss das Miststück das Geld doch noch versteckt haben!“
 

Ängstlich begann Marcel zu Zittern. Was hatte sich Avalon da nur für eine tolle Idee ausgedacht?
 

Die Räuber kamen allmählich immer näher, und die Möglichkeit auf einen Ausweg geriet immer weiter in den Hintergrund. Für Marcel gab es keine Chance um sich zu wehren. Die Kerle waren nicht nur 100 mal stärker wie er, sondern auch wohl 100 mal mehr dazu bereit, ihm bei der kleinsten Bewegung sofort das Genick zu brechen.
 

Das Schweigen dauerte noch ungefähr eine halbe Atempause an, dann stand der massive Typ wieder vor ihm und presste Marcel die Fingerknöchel an die Kehle. „Du hast gehört was der Freak gesagt hat. Rück` das Geld raus, aber ein bisschen Dalli wenn ich bitten darf...“
 

Ohne eine Reaktion abzuwarten, griff der Mann nach Marcels Armen und verdrehte sie zu einen Kunstvollen Knoten auf seinen Rücken. Weniger Sekunden später kniete der Junge auf dem Boden, das Gesicht in die kalte Erde gedrückt und mit den sicheren Wissen, dass die Hände auf seiner Haut, ganz sicher nicht nur an Wertsachen interessiert waren...
 

Die fremden Finger fuhren ihm grob über die Hüfte, kniffen in seine Arme und pressten seinen Brustkorb noch fester auf den Boden. Einander Kerl spreizte ihm währenddessen die Beine und zwang sie weit aus einander.

Ein Stöhnen schlug von innen gegen Marcels geschlossene Lippen. Doch es war egal, niemand hörte seinen Klagelaut. Avalon stand noch immer wie eine Statue in der Ecke und beobachtete sie im Stillen. Sein blasses Gesicht glich einem emotionslosen Stein, nur ein feines Zucken umspielte seinen Mundwinkel.
 

„Sollen wir ihn nachher mitnehmen, Boss? Mit dem Jungen kann man sicher noch eine menge Spaß haben...“, fragte einer der Übeltäter.
 

Der große Mann mit den breiten Schultern, ließ auf die Frage hin seinen Blick über Marcels zitternden und zuckenden Körper wandern. Unbewusst leckte er sich über die plötzlich trockenen Lippen. Er musste gestehen, das der blonde Junge für einen gewöhnlichen Mann unglaublich attraktiv aussah. Seine Wangenknochen waren hoch, die roten Lippen luden zum Küssen ein, seine Nase war fein geschnitten und passte perfekt zu seinem hübschen Gesicht. Und dann waren da noch diese großen, unergründlichen Augen.

Leider konnte der Räuber sie nicht lange betrachten, da Marcel den Blick abwendete und knirschend die Zähne zusammenbiss.
 

Grinsend schob der Anführer seiner Männer zur Seite, er ging vor Marcel auf die Knie und legte ihm seinen Zeigefinger ans Kinn. „Na Blondie, hast du Lust nachher noch ein bisschen mit uns um die Häuser zu ziehen? Wir kennen hier ein paar nette Orte, die dir sicher gefallen werden.“
 

Ein raues Stöhnen wollte sich auf Marcels Mund schleichen, aber er blieb tapfer und schluckte den obszönen Laut mit einem leisen Gurgeln runter. Er war erregt, doch Marcel würde sich eher die Hand abhacken, als sich diese Schmach ein zugestehen.
 

„Nimm deine schmutzigen Finger von meinen Gesicht...“, knurrte er und spannte seinen Kiefer an.
 

Auch wenn es nicht beabsichtigt war, aber dem Anführer schien der Widerstand zu gefallen.

Besitzergreifend glitt seine Hand über den schlanken Hals des blonden Jungen, rutschte unter sein enges T-Shirt und schob das Kleidungsstück nach Oben.
 

Sofort war dieses wütende Funkeln wieder in Marcels Augen zurückgekehrt. Er drückte den Rücken nach hinten, aber der Fiesling zog ihn wieder an seine Brust zurück. Augenblicklich verfiel der Mann Marcels lasziven Anblick. Er wollte mehr davon haben! Neckend fuhr er mit den Fingerspitzen über die blasse Knabenbrust, und entlockte ihm auf diese Weise ein nicht ganz unfreiwilliges Keuschen.
 

Grinsend hob der Kerl Marcel hoch, drückte ihn als wäre er so leicht wie eine Feder gegen eine Hausmauer, und positionierte sich zwischen seinen schlanken Beine. Langsam und Qualvoll rieb er seinen Unterkörper an den Schritt des Gefangen und grinste noch ein bisschen mehr, als er sah, wie sich die ersten Tränen in Marcels Augenwinkeln sammelten.
 

„Verschwinde!“, schluchzte Marcel und stemmte seine Hände gegen die breite Brust des Mannes. „Du bist ekelhaft! Weißt du eigentlich wie Alt ich bin?! Würdest du es wissen, könntest du dich nicht mehr im Spiegel betrachten!“
 

Seufzend schüttelte der Fremde seinen Kopf. „Das interessiert mich nicht.“
 

Hartnäckig presste er seine Finger gegen Marcels Mund und wollte sich auf diesen Weg Zugang zu ihm verschaffen, aber der sture Junge dachte noch nicht mal im Traum daran.

Knurrend zog der Kerl die Augenbrauen zusammen.

Er spürte deutlich, wie Marcels Erregung gegen seinen Bauch rieb und dieses unbeschreibliche Gefühl, brachte den Mann fast um den Verstand. Schnaufend warf er alle seine Bedenken über Bord und rammte er sein eigenes, steinhartes Glied, zwischen Marcels Beine, wo er dessen geschwollenen Schritt zugleich mit festen, langen Stößen bombardierte.
 

„Du bist total Geil und wehrst dich trotzdem gegen mich?“, zischelte der Räuber kurzatmig. „Bin ich wirklich so abstoßend, oder bist du einfach nur ein bisschen masochistisch veranlagt?!“
 

Fast gleichzeitig bemerkte Marcel einen energischen Ruck an seiner Hose und wie schamlose Finger den Reißverschluss des kurzen Kleidungsstückes öffneten.Wenige Sekunden später musste auch der Knopf seinen Dienst aufgeben und Marcel erstarrte vor Angst. Jedes Stückchen Haut, das frei gegeben wurde, machte ihn hilfloser und schutzloser. Langsam begann sich seine verkrampfte Muskulatur zu lösen. Er war einfach zu schwach. Er nicht in der Lage um sich zu befreien...

Endlich gehorsam, hingt Marcel dann ohne Hose doch mit mächtig Panik, in den Armen des Mannes und bemerkte in seiner Angst gar nicht, das es plötzlich Still um sie geworden war. Gespenstisch Still sogar.
 

Dem Mann entging die seltsame Stille jedoch nicht.
 

Er wendete die Augen von Marcel ab, runzelte verwirrt seine Stirn und ließ den Kopf einmal von links nach rechts huschen. Plötzlich war die Gasse wie leer gefegt. Nur noch Marcel und er waren hier. Von seinen Freunden, konnte der Mann seltsamerweise nichts mehr hören oder sehen...
 

„Na, macht es dir Spaß einen Minderjährigen zu vergewaltigen...?“
 

Der Kerl stöhnte erschrocken auf und wollte sich umdrehen, aber eine unglaublich große Hand bohrte ihre langen Finger in seine Haare und machte so jede Bewegung unmöglich. Überraschend ließ er von Marcel ab. Noch bevor die düstere Stimme ein weiteres Wort sprechen konnte, rammte der Fiesling seinen Ellenbogen nach hinten, doch alles was er traf, war ein flachen Gegenstand, so hart und unnachgiebig wie eine Steinmauer.
 

Ein schmerzerfülltes Brüllen brachte die Gasse in den nächsten Sekunden für einen Moment zum beben.
 

Marcel, der ziemlich unsanft auf den Boden gelandet war, rieb sich knurrend über den pochenden Hintern. Allerdings klang das Wimmern des Banditen wie Musik in seinen Ohren. Er sah, wie der Mann geistesgegenwärtig zurück taumelte und seinen Arm umklammerte. Etwas schien ihm große Schmerzen zu bereiten. Und wenn Marcel seiner Intuition vertrauen konnte, dann wusste er auch was: Ein zersplittertes Radiusköpfchen und mehrere Knochenbrüche im Unterarm.
 

„Was wird hier gespielt?!“ Panisch warf der Räuber einen Blick in jede Ecke der Gasse und suchte nach dem Besitzer der ominösen Stimme. „Ich habe keine Angst vor dir, du Mistkerl! Komm raus wenn du dich traust und versteck´ dich nicht so feige in der Dunkelheit!!“
 

Ob die Person Feige war oder auch nicht, blieb ein Rätsel. Marcel schlüpfte in seine kurze Jeanshose und kämpfte sich wieder auf den Beine. Ein mörderischer Ausdruck verzerrte sein schönes Gesicht zu einer hässlichen Grimasse.
 

„Es war das letzte mal, dass du mich oder irgendeinen anderen Menschen auf die Weise angefasst hast!“ Knurrend hob Marcel seinen Kopf und spähte in die Dunkelheit. Inzwischen hatten sich auch die Tränen aus seinen Augenwinkeln gelöst und seine erhitzten Wangen benetzt. „Jetzt wirst du mir Büßen!!... AVALON!?!“
 

*xXx*
 

Am Sonntagmorgen schleppte sich eine Rosahaarige Person mit hängenden Schultern und langsamen Schritten über die Straße. Obwohl schon fast der Mai vor der Türe stand und die Temperaturen immer angenehmer wurden, pfiff heute ein kalter Wind über Bergedorf hinweg.
 

Maxime schaffte es kaum die Augen offen halten und musste eine kurze Pause an einer Laterne einlegen, bevor er seinen müden, noch halb am schlafenden Körper weiter in Richtung Ortsausgang transportierte.
 

Vor genau 54 Minuten und 42 Sekunden, also um 7. 13 Uhr, hatte ihm Raphael eine Nachricht geschickt und vorgeschlagen, eine Runde durch den Wald zu Joggen. Normalerweise freute sich Maxime riesig über so eine Einladung, aber nicht zu einer so frühen Tageszeit!
 

Und außerdem stank dieses Angebot bis zum Himmel. Raphael hasste Sport! Er bekam doch schon einen Herzinfarkt wenn er die 5 Etagen zu seiner Mietwohnung hoch laufen musste, und jetzt wollte er allen ernstes mit Maxime, dem Leichtathletik-Ass seiner Jahrgangsstufe, durch den Wald joggen?

Da musste es doch irgendwo einen Hacken geben...
 

Vor allem klang es komisch dass er durch diesen Wald gehen wollte – vom Ausmaß her erinnerte er eher an einen kleinen Dschungel und in der Nacht, oder eben am frühen Morgen, wirkte er manchmal ziemlich unheimlich...
 

Ein paar Minuten später hatte Maxime das Stadtzentrum verlassen und entdeckte zwei Gestalten am Eingang des Waldes stehen. Die eine winkte ihm freundlich lächelnd, die andere sah so aus, als ob sie vor Müdigkeit jeden Moment umkippen könnte.
 

„Du bist Spät, Kumpel!“, rief Raphael und grinste noch ein Stückchen breiter. „Wo wärst du so lange? Es ist gleich schon viertel nach Acht. Du hättest schon längst hier sein sollen, Mann! Sonst beschwerst du dich doch immer wenn ich zu spät komme.“
 

Maxime machte nur eine wegwerfende Geste und rollte mit den Augen. „Jammer nicht nicht so viel. Sag mir lieber mal, warum du mich heute um so eine unchristliche Uhrzeit hierher bestellt hast. Was soll der Mist? Es ist Sonntag, da möchte ich ausschlafen.“
 

„Darauf kriegst du keine gescheite Antwort. Das habe ich auch schon versucht...“
 

Bei der zweite Person, die fast aus den Schuhen kippte, handelte es sich um Charlotte. Sie sah genau so erschöpft aus wie Maxime und ihrem mürrischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde sie auch viel lieber zu Hause in ihrem Bett liegen.
 

Das braunhaarige Mädchen stieß einen tiefen Seufzer aus und umarmte den Neuankömmling. Als sie ihre Wange gegen Maximes Halsbeuge drückte, streifte ein warmer Atemzug ihr Gesicht und sie kicherte leise in sein Ohr. „Hey Maxi... ohne Schminke und Minirock siehst du tatsächlich aus wie ein richtiger Mann.“
 

Etwas erstaunt stimmte Maxime in ihre Lachen ein und verpasste Charlotte einen leichten Schlag gegen den Oberarm. Doch schon im gleichen Moment, folgte er ihren Blick und schaute an sich herab; Heute trug er nur eine knielange Sporthose und ein rotes T-shirt, keine extravagante Kleidung wie sonst immer. So sah er in der tat aus wie ein junger Mann.
 

Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete Raphael darauf das seine Freunde ihre „Begrüßungs-Zeremonie“, beendet hatten und trat dann aus den Schatten der Bäume hervor. Er blinzelte kurz in die Sonne, dann wieder zurück auf den Bildschirm seines Handys. „Hier sind wir richtig wenn sich mein Navi nicht geirrt hat. Das muss wohl der Wald sein, wovon alle sprechen...“
 

Fragend wechselten Maxime und Charlotte einen kurzen Blick. Ein Blick, der breites alles sagte: „Was hatte sich Raphael jetzt schon wieder für eine kranke Idee in den Kopf gesetzt?“
 

„Wovon sprechen alle...?“, fragte Maxime nun neugierig, als Raphael keine Anstalt machte seine Behauptung näher zu erklären. Kurzentschlossen nahm er ihm das Handy aus der Hand und warf selbst einen Blick auf den Display. Wie erwartet, konnte er dort Raphaels Navigationsprogramm erkennen welches an dem Platz wo sie gerade standen, mit einem roten >X< markiert war.
 

Verblüfft legte der Blonde seinen Kopf schief. „Jetzt sagt mir bitte nicht, dass ihr noch nicht von der Sache im Wald gehört habt? Es steht doch schon seid Tagen in der Zeitung, auch auf Facebook gab es heute morgen einen kurzen Bericht.“
 

„Ähm...“ Charlotte kratzte sich nachdenklich am Kinn. Die Sache im Wald... da klingelte es doch bei ihr. „Redest du von den Wilderen die schon seit Monaten durch die Gegend ziehen und die Tiere aus den Wäldern erschießen?“
 

Raphael nickte. „Genau. Vor drei Tagen haben sie wohl schon wieder zugeschlagen und zwei Rehe getötet. Die armen Viecher waren bis auf die Knochen komplett ausgeweidet... da konnte man an Organgen nichts mehr finden. Ein Jäger hat die Kadaver bei einen Streifzeug zufällig im Wald gefunden, und sofort die Polizei alarmiert. Anscheinend war das ein richtig heftiger Anblick. In einem Interview hat der Jäger erzählt, das er so was bestialisches und Grausames noch nie zuvor gesehen hat.“
 

Maxime verzog sein Gesicht. Wovon zum Teufel redeten seine Freunde da? „Wilderer? Solche Leute gibt es hier wirklich? Davon habe ich ja noch gar nichts mitbekommen.“
 

„Jap, die sind ein immer wiederkehrendes Problem.Die Typen sind hier schon längere Zeit unterwegs. Ein Kumpel von mir hat mir neulich erzählt, dass es in den vergangenen 10 Jahren immer wieder zu solchen Vorfällen gekommen ist und das die Täter nie gefunden wurden. Irgendwie, hinterlassen die keine Spuren.“, Raphael legte seine Stirn und Falten schaute zum Wald. „Die Polizei weiß noch nicht mal, ob die Wilderer die Tiere nur zur Spaß töten oder auf den Schwarzmark verkaufen. “
 

In der Zwischenzeit hatte Charlotte ihr Handy aus der Hosentasche gezogen und die passende Internetseite mit dem Bericht geöffnet. „Aha. Ich habe hier ist noch etwas Interessantes gefunden! Hört mir mal zu: Im letzten Monat, also im März, haben die Wilderer eine ganzen Wildschwein-Familie gefangen, und... urg! Hier sind sogar ein paar Bilder von den Tieren. Jetzt kann ich verstehen, was der Jäger mit Grausam meinte. “
 

Sie zeigte ihren Freunden den Bericht und Raphael rümpfte sofort angewidert seine Nase. „Alter Flatter! Das ist ja wirklich ekelig, von einem Schwein ist das absolut nichts mehr zu erkennen...!“
 

Auch Maxime konnte den Anblick der zerfleischten Tiere nicht länger ertragen und schüttelte seinen Kopf. „Die Bilder erinnern mich total an eine Szene aus einem Horrorfilm, pfui! Und so was sollen Menschen gemacht haben. Abartig!“
 

„Und du möchtest wirklich durch diesen Wald laufen?“ Charlotte zog die Luft ein und schaute Raphael mit einer Mischung aus Furcht und Ärger in die Augen. „Also ich bin nicht so scharf darauf, um über einen abgetrennten Rehkopf oder so was in der Art zu stolpern. Warum interessiert dich diese Sache eigentlich so? Du bist doch auch sonst kein naturverbundener Mensch, der sich sonderlich für seine Umwelt einsetzt.“
 

Diesmal stieß Maxime Raphael seinen Ellbogen in die Seite. „Genau, da hat sie Recht, außerdem hasst du Bewegung. Woher kommt dieser plötzliche Elan? Bist du neuerdings unter die Ökos gegangen?“
 

„Das ist doch meine Sache!“ Für einen kurzen Augenblick verschwand das Lächeln von Raphaels Lippen und im selben Moment wünschte er sich, das er seinen Freunden niemals von der Idee erzählt hätte. Wobei...? Maxime und Charlotte wussten doch noch gar nichts von seinem Plan!
 

*xXx*
 

Maxime schüttelte stumm seinen Kopf und biss die Zähne feste zusammen. Nein, von seinem besten Freund hätte er so etwas... abscheuliches wirklich nicht erwartet. „Du bist... ekelhaft.“
 

„Und für so etwas klingelt uns der Kerl am Sonntagmorgen aus dem Bett.“, ergänzte Charlotte schnaubend. „Hätte ich gewusst worum es geht, wäre ich eiskalt zuhause geblieben.“
 

„Belogen hat er uns! Ja von wegen Raphael wollte Joggen gehen. Ich habe mir schon sofort gedacht, dass es da irgendwo einen Hacken geben muss. Aber so was...? Widerlich.“
 

Von vorne ertönte ein gereiztes Knurren. Raphael, der die Gruppe durch den Wald führte, hielt abrupt an. Falls sich seine Freunde noch einen weiteren, bissigen Kommentar in seine Richtung erlaubten, würde es Schläge geben.„Verdammte Hacke! So langsam habe ich es verstanden! Mir geht es am Arsch vorbei das Bambi und seine Mutter krepiert sind. Ich will nur die Belohnung haben, mehr nicht! Seit ihr nun zufrieden?“
 

Und ob sie das waren.
 

Raphaels tolle Idee eine Runde durch den Wald zu Joggen, entpuppte sich als gemeiner Hinterhalt um sie hierher zu locken. In Wirklichkeit war der blonde Junge nämlich nur auf die Belohnung der Polizei scharf, und wollte das große Geld kassieren. Natürlich verschenkte die Behörde ihr Geld nicht aus reiner Gutherzigkeit; Sie wollten Hinweise und Spuren auf die Wilder bekommen. Und eine leichtere Methode wie Geld als Lockmittel gebrauchen, gab es nicht. Die ganzen Jugendlichen und chronisch Armen flogen förmlich ohne Nachzudenken auf dieses Angebot.
 

Vor 3 Tagen hatten die Wilderer das letzte Mal zugeschlagen, deshalb wollte Raphael auch unbedingt im Wald auf Hinweis-Suche gehen. Und das war gar nicht mal so dumm: Die Spuren waren hier am frischesten und da es in den letzten Tage nicht geregnet hatte, würden sie mit einen bisschen Glück, vielleicht sogar für Leihen wie sie sichtbar sein!
 

Charlotte knurrte leise, während sie über eine Wasserpfütze hinweg sprang um nicht den Anschluss zu verlieren. Mit den Händen griff sie nach einen dicken Baumstamm und machte dort eine kurze Pause.
 

„Okay, jetzt haben wir ihn genug verspottet. Ich glaube, dass Raphael die Lage so langsam verstanden hat.“ Maxime hielt neben Charlotte an und legte ihr die Hände auf die schmalen, vor Anstrengung zitterten Schultern. „Du bist ja total aus der Puste, Kleines... Sollen wir kurz hier bleiben und etwas verschnaufen...? Raphael warte mal da vorne mal!!“
 

„Aber wir sind gleich da!“, rief der Angesprochene über seine Schulter zurück und zeigte den Nachzüglern sein Handy. „Komm schon Charlotte, jetzt reiß dich mal zusammen. Die letzten Meter schaffst du auch noch!“
 

Tatsächlich sollte Raphael recht behalten. Wenige Minuten später erreichten die 3 Freunde eine Art „provisorische“ Lichtung mitten im Wald und mussten erstmals stockend inne halten. Zuerst schluckte Maxime zwei mal kräftig, dann stieß dann keuchend hervor. „Das ist die Stelle? Sind wir hier richtig?“
 

Die Lichtung vor ihren Augen konnte unmöglich auf natürliche Weise entstanden sein. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen malten gespenstische Schatten auf den Waldboden. Überall gab es kurze, abgebrochene Bäume, viel verbrannter Boden und in der Luft hing noch immer der leichte, schwefelhaltig Geruch von einem Feuer.
 

Anscheinend waren in diesem Waldgebiet noch mehr Lebewesen gestorben, als nur ein paar Rehe. Zwischen den Büschen und Streuscheren verteilt, lagen mehrere tote Insekten und kleine Vögel regungslos auf der Erde und starrten mit weit aufgerissen Augen, in den Himmel.
 

Angewidert schlug sich Charlotte die Hand vor dem Mund. Wenn es in der Schule um Biologie ging war sie ein Ass, aber konvertierte man sie im Alltäglichen Leben mit dem Tod, versagten bei ihr die Nerven. „Oh Gott! Das ist der reinste Friedhof!“
 

Raphael hingegen war sofort Feuer und Flamme und sank vor einen abgeschlagenen Baumstumpf in die Knie. „Wie Krass ist das denn? Von einen Feuer haben die Reporter gar nichts geschrieben. Hier sieht als ja noch viel schlimmer aus, als ich es mir vorgestellt habe! “
 

„Du sagtest es. Da haben die Wilder aber wirklich ganzen Einsatz geleistet!“ Brummend verschränkte Maxime die Arme vor der Brust und betrachtete einen großen Brandflecke auf dem Boden. Irgendwie wurde er das sichere Gefühl nicht los, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Das Feuer, welches hier von wenigen Tagen gewütet haben musste, war so stark gewesen, das sogar teilweise die Steinbrocken im Erdreich geschmolzen waren.
 

Nach den ersten Startschwierigkeiten sah sich Charlotte ebenfalls auf der kleinen Lichtung um. Der Geruch des Todes, gemischt mit dem Schwefelgestank, schnürte ihr regelrecht die Kehle zu und sie hatte Probleme, ihre Augen von den am Boden liegenden Tieren abzuwenden.
 

Plötzlich bemerkte das Mädchen einen stechenden Blick im Nacken. Sie drehte den Kopf in die besagte Richtung und sah Raphael, der sie eindringlich von der Seite musterte. “Was ist?”, fragte sie leise.
 

„Geht es dir nicht gut? Du bist ziemlich blass geworden...“
 

„Naja, es geht. Ich finde es besser wenn ich mit lebenden Tieren zusammen bin. Du siehst aber auch nicht besser aus, mein Lieber. Mit so einen Anblick hast du wohl auch nicht gerechnet, was? Jetzt fehlt uns nur noch, das wir gleich tatsächlich über ein Todes Reh oder Wildschwein stolpern.“
 

Obwohl es Maxime an diesem Ort auch nicht behagte,schluckte er seine Furcht hinunter und gesellte sich mit einen Emotionslosen Ausdruck auf dem Gesicht zu seinen Freunden. „Habt ihr schon euch den Boden angesehen? Anscheinend haben die Typen ein Feuerwerk veranstaltet.“
 

Daraufhin begannen Charlotte und Raphael nochmal gründlich den ganzen Waldboden abzusuchen. Vor einem besonderes großen Flecken, verharrten die Freunde schließlich und Raphael fuhr mit der Hand über den schwarzen, verkohlten Boden.
 

„Ich haue mich gleich weg! Bei wie viel Grad schmelzen denn so harte Dinger wie Steine?“, fragte Raphael verblüfft, während er eine Hand voll Erde aufnahm und den feinen Staub gleich darauf wieder durch seine Finger zurück rieseln ließ.
 

Der fehlende Schlaf machte sich mittlerweile bei den Jugendlichen bemerkbar. Lustlos stolperten sie über die Lichtung und achteten dabei gar nicht mehr auf ihre Umgebung. Noch während Raphael und Maxime den Waldboden auf Hinweise absuchten, verdunkelte sich plötzlich der Horizont und die warmen Sonnenstrahlen, wurden von eisigen Windböen abgelöst.
 

Charlotte war die erste, die die dunkeln Regenwolken entdeckte. „Oh Oh, das sieht übel aus.“, murmelte sie besorgt und lief dann eiligst zu ihren Freunden. „Hey, habt ihr schon die ganzen Wolken am Himmel gesehen? Das sieht nach Regen aus. So langsam sollten wir umdrehen und zurück gehen.“
 

Nickend stimmten ihr die beiden Jungen zu.
 

„Sie hat recht... Und ich möchte auch nicht klatschnass zuhause ankommen. Sonst liege ich Montag morgen mit einer dicken Erkältung im Bett. “ Die Blätter über seinen Kopf raschelten verheißungsvoll als Maxime ebenfalls kurz nach Oben schaute. Dort sah er nicht nur düstere Wolkenbänke, sondern auch ein paar dicke Nebelschwade, die wie riesige Geister in der Luft hingen.
 

Da ihnen das Wetter ganz und gar nicht zusagte, drehten sich die Kinder geschwind um und Raphael nutze noch einmal das Navigationsprogramm seines Handys, um ihnen einen kürzeren Rückweg zu zeigen.
 

Nach mehreren Minuten, in denen sie sich mehr oder weniger schweigend durch kniehohes Gestrüpp kämpften, hielt Raphael plötzlich an und verharrte in seiner Bewegung. Ganz in der Ferne war leise das Plätschern von Wasser zu hören. Bestimmt gab es irgendwo einen Fluss, aber das war ein Ding der Unmöglichkeit; Bergedorfs Wald war zwar eine gut besuchte Touristenaktration, da es hier für naturverbundene Menschen ziemlich viel zu sehen gab, aber so etwas einen Fluss, besaß er nicht.
 

„Hört ihr dass auch?“, fragte Raphael deshalb nach hinten gewandt. „Das ist Wasser, oder? Ich wusste gar nicht, das ein Fluss durch dieses Gebiet läuft.“
 

„Gibt es hier auch nicht. Früher habe ich in diesem Wald auch oft mit meinen Geschwistern gezeltet. Aber an einen Fluss oder See, kann ich mich komischerweise nicht erinnern.“, gab Charlotte in ihrem nettesten Tonfall zu, der ihren Freunde bedeutete, nicht weiter auf das Thema „Familien-Ausflüge“ einzugehen.
 

Ohne zu zögern setzten Raphael und Maxime kurz darauf ihren Weg fort. Doch Charlotte zögerte noch einen Augenblick. Regungslos verharrte sie neben dem Baumstamm. Es schien so, als wäre sie sich nicht mehr sicher, ob sie weiter gehen sollte und auf einmal, drang auch ein sanftes Plätschern an ihre Ohren. Sie rief die Jungen mit einen lauten: „WARTET MAL! Raphael hat Recht! Hier ist doch ein FLUSS! Ich kann ihn hören!“, zurück.
 

Unwillkürlich warf Maxime einen Blick in den Himmel – er wollte wissen wann das Unterwetter los ging – und dann entdeckte er hinter den Baumkronen, ein schwarzes Ziegeldach hervorblitzen. Nun war die Neugierde des Jungen geweckt. Bis jetzt hatte Maxime weder von einen Fluss gehört , noch war ihm die Anwesenheit eines Hauses in diesem Wald bekannt....
 

Seine Freunde waren auch an dem Haus interessiert, als Maxime ihnen von seiner Entdeckung erzählte. Sie stimmten seinem Vorschlag sofort zu, dem skurrilen Gebäude mitten im Nirgendwo mal einen kleinen Besuch abzustatten und die Gegend zu erkunden.
 

Am Ende der finsteren Weges, konnten die 3 Kinder die undeutlichen Umrisse eines phantastischen Bauwerks erkennen. Dort hinten, gut versteckt zwischen Sträuchern und Tannenbäumen, stand ein altes Herrenhaus im gotischen Baustil, errichtet, auf einen kleinen Abhang . Das Gebäude bestand zum Großteil aus grauen Steinen und wirkte auf ihre Betrachter, wie die gruselige Hintergrundkulisse eines Horrorfilms.

Die Fenster waren blind und mit schweren Metallstangen vergittert. Zu beiden Hausseiten hoben sich zwei runde Türme mit spitzem Helmen gegen den düsteren Himmel ab.
 

Maxime ging hinter einen Brombeerstrauch in Deckung und kniete sich auf die Erde. „Na, Raphael? Kanntest du dieses Monster von einem Haus auch?“
 

Ein beklommenes Kopfschütteln war die Antwort. Raphael sank ebenfalls in die Hocke und rutschte zu Maxime hinter den Strauch. Das graue Gebäude sah durch und durch unheimlich aus. Auch wenn die Sonne immer noch hoch am Horizont stand, bildete sich auf Raphaels Armen eine dicke Gänsehaut. Er wollte nicht wissen, welche Wirkung der Anblick dieser Villa bei Nacht entfachte.
 

„Nein Mann, woher sollte ich das denn kennen?“, krächzte der Blondhaarige etwas heiser. „Ich hatte bis jetzt absolut keine Ahnung, das hier draußen Jemand wohnt.“
 

„Also ich möchte hier nicht leben.“ Ängstlich quetschte Charlotte ihren schmalen Körper zwischen Raphael und Maxime. „Ich würde mir total einsam vorkommen. Hier ist doch nicht anders als Kilometerweites Waldgebiet. Wer soll dir denn schon zur Hilfe kommen, wenn etwas passiert? Niemand.“
 

Maxime hatte seinen Freunden schmunzelnd zugehört. Jetzt nickte er leicht. Das Mehrfamilienhaus in dem er selbst wohnte besaß auch seinen ganz eigenen Scharm, aber dieses Haus spielte in Sachen Gruselfaktor in einer anderen Liga. „Es würde mich ja mal interessieren, welche Sorte von Mensch an so einem abgelegenen Ort wohnt.“
 

„Jemand der gerne seine Ruhe hat?“, erwiderte Raphael etwas sarkastisch. „Aber wenn du so neugierig bist, kannst du doch gerne mal Klingeln gehen und nach schauen!“
 

Nach ein paar gezielten Schlägen auf den Hinterkopf von Charlotte und einen zornigen Seitenhieb in die Rippen von Maxime, gab Raphael endlich Ruhe und brummelte eine nicht sehr ernstgemeinte Entschuldigung.
 

„Und guckt mal... dahinten haben wir auch unseren Fluss gefunden!“ Charlotte deutete mit den Zeigefinger auf den Garten des alten Hauses und regte das Kinn in die Höhe. „Die Bewohner haben einen kleinen Teich im Garten. Das waren die Geräusche, die wir vorhin gehört haben!“

Kapitel 7: Das Wiedersehen 2

Maxime stand am Montagmorgen in der Türe der gut gefüllten Schulcafeteria und sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Vom Kirchturm her hatte es gerade zwölf Uhr geschlagen und er wusste, dass Marcel immer pünktlich zur gleichen hierher Zeit kam. Maxime starrte nach vorne in den Gang. Gestern Nacht hatte er einen Entschluss gefasst: Heute würde er Marcel ansprechen, für diese Pause würde er ihn Gesellschaft leisten.
 

Der Flur war rappelvoll, so überlaufen, dass die einzelnen 5-Klässer in der Masse wie Stecknadeln verschwanden. Nur ab und zu, wenn einer der Riesen den Kindern Platz machte, erschien ein junges Gesicht im fahlen Licht der Deckenbeleutchung.

Um fünf Minuten nach zwölf glaubte Maxime einen schlanken Körper zu sehen, der sich durch die Leiber der anderen Schüler quetschte und die Eingangstüre der Cafeteria ansteuerte.
 

Schließlich verlief alles nach Plan. Maxime drückte seinen Rücken neben die Türe an die Wand, und Marcel rauschte an ihm vorbei, ohne seinen Beobachter wahrzunehmen. Auf Zehenspitzen schlich Maxime dem Anderen hinterher. Mit angehaltenen Atem nahm er die Verfolgung auf und bemühte sich, auf den Rest der Jugendlichen und Kinder nicht wie ein verrückter Stalker zu wirken.
 

An einen Tisch im hintersten Viertel der Schulkantine sank Marcel auf einen Stuhl. Zugleich sprang Maxime hinter einen Mülleimer und wendete dem Jüngeren prompt seinen Rücken zu. Natürlich wollte er sich nicht sofort zeigen. Er wollte nur ganz zufällig an Marcel vorbei laufen und ihn dann total überraschend wiedererkennen und dann, ja dann, würde er ihn wie einen Kaugummi an den Schuhsohlen kleben.
 

So klang zumindest der Plan. Als Marcel sein Mittagessen ausgepackte, lief Maxime an ihm vorbei und ein kleines, gemeines Feixen huschte über sein heute besonders sorgfältig geschminktes Gesicht. Erst nachdem er Marcel eine Hand auf die zierliche Schulter gedrückt hatte, bemerkte der Kleine seine Anwesenheit und zuckte ängstlich zusammen.
 

Marcel fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum. Er erstarrte, als seine blauen Augen auf Maximes ebenfalls blaue Seelenspiegel trafen.
 

„Hey Marcel, es ist ja schon eine Weile her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben! Was für ein Zufall dass ich dich heute wieder sehe. Wie ist es dir in der letzten so Zeit ergangen?“
 

Darauf war Marcel nicht gefasst gewesen. „Ma...Maxime?!“, fiepte der Junge leicht hysterisch. „Was... Was machst du denn hier?“
 

„Auch Mittagspause. Hast du was dagegen, wenn ich mich zur dir setze? Hier ist es so voll, dass ich keinen anderen Tisch mehr finde.“
 

Marcel nickte skeptisch. Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, rutschten seine Mundwinkel nach unten. Eine jähe Eingebung ließ ihn Böses ahnen: Anscheinend wollte sich dieses rosahaarige Mädchen schon wieder an ihn ran machen...
 

„Was möchtest du von mir?“, fragte Marcel nach einigen Sekunden mit fester Stimme. „Kannst du dich nicht mehr an meine Warnung erinnern? Ich möchte, dass du gehst. So leid es mir auch tut und so nett du auch bist, aber wir können keine Freunde sind. Ich würde dich nur in Schwierigkeiten bringen...“
 

Seufzend verdrehte Maxime seine Augen. Geht das schon wieder los, dachte er leicht beleidigt. Er hatte schon fast vergessen, dass ihm Marcel gleich bei ihren ersten Treffen einen Korb verpasst hatte. Jetzt wusste Maxime vielleicht, warum Marcel so verklemmt war, aber er konnte und wollte diese Entscheidung in keinster Weise akzeptieren.
 

„Es ist mir egal, dass du gemobbt wirst. Falls du es genau wissen möchtest, ich werde auch gehänselt.“
 

„Du?! Das glaube ich dir nicht!“, Marcel schüttelte energisch seinen blonden Haarschopf. „Warum sollte man dich mobben? Du bist doch ein Mädchen...! Und du bist sogar hübsch...! Was sollte man an dir denn nicht mögen?“
 

„Die Tatsache, dass ich ein Junge bin?“
 

„Was?! Das... das kann nicht sein! Willst du mich verarschen? Du bist doch kein Junge!“
 

„Nein? Soll ich es dir beweisen?“ Maxime beschloss, dass es an der Zeit war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Er lehnte sich nach vorne und griff mit dem Zeigefinger nach seiner weißen Rüschenbluse, wo er den Ausschnitt weit nach unten zog. „Siehst du? Da sind keine Titten... Ich bin ein waschechter Kerl. Aber wenn du mir nicht glauben willst, kannst du gerne mit auf die Toilette kommen und dann kann ich dir zeigen, was ich stattdessen habe.“
 

Energisch hob Marcel seine Hände und drückte sie auf sein rot glühendes Gesicht. Wimmernd bat er Maxime, den Finger aus seiner Bluse zu nehmen und sich wieder richtig hinzu setzen. „Okay, ich glaube dir! Ich glaube dir wirklich, aber hör auf der ganzen Welt deine nackte Brust zu zeigen. Du bist vielleicht ein Junge, aber du trägst Frauenklamotten und solltest dich dementsprechend auch wie eine benehmen!“
 

Summend nickte Maxime. Zufrieden lehnte er sich wieder zurück und trat dem wimmernden Nervenbündel liebevoll gegen das Schienbein. „Sehr schön. Jetzt weißt du, was Sache ist. Ich werde auch gemobbt, ich bin ein Mann so wie du... also was spricht noch dagegen, dass wir miteinander befreundet sind? Ich glaube nichts.“
 

„Und ob!“ Überraschenderweise sprang Marcel auf die Beine. Er schlug seine Hände auf die Tischplatte und wischte sein Frühstück mit einer raschen Bewegung in seine Tasche zurück. „Du willst es einfach nicht verstehen, oder?! Es ist mir egal, ob du ein Junge bist oder ein Mädchen. Die anderen Schüler werden dir den Hals umdrehen, wenn du mit mir abhängst! Ich möchte nichts mit dir zu tun haben, kapiert!?“
 

Maxime begann zu schmollen und streckte dem Anderen im Anflug spontaner Unreife die Zunge raus. „Hast du einen an der Waffel? Du kennst mich doch gar nicht. Woher willst du denn wissen, dass ich mich nicht gegen diese Mistkerle wehren kann? Was auch immer du von mir denkst, aber ich bin kein kleines Püppchen, was sich von jedem hin und herschubsen lässt.“
 

Anstatt zu antworten presste Marcel die Lippen zusammen und unterdrückte ein fieses Lachen. „Du bist es, der hier einen an der Waffel hat. Weißt du eigentlich, wer ICH bin? Und weißt du eigentlich, WER meine Geschwister sind? Schon die Tatsache das meine Familie, meine Familie ist, sollte dich auf Abstand halten.“
 

Während Marcel auf den Absätzen kehrt machte und auf den Ausgang zu lief, erinnerte sich Maxime auch wieder daran, wieso er Marcel damals überhaupt angesprochen hatte: nicht weil er ihn so sympathisch fand, sondern weil ihn sein schönes Äußeres aufgefallen war.

Und das war nämlich das Paradoxe an der ganzen Sache: Maxime, welcher eigentlich nur auf dominante Männer stand, hatte plötzlich gefallen an einen so femininen Jungen wie Marcel gefunden.
 

Vielleicht sollte er ihm das sagen. Natürlich konnte dieses Geständnis auch leicht nach hinten los gehen. Aber wenn Marcel schon keine Freundschaft wollte, konnte er ihn womöglich immer noch ins Bett kriegen...
 

Da Maxime schon öfters mit fremden Männern geschlafen hatte, stellten One-Night-Stands kein Problem für ihn dar. Er war vielleicht erst 15 Jahre, trotzdem besaß er in Sachen Sex schon mehr Erfahrung wie Gleichaltrige.

Aber Marcel war da offenbar anders gepolt; er wirkte nicht gerade wie eine sexhungrige Bestie, welche mit jedem dahergelaufenem Kerl in die Kiste hüpfte. Eher wie ein prüdes Mauerblümchen ala Scarlett. Außerdem war es immer noch fraglich, ob Marcel wirklich auf Männer stand.
 

Grummelnd hob Maxime seine Augen. Beim Anblick der langen blonden Haare, die beim Gehen über seinen schlanken Rücken wehten, und Marcels knackigen Hinterteil, verscheuchte er schnell sein schlechtes Gewissen und folgte dem Jüngeren in den Korridor.

Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, beschleunigte Maxime seine Schritte und schnappte sich Marcels Handgelenk im Vorbeigehen.
 

„Bleib gefälligst hier, wenn du mit mir redest! Dann sag mir doch, wer du bist? Ich weiß es nicht.“
 

Knurrend riss sich Marcel los. „Ich habe nie behauptet, dass ich dir das Erzählen werde. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?!“
 

„Weil... du mir leid tust!“, gestand Maxime wütend und zugleich verletzt.
 

„Ich will dein Mitleid nicht haben. Du bist doch genau so oberflächlich wie alle Anderen!“ Marcel, der nun endgültig seine Beherrschung verlor, schubste Maxime heftig nach hinten. „Denkst du, dass ich mit dir befreundet sein möchte, nur weil wir uns ähnlich sind? Weil du gehänselt wirst und auch sehr schmächtig bist? Ich hasse es, in eine Schublade gesteckt zu werden. Und jetzt hau ab, oder wirst mich von einer anderen Seite kennenlernen!“
 

Es gab einen kurzen Knall und Maxime krachte mit den Rücken gegen einen Schulspind. In den ersten Sekunden sah er nur Sterne aufblitzen, dann hörte er auf einmal die Aufschreie einiger Menschen.

Als Maxime die Augen öffnete, stand Jaromir plötzlich in seinem Sichtfeld und betrachtete Marcel herablassend.
 

Diesmal war er ohne Sebastian erschienen. Doch das änderte trotzdem nichts an der Tatsache, dass Jaromir genau so gemein und aggressiv werden konnte, wie sein bester Freund. Der dunkelhaarige Schüler zischelte etwas Unverständliches und rammte Marcel dann ohne Vorwarnung, seine geballte Faust gegen denn Kiefer.
 

„He, ich wusste gar nicht dass du so gewalttätig bist!“, grölte Jaromir lauthals, seines Zeichens Schläger und Unruhestifter, während Marcel wie ein nasser Sack zu Boden ging. „Steh auf du Würstchen! Komm schon, beeil dich! Ich will ein bisschen Spaß haben. Zeig mir was du drauf hast!“
 

Marcel wagte es nicht, sich zu rühren. Mit einem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck blieb er auf dem Boden sitzen, doch lange sollte ihn diese Pause nicht vergönnt sein; eine große Hand packte ihn am Kragen und zog ihn wieder auf die Füße. Kurz darauf musste Marcel einen weiten Schlag einstecken und die Wucht des Aufpralls riss ihn schon wieder von den Füßen.
 

Marcel rollte sich auf den Rücken, die Lippen zusammengepresst und vor Schmerz verzerrt. „W- Was soll das? Ich... habe, habe dir doch gar nichts getan.“
 

„Denkst du? Dann erinnere ich dich mal an unseren Deal von letzter Woche. Ich warte immer noch auf MEIN Geld, das du mir versprochen hast, und so langsam werde ich echt ungeduldig.“
 

Oh, natürlich. Anscheinend meinte Jaromir das Geld, welches er schon bei seinem letzten Überfall nicht erhalten hatte. Und so wie es aussah, war Marcel seinen Feinden bis jetzt entkommen. Aber nun hatte ihn Jaromir entdeckt und zugleich in die Mangel genommen. Ächzend rappelte sich Maxime auf die Beine. Seine Knochen schmerzten unter der jähen Belastung, doch das allgemeine Getuschel und Gemurmel im Flur war so laut, dass niemand seine Klagelaute vernahm.
 

„Hey, sind schon wieder die Geldeintreiber unterwegs?“, zischte er knurrend.
 

Jaromir, der gerade zum nächsten Schlag gegen Marcel ausholte, verharrte kurz in seiner Bewegung. Als er Maxime entdeckte, zog sich ein schmutziges Grinsen über sein blasses Gesicht und die mit Ringen geschmückten Lippen fuhren in die Höhe.
 

„Oh, wie schön. Ist unser kleines Dornröschen wieder aufgewacht?“ Nun ließ Jaromir von Marcel ab und ging stattdessen zu Maxime rüber. Bei ihm angekommen, schlug er seine flache Hand gegen den Schulspind, welche nur wenige Zentimeter von Maximes Gesicht entfernt auf der Metalltüre landete. Zischelnd beugte der Fiesling seinen Oberkörper nach vorne. „Seit wann bist du mit der kleinen Zwergnase da hinten befreundet? Ist er etwa ein neues Mitglied in deinen abnormalen Freundeskreis, oder ist da sogar noch mehr? Dein neues Bettkätzchen vielleicht...“
 

Bevor Maxime antwortete, schaute er flüchtig in Marcels Richtung; der schmächtige Junge saß zusammen gekauert und mit Tränen in den Augen auf den Boden. Jaromirs Äußerung musste zu ihm vorgedrungen sein: Beschämt wendete er das Gesicht ab und schluckte geräuschvoll.
 

Diese kleine Geste gab für Maxime den Startschuss, um etwas ganz Neues und ganz Verrücktes auszuprobieren...
 

„Na und? Bist du neidisch, weil ich so einen süßen Freund habe?“ Maxime nutzte seine geringe Größe und tauchte geschickt unter Jaromirs Arm ab und schenkte dem etwas verdutzt blickenden Jungen, ein breites Lächeln. Langsam ging er zu Marcel und drückte ihm sanft die Hand auf die zitternde Schulter. „Lass dich doch nicht von so einem Idioten ärgern.“, sagte Maxime weich. „Er ist doch nur eifersüchtig, weil du zu mir gehörst und er jetzt einpacken kann...“
 

Verwirrt schaute Marcel zu ihm hoch. Von der einen auf die andere Sekunde waren seine Tränen komplett versiegt. „Was?“, hauchte er flüsternd.
 

„Dass Jaromir Pech hat!“, wiederholte Maxime und zog den Jüngeren mit einem kräftigen Ruck auf die Beine. „Komm mit, Schatzi. Vielleicht finden wir noch einen leeren Klassenraum, wo wir die letzten Minuten der Pause ungestört verbringen können. Ich möchte noch ein bisschen mit dir alleine sein, wenn du verstehst, was ich meine...“
 

Marcel nickte, ohne den Blick zu heben.
 

Irritiert starrten ihnen die anderen Schüler hinterher, als er Marcels Hand ergriff und erhobenen Hauptes abmarschierte. Nach 2 Minuten, die Maxime allerdings wie zwei 2 Stunden vorkamen, hatte er endlich den Pausenhof erreicht und gab Marcel seine Hand zurück. Doch Marcel wirkte alles andere als erleichtert. Im Gegenteil. Seine großen, blauen Augen sprühend vor Wut.
 

„Warum hast du das getan?“, zischte Marcel schließlich angriffslustig. „Wieso hast du so etwas Idiotisches gesagt!? Jetzt hast du mir mit deinem dummen Gerede noch mehr Feinde gemacht. Vielen Dank!“
 

Maxime glaubte, nicht recht zu hören. Hallo? Er hatte Marcel doch gerettet! Konnte der Weg denn nicht egal sein? Je länger Maxime über diese undankbaren und frechen Worte nachdachte, desto rasender wurde sein Zorn.
 

„Bist du blind oder einfach nur blöd?“, fauchte er ungehalten. „Ich habe dich vor Jaromir gerettet! Ohne mein Eingreifen, hätte der Mistkerl dich schon 3-mal zu Brei geschlagen!“
 

„Vielleicht wäre das besser gewesen. Jetzt denken alle, dass ich schwul bin... und etwas mir DIR habe! Sehr schön.“
 

„Ach, findest du dass so schlimm?“, erwiderte Maxime schnaubend und verengte seine Pupillen zu Schlitzen. „Ich dachte, dass du mich hübsch findest. Warum zierst du dich so? Stört es dich, weil ich ein Mann bin?“
 

Doch Marcel blieb standhaft und wich keinen einzigen Zentimeter zurück. Er schüttelte seinen Kopf. Wie immer, wenn der schmächtige Junge vor einen Problem stand, welches er nicht zu lösen wusste, begannen alle Muskeln in seinen Körper zu zittern.
 

„Ich hasse dich. Noch nie hat mich jemand so gedemütigt wie heute. Mit deiner tollen Idee hast mich zum Gespött der ganzen Schule gemacht. Das... Das werde ich dir niemals verzeihen! NIEMSALS!“
 

Als Marcel ihm einen wütenden Blick zu warf, hatte sich Maximes Gesicht in eine Fratze verwandelt. „Weißt du was? Du kannst in deinem Selbstmitleid doch ertrinken! Mann, ich weiß zwar nicht was du für ein Problem hast, aber lass dir helfen! Was habe ich dir getan, dass ich so eine Behandlung verdient habe?“ Und plötzlich hatte Maxime alle Freundlichkeit vergessen. Er genoss Marcels ängstlichen Gesichtsausdruck und bekam auch keine Gewissensbisse für seine spitzen Bemerkungen. „Als wir uns vor einigen Tagen kennenlernen haben, warst du total freundlich zu mir und hast dich richtig lieb und süß verhalten. Und jetzt? Jetzt benimmst du dich wie eine kleine, kaputte Diva, die nur eine starke Schulter braucht, an der sie sich ausheulen kann! Ich entspreche wohl nicht deinen Vorlieben.“
 

*xXx*
 

„Maxime?“
 

Nein, so hieß er heute nicht...
 

„Maxime?!“
 

Lalalalala, er konnte niemanden hören. Der Angesprochene stellte seine Ohren auf Durchzug und marschierte einfach weiter.
 

„BLEIB AUF DER STELLE STEHEN, MAXIME RAVANELLO!! ODER ICH BRÜLLE DEN GANZEN KORRIDOR ZUSAMMEN!!“
 

Okay, das war allerdings ein überzeugendes Argument.
 

Knurrend drehte Maxime seinen Kopf nach hinten und sah einen buschigen Haarschopf auf sich zu fliegen. Nur einen halben Meter vor ihm kam Charlotte schließlich zum Stehen und funkelte ihn zornig an. Mit einem Mal war der Größen- und Stärkenunterschied in Vergessenheit geraten – das kleine, zierliche Mädchen plusterte sich auf wie ein kampfwütiger Gockel.
 

„Warum ignorierst du mich?“, fragte sie gekränkt.
 

„Weil ich alleine sein möchte?“, erklärte Maxime kühl und unbeeindruckt. Eigentlich wollte er seine schlechte Laune nicht an seinen Freunden auslassen – das war asozial – aber offenbar wollte man ihn in Ruhe lassen.
 

„Was ist den passiert? Hattest du Ärger?“
 

„Kannst du nicht gehen, Charlotte? Wie du siehst, bin ich im Moment alles andere als gut drauf. Möchtest du den Sündenbock spielen und meine schlechte Laune ertragen?“
 

Noch bevor Charlotte antworten konnte, drehte sich Maxime um und ging weiter. Aber nicht mit ihr. Sie wirbelte ebenfalls herum und ergriff seinen Arm noch in der gleichen Bewegung. Rasch umrundete Charlotte den rosahaarigen Jungen und knallte ihm unsanft die Hand auf die Schulter.
 

Als Maxime seinen Blick senkte, bemerkte er die Tränen in ihren Augen.
 

„Wenn du mir sagst, was los ich, dann kann ich dir vielleicht helfen. Ich bin doch deine Freundin! Mir kannst du alles erzählen.“
 

Zuerst wollte Maxime Charlotte ein zweites Mal abwimmeln, aber dann siegte seine Vernunft über die Wut. Es wäre ungerecht, wenn jemand Unschuldiges seinen ganzen Zorn zu spüren bekam. Das hatte Charlotte nun wirklich nicht verdient!
 

Schwerfällig erzählte Maxime seiner Freundin dann von dem Streit mit Marcel. Nachdem er die ersten Silben über seine Lippen gebracht hatte, konnte er seine Emotionen nicht länger unterdrückten und erklärte ihr danach alles von Anfang an. Wo er Marcel im Bus kennenlernte, als dieser von Sebastian und Jaromir ausgeraubt wurde – von seinem schlechten Gewissen, weil er Marcel im Stich gelassen hatte – von gestern Nachmittag im Buchladen, wo dieser unheimliche Albino an Marcels Seite war, und auch von der gerade erlebten Situation. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, füllten sich Maximes Augen plötzlich mit brennend heißen Tränen.
 

Gottseidank war Charlotte, Charlotte und nicht Raphael. Das Mädchen besaß genug Taktgefühl, um keine dummen Bemerkungen zu machen und brachte Maxime stattdessen in einen leeren Klassenraum. Dort angekommen drückte die ihn erstmal auf einen Stuhl und dann ein Taschentuch in seine Hand.
 

„Danke...“, schluchzend Maxime und schluckte hart. Mit dem Tuch wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und nahm einen tiefen Luftzug.
 

Charlotte seufzte leise. Sie breitete ihre Arme aus, und ließ sich auf Maximes Schoss sinken. „Schon gut, Maxi. Du musst dir keine Gedanken machen. Marcel wird sich sicher wieder beruhigen, und vielleicht, kannst du es denn noch mal mit ihm versuchen.“
 

„Wie denn? Bis jetzt hat er mich doch immer abgewiesen. Langsam bin ich echt am Verzweifeln...!“
 

Das braunhaarige Mädchen lächelte nachsichtig. „Du darfst ihn nicht so bedrängen. Marcel scheint eine ganz sensible und vorsichtige Person zu sein. Mit deiner offenen Art hast du ihn wahrscheinlich verschreckt, deshalb ist er auf Abstand gegangen. Er ist ein bisschen so, wie ich damals war: Schüchtern und zurückhaltend.“
 

„Na toll, dann bin ich ja mit Anlauf ins Fettnäpfchen gesprungen.“ Maxime biss sich auf die Unterlippe und senkte die Augenlider. „Ich kann mich aber auch nicht verstellen, und auf einmal ruhig und leise werden. Kann mir Marcel nicht ein bisschen entgegen kommen?“
 

„Hmmm. Das wird sich noch zeigen. Du magst ihn, oder?“
 

Maxime nickte errötend.
 

„Du magst ihn ein bisschen sehr sogar...“
 

Es folgte ein weiteres Nicken, dann ein leichter Hieb in die Rippen und Charlotte stand wieder auf ihren Beinen. „Sprich es aus, und du bist tot!“, knurrte er bitterernst.
 

Wenige Minuten später hatte Maxime seine Emotionen wieder unter Kontrolle und fühlte sich dazu bereit, um zurück auf den Flur zu gehen. Solange er nicht seinen Lieblingsfeinden oder Marcel über den Weg lief, war alles in Ordnung.
 

Draußen auf dem Gang trafen sie zwar keiner von ihnen, aber dafür Charlottes Klassenlehrer. Der ältere Mann, um die Vierzig wirkte wie immer ein bisschen neben der Spur und fragte die beiden Jugendlichen, ob sie ihn helfen konnten.
 

„Ich brauche dringend die Anatomiebücher aus dem E-Trakt. Könnt ihr rüber gehen und mir die Bücher holen?“, fragte der Mann und lächelte das ungleiche Duo flehend an. „Ich muss noch ein paar Vorbereitungen für meine nächste Stunde treffen... Ihr beiden würdet mir wirklich einen großen Gefallen tun.“
 

Die Teenager seufzten leise und nickten dann artig.
 

Das städtische Gymnasium von Bergedorf bestand aus 2 großen Schulgebäuden, welche in verschiedene Bereiche aufgeteilt war.
 

Trakt A und B waren im ersten Gebäude untergebracht und reichte von der 5. bis zur 8. Klasse. In Trakt C gingen die Schüler, die die 9. und 10. Klasse besuchten - der Trakt, in dem auch Maxime und seine Freunde ihre meiste Zeit verbrachten. Hier ließ es sich gut leben. Außerdem gehörte zu diesem Trakt auch die große Schulcafeteria, schon mal ein Grund, warum hier in den Pausen die beste Stimmung herrschte.
 

Trakt D, der vorletzte Bereich, lag im zweiten und alten Schulgebäude, welches Maxime bis jetzt nur selten gesehen hatte. Dort war die gymnasiale Oberstufe vertreten, die 11.- bis 12. Klasse. Dort lag der Geruch von gestressten Menschen in der Luft, die schon Monate lang keine Diskothek mehr von innen gesehen hatten.
 

Alle anderen wichtigen Räume, wie zum Beispiel der Biologiesaal, die große Schulbücherei, oder den Physikraum waren im Trakt E.

Und hier lernten auch die Schüler der Sonderklasse. Dies war eine keine gewöhnliche Klasse, da sich die Lehrer und Professoren etwas ganz Besonderes für ihre Schützlinge ausgedacht hatten: Hier bekamen die Schüler, die Medizin studieren wollten, noch mal eine spezielle Lerneinheit geboten, bevor sie im nächsten Jahr das langjährige Studium begannen. Alle Einheiten, die ihnen die Lehrer dort vermittelten, waren fast identisch mit den Themen für das 1. und 2. Semester. Eine bessere Vorbereitung für die angehenden Ärzte konnte es also nicht geben...
 

Maxime betrachtete die blinden Fenster des alten Schulgebäudes und öffnete für Charlotte die Eingangstüre. Es war kein Geheimnis, das sie sich in diesem Gebäude als Neunt- und Zehntklässler nicht gerade wohlfühlten. Schon viel zu oft waren die jüngeren Schüler mit den „alten Hasen“ einander geraten, die ihrer nach Meinung nach, auch mal von ihrem hohen Ross runter steigen konnten.
 

„Weißt du, wo die Bücherei ist?“, fragte Maxime in diesem Moment und warf einen besorgten Blick in die verwinkelten Gänge. Er bildete sich ein, dass es im E-Trakt wirklich anders roch, als wie in ihrem Trakt. Irgendwie unheimlich...
 

„Ja, das weiß ich“, antwortete Charlotte nüchtern. Sie bog um eine Ecke – und erstarrte noch in ihrer Bewegung. Doch es war bereits zu spät. Der braunhaarige Junge vor ihr konnte nicht mehr stoppen und krachte mit voller Kraft gegen das zierliche Mädchen. Ein kurzes Rumpeln ertönte und dann lag Charlotte auf dem Boden.
 

Ohne einen weiteren Gedanken an den Geruch zu verschwenden, ging Maxime neben Charlotte in die Knie. Vor ihnen stand ein nur allzu bekannter Geselle; Sebastian.

Im ersten Moment sah seine Miene noch schuldbewusst aus, er wollte Charlotte sogar seine Hand reichen, um ihr auf die Beine zu helfen, doch als er Maxime an ihrer Seite erblickte, zog er sie schnell zurück.
 

„Was machst du denn hier? Das ist nicht dein Trakt.“, zischte Sebastian so unfreundlich wie immer, der mit Abstand gemeinste Schüler weit und breit.
 

„Na und? Deiner ist das auch nicht!“, knurrte Maxime und half Charlotte wieder hoch.
 

Schlechter konnte es die beiden Schüler eigentlich kaum erwischen. Nur zu zweit, ohne Raphaels Hilfe und meilenweit vom Lehrerzimmer entfernt, standen sie alleine mit Sebastian auf dem Flur im E-Trakt. Aus diesen Grund gab es auch nur eine Möglichkeit, die als Rettung infrage kam: Sich umdrehen und die Kurve kratzen.
 

Wie in Zeitlupentempo machte Maxime auf den Fersen kehrt, griff nach Charlottes Handgelenk und stürmte mit ihr zum Ausgang. Doch mehr als 15 Meter kamen sie nicht, denn auf einmal standen plötzlich zwei Mädchen im Gang, die den beiden den Weg versperrten.

Und Maxime kannte die Mädchen. Er kannte sie besser, als ihm lieb war. Das waren zwei von diesen aufgetakelten Modepüppchen, die er vor einigen Wochen im Flur seines Traktes getroffen hatte und mit denen er zusammengestoßen war.
 

„So sieht man sich also wieder.“, knurrte eines der Mädchen und ihre knallroten Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Feixen.
 

Maxime zuckte nach hinten. Scheiße, verdammte Scheiße! Kurz schaute er über die Schulter und zog Charlotte an seine Seite. „Was auch immer passiert; du bleibst hinter mir!“ Danach blickte er wieder zu dem grimmig aussehenden Mädchen. „Ich wüsste nicht, was du von mir willst... Also wenn ihr mich nun entschuldigt, ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen.“
 

Schnaubend machte das große Mädchen einen Schritt nach vorne. „Nicht so schnell! Du bleibst hier, kapiert? Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Ich nehme mal an, du weißt, wer ich bin. Erinnerst du noch an unserem Zusammenstoß vor einiger Zeit? Ja? Schön. Durch den Sturz ist mein Handy damals kaputt gegangen. Ich erwarte eine Entschädigung von dir! Wenn du mir die Reparaturkosten bezahlst, sind wir quitt.“
 

Charlotte griff reflexartig nach Maximes Arm. „Das... Das stimmt doch nicht. .. oder?"
 

„Natürlich nicht!“, stieß der Angesprochene hervor und schaute das Mädchen mit weit aufgerissenem Mund an. „Und wo sind die Beweise dafür, wenn ich bitten darf? Woher soll ich nicht wissen, dass du das Handy selbst kaputt gemacht hast und mir nun die Schuld in die Schuhe schieben möchtest?!“
 

„Ganz einfach, weil ich Zeugen habe. Meine Freundinnen waren dabei, als ich kurz darauf mein Handy herausgeholt habe und sie das Unglück bemerkt haben. Die ganze Hülle ist zerkratzt und das Display in tausend Stücke zersprungen. Wenn du mir die Kosten nicht bezahlst, werde ich das dem Direktor melden und dich bei der Polizei anzeigen.“
 

Alle Augen waren nun auf Maxime gerichtet. Der Junge fühlte sich wie einem Labyrinth gefangen. Das Mädchen log von vorne bis hinten! Diese ganze Story war ein riesengroßer Bluff...! Aber leider würde ihm das niemand glauben. Ihre Freundinnen hätten sicher keine Hemmungen vor der Polizei zu Lüge. Die Beamten würden es dann für einen Unfall halten, und Maxime um sein Erspartes bringen...!
 

Sebastian, der Maxime und Charlotte gefolgt war, hielt abrupt an und stemmte die Hände in seine Hüfte. Anscheinend gefiel es ihm gar nicht, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stand. „Hey ihr zwei...! Habt ihr mich etwa schon vergessen! Und was ist hier eigentlich los?“
 

„Das würde ich auch gerne wissen.“
 

Leichtfüßig löste sich ein Schatten aus der gegenüberliegenden Ecke und der Junge, der dort schon längere Zeit gestanden haben musste, zog seine schmalen Augenbrauen nach oben. „Ich habe zwar nur mit einem Ohr zugehört, aber wie es mir scheint, gibt es hier Ärger und als ein Mitglied der Schülervertretung, kann ich so was nicht ignorieren.“
 

Als sich Maxime zu den Jungen umdrehte, fielen ihm zunächst mal alle Emotionen aus dem Gesicht. Das... das war jetzt aber WIRKLICH ein schlechter Scherz!
 

...Eine Haut so rein und weiß wie frisch gefallener Schnee....

...Haare so schwarz wie die Nacht...

...ein Blick so unangenehm und spitz wie tausend Nadelstiche...
 

Offenbar war Maxime jedoch nicht der Einzige, der sich ziemlich überrumpelt vorkam: auch Sebastian bekam tellergroße Augen. Charlotte stieß ein schockiertes Fiepen aus. Und die beiden Mädchen verfielen in eine Art hysterischen Kicheranfall.
 

„Es... es ist alles in O-Ordnung, Ki- Kim. Wir hatten... hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit... a-aber jetzt ist die Sache... ge-geklärt.“, stotterte das Mädchen mit dem Handy eingeschüchtert und rote Flecken brachten ihr Gesicht zum Glühen.
 

„Gerade klang das aber noch ein bisschen anders. Da war von einem kaputten Handy und einer Anzeige die Rede. Was ist denn nun wahr?“
 

Kiley Sandojé fuhr sich genervt durch die rabenschwarzen Haare und verschränkte die muskulösen Arme vor seiner Brust. Er sah, obwohl er grimmig und hochmütig schaute, einfach umwerfend aus und man würde keine Sekunde daran zweifeln, dass er viele Fans besaß, obwohl er nach außen hin wie ein lebendig gewordener Kühlschrank erschien.
 

Jetzt schaute Kiley in SEINE Richtung. „Und was hast du dazu zu sagen? Wenn ich mich nicht irre, bist du derjenige, der die Schuld an dem Unglück trägt. Wie ist deine Version der Geschichte?“
 

Maximes Herz begann vor Aufregung zu klopfen. Wenn er daran dachte, dass er Kiley erst vor einigen Tagen auf seiner Facebook-Seite gestalkt hatte, schoss im die Röte in die Wangen. „Sie ist wahr... naja, nicht ganz... Es ist meine Schuld, dass sie hingefallen ist... a-aber ich wurde... geschubst... und dann ist es passiert. Irgendwie ist das alles... ziemlich blöd gelaufen.“
 

„Dann ist die Sachlage also geklärt.“, schlussfolgerte Kiley monoton. „Du musst denn Schaden bezahlen, egal ob es nun ein Unfall war oder nicht. Soll ich euch zum Schulleiter begleiten, damit ihr denn Vorfall melden könnt, oder schafft ihr das alleine?“
 

„Oh nein!“, rief das brünette Mädchen plötzlich und wedelte wie wild mit ihren Händen in der Luft herum. „W... Wie gesagt, wir... wir haben das schon ge - geklärt! So.... ich glaube das es langsam Zeit wird, dass wi-wieder in unsern Trakt zurück gehen. Es ist schon spät... u- und gleich ist die Pause vorbei!“
 

Maxime und Charlotte beobachteten fassungslos, wie sie sich den Ärmel ihrer Freundin schnappte und Hals über Kopf davon rannte. Was auch immer der Anblick von Kiley bei ihr ausgelöst hatte, es hatte Maxime vor dem finanziellen Ruin bewahrt.

Sogar Sebastian schien ganz vergessen zu haben, dass er den beiden Jugendlichen bis gerade noch die Pause vermiesen wollte und verschwand kopfschüttelnd im nächsten Flur.
 

Nun waren die beiden alleine. Alleine mit Kiley Sandojé.
 

„Was... was war das... denn?“, flüsterte Charlotte irritiert. Als ihr Blick wieder auf Kiley fiel, bildete sich in ihren Magen sofort ein Knoten und sie spürte, wie sie zu schwitzen begann.
 

„Keine Ahnung, aber sie kam mir schon von Anfang an unseriös vor.“, murmelte Kiley nachdenklich. „Und was macht ihr beiden hier? Ihr seid auf jeden Fall viel zu jung, das ihr in diesem Trakt lernen könnt.“
 

„Wir...wir... also... wir sollten. ..ähm, wir wollten gerne...“
 

„...Bücher holen.“, ergänzte Maxime um seiner stotterten Freundin aus der Klemme zu helfen. „Wir sind hier, weil wir für einen Lehrer die Anatomiebücher aus der Bibliothek holen sollen."
 

„Kriegt ihr zwei das hin? Die Anatomiebücher sind nicht gerade leicht zu transportieren.“
 

Maxime unterdrückte ein leises Knurren und wickelte seiner zitternden Freundin einen Arm um die Taille. Er ärgerte sich über Kileys überheblichen Tonfall, versuchte aber, sich seine Laune nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
 

„Natürlich schaffen wir das.“
 

„Ich kann euch auch helfen, wenn ihr schön bitte sagt“, erwiderte Kiley und lächelte charmant.
 

„Nein danke, kein Bedarf. Sehen wir etwa so aus, als wir nur ein paar Schwächlinge wären?“
 

„Ehrlich gesagt, ja.“
 

„Dann besorgt dir mal eine Brille, du Blindschleiche!“, fauchte Maxime gereizt.
 

Ohne dass der eingebildete Schnösel noch einen weiteren Ton erwidern konnte, zog er Charlotte aus dessen Reichweite und verschwand mit ihr, wie schon Sebastian zuvor, in einem der Flure.
 

Nun legte Kiley seine Stirn in Falten. Der skeptische Zug ließ seine Ausstrahlung noch arroganter erscheinen, als sie ohne hin schon war. „... oh ho, das ist aber ein temperamentvolles Kerlchen.“
 

*xXx*
 

Um 14.15 Uhr erklang die Schulglocke das letzte Mal für heute und alle Schüler stürmten, einen Fischschwarm gleich, in die Freiheit.
 

Während Maxime immer noch auf hundertachtzig und zu wütend war, um das Treffen mit Kiley Sandojé zu vergessen, hatte Charlotte sich schon dreimal davon erholt und eine Diskussion mit Raphael über das heutige Mittagessen begonnen. Unglaublich. Dieses Mädchen war die Ruhe in Person!
 

Fast jeden Montag, wenn die drei Freunde zur gleichen Zeit Unterrichtschluss hatten, gingen sie in eines der vielen Cafés von Bergedorf und verbrachten dort ihren Nachmittag.
 

So auch heute.
 

„Ich kann nicht verstehen, warum du schon wieder so gut drauf bist“, sagte Maxime zu Charlotte und sprang flink in den Linienbus, der sie in die Altstadt fuhr. „Dieser miese Typ hat mir die ganze Laune verdorbenen. Ich wusste ja schon von euch beiden, dass er total eingebildet ist, aber so...? Unfassbar!“
 

Raphael nickte zustimmend. Er führte seine Freunde nach hinten und ließ sich in der letzten Reihe auf die Sitzbank gleiten. „Wir haben es dir ja von Anfang an gesagt: Mit den Sandojé-Brüdern hat man nur Schwierigkeiten. Du kannst froh sein, dass sich Kiley offenbar nicht mehr an dich erinnert. Sonst hätte er dir garantiert eine reingehauen.“
 

„Das kann immer noch passieren, so wie du ihn angeschnauzt hast.“ Charlotte zog eine mitleidige Grimasse. „Mich... Mich hat er auf jeden Fall schon mit seiner ganzen Erscheinung umgehauen. Kein Wunder, das die beiden Mädchen von vorhin einfach... ab- abgehauen sind. Der kann einen ja schon mit seinen Blicken töten.“
 

„Tzz, Großmaul, sage ich ja. Könnt ihr mir mal sagen, wie alt der Kerl eigentlich ist? Der ist sicher nicht mehr minderjährig, so groß und muskulös, wie er aussieht.“
 

„Kiley ist ein Jahr älter wie ich, also 17“, antwortete Raphael gedehnt. „Aber wenn ich mich nicht irre, hat er dieses Jahr noch Geburtstag. Er und sein Zwilling schmeißen zum Sommerende immer eine riesengroße Party, wo sie die halbe Schule eingeladen - natürlich nicht so Außenseiter wie wir, sondern alles nur die coolen und beliebtesten Leute aus der Oberstufe. Und falls es deine nächste Frage sein sollte; nein, Kiley ist nicht mehr in der regulären Schule. In der siebten oder achten Klasse hat er eine Stufe übersprungen, deshalb ist er mit seinem Abitur schon fertig geworden. Dieses Jahr ist er in die Sonderklasse gekommen. Wahrscheinlich will er so was Protziges wie Arzt werden. ..“
 

„Passt ja gut zu ihm. Auf den Kopf scheint er mir nicht gefallen zu sein...“
 

„Dito.“, gähnte Charlotte herzlich. „Sein Bruder ist aber noch in der 12. Klasse, oder? Beim Sportunterricht sehe ich ihn zu mindestens immer zusammen mit den Zwölftklässlern trainieren.“
 

Wieder nickte Raphael. „Ich glaube schon, ich meinte etwas davon gehört zu haben. Tja, ganz so toll scheinen diese Geschwister also doch nicht zu sein, was? "
 

In der Altstadt angekommen, bemerkten die Teenager, dass ihr Stammplatz heute Mittag ziemlich überfüllt war und dass sie sich schon die Hälse verrenkten müssten, um über die Köpfe der Menschen hinweg, einen Blick in das Innere des Cafés zu werfen.
 

Unglücklicherweise, oder eher, glücklicherweise waren die meisten Gäste weitaus jünger wie sie und die machten ihnen angesichts Raphaels wütender Miene, schnell Platz. Da Maxime im Moment sowieso schlecht drauf war, hielt er ihm deshalb keine Moralpredigt. Charlotte aber schämte sich in Grund und Boden.
 

„Ey, was ist hier los? Warum sind heute so viele Puten in unserem Café? Haben die Grundschulen etwa einen eigenen Feiertag bekommen?!“ Grummelnd griff Raphael nach der Speisekarte und schlug sie energisch auf.
 

Auch Maxime und Charlotte schauten sich verstohlen um.
 

Das Café „Magic Moon“ war ein japanisches Café, mit einem traditionellen Ambiente und japanischen Mitarbeiterinnen.
 

Von innen sah der Raum aus, als hätte man ein asiatisches Wohnzimmer genommen und direkt nach Bergedorf gebracht: Kleine, viereckige Tische aus Echtholz mit kurzen Beinen standen überall auf der Erde verteilt, worauf regelmäßig Tee oder andere Leckerbissen serviert wurden. Die Gäste saßen nicht wie gewohnt auf einen Stuhl, sondern auf einem flauschigen Kissen, welches auf dem Teppichboden lag. Auch die Schuhe musste man sich beim Betreten der Gaststätte ausziehen und durch sandalettenartige Hausschuhe ersetzen.
 

Die Japanerinnen, die auf flinken, schlanken Beinen durch den Raum wuselten, trugen silberne Tabletts mit kleinen, landesüblichen Köstlichkeiten von Tisch zu Tisch.
 

Ein junges Mädchen mit glänzenden, schwarzen Locken und mandelförmigen Augen erschien an ihren Tisch, an lächelte die wartenden warmherzig an. „Ah! Charlotte-chan, Maxime-chan, Raphael-san. Konnichiwa!“, rief sie fröhlich und machte eine kleine Verbeugung vor den Dreien.
 

„Ko... Konnichiwa, Sakura“, erwiderte Charlotte mit einigen Schwierigkeiten.
 

Die Japanerin hieß Sakura, war ungefähr 16 Jahre alt und jobbte in ihrer Freizeit im Magic Moon. Raphael, Charlotte und Maxime kannten das Mädchen schon seit ihrem ersten Arbeitstag vor zwei Jahren und pflegten seitdem eine enge, freundschaftliche Beziehung zu ihr. Vom Charakter her war Sakura etwas zurückhaltend und schüchtern - also das perfekte Kriterium, um sich wunderbar mit Charlotte zu verstehen.
 

Aber nun musste das Mädchen erst mal Arbeiten und verschwand nach einem kurzen Plausch mit der Bestellung zur Theke.
 

In dem Gespräch hatten Maxime und seine Freunde auch erfahren, wieso im Magic Moon heute so reger Betrieb herrschte: In der Grundschule war am Morgen ein Feuer ausgebrochen und so durften die Kinder heute früher nach Hause gehen. Verletzte gab es gottseidank keine. Nur ein gewaltiger Sachschaden war durch den Brand entstanden.
 

„Ob das Brandstiftung war?“, überlege Charlotte laut und warf den Grundschülern von ihrem Platz aus, einen langen Blick zu.
 

Raphael runzelte seine Stirn. „Wahrscheinlich, oder? Ein Feuer entfacht sich mal nicht eben von alleine. Es ist wirklich ein Glück, dass alle Schüler und Lehrer noch mal mit dem Schrecken davon gekommen sind.“
 

„Aber wer macht denn so was?“ Maxime verzog seine Lippen zu einer schmalen Linie. „Spaß an Feuer und Zerstörung haben ist eine Sache, aber um dabei das Leben von anderen Menschen aufs Spiel zu setzen, eine andere. ..“
 

In diesem Moment brachte Sakura die Getränke und strich sich eine ihre langen Locken aus dem Gesicht. „Es gibt auch schon einen Verdächtigen. Kurz nachdem die Schule evakuiert wurde, haben ein paar Leute von der Feuerwehr eine vermummte Gestalt um das Gebäude schleichen gesehen. Jedoch ist die Person geflohen, als die Männer näher kamen und ihn ansprechen wollten. Er war so schnell, dass die Beamten ihn nicht mehr einholen könnten - jetzt ist er wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei hat schon die ganze Gegend abgesucht, aber sie haben keine Hinweise bekommen.“
 

Charlotte, Raphael und Maxime tauschten einen ratlosen Blick. Ein Brandstifter in Bergedorf klang nach Gefahr.... Hoffentlich hatte der Übeltäter nach dieser Tat schon die Lust verloren und zündete keine weiteren mehr Schulen an. Oder Wälder. Irgendwie wurden die drei Freunde nämlich das Gefühl nicht los, dass die Wilderer etwas mit diesem Brandstifter zu tun haben könnten. Beide schienen eine große Leidenschaft für Feuer zu hegen. Und in Sachen abtauchen und Spuren verwischen, waren beide Täter ebenfalls große Meister. Ob das nur ein dummer Zufall war? Die Freunde waren sich einig: Nein, das war kein Zufall!
 

„Und?“, fragte Raphael leise als Sakura zum nächsten Tisch gegangen war. „Macht es bei euch auch Klick?“
 

„Du denkst an die Wilderer, stimmts?“, antwortete Maxime ebenso leise und lehnten sich nach vorne. „Sie und der Brandstifter könnten unter einer Decke stecken - beide haben für ihre grausamen Taten Feuer als Mittel benutzt. Und das, innerhalb so kurzer Zeit, ist auffällig.“
 

„Genau, das habe ich mir auch gedacht. Tja, wie es aussieht, werden wir drei noch zu richtigen Juniordetektiven. Yeah! Dann machen wir irgendwann sogar dem werten Sherlock Holmes Konkurrenz!“
 

Charlotte und Maxime zogen ihre Augenbrauen hoch. Was Raphael an diesem Fall reizte, lag doch klar auf der Hand: die Belohnung der Polizei. „Sherlock Holmes hat sich aber nie für Geld interessiert so wie du!“, sagte die beiden einstimmig wie aus einem Mund.

Kapitel 8: Täter oder Opfer

Mit heftigen Böen jagte der Frühlingswind herumliegende Blütenblätter über die Straße. Unablässig prasselten dicke Regentropfen auf das Scheibendach der Terrasse herab, worunter drei Jugendliche saßen, die sich hungrig über eine Schüssel mit warmen Leckereien hermachten. Für das scheußliche Wetter hatten sie keinen einzigen Blick übrig.
 

„Oh Gott. Ich liebe deine Mutter, Charlotte.“, stöhnte Raphael und biss herzhaft in eine süße Gebäckkugel. „Sie macht echt die besten Muzen auf der ganzen Welt. Und dabei ist es echt scheiß egal, dass wir noch nicht mal Karneval oder Silvester haben!“
 

Maxime saß zusammengerollt auf einen weichen Sessel und knetete mit seinen Händen die große Decke, welche ihn vor denn milden Temperaturen schützen sollte. Auch er schob sich gerade eine Muze in den Mund und schmatze anerkennend. „Charlotte? ICH liebe deine Mutter. Der Homo dahinten weiß so eine so gute Köchin doch gar nicht zu schätzen!“
 

Im Moment waren die zwei Jungen bei ihrer besten Freundin zu Besuch und verbrachten auch die heutige Nacht hier. Morgen mussten alle Lehrer von ihrer Schule an irgendeiner wichtigen Fortbildung teilnehmen, deshalb fand an diesem Tag keinen Unterricht statt.
 

Für Maxime, der in der letzten Woche wirklich viel Pech ertragen musste, war das eine willkommene Verschnaufpause.
 

Zuerst hatten sie am Dienstag die Geschichtsklausur von Herrn Asthon zurückbekommen und er erhielt eine beschämende 3 Minus. Dann am Mittwoch war er beim Sportunterricht gestolpert und so ungünstig auf seine Schulter gefallen, dass er sich die kommenden Tage nicht mehr richtig bewegen konnte. Und zu guter Letzt, ebenfalls am Mittwoch, wollte er nach der Schule noch mal ein klärendes Wort mit Marcel sprechen, aber dieser war ohne ein Wort zusagen einfach an ihm vorbei gelaufen.
 

Jetzt wo das Gerücht die Runde machte, dass Marcel angeblich homosexuell war nutzen Jaromir und Sebastian natürlich jede freie Sekunde, um ihn das Leben zur Hölle zu machen. Zum Glück wurden so langsam die Lehrer auf die zwei Schläger aufmerksam und behielten die Jungen von nun an im Auge. Aber leider hinderte sie es trotzdem nicht daran, um sich Marcel außerhalb der Schule vorzuknöpfen.
 

Maxime stieß einen langen Seufzer aus. Tja, im Nachhinein entpuppte sich seine tolle Rettungsaktion als totaler Reinfall. Demnach war es kein Wunder, dass Marcel jetzt noch weniger mit ihm zu tun haben wollte, als vorher. Sie hätten durch diese überstandene Situation die besten Freunde werden können, und nun wollte Marcel noch nicht mal mit ihm sprechen! Toll! Danke Schicksal!
 

„So Kinder, ich habe die Zeitungsausschnitte gefunden! Puh, war das da unten im Keller ein Gerümpel, meine Herren! Die Spinnen waren so groß, dass ich Angst hatte, gefressen zu werden.“
 

Ächzend öffnete sich die Türe zum Wintergarten und ein hochgewachsener Mann, mit dunkelbraunen Locken und einem warmen, etwas leidenden Lächeln, schleppte einen riesigen Karton in das Zimmer. Schnaufend stellte er die Kiste auf den Tisch ab.
 

„Oh, danke Papa! Du bist spitze!“ Begeistert sprang Charlotte auf die Beine, schob die Schüssel mit den Muzen auf die Seite und holte mehrere, alte Zeitungen aus den muffig riechen Karton.
 

Auch Maxime und Raphael rückend neugierig an den Tisch heran. Sie sahen dabei zu, wie ihre Freundin verschiedene Blätter und Artikel feinsäuberlich auf der Platte ausbreitete.
 

„Was ist das?“ Raphael klang verwirrt und rümpfte die Nase. „Warte mal kurz, lass mich mal lesen. Sind das...?“
 

„Die alten Berichte von den Wilderern? Jap, mein Vater hat sie damals gesammelt.“, Charlotte nickte und ihr Nicken vermischte sich mit einem herzhaften Gähnen. „Ich habe ihn erzählt, dass wir letzte Woche Sonntag im Wald waren und Hinweise gesucht haben. Natürlich war er im ersten Moment nicht gerade davon begeistert, aber dann hat er sich an die Kiste mit den Reportagen erinnert und mir von ihr erzählt...“
 

Herr Kirschbaum, Charlottes Vater, lächelte milde und tätschelte seiner Tochter die Wange. „In der Tat, junges Fräulein. Und wenn ihr drei noch mal so einen Ausflug in den Wald macht, dann sagt meiner Frau oder mir doch bitte vorher Bescheid... ich wäre natürlich sofort mit von der Partie!“ Er grinste leicht und zwinkerte Maxime und Raphael verschwörerisch zu. „Aber meine Frau würde mir den Kopf abreißen, wenn sie das erfährt. Ich habe die Geschehnisse da draußen im Wald damals mit großem Interesse verfolgt, und bin jetzt wirklich neugierig, wie es dieses Jahr weitergeht. Früher stand immer in der Zeitung, dass Wilderer, also Menschen, die Tiere töten, aber ich denke an etwas anders...“
 

„So?“, sagte Raphael und runzelte seine Stirn. „An was denkst du denn? Vielleicht an ein Tier aus der Gegend? Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch schon mal an so was gedacht. Die Kadaver der Tiere sahen immer so aus, als hätte man sie mit großen Krallen und Zähnen aufgeschlitzt.“ Nachdenklich nahm er einen Zeitungsausschnitt in die Hand und überflog kurz die ersten Zeilen. „Ich finde es komisch, dass die Täter meistens zu der gleichen Zeit zuschlagen. Einmal Ende Frühling und dann Mitte Herbst. Ansonsten ist es die ganze Zeit ruhig und als ob sich normale Wilderer an solche Sachen, wie Monate und Jahreszeiten aufhalten würden. Pfft, die würden doch permanent auf die Jagd gehen, solange sie nicht von der Polizei verhaftet werden...“
 

Herr Kirschbaum grunzte zustimmend, dann senkte er die Augen ebenfalls auf einen Bericht. „Ich dachte zuerst an ein Rudel Wölfe, dass hier vielleicht ihre Jungen aufzieht. Oder an einen Bären, der womöglich schon mal seine Wintervorräte aufstockt, bevor er sich schlafen legt. Hmm, aber wären Tiere die Täter, dann hätten die Ermittler doch Fußabdrücke oder Haarbüschel an den Tatorten finden müssen... Doch nichts. Das Tier oder die Wilderer jagen, töten und verschwinden wieder, ohne irgendwelche Hinweise auf ihre Identität zu hinterlassen. Es ist zum Haareraufen!“
 

„Und Tiere können kein Feuer machen.“ Maxime, welcher sich bis jetzt komplett aus dem Gespräch gehalten hatte, klinkte sich nun wieder ein. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und drückte den Zeigefinger auf die Überschrift eines besonders kleinen, unauffälligen Artikels. „Als wir letzten Sonntag im Wald waren, haben wir überall Brandspuren entdeckt. Und hier steht es auch wieder; „Der gefundene Kadaver hatte nicht nur den kompletten Bauchraum aufgeschlitzt, sondern wies auch unzählige Verbrennungen am ganzen Körper auf.“ Na, das kann doch kein Tier getan haben. Das MÜSSEN Menschen gewesen sein!“
 

„Wo er recht hat, hat er recht“, murmelte Raphael und stieß einen langen, genervten Seufzer aus. „Oh Mann, ich dachte, dass das alles einfacher wäre. Ich konnte das Geld von der Polizei schon förmlich riechen und jetzt...? Stehen wir immer noch am Anfang!“
 

„Komm schon, Raphael!“, meinte Charlotte und klopfte ihrem besten Freund auf den Oberschenkel. „Sei nicht so ungeduldig! Wir sind doch nur ein paar unerfahrene Kinder. Meinst du, dann lösen wir sofort das große Rätsel, woran professionelle und geschulte Ermittler schon jahrelang tüfteln?“ Sie lächelte milde. „Ganz sicher nicht. Darum müssen wir auch klein anfangen und jeder Spur nachgehen. Ich fand deine und Papas Idee gar nicht mal schlecht, aber Maxime hat auch recht. Tiere können kein Feuer entzünden.“
 

Eine gute Stunde später lagen die Kinder schließlich umgezogen und erschöpft in Charlottes Zimmer. Das Mädchen lag in ihrem Bett und Raphael und Maxime zu zweit auf einer großen Matratze daneben. Doch an Ruhe war bis jetzt nicht zu denken. Sie diskutierten immer noch über die Wilderer oder über die Raubtiere, welche angeblich ihr Unwesen im Wald trieben.
 

„... also ich bin für schlafen.“, zischelte Maxime um 3 Uhr morgens genervt. Er rollte sich auf die Seite, vergaß dabei, dass Raphael nur einen halben Meter von ihm entfernt auf der gleichen Matratze lag und knallte mit dem Kinn gegen seine Schulter. „Alter, spinnst du?! Was rückst du mir so auf die Pelle? Verzieh´ dich mal!“
 

Der Angesprochene dachte noch nicht im Traum mal daran, stattdessen flickte er Maxime mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Halt deine Klappe, Pinkie! Du hast genau so viel Platz wie ich, und dafür bist du Zwerg auch noch einen ganzen Kopf kleiner!“
 

„Bleib mal bei den Tatsachen. Einen halben Kopf kleiner, ja?!“, empörte sich Maxime schnaubend und rutschte zugleich wieder zurück auf seine Seite, die funkelnden Augen noch immer auf Raphaels Grinsen gerichtet. „Und jetzt möchte ich schlafen, okay?! Schon seit Stunden habt ihr kein anderes Gesprächsthema als diese bescheuerten Wilderer, und das kotzt mich so langsam tierisch an! Ich bin müde, Mensch!“
 

Charlotte und Raphael wechselten einen kurzen Blick und verdrehten ihre Augen, doch Maxime kehrte seinen Freunden bereits den Rücken zu und zog die Bettdecke hoch.
 

Gerade als Maximes Verstand ins Traumland eintauchen wollte, spürte er einen ziemlich kräftigen Tritt in die Seite. Durch den jähen Angriff rollte fast von der Matratze, konnte sich noch im letzten Moment abfangen und zurück ins Bett drücken.
 

„Hey...-!“
 

„Shht!“, zischte Raphael von hinten und legte seine Hand auf Maximes Mund, der ihn schon eine wüste Schimpfkanonade an den Kopf knallen wollte. „Sei still... Okay, tut mir leid für den Tritt. Aber ich wusste nicht genau, wie weit du weg bist und wie kräftig ich treten muss, damit ich dich erreiche.“
 

Als Antwort knurrte Maxime leise und schnappte im Affekt nach Raphaels Fingern. Der Andere verstand diese Geste sofort. Er wusste, dass die kleine Giftnatter auch keine Probleme damit hatte, um ihn im Notfall sogar die Finger abzubeißen.
 

Langsam zog Raphael seine Hand zurück. Er drückte seinen Kopf in das Kissen und sah Maxime in die Augen. „Hey, ich muss dich etwas fragen. Also, neuerdings gibt es in der Schule so seltsame Gerüchte...“ Der Blondhaarige wendete grummelnd seinen Blick ab und fixierte einen offenbar sehr interessanten Punkt an der Wand. „Ich... habe gehört, dass du was mit diesem Opfer aus der achten Klasse hast. Stimmt das?“
 

„Was... was für ein Opfer?“, fragte Maxime misstrauisch. Doch tief in seinem Inneren wusste er bereits, dass es eigentlich nur eine Person gab, die Raphael mit „Opfer“ meinen konnte. Unwillkürlich schoss ihm das kochend heiße Blut ins Gesicht und seine Wangen begangen vor lauter Scham zu glühen „Redest du von... dem kleinen Blonden? Ähm, der Junge... der letztens von Jaromir und Sebastian in die Mangel genommen wurde?“
 

„Ja, genau der. Die Leute aus der Oberstufe erzählen sich seit einigen Tagen, dass ihr angeblich zusammen seid und in der Schule rum macht. Aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Das passt doch nicht, verdammt. Du stehst nicht auf diese Sorte von Typen. Du magst taffe Männer, die dir zeigen, wo es lang geht und keine mädchenhaften Heulsusen, die du verhätscheln musst. Was... was ist an diesen seltsamen Gerüchten dran, Maxime?! So langsam macht mich das Gerede von den ganzen Leuten irre! Ich will jetzt wissen was wahr ist!“
 

„Das stimmt nicht, nein.“
 

„Was, nein?“, hakte Raphael skeptisch nach. „Auf was für Männer du stehst, oder ob die Gerüchte wahr sind?“
 

„Dass ich was mit Marcel habe! Das ist nicht wahr!“ Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum, dann drückte Maxime die Faust auf seinen Mund und schluckte lautstark. „Tzz, als ob der freiwillig mit mir abhängen würde. Diese doofe Nuss... Er will noch nicht mal mit mir sprechen.“
 

Raphael seufzte und fuhr sich durch die langen, blonden Haare. „Aha, Marcel heißt er also. Na, das ist aber ein überraschend männlicher Name, für so einen schnuckeligen Jungen wie ihn. Nett anzusehen ist er ja wirklich. Also mein Geschmack ist er nicht, aber wer weiß, wie er sich noch in der Pubertät entwickelt. Wie alt ist er noch mal?“
 

„Hey, vergiss es! Ich weiß doch, was dir für Gedanken durch den Kopf gehen. Ich habe ihn zuerst gesehen, hast du das verstanden?“, zischte Maxime gereizt. „Und wenn hier einer einen Anspruch auf Marcel erheben darf, dann bin dass ich! Du hast mir schon oft genug die Kerle vor der Nase weggeschnappt. Diesmal machst du das nicht. Diesmal wirst du schön brav deine Finger bei dir halten und mir bei der Arbeit zusehen.“
 

„Whao, ganz ruhig, Kleiner. Ich wollte dir schon nicht dein Betthäschen ausspannen.“
 

Lachend schüttelte Raphael seinen Kopf und boxte Maxime freundschaftlich gegen den Oberarm. Seine Augen funkelten und es war ihm anzusehen, dass er den Rosahaarigen mit seiner Aussage über Marcel nur ärgern wollte. Sie waren doch beste Freunde. In Wahrheit würde er seine Finger niemals nach einem Mann ausstrecken, den Maxime mochte. So was machte man als bester Freund einfach nicht! Das war ein ungeschriebenes Gesetz!
 

Der nächste Morgen kam schneller als erwartet.
 

Maxime versteckte sein Gesicht in Raphaels Halsbeuge und kniff die Augen zusammen. Gestern Nacht hatte ihn Raphael nach dem mehr oder weniger ernsten „Streit“, einfach in die Arme genommen, und in dieser Position waren sie dann später auch eingeschlafen. Bei diesen Gedanken begann sein Herz wie wild zurasen; so einen engen Kontakt zu Raphael war für Maxime wie pures Gift. Er konnte sich einfach nicht von seinen alten Gefühlen befreien. Ein kleiner Teil von ihm war immer noch in Raphael verliebt und dieser Teil, wurde in solchen Situationen leider immer wieder aktiv.
 

Gähnend rollte sich Maxime auf den Rücken und legte seinen Kopf in den Nacken.
 

Das hellhäutige Gesicht seines besten Freundes sah selbst am Morgen ohne Schminke oder jegliche Kosmetikprodukte, wahnsinnig attraktiv aus. Die langen, hellblonden Haare flossen einem Schleier gleich über das große Kopfkissen und verdeckten seine geschlossenen Augenlider zum Teil. Die schwarzen Wimpern des schönen Jungen waren so dick und lang, dass sie besser zu einer Frau gepasst hätten, anstatt zu einem Mann wie ihm.
 

Die Luft anhaltend streckte Maxime seine Hand aus und legte sie auf Raphaels Wange. Er war verblüfft, wie weich sich seine Haut doch anfühlte - da konnten sogar die Mädchen aus dem Fernsehen einpacken, die immer für irgendeine besondere Creme oder Salbe warben.
 

Noch während Maxime in seinen Träumereien gefangen war, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus, dass hier etwas nicht stimmte. Fast körperlich spürte er die Spannung, die von jetzt auf gleich auf einmal in der Luft lag. Irritiert drehte Maxime seinen Kopf - und blickte in das grinsende Gesicht seiner brünetten Freundin, Charlotte.
 

„Guten Morgen. Ihr gebt da unten aber ein niedliches Pärchen ab.“ Das lächelnde Mädchen beugte sich neugierig über die Bettkante und grinste noch ein Stückchen breiter. Anscheinend war sie schon länger wach gewesen. Charlotte musste Maxime also die ganze Zeit heimlich beobachtet haben! „ Hey, ihr habt doch nichts Unanständiges gemacht, während ich hier in aller Ruhe geschlafen habe, oder?!“
 

„Wer weiß.“ Schnurrend machte Maxime seinen Rücken gerade, vergrub die Finger in der Matratze und zog sich mit einem energischen Ruck nach oben, auf ihr Bett. Charlotte wollte schon einen erschrocken Laut ausstoßen, aber Maxime war schneller und legte ihr rasch die Hand auf den Mund. „Sei still! Oder willst du, dass Raphael aufwacht und uns stört?“
 

Charlotte hielt die Luft an. Augenblicklich wurde sie ruhig und schaute mit einem ängstlichen Blick in azurblaue Augen. „W...was s-soll das... wer-werden?“
 

„Praktisches Lernen...“
 

*xXx*
 

Auf Frau Kirschbaums Idee hin, verbrachten die 3 Freunde und Charlottes jüngerer Bruder ihren restlichen Tag in Hamburg und klapperten sämtliche Geschäfte der Einkaufsmeile ab. Tamino Kirschbaum schlug sich wacker, aber Charlotte selbst wollte schon die Flinte ins Korn werfen, als Raphael den dritten Schuhladen infolge anvisierte und auch Maxime keine Anstalten machte, Einspruch zu erheben.
 

Am Nachmittag hatten sich die Wege der Kinder schließlich getrennt. Charlotte wollte mit ihren Bruder in den uralten Stadtpark gehen und sich die alten Bäume anschauen, Raphael musste für seine Katze neues Futter kaufen, und Maxime nutze die Gelegenheit, um sein ehemaliges Heim zu besuchen.
 

Die Erzieher und Pädagogen freuten sich wahnsinnig über den spontanen Besuch ihres Schützlings. Die nächsten Stunden musste Maxime ein Kreuzfeuer aus Fragen über sich ergehen lassen, und allerhand Dinge über das Leben im Mehrfamilienhaus erzählen. Dabei verschwieg er ihnen aber bewusst die Schwierigkeiten, die er mit seinen beiden Mitbewohnern hatte.
 

Es war schon weit nach 21 Uhr, als Maxime die Eingangstüren des Jugendheims hinter sich zu zog und auf die Straße trat. Tief atmete er aus. Jetzt hatte er es nach langen hin und her endlich nach draußen geschafft. So gerne er die Leute aus dem Heim auch möchte - sie konnten ihn einfach nicht gehen lassen!
 

Maxime zog den Reißverschluss seiner Jacken nach oben. Brrr, inzwischen war es auf der Straße ziemlich frisch und windig geworden. Seine Füße trugen ihn in die Innenstadt, wo es einen direkten Anschluss zur Deutschen Bahn gab.
 

Aber soweit sollte er es gar nicht schaffen...
 

Nach zehn Minuten hielt Maxime vor einer Gasse an und legte seinen Kopf auf die Seite. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Hier draußen stank es seltsamerweise überall nach Schwefel und Rauch...

Grillte hier draußen jemand?

Zur gleichen Zeit keimte aber auch noch ein anderer Verdacht in ihm auf: Da war doch wohl hoffentlich nicht der Brandstifter am Werk, der letztens die Grundschule angezündet hatte...!
 

Maxime stand vor der düsteren Straßengasse und spürte mit Schrecken, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Langsam, und nicht sicher, ob er das wirklich wollte, betrat er die Gasse und tastete gleichzeitig in seiner Hosentasche nach seinem Pfefferspray. In solchen Situationen war er froh darüber, dass er auf Raphael gehört hatte und sich auf sein Anraten hin ein solches Spray zulegte.
 

Der Weg war lang und düster, nach einigen Minuten nahm der Schwefelgeruch zu und Maxime musste sich vor lauter Gestank sein T-Shirt über den Mund ziehen. Etwa 100 Meter weiter, bemerkte er ein warmes Flackern an den gegenüberliegenden Hauswänden.
 

Maxime hielt den Atem an und verharrte in seiner Position. Dann drückte er sich mit den Rücken an die kühle Mauer. Dass, was er hier tat, war dämlich. Und gefährlich. Aber bevor er die Polizei angerufen hatte, könnte der Brandstifter schon längst über alle Berge sein und mit ihm, alle Beweise...!
 

Vorsichtig schob Maxime seinen Kopf um die Ecke und lugte in eine geräumige Sackgasse. In der Mitte brannte ein großes Feuer, das sich hell und warm in den Himmel fraß. Die Flammen leuchteten in allen Rottönen dieser Welt - aber das Feuer befand sich nicht wie ein gewöhnliches Lagerfeuer auf dem Boden, sondern in einem großen Metallgefäß, welches kaum Qualm und Rauch in die Luft entließ.
 

Maxime kauerte sich zusammen und versuchte irgendwo den Brandstifter ausfindig zu machen. Doch nirgendwo konnte er ihn entdecken. Die Sackgasse war bis auf das Feuer, absolut leer. Maximes erster Gedanke war natürlich hin laufen und löschen, aber dann durchriss ein grässliches, gurgelndes und tiefes Knurren die Stille.
 

Im nächsten Moment ertönte ein heftiger Schlag von der Seite und Maxime wäre fast in Ohnmacht gefallen. Als er mit zitterten Knien zurück in die Gasse schaute, erkannte er eine hagere Gestalt am Feuer stehen. Die halblangen, schneeweißen Haare, die der Gestalt in die roten Augen fielen, erkannte Maxime sogar in dem hellen Schein der Flammen. Ganz zu schweigen, von dieser grauen und kränklich wirkenden Hautfarbe...!
 

Das war der Kerl aus dem Bücherladen!
 

Von seinem Versteck aus beobachtete Maxime, wie der Albino zwei braune, vollgepackte Leinensäcke in den Händen trug und sie schnaubend vor der Feuerstelle abstellte. Den Atem anhaltend, ging der Rosahaarige in die Hocke und presste sich noch näher an die Wand. Was war hier los? Was hatte der Albino in den Säcken versteckt?
 

Plötzlich brachte ein zweiter Schlag die Luft zum Vibrieren und der weißhaarige Junge drehte seinen Kopf nach hinten. Er machte einen Schritt zur Seite und eine weitere Person kam aus dem hinteren Teil der Sackgasse gelaufen, welchen Maxime von seiner Position aus nicht erkennen konnte.
 

„Warum veranstaltest du so einen Krach? Möchtest du, dass wir entdeckt werden?“
 

„Quatsch nicht! Sieh zu, dass du endlich die Säcke in die Flammen schmeißt. Wir haben hier nicht ewig Zeit!“, erwiderte der fremde Junge in einem gereizten Tonfall und warf dem Albino einen funkelnden Blick zu.
 

Maxime hatte das kurze Gespräch der beiden Männer belauscht. Nun saß er zitternd da, klammerte sich mit einer Hand an der Mauer fest und drückte die andere auf seinen Mund. Es war nicht die Unterhaltung, die ihn verängstigt hatte, sondern das Gesicht des jungen Mannes. Das Gesicht war blass, etwas kantig, absolut symmetrisch geschnitten und unglaublich attraktiv. Und das Wichtigste; Maxime kannte es! Vor einigen Tagen hatte er es auf Facebook gesehen.
 

Das war Kileys Bruder, Daimon Sandojé.
 

Jetzt rauschten die Gedanken wie wild durch seinen Kopf und Maxime presste den Kiefer zusammen. Was ging hier bloß vor?! Und was hatte Daimon mit diesen weißhaarigen Jungen aus dem Bücherladen zu tun?
 

Wie schon auf dem Foto wirkte Daimon auch in natura alles andere als freundlich und zuvorkommend: Es besaß die gleiche arrogante Aura wie sein Bruder und Daimon war sogar noch größer und kräftiger gebaut wie Kiley. Wo Maxime auch hinsah; nirgendwo hatte der rothaarige Junge ein Gramm Fett zu viel auf den Rippen, dafür strotze sein Körper nur so vor Kraft und Muskelmaße. Schon alleine seine Handgelenke waren so dick wie Maximes Oberschenkel!
 

Der Albino zuckte in diesem Moment seine Schultern. „Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Daimon. Ich habe mir diese Gegend schon ganz bewusst ausgesucht. Hier an dieser Gasse kommt am Abend kaum jemand vorbei, also wird uns hier draußen niemand finden... Beruhige dich mal.“
 

„Ich und mich beruhigen?! Du bist ja witzig, Avalon!“ Daimons Reaktion auf Avalons gute gemeinte Worte, war ein böses Lachen aus beißendem Spott. „Darf ich dich daran erinnern, dass ICH derjenige bin, der DIR gerade aus der Patsche hilft? Aber wenn du so überzeugt von der Sache bist, kann ich auch wieder nachhause gehen und meine Zeit für wichtigere Dinge nutzen... Zum Beispiel trainieren. Oder zocken.“
 

Avalon sah den stämmigen Jungen scharf an, verkniff sich aber jeglichen Kommentar zu dieser undankbaren Aussage. Stattdessen packte er die braunen Säcke am Bund und warf sie wie befohlen in die leuchtenden Flammen. Es dauerte noch einen kurzen Augenblick, bis er das aufkeimende Gefühl in seinem Magen richtig gedeutet hatte und dann riss Avalon seinen Kopf in den Nacken und brach ganz unvermittelt in ein schallendes Gelächter aus.
 

„Hahaha! Trainieren? Wie langweilig! Ach, ich bereue es schon jetzt, dass ich dir von dieser Sache erzählt habe. Ich hätte noch so viele schöne Dinge mit diesen Männern anstellen können. Aber nein, du musst ja immer mehr wie Kim und der Alte werden und alles aufgeben, was irgendwie Spaß macht.“
 

Daimon wirkte nicht sehr begeistert von Avalons plötzlichem Stimmungswandel. Mürrisch rutschten seine Mundwinkel nach unten und er stopfte die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans. „Oh, natürlich. Leichenschändung ist ja auch so ein tolles Hobby...“
 

„Besser das, als Zocken. Ich vertreibe mir meine Zeit immerhin mit sinnvollen Dingen!“
 

„Sinnvoll? Gewichte heben und Liegestütze machen ist sinnvoll!“
 

„Warum willst du Gewichte heben? Du siehst doch sowieso schon aus wie ein Bodybuilder! Junge, wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der eine Hantel heiraten würde, dann bist du das!“

Avalon drehte eine Runde um das Feuer und betrachtete die brennenden Leinensäcke mit kritischen Augen. Danach ging er zurück, schob seine Hand unter Daimons Arm hindurch und schaute nach oben, da der grimmige Rotschopf fast 10 Zentimeter größer war wie er.
 

„So... das waren die letzten zwei Säcke, mein Guter. Mensch, so toll war die Verbrennung jetzt auch nicht! Irgendwie habe ich mir das viel spannender vorgestellt. Früher, in der Zeit der Hexenverfolgungen, war so ein Auftakt noch ein Erlebnis der Extraklasse. Und heute? Ach, im modernen Zeitalter ist alles so schnelllebig und unwirklich. Findest du nicht auch? “
 

Daimon verdreht seine grünen Augen und schüttelte Avalons Hand ab. „Du hast einen Knall, Kleiner! Wann kommst du endlich im Zwanzigsten Jahrhundert an, und vergisst die Vergangenheit?

Mann, keiner Wunder das dich Kim und Jerry immer, wie einen Aussätzigen behandeln... Die denken doch, dass du eine Schraube locker hast.“
 

Der Rothaarige schnipste einen Zigarettenfilter in die Flammen und ließ seinen Blick noch einen Moment auf den Flammen ruhen. Es hasste es, wenn ihn jemand nervte. Es hasste es, wenn jemand seine Hilfe verlangte, ohne hinterher Danke zu sagen. „Wenn die Säcke verbrannt sind, können wieder gehen. Und Avalon? Hoffentlich war dir das heute eine Lehre und du passt das nächste Mal besser auf, bevor du wieder so etwas Dummes anstellst. Wir haben wirklich Glück, dass du nicht beobachtet wurdest, und die Polizei im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt ist. Das nächste Mal könnte es anders ablaufen. Außerdem wird Jeremy dann Ausflippen und dich aus dem Haus werfen.“
 

Plötzlich spürte Daimon, wie sich ein dünner Arm um seine Taille legte. Als er den Kopf senkte, blickte er direkt in das blasse Gesicht des weißhaarigen Jungen, der ihn mit warmen, aber verstörten und wahnsinnigen rot leuchtenden Augen ansah. „Jeremy wird mich nicht raus werfen. Dafür ist der viel zu weich und sanftmütig. Aber es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen machst. Danke Daimon.“
 

Diesmal ließ Daimon die Umarmung zu. Jetzt, wo Avalon so nah bei ihm stand, wurde ihm mal wieder bewusst wie schwach und gebrechlich dieser doch war. „Lass uns nachhause gehen. Wenn wir zu lange weg bleiben, machen sich die Anderen Gedanken und stellen nachher wieder dumme Fragen...“
 

„Okay, und danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich sicher blöd aus der Wäsche geguckt.“
 

„Ja, ja, ist schon gut. Dafür ist eine Familie eben da.“
 

Avalon lächelte auf eine merkwürdige Art und Weise, die man in diesem Fall nur als wissend bezeichnen konnte. Dann wandte er sich mit Daimon im Arm nach rechts und entfernte sich mit zielstrebigen Schritten von der Feuerstelle.
 

Auch nachdem die Geräusche ihrer Absätze schon lange verstummt waren, stand Maxime immer noch zusammengekauert da. Die eine Hand lag nach wie vor auf seinen Mund und mit der Anderen suchte er die Mauer nach einer Stelle ab, wo sich festklammern konnte. Fassungslos von dem Gehörten konnte er sich nicht bewegen. Maxime rieb sich die Augen und wünschte, dass sie sich getäuscht hatten.
 

Das, was er hier gerade beobachtete hatte, war kein gewöhnliches Verbrechen...
 

Wenn Maxime Avalons und Daimons Unterhaltung richtig verstanden hatte, war von >Männern< und, >Leichenschändung< die Rede gewesen. Und wenn sich diese Gedanken in seinem Kopf zu einem Bild zusammenfügten, dann waren Daimon und Avalon nicht nur sehr wahrscheinlich die gesuchten Brandstifter, sondern auch...

Er wagte es nicht diesen Gedanken zu Ende zu spinnen, aber falls sich sein ein Verdacht in der Zukunft bestätigte, dann waren diese beiden Jungen gefährlich. Sehr gefährlich sogar. Sie waren keine gewöhnlichen Straftäter, die sich in dieser Gasse einen üblen Scherz erlaubt hatten, sondern eine wirkliche Bedrohung für Bergedorfs Bewohner... Die beiden Jungen waren gewissenlose Mörder.
 

Der rosahaarige Junge, der sonst auch auf dem Hinterkopf und den Fußsohlen Augen zu haben schien, bemerkte nicht, wie jemand am Fuße der Gasse stand und ihn beobachtete. Wütend ballte dieser Jemand seine Hände zu Fäusten zusammen. Noch in der gleichen Sekunde fasse er einen Entschluss; Er würde diesen Jungen die kommenden Tage unter die Lupe nehmen!
 

So ein nerviger Bengel durfte seinen Liebsten nicht auf die Schliche kommen. Es wäre nicht auszudenken, was das Familienoberhaupt für einen Schrecken erlitt, wenn er erfuhr, dass jemand ihr Geheimnis lüften könnte...!
 

Nein! Soweit durfte es unter gar keinen Umständen kommen.

Er musste seine Familie beschützen. Und wenn es erforderlich war, dann würde er diesen rosahaarigen Gnom genauso in die Flammen werfen, wie es wenigen Minuten zuvor der kleine Albino mit den Leinensäcken getan hatte!
 

*xXx*
 

Maxime sprang leichtfüßig über die Kieselsteine am Boden hinweg, die ihn zu dem großen, weißen Haus am Ende des Weges führten. Er keuchte und stöhnte – die ganze Strecke, vom Bahnhof bis hier her, war er ohne Pause gerannt.
 

Erschöpft blieb er vor der Eingangstüre stehen und lehnte seine Stirn für wenige Sekunden gegen das angenehm kühle Material. Maxime fühlte sich schwindelig und etwas benommen. Er konnte immer noch nicht begreifen, was er in der Gasse gesehen hatte.
 

Die Angst schnürte ihm bei jedem Atemzug die Kehle ein bisschen mehr zu. Die Situation war so erschreckend und surreal, dass Maxime keine Entscheidung treffen konnte. Was sollte er jetzt machen? Was konnte er mit diesem Halbwissen nur anfangen?

Natürlich konnte er auf dem direkten Wege zur Polizei marschieren und dort das Gesehene melden, aber würden ihm die Beamten überhaupt glauben? Wahrscheinlich nicht.
 

Mit hängendem Kopf betrat Maxime das Mehrfamilienhaus. Wie immer schlug ihm lauwarme Luft und der Geruch von Holzleim entgegen – doch diesmal lag auch noch etwas in der Luft... Es roch komischerweise nach Essen!
 

Schnell streifte er zog er seine Schuhe aus und hastete in die Küche. Auf dem ersten Blick sah alles normal aus, doch dann fiel Maximes Blick auf den Essenstisch, und dort sah er dann die Katastrophe; Scarlett saß mit leeren Augen am Tisch und starrte auf etwas, was große Ähnlichkeit mit kleinen, verbrannten Autoreifen hatte.
 

„Was... was soll das sein?“, fragte Maxime schockiert und ging zum Küchentisch. Für den Moment verblüffte ihn der Anblick so sehr, dass er sogar seine Panik wegen Daimon Sandojé´und Avalon vergaß.
 

Trotzig schob Scarlett ihre Unterlippe nach vorne. „Siehst du das nicht? Ich wollte Abendessen machen. In dem Rezept stand, dass das Pfannkuchen werden sollten, aber was daraus geworden ist, kann ich dir nicht sagen. Nach Pfannkuchen sieht das hier jedenfalls nicht aus.“
 

„Das sehe ich auch...“, murmelte Maxime nachdenklich. Er nahm einen der >Pfannkuchen< in die Hand und hielt ihn in die Luft. Langsam beugte er sich nach vorne und schnupperte an dem Höllenteil – ein böser Fehler! Sofort wich Maxime nach hinten und warf das Ding im hohen Bogen zurück auf den Teller. „Pfui Teufel! Das riecht ja nach Kohle! Wie kann man nur so dumm sein und ein einfaches Rezept wie Pfannkuchen vergeigen?!“
 

„Weiß ich nicht! Das ist das erste Mal, dass ich so etwas gemacht habe!“
 

Wütend stand Scarlett auf, schnappte sich den Teller und beförderte die verbrannten Teigwaren in den Mülleimer. Danach kam sie wie ein geschlagener Hund zurück geschlichen.„ Du warst heute nicht Zuhause, keiner wusste wann du zurückkommst. Yuki und ich hatten Hunger als wir von der Schule kamen... Darum habe ich im Internet nach einem einfachen Rezept gesucht und das hier gefunden... Auch wenn ich alles gemacht habe, wie es auf der Seite stand, hat es nicht geklappt und der Teig ist sofort angebrannt, nachdem ich ihn in die Pfanne gegossen habe.“
 

„Und jetzt habt ihr immer noch Hunger?“, schlussfolgerte Maxime nach einen kurzen Blick in die sonst leere Küche, da Scarlett anscheinend nicht weiter reden wollte.
 

Die Antwort war ein zaghaftes Nicken.
 

„Okay, dann mache ich euch noch was.“
 

„Nein! Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen! Warte! Du musst nicht extra für mich kochen!“
 

„Stell dich nicht so an!“, knurrte Maxime gereizt, während er schon vor dem Kühlschrank stand und ein paar Eier aus dem Seitenfach holte. „Willst du bis morgen früh mit leeren Magen ausharren? Das ist doch ungesund!“
 

Nach diesem Machtwort gab sich Scarlett geschlagen und Maxime zauberte innerhalb 10 Minuten eine Pfanne Rührei mit Tomatenstücken und Mozzarella herbei. Als sie zusammen am Tisch saßen und das späte Abendessen verspeisten, bemerkte Maxime plötzlich einen fragenden Blick auf seinem Gesicht ruhen.
 

„Was ist? Warum guckst du so komisch?“
 

„Du bist ziemlich blass.“ Scarlett hob ihre Augenbrauen und musterte Maxime von den Haarspitzen bis zu den Zehen. „Ist dir schlecht? Oder ist etwas Schlimmes passiert als du weg warst?“
 

Der Junge antwortete nicht. Er war kalkweiß geworden und starrte Scarlett mit weit aufgerissenen Augen an. Manchmal war es doch verwunderlich, wie viel einige Menschen bemerkten, obwohl man an Tag vielleicht nur wenige Minuten mit ihnen redete...
 

„Alles in Ordnung?“, wiederholte Scarlett eindringlich und stupste den Angesprochenen mit der Gabel an. „Komm schon, du bist doch auch schon nicht so still. Was ist los mit dir? Hattest du Ärger, während du unterwegs warst?“
 

Maxime nickte mit gesenktem Blick. Seine Lippen zitterten vor Aufregung. Verdammt, was machte er hier bloß?! Mit einen Schlag waren die ganzen Ängste zu ihm zurückgekehrt und brachen wie eine riesengroße, eisige Welle über ihn zusammen.
 

„Ich... ich habe etwas gesehen, wo..wovon ich denke, dass es ziemlich gefährlich sein k-kann.“
 

Scarlett legte ihr Besteck weg und stand langsam auf. Dann ließ sie sich neben Maxime auf den Stuhl sinken und sah, wie der rosahaarige Junge das Gesicht in den Händen vergrub. Seine Schultern zuckten, und Scarlett war sich ziemlich sicher, dass er weinte. Maxime wirkte wie ein Häufchen Elend... wie ein kleines, schutzloses Katzenbaby, dass sie beschützen müsste. So plötzlich, wie Scarletts Wut gekommen war, war sie jetzt wieder verraucht. Maxime tat ihr nur noch leid und sie konnte nicht anders, als ihn in ihre Arme zu schließen.
 

„Shht, ist schon gut. Du brauchst keine Angst haben“, flüsterte Scarlett sanft. „Ich bin bei dir, und hier kann dir nichts passieren. Alles, was gefährlich ist, wird keinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen ohne an mir vorbei zu kommen...“ Sie zögerte noch einen Moment, dann sagte sie: „Ich weiß jetzt aber immer noch nicht was du erlebt hast. Was ist in Hamburg passiert?“
 

Maxime drehte das Taschentuch zwischen seinen Fingern zu einem Knoten und schaute zu Boden. „So genau weiß ich das selbst nicht“ sagte er leise und seufzte. Jetzt war es sowieso schon zu spät. Nun konnte er Scarlett von Daimon und Avalon erzählen, ohne Angst zu haben, dass sie ihn wegen seiner Panik auslachte.
 

Als Maxime ihr die Geschichte zu Ende erzählt hatte, war auch Scarlett sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Sie öffnete den Mund für ein paar Sekunden, wollte etwas sagen, doch dann schloss sie ihn wieder. Dieses Spiel wiederholte sich ein paar Mal, bis die Goldhaarige irgendwann den Kopf schüttelte. „Wie sahen... diese Männer aus?“, fragte sie schließlich leise und irgendwie unpassend an dieser Stelle. „Sahen sie anders aus als gewöhnlich? Ich meine, anders als die Menschen die du sonst kennst?“
 

„Was? Was ist denn das für eine blöde Frage?“
 

„Antworte mir einfach!“
 

Verwirrt blinzelte Maxime die Tränen fort, doch Scarlett schien ihre Worte absolut ernst zu meinen.

Plötzlich war ein seltsamer Zug auf ihrem schönen Gesicht erschienen, welchen er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Scarletts Augen wirkten wie pinke Taschenlappen in der Dunkelheit und ihr roter Mund war zu einer geraden, strengen Linie verzogen.
 

„Bist du taub?“, fauchte das Mädchen plötzlich energisch und ihre blonden Haare schossen vor Wut elektrische Funken in die Luft. „Waren die Kerle menschlich oder nicht?!“
 

„Natürlich waren sie menschlich! Affen sehen anders aus!“, spie Maxime grollend zurück. „Ich weiß nicht genau wo dein Problem liegt, aber dir brennen gerade ein bisschen die Sicherungen durch! Mensch Scarlett, bis gerade habe ich gedacht dass du eigentlich doch ganz nett sein kannst!“
 

Tränen des Zorns schwammen in ihren Augen, als Maxime ausholte und Scarlett wie einen lässigen Käfer von sich weg stieß. Taumelnd verlor sie das Gleichgewicht und landete mit einen lauten Schlag auf den weiß gekachelten Fliesenboden, ehe ihr ein gequältes Keuchen über die Lippen rollte.
 

Maxime stöhnte angespannt auf. Adrenalin schoss wie verrückt vor Wut durch seine Adern. Für einen Moment bewegte er sich nicht, anstatt seiner Mitbewohnerin zu Hilfe zu eilen und überlegte schon, ob er sie einfach dort unten sitzen lassen sollte. Aber nein, so ein Arschloch war er nicht...
 

Er erbarmte sich mit einem Seufzen und reichte dem Mädchen seine Hand. „Tut mir leid, ich wollte nicht dass du dich hinlegst...“
 

Fauchend schlug Scarlett die angebotene Hand weg und rappelte sich ohne seine Hilfe wieder auf die Beine. So schmerzhaft der Sturz auf den Boden war, so schmerzhaft wurde ihr auch wieder bewusst, wie verrückt sich ihre Worte doch in Maximes Ohren anhören mussten...!
 

„Maxime?“, flüsterte sie verschwörerisch und griff nach seinen Händen. „Es... tut mir leid... ich glaube wirklich dass mir eine Sicherung durchgebrannt ist. Die verkohlten Pfannkuchen haben wohl doch einen bleiben Schaden hinterlassen.“ Scarlett lächelte wie die Sphinx. „Entschuldige, wenn ich dich mit meiner Vorliebe für paranormale Aktivitäten verängstigt habe. Sobald ich irgendetwas in diese Richtung höre, kann ich meinen Eifer nicht mehr zügeln...“
 

Maxime nickte flüchtig. Falls man ihn fragte, ob er Scarlett und ihrer absurd klingenden Erklärung glaubte, dann würde er mit einen klaren >Nein< antworten. Aber niemand fragte ihn, also lächelte er milde und verfluchte die Blondine in seinen Gedanken für dieses Lügenmärchen.
 

Sie waren gerade dabei das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, als die beiden ein eigenartiges Leuchten aus dem Augenwinkel bemerkten. Kurz darauf ertönte von draußen ein polternder, dumpfer Schlag. In dieser Sekunde reagierten die beiden Teenager wie ein eingespieltes Team; schnell setzte Maxime den letzten Teller ab, Scarlett schaltete das Licht aus und beiden huschten wie lautlose Schatten zum regennassen Küchenfenster.
 

„Hast du das auch gesehen? Da draußen hat etwas geleuchtet. Vielleicht ein Einbrecher? Einen Bewegungsmelder haben wir nämlich nicht.“, stieß Scarlett flüsternd hervor. Geräuschlos kniete sie sich vor der Glasscheibe auf den Boden, und schob die Ritzen der Jalousien mit den Fingerspitzen etwas weiter aus einander.
 

Die Dunkelheit vor dem Haus war allumfassend. Sie beherrschte ihre Gedanken und umhüllte ihre Herzen wie eine schwarze Decke, gesponnen, aus kalter Angst.
 

„Ja.“, hauchte Maxime zurück. „Und das Poltern klang auch nicht wie ein Auto, das über einen Gullydeckel gefahren ist. Das war etwas anders...“
 

Angespannt hielten beide Kinder die Luft an und drängten sich unbewusst näher aneinander. Normalerweise musste man sich in Bergedorf nicht vor Einbrechern fürchten, aber irgendwann kam bekanntlich immer das erste Mal.
 

Und dann sah Maxime plötzlich den Schatten. Eine fremde Person stand auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig und starrte mit erhobenem Haupt zu ihrem Haus hinüber. Dass sie mittlerweile bis auf die Knochen durchnässt war, schien sie nicht einmal zu bemerken. Reglos stand die Person da, die Arme um die Brust geschlungen, als wollte er etwas in seinem Inneren vor ihren Augen verstecken. Das Gesicht der Person lag fast komplett in der Dunkelheit verborgen. Nur die schmale und blasse Mundpartie wurde von den Schein der Straßenlaternen beleuchtet.
 

Ich glaube ich sehe Gespenster. Ich muss die Polizei rufen!, schoss es Maxime wie ein Befehl durch den Kopf. Aber er blieb sitzen wo er war. Als hätte ihn die dunkel gekleidete Person in einen Bann gezogen, starrte er weiter nach draußen in die Nacht und konnte sich nicht von seinen Anblick losreißen.
 

Dann machte der Fremde auf einmal eine rasche Handbewegung. Plötzlich erschien ein blaues, kaltes Licht an der Stelle, wo sein Zeigefinger und Mittelfinger endeten und blieb in der Luft schweben. Das kleine, blasse Leuchten war vielleicht schwach und gebrechlich, aber trotzdem waren sich die Kinder einig; noch nie hatten sie so etwas Faszinierenderes gesehen wie dieses sonderbare Licht!
 

„Ich habe ein ungutes Gefühl....“, verfasste Scarlett Maximes Gedanken, verstummte jedoch sofort wieder. Sie presste ihre roten Lippen auf einander und starrte den Fremden feindselig in das halb vermummte Gesicht. „... ich hasse es beobachtet zu werden.“
 

Plötzlich begann das blaue Licht in der Hand des Mannes zu flackern. Es ging aus und wieder an. Einmal, zwei, dreimal... wie ein Teelicht im Wind, das verzweifelt um sein Überleben kämpfte. Doch Scarlett wurde bei dem Anblick so blass wie eine Wand, da sie es besser wusste. Das war eine Drohung!
 

Beunruhigt griff sie nach Maximes Hand und zog den rosahaarigen Jungen vom Fernster weg. Ihr schönes, herzförmiges Gesicht sah plötzlich so ernst und kalt aus, dass es Maxime für einen Augenblick glatt die Sprache verschlug. „Ich gehe nach oben zu Yukiko.“, zischelte Scarlett kühl. „Bleib du hier unten und beweg dich nicht. Ich werde etwas unternehmen und diese Person von unserem Grundstück vertreiben. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Das ist doch lachhaft! Ich kann es nicht zulassen, dass jemand meine Mitmenschen mit solch primitiven Mitteln bedroht! Das reicht!“
 

Bevor Maxime fragen konnte, was das um alles in der Welt für eine Gestalt war, die da draußen im Regen stand, war seine Mitbewohnerin auch schon die Treppe nach Oben hochgestiegen. Nicht einmal umgedreht hatte sie sich! Zurück blieb nur ein verwirrter und verdatterter Maxime.

Von der 1. Etage erklang das Geräusch einer zuschlagenden Zimmertüre und dann herrschte wieder gespenstische Stille im Haus. Die meisten Leute würden sich in dieser Situation ihre Taschenlampe schnappen und unter die Bettdecke kriechen, aber da Maxime nun mal der einzige Mann in diesem Haushalt war, hatte er die ehrenvolle Aufgabe seine weiblichen Kollegen zu beschützen...
 

Langsam schlich er zum Fenster zurück und spähte auf die Straße nach draußen.

Der Regen prasselte immer noch laut und unablässig gegen die Glasscheibe, doch der Mann war nicht mehr zusehen...
 

War es der Gestalt also zu blöd geworden im Regen zustehen? War sie deshalb frühzeitig abgehauen?
 

Hoffentlich. Und hoffentlich hatte sie nicht die kaputte Hintertüre an der Seite des Mehrfamilienhauses entdeckt, welche man mit einem gezielten Schlag oder Tritt leicht öffnen konnte. Ängstlich zuckte Maxime bei diesen Gedanken zusammen. Bei seinem Glück würde ihn diese Tatsache noch nicht mal wundern!
 

Mit fahrigen Fingern tastete Maxime in der Hosentasche nach seinem Handy. Wie gerne würde er jetzt Raphael anrufen und ihn hierher bestellen! Diesen Druck hielt er nicht länger aus. Wenn die düstere Gestalt wirklich in das Haus eingedrungen war, konnte er sich tausend schönere Dinge vorstellen, als mit ihm alleine zu sein...!
 

Später am Abend lag Maxime noch lange wach. Unruhig wälzte er sich von links nach rechts, und wieder von rechts nach links. Er wusste nicht mehr ein, noch aus.
 

Neben seiner Hand lag sein Handy auf der Matratze. Das Display war so schwarz wie das Zimmer und Maxime spielte schon die ganze Zeit mit den Gedanken, Raphael anzurufen.

Jetzt, wo er langsam zur Ruhe kam und die Erinnerungen an der Gestalt vor dem Haus von seiner Müdigkeit vertrieben wurden, drängten sich schon wieder die beiden Männer aus der Gasse in seine Gedanken.
 

Sein Gewissen lastete mit jeder verstrichenen Sekunde immer schwerer auf seinen Schultern. Bei irgendjemanden musste er sich doch ausheulen, da war Raphael nun mal die beste Option. In den vergangen drei Jahren waren die Freunde durch dick und dünn gegangen. Raphael hatte ihn schon weinen, kotzen und schreien gesehen. Er wusste immer, wie es ihm ging.
 

...Daimon und Avalon, diese verdammten Dreckskerle! Sie raubten ihm seinen gottgelobten Schlaf!...
 

Zögerlich tippte Maxime Raphaels Namen an und schielte in der gleichen Bewegung auf seinen Wecker. 0.15 Uhr. Okay, dafür würde ihn der Blondhaarige morgen in der Schule umbringen, aber das war ihm das Risiko wert...
 

Nach 10 Sekunden ertönte plötzlich eine raue Stimme aus dem Handy und Maxime spürte, wie langsam die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. „Hey Raphael.“, murmelte er leise. „Kannst du auch nicht schlafen?“
 

„Ähm, ja und nein. Bis gerade eben habe ich geschlafen und jetzt nicht mehr“, antwortete Raphael gedehnt und atmete laut aus. „Warum rufst du so spät an, Prinzessin? Hast du Sehnsucht nach deinem Prinzen?“
 

Grinsend drückte Maxime sein Gesicht in das Kopfkissen und betrachtete das Anzeigebild seines besten Freundes, was immer erschien, sobald er ihn oder einen anderen Freund anrief. „Ehrlich gesagt ja...“, gestand er errötend. „Sorry, dass ich dich geweckt habe. Mir war nur nach Reden zumute. Soll ich wieder auflegen...?“
 

„Nein, nein, jetzt ist es sowieso schon zu spät, jetzt bin ich einmal wach und kann mir auch dein Gesülze anhören. Was gibt es denn? Worüber möchtest du reden?“
 

„Ich weiß es nicht genau. Hast du schon mal eine Situation erlebt, wo du nicht wusstest was du machen sollst, weil du Angst vor den Konsequenzen hattest?“
 

„Natürlich.“, murmelte Raphael in den Hörer und er machte eine kurze Kunstpause. „Das war das erste Mal, dass ich meine Homosexualität infrage gestellt habe und mit einer Frau ins Bett gegangen bin. Der Morgen danach war der schlimmste Morgen meines Lebens. Ich weiß nicht mehr genau wie ich es lebend aus diesen Raum geschafft habe, nachdem ich ihr gestanden hatte, dass ich nichts für die empfinde sondern nur den Sex wollte, aber das war eine Erfahrung für die Ewigkeit. Oh man, die Perle hätte mich erwürgen können...“
 

„Oh, Raphael. Wieso habe ich dich nur gefragt?! Eigentlich müsste ich doch inzwischen wissen, wie unsensibel du bist!“
 

„Tja, du wolltest du doch eine ehrliche Antwort haben!“, rief Raphael und verfiel in lautes Gelächter. „Wenn du eine verständnisvolle Person brauchst, musst du unsere liebe Charlotte anrufen und nicht mich!“
 

„Ich möchte sie aber nicht stören“, erwiderte Maxime mit nur dem Anflug eines Lächelns.
 

„Ach so, aber bei mir ist dir das egal oder wie?“
 

Maxime nickte grinsend und beendete das Gespräch mit einer flinken Handbewegung.

Kapitel 9: Gefahr in der Dunkelheit

„Ist das wirklich nicht zu kurz? Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich in diesem Outfit ein wenig nackt.“, gestand Charlotte errötend und zupfte an ihrem kurzen, mintgrünen Etuikleid herum.
 

Maxime, welcher auf dem Platz neben ihr saß, lächelte zuckersüß. „Mach dir keine Sorgen, Kleine. Das Kleid steht dir super. Ich bin mir sicher, dass die jungen Männer heute Abend kaum ihre Finger von dir lassen können...“
 

Schlagartig schoss dem braunhaarigen Mädchen das Blut in die Wangen und sie wendete ihren Blick ab, um aus dem Fenster zu schauen. „Ich hasse es aber, wenn ich irgendwo auffalle.“
 

Heute war Samstagabend und wie es für diesen Tag so üblich war, hatten Charlotte, Raphael und Maxime beschlossen, dieses Wochenende NICHT mit Lernen zu vergeuden.
 

Dieses Wochenende wollten sie ihre Zeit noch mal so richtig als Teenager verbringen. Gestern nach der Schule hatten die Freunde den ganzen Tag bei Raphael Zuhause auf der faulen Haut gelegen, Fernsehen geguckt, Spiele gezockt und eine Tiefkühlpizza nach der Nächsten verdrückt. Jetzt waren sie mit dem Bus auf den Weg in die Innenstadt. Und wenn das Glück auf ihrer Seite war, dann könnten sie heute Abend vielleicht noch einen freien Platz in einer der berühmtesten Diskotheken von ganz Hamburg ergattern. Im Nachtclub: Moondoo.
 

Ja, ein Abend in der Disko mit seinen besten Freunden war wirklich eine wunderbare Idee, um den Stress der vergangenen Schultage zu vergessen.
 

Außerdem...
 

Außerdem musste Maxime irgendetwas unternehmen, um diese schrecklichen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Andauernd plagten ihn diese Albträume, aus denen er wie nach einem Marathonlauf schweißgebadet erwachte. Des Nachts konnte er schon gar nicht mehr schlafen. Manchmal hatte Maxime geträumt, dass ihn die Jungen aus der Gasse bemerkt hatten und umbrachten. Ein anderes träumte er von der Polizei, die ihn zuhause abholte, weil er seine Beobachtung nicht meldete...
 

Die ganze letzte Woche hatte sich Maxime wie ein Schwerverbrecher gefühlt. Aus Angst, dass ihn seine Freunde ins Gewissen redeten, hatte er Raphael und Charlotte nichts von Daimon und dem Albino erzählt. Nachher setzten sie ihm noch irgendwelche Flausen in den Kopf, und dann machte er sich noch größere Vorwürfe.
 

Nein, Maxime wollte das Schauspiel aus der Gasse noch eine Weile geheim halten.
 

In so einer Situation durfte er sich keine voreiligen Schlüsse erlauben. Eine Mordanschuldigung war ein schwerer Vorwurf. Bevor Maxime einen weiteren Schritt machte, wollte er absolute Sicherheit haben. Er brauchte noch mehr Beweise um seinen Verdacht zu bestätigen; wenn er Daimon und Avalon als Mörder anzeigte, und sie hinterher unschuldig waren, dann...

Oh oh, daran wollte er lieber nicht denken. Sicher war nur, das Kiley und Daimon Sandojé dann wahrhaftig einen Grund hatten, um jemanden an die Gurgel zu gehen.
 

„Na, seid ihr dahinten auch schon so aufgeregt wie ich?!“, fragte plötzliche eine heitere Stimme von vorne und Raphael lehnte seinen Oberkörper über den Sitz, hinter dem Charlotte und Maxime saßen. „Hey, was zieht ihr beide für lange Gesichter? Lacht doch mal. Das wird heute Abend so richtig lustig, wir werden noch mal voll die Sau raus lassen.“
 

Maxime nickte, Charlotte schüttelte heftig ihren Kopf.
 

„Ich- Ich bin gar nicht nervös!“, stotterte Charlotte und knetete hektisch ihre Fingerknöchel. „O-O-Obwohl... wenn ich jetzt so darüber nach- nachdenke, dann... dann schon! Dieses Kleid... ich bin noch nie in einem so kurzen Kleid Feiern gewesen.“
 

Maxime schmunzelte und tätschelte ihr aufmunternd die Schulter. „Bleib locker. Du kannst ruhig zugeben, dass du nervös bist. Ich glaube dass es uns allen so geht. Das Moondoo ist eine riesige Diskothek und wir waren schon eine ganze Weile nicht mehr auf der Piste.“
 

Um viertel nach Neun hatten die 3 Freunde das Moondoo endlich erreicht. Wie bereits erwartet, stand eine lange Schlange vor der Eingangstüre. Die Gäste warteten schon ungeduldig auf Einlass und wirkten leicht aufgekratzt.
 

Da das Moondoo unter den Jugendlichen so beliebt war, war es natürlich keine Seltenheit, dass sich am Wochenende viele Besucher vor seinen Türen versammelten. Aber leider war die Disko auch nur ein solides Gebäude aus Stein, was sich nicht ausdehnen konnte. Irgendwann im Laufe des Abends war das Haus auch mal voll.
 

Charlotte, Maxime und Raphael hatten jedoch das Glück auf ihrer Seite. Sie und die ganze Schlange, konnten noch in die Disko und die Freunde schafften es sogar, sich einen guten Platz an der Theke zu schnappen.
 

Maxime betrachtete aus seinem Blickwinkel die Männer, die ihn die auf Anhieb gefielen. Mit leuchtenden Augen knuffte er Raphael in die Seite und deutete mit einem kleinen Nicken auf einen jungen Mann, der rechts von ihnen stand und mit seinen Freunden ein Bier trank.
 

„Ist der nicht ein bisschen zu alt für dich?“, zischelte Raphael leise zurück. „Der Kerl ist sicher schon 19 oder 21 Jahre alt! Willst du dir einen Pädophilen anlachen?“
 

Gespielt rollte Maxime die Augen und streckte Raphael die Zunge raus. Trotzdem wollte er noch ein bisschen weiter suchen. Vielleicht würde er hier im Getümmel noch das eine oder andere Schmuckstück finden...
 

Nachdem Maxime noch eine Weile bei seinem besten Freund am Tisch geblieben war, verschwand er in Richtung Tanzfläche. Auf dem Weg dorthin ließ er seine Hüften kreisen, und schon spürte er die ersten gierigen Blicke der anderen Gäste auf seinen Körper ruhen. Ein Grinsen huschte über Maximes Gesicht. Aha! Sehr schön! Das rote Cocktailkleid zeigte also seine Wirkung bei dem männlichen Geschlecht!
 

Schwerelos schwebte der rosahaarige Junge über die Tanzfläche. Er warf die Hände in die Luft und gab sich seinen Gefühlen und dem Rhythmus der Musik hin. Überall um Maxime herum verteilt, badeten die anderen Gäste ebenso wie er im grellen Licht der Scheinwerfer. Die Geräuschkulisse im Hintergrund vermischte sich zu einem sanften Plätschern und es war, als würden sie fliegen.
 

Wie lange Maxime hinterher in Wirklichkeit getanzt hatte, konnte er nicht mehr sagen. Irgendwann begannen die Konturen vor seinen Augen zu verschwimmen und alle Bilder, welche er von nun ansah, wurden mit einem Mal wackelig und unscharf. Er wusste nur noch, dass er Raphael dafür verfluchte, dass er ihn und Charlotte überredet hatte, zu Hause schon mal eine Flasche Jägermeister zu trinken. Als Einstieg für diesen Abend quasi. Und solche hochprozentigen Getränke hatte Maxime noch nie gut vertragen; jetzt spürte er den Alkohol dafür umso deutlicher in seinen Adern pulsieren. Er benebelte seine Sinne und drückte erbarmungslos seinen Verstand nieder.
 

„Entschuldigen Sie meine aufdringlichen Worte, aber darf ich Ihnen sagen, dass Sie in diesem Kleid wirklich bezaubernd aussehen?“
 

Erschrocken wirbelte Maxime herum. Als er langsam nach oben schaute, hielt er den Atem an. Vor ihm stand der junge Mann von eben!
 

Er war groß gewachsen, schlank und machte einen selbstbewussten Eindruck. Seine Gesichtszüge waren markant, die Augen strahlten und seine Lippen sahen so aus, als hätte er mit ihnen schon viele Menschen sehr glücklich gemacht.
 

Sofort hatte der Rosahaarige Blut geleckt. Verführerisch warf er den Kopf in den Nacken und schenkte dem schönen Unbekannten sein heißestes Lächeln. „Danke, für das Kompliment. Gefalle ich Ihnen so sehr?“
 

Der Fremde grinste wölfisch. „Aber ja! Das Tanzen hat dich sicher durstig gemacht. Möchtest du mit mir an die Theke kommen? Ich würde dir gerne etwas zu trinken ausgeben.“
 

„Gerne.“
 

Ohne die Augen von ihm zulassen, führte der junge Mann Maxime von der Tanzfläche und zog ihn hinter sich her. Obwohl Maxime auf einmal das Gefühl hatte, dass er den Fremden irgendwo schon mal gesehen hatte, konnte er nicht sagen, wo das gewesen war. Vielleicht auf der Straße oder in der Stadt? Sein Gesicht kam ihn schrecklich vertraut vor...
 

Benommen stolperte Maxime dem unbekannten Mann hinterher. Sein Kopf fühlte sich an wie eine große Schüssel Pudding: hirnlos und willenlos.

Er hatte Schwierigkeiten zu laufen. Jede noch so kleine Bodenunebenheit und jede Treppenstufe stellte ein ernst zu nehmendes Problem für ihn dar. Jedoch war etwas komisch... Als der Junge sich umschaute, bemerkte er, dass er nicht wie angekündigt an der Theke stand, sondern in einer düsteren Gasse der Disco, wo sich sonst nur die zwielichtigen Typen herumtrieben.
 

In der nächsten Sekunde spürte Maxime eine kalte Hand an seiner Kehle, die ihm gewaltsam die bitter notwendige Luftzufuhr abdrückte. Der Fremde beugte sich nach unten und presste Maxime mit seinem Gewicht an die Wand.
 

„So Bübchen, jetzt reden wir einmal Klartext“, zischelte der Fremde leise und bedrohlich. „Du brauchst dich auch nicht sonderlich anstrengen. Ich möchte nur wissen, wo deine kleine Freundin geblieben ist...“
 

„Was... wovon... reden Sie? Was... für eine Fr-Freundin?“, keuchte Maxime. Er war immer noch vom Alkohol benebelt und sein matter Verstand realisierte die Gefahr nicht. Auch die Hand an seiner Kehle nahm der Junge nur am Rande des Geschehens wahr. Was für eine Freundin? Meinte der Kerl etwa Charlotte? „Hey... wenn, wenn sie meinem kleinen... Mädchen zu nahe ko-kommen... dann gibt’s Ärger! Jawohl! Charlotte ist meine Freundin, ka-kapiert?!“
 

„Kleines Mädchen? Pfft, ich glaube nicht dass wir die gleiche Person meinen. Die Schlampe ist alles andere als klein. Und ich glaube nicht, dass sie einen schwächlichen Menschen wie dich als Wachhund benötigt. Die Nemesis sind alle gute Einzelkämpfer.“
 

Irritiert blinzelte Maxime gegen das Licht. Okay, so langsam wurde die Sache eigenartig. Jetzt bemerkte sogar ein Betrunkener wie er, dass hier etwas nicht stimmte. Seine Mitbewohnerin Scarlett hieß mit Nachnamen Nemesis. Und sie war die Einzige, die Maxime kannte und die Einzige, mit der ihn der Kerl in Verbindung bringen könnte.

Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war nicht das Gesicht des Mannes, das ihn auf eine seltsamste Art und Weise bekannt vorkam, sondern sein stechender, düsterer Blick...!
 

„Sie... sind der Spanner aus dem Zug! Und sie haben uns auch in Hamburg verfolgt. Jetzt kann ich mich wieder an Sie erinnern!“
 

Der Fremde nickte enthusiastisch. „Bingo, 100 Punkte für den Jungen im roten Kleid. Aber nun mal zum Anfang zurück. Ich und deine Nemesis-Freundin hätten da ein paar wichtige Dinge zu besprechen, also wäre es nett von dir, wenn du mir sagst wo ich sie finden kann.“
 

Maximes Eingeweide erstarrten zu Eis. Der unheimliche Spanner aus dem Zug hatte sich innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen in einen attraktiven Jüngling verwandelt. „Erst sagst du mir, wa-was du von meiner Freundin möchtest. He! Und.. Und so wie du aussiehst, i-ist das sicher nichts Gutes.“
 

„Tja, da muss ich dir wohl oder übel recht geben. Die süße Maus geht mir nämlich gewaltig auf den Zeiger. Seitdem sie in der Stadt ist, kann ich keinen Fuß mehr auf die Straße setzen ohne Angst zu haben, dass sie mir hinter der nächsten Ecke auflauert. Außerdem kommt sie mir überall wo ich bin, in die Quere. Erst verliere ich mein Revier im Wald, weil sich da diese Familie breitmacht, und jetzt kann ich noch nicht mal mehr in die Stadt gehen. Entweder lässt mich die Kleine in Ruhe, oder ich werde sie kalt machen.“ Der Typ ließ langsam von Maximes Hals ab und fixierte ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen. „Das kannst du ihr gerne ausrichten, Kleiner. Diese Stadt gehört mir! Ich lebe hier schon seit Jahrzehnten. Und ich lasse mir von so einer frechen Göre wie sie ganz sicher nicht die Laune verderben. Wenn die Puppe mich weiter bedrängt, werden in Bergedorf demnächst viele schlimme Dinge geschehen. Und eine Sache kann ich dir schon mal heute versprechen: Frauen und Männer werden nicht die einzigen Opfer sein, die meine Rache zu spüren bekommen.“
 

Maximes Gefühle überschlugen sich in Windeseile. Angst, Wut, Zorn, Verzweiflung, Hilflosigkeit... Alle Empfindungen prasselten gleichzeitig auf sein Gehirn nieder und machten alles logische Denken zunichte.

Er hatte von dem, was ihm der Fremde gerade erzählt hatte, kein einziges Wort verstanden. Aber eine Sache war ihm nun klar geworden: Scarlett hatte irgendetwas mit diesem Mann zu schaffen. Maxime wusste zwar nicht genau, was sie verbrochen hatte, aber offenbar war es schlimm genug dass er sie dafür beseitigen wollte!
 

Und so sehr die Blondine Maxime auch manchmal nervte – in der letzten Zeit war ihm das störrische Mädchen irgendwie ans Herz gewachsen! Und er konnte nicht zulassen, dass dieser Mann ihr etwas Böses antat!
 

Maximes letzte Gedanken wurden von einem lauten Donnerschlag verschluckt. Ängstlich zuckte der Junge zusammen und knallte vor Schreck gleich darauf mit den Kopf gegen die Wand in seinem Rücken. Als er eine Sekunde später wieder zu atmen wagte, bemerkte er, dass sich etwas verändert hatte: plötzlich stand er alleine im Gang - der junge Mann hatte sich mit dem Schlag, offenbar in Rauch aufgelöst.
 

*xXx*
 

Am nächsten Tag überkam Maxime das Gefühl, dass er gerade ein Deja vu erlebte. Es war schon wieder Sonntagmorgen und er stand schon wieder im Wald. Doch diesmal war er alleine gekommen und nutzte diese Zeit wirklich, um eine kleine Runde zu joggen.
 

Inzwischen war er schon 2 Stunden unterwegs, sein Atem ging jedoch immer noch gleichmäßig und ruhig. Das war nun mal Maximes Preis dafür, dass er regelmäßig Sport trieb und sich bewegte. Er fühlte sich topfit - obwohl er heute Morgen mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht war und erst mal einige Schmerztabletten schlucken musste, bevor er überhaupt aufstehen konnte.
 

Maxime trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche, und setzte sich nach einer kurzen Pause wieder in Bewegung. Dieser Wald war ihm immer noch unheimlich. Die Geschichte mit den Wilderern wollte ihm einfach nicht aus den Kopf gehen. Vor allem nicht, seitdem Herr Kirschbaum ihnen die Berichte von früher gezeigt hatte, und nun vielleicht ein gefährliches Raubtier im Wald umher schlich und die ganzen Waldbewohner tötete.
 

Schnell schob Maxime diese lästigen Gedanken bei Seite. Jetzt wollte er an etwas anderes denken, verdammt! Immerhin war er hierhergekommen, um den gestrigen Abend in der Disko zu vergessen und einen freien Kopf zu bekommen.
 

Mit diesem Ziel vor Augen, rannte Maxime flink einen sandigen Abhang hinauf. Oben angekommen blieb er stehen und wurde plötzlich von hellen Sonnenstrahlen geblendet, die ihm ungehindert ins Gesicht schienen und den Jungen kurzzeitig erblinden ließen.
 

Nanu? Plötzlich war der Wald vor seinen Augen zu Ende. Vermutlich hatte er vorhin nicht aufgepasst und war auf den falschen Weg abgebogen und jetzt... Nein, Stopp! Der Wald war eben nicht zu Ende - Er stand mitten auf einer gigantischen Lichtung!

Vor Maxime lag eine große, kahle Fläche ohne Bäume oder Sträucher, die auf ihren Betrachter einen ziemlich gespenstigen und trostlosen Eindruck erweckte.
 

Ehrfürchtig lief Maxime über die Lichtung. Seine schwarzen Turnschuhe versanken in dem weichen Untergrund und als er die Füße wieder aus dem Schlamm zog, erzeugten sie laute, schmatzende Geräusche. Am anderen Ende, wo die Natur die Oberhand zurückgewann, sah Maxime auf einmal etwas Rotes auf den Boden liegen.
 

Bevor Maxime das rätselhafte Ding aus der Nähe betrachten konnte, stieg ihm plötzlich ein harter und strenger Duft in die Nase, der im nächsten Augenblick schon wieder wie Honig roch. Fast wie Obst. Verfaultes Obst, welches schon tagelang und unbemerkt in der hintersten Ecke der Abstellkammer lag, und dort vor sich hin schimmelte.
 

Langsam wurde es Maxime mulmig zumute. Er traute sich nicht wirklich weiterzugehen. Er wollte nicht sehen, was da für ein rotes und faulig riechendes Objekt im Gras lag.

Die Entscheidung wurde ihm allerdings abgenommen, als der Wind mit einer heftigen Böe über die Lichtung fegte und das Wesen freigab, das das Gras bis gerade eben verborgen hatte. Die Umrisse vor Maximes Augen wurden immer schärfer und immer genauer. Er konnte einen mächtigen Körper erkennen, ein braunes borstiges Fell und erstarrte, milchig wirkende Augen ohne Leben.
 

Das... das hier war keine gewöhnliche Lichtung... das war ein Friedhof!
 

Wimmernd stolperte Maxime nach hinten. Zugleich riss er die Hände nach oben und presste sie sich auf den Mund. Das rote Ding war kein rotes Ding, sondern ein riesiges Wildschwein in der Größe eines Kleinkraftwagens!
 

Der Bauch des Tieres war von der Kehle abwärts bis zum Oberschenkel einmal der Länge nach komplett aufgeschlitzt. Eine lange Spur aus roter, blutiger Organmasse schlängelte sich aus dem Loch des toten Körpers über den Waldboden. Und so tief und zerrissen, wie die große Wunde aussah, waren das definitiv NICHT die Kratzspuren einer normalen Hauskatze, welche sich mal eben die Krallen wetzen wollte, sondern von einem Tier, dessen Krallen so lang und scharf wie Skalpelle waren.
 

Das Wildschwein musste von etwas viel Größeren und Gefährlicheren angegriffen worden sein. Aber Maxime konnte sich einfach nicht vorstellen, dass so ein schreckliches Tier unbemerkt in Bergedorf leben sollte. Die Jäger hätten so eine Kreatur doch schon lange bemerkt, oder?
 

Während Maxime noch mit schockstarrer Miene zu dem toten Tier blickte, spürte er einen kalten Luftzug an den Armen und wie ihn auf einmal ein paar noch kältere Finger an der Schulter berührten. Eine Sekunde später war Maxime herumgewirbelt, hatte beide Fäuste zum Angriff in die Luft gehoben und einen lauten Schrei ausgestoßen.
 

Hinter ihm stand nicht der Sensenmann, aber dafür ein anderer Kerl, denn Maxime hier und heute ebenso wenig wie Gevatter Tod sehen wollte.
 

„Oh Gott! Ich glaube ich kriege einen Herzinfarkt!“, zischte Maxime vorwurfsvoll. „Was machst du denn hier, Marcel!?“
 

„Das könnte ich dich auch fragen!“
 

„Ich habe aber zuerst gefragt!“
 

„Deutschland ist ein freies Land.“, erwiderte der blonde Junge spitz, aber ebenso erschrocken und verwirrt wie Maxime, während er seine schmalen Arme vor der Brust verschränkte. „Ich darf überall hingehen wohin ich will, und dieser Wald hier ist sowieso mein zweites Zuhause. Also habe ich gewissermaßen Heimrechte.“
 

Besonders glaubwürdig klang das nicht. Marcel, der plötzlich ohne Vorwarnung hinter Maxime stand, wirkte auf dieser Lichtung so deplatziert wie ein Satanist in der allwöchentlichen Sonntagsmesse.
 

Flink huschten die Augen des Jungen über die Lichtung und musterten den Kadaver des toten Wildschweins für einen Sekundenbruchteil. Aber anscheinend machte ihm der schaurige Anblick gar nichts aus; Marcel verzog noch nicht mal eine Miene. „Maxime? Wir müssen von hier verschwinden. Es ist gefährlich wenn wir solange bei ihrer Beute stehen bleiben und sie nicht wissen, was wir vorhaben.“
 

„Ihrer Beute...? Was? Wovon zum Geier redest du?“
 

Marcel zog zischend die Luft ein und presste den Zeigefinger gegen seine Lippen. „Nicht so laut...! Sie können uns hören, wenn du so brüllst! Diese Lichtung hier ist gefährlich. Wir müssen unbedingt leise sei-“
 

„Wer ist gefährlich? Was hat das hier alles zu bedeuten?!“ Nicht wirklich leiser, aber dafür umso aufgewühlter, dachte Maxime nicht mal im Traum daran, um auf Marcels lächerliche Warnung zu hören und seine Stimme zu senken. Im Gegenteil. Jetzt redete er sogar umso lauter. „Mittlerweile verstehe ich gar nichts mehr! Da hinten liegt ein niedergemetzeltes Wildschwein und du zuckst noch nicht mal mit der Wimper? Warum zum Geier lässt dich das so kalt? Bist du emotional abgestumpft?“
 

Plötzlich ertönte ein Knurren aus den Büschen und die beiden Jungen zuckten erschrocken zusammen. Er wirkte, wie die drohende Warnung eines Löwen, welcher gerade durch die Savanne schlich und zwei junge Gazellen als Beutetiere auserwählt hatte, die es nun zu jagen galt.
 

Der Blonde drehte den Kopf auf die Seite und riss voller Panik die Augen auf. Maxime tat es dem Anderen gleich und schaute ängstlich in die Richtung, aus der das Knurren gekommen war. „Hey... Hast du das gerade auch gehört? Was... war das? Ob das ein Wolf war?“
 

Verwundert und beklommen beobachte er, wie Marcel innerhalb von wenigen Sekunden der nackte Angstschweiß ausbrach. Gleichzeitig begann sein eigenes Herz vor Aufregung wie wild zu pochen. Wäre diese Situation hier nicht so abnormal, hätte er mit Marcel noch nicht mal ein einziges Wort gewechselt, aber nun sah die Sache anders aus. Er war froh dass er nicht alleine war und jemanden zum Reden hatte.
 

„Sie dürfen uns hier draußen nicht zusammen sehen...! Denk´ was auch immer du willst, aber wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden.“, stöhnte Marcel plötzlich und weiß wie eine Wand. „Wenn sie aggressiv werden, sind wir erledigt - dann bin sogar ich machtlos!“
 

Okay, dachte Maxime und versuchte sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. „Du brauchst keine Angst haben, Marcel.“, versuchte er es erneut, bemüht, den Jüngeren mit seinen Worten zu beruhigen. „Das Knurren das wir gerade gehört haben, kam sicher nicht von einem Wolf. Wahrscheinlich spielt uns nur unsere Fantasie einen Streich – ich habe einfach nur ein bisschen überreagiert. Hier in Bergdorf gibt doch es gar keine Wölfe.“
 

Auch wenn Marcel so aussah, als würde er das Gesagte gar nicht gerne hören und Maxime am liebsten seinen Schicksal überlassen, griff er hektisch nach dessen Handgelenk und bohrte die Fingernägel in seine Haut. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, zerrte er Maxime von der Lichtung zurück auf den Fußgängerweg, wo er mit schnellen und gejagten Schritten sofort zu rennen anfing.
 

„Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?!?“, zischte der blonde Junge und funkelte Maxime über die Schulter hinweg an. „Wären dass nur Wölfe, würde ich mich vor Lachen auf dem Boden kringeln! Und kannst du jetzt ausnahmsweise mal auf mich hören, und deine Klappe halten! Danke!“
 

Die nächsten Minuten rannten die Jungen keuchend weiter und warfen immer wieder ängstliche Blicke nach hinten. Dann hörten sie das zweite Knurren. Es begann tief und wurde immer höher, ging den Teenagern durch Mark und Bein und jagte ihnen tausende Schauer über den Rücken. Wie versteinert verharrten beide und hielten die Luft an. Das Knurren verklang, und gleich darauf ertönte ein dröhnendes Brüllen, welches Maxime irgendwo schon mal gehört hatte. Diesmal klang es wütender... und näher.
 

„Warte, Marcel! Wir dürfen jetzt nicht durchdrehen, okay?“ Maxime rammte seine Fersen in den Boden und zwang damit auch Marcel zum Anhalten, der schon weiter laufen wollte. „Was auch immer das für ein Vieh ist – es verfolgt uns. Wenn wir ihm den Rücken zukehren, provozieren wir nur seinen Jagdtrieb!“
 

„Das weiß ich auch.“, knurrte Marcel und fuchtelte wie wild mit den Armen herum. „Trotzdem ist es ungefährlicher, als dass wir hier Wurzeln schlagen! Und jetzt komm´ weiter! Wir müssen -“
 

„Ja, abhauen, das habe ich inzwischen auch schon kapiert.“
 

Das Wesen, was sie jagte, musste sich zweifelsohne in ihrer Nähe aufhalten. Vielleicht lag es schon hinter dem nächsten Gebüsch, und wartete nur darauf dass sie vorbei kamen...

Es interessierte Maxime in diesem Moment noch nicht mal, was Marcel hier machte und was er für einen Unsinn erzählte. Jedoch schien er mehr zu wissen als Maxime selbst; seine Panik und seine Angst war der klare Beweis dafür.
 

„Sag mal, Marcel, was meintest du eben eigentlich mit „Wären das Wölfe würde ich mich totlachen“? Du weißt was das für ein Vieh ist?“ Instinktiv griff Maxime nach einen dicken Stock der auf den Boden lag und hielt ihn wie ein Schwert in der Hand. Auch wenn er nicht wirklich auf ein Zusammentreffen hoffte, wollte er wenigstens nicht schutzlos dastehen und sich im Ernstfall verteidigen können. „Wenn ja, dann rede endlich! Wir stehen hier mitten im Wald, mein Handy hat sicher keine Netzverbindung und da hinten lauert etwas auf uns, dass, wie du gesagt hast, ein Wildschwein geschlachtet hat. Ein Wildschwein, Marcel! Das ist kein kuscheliger Feldhase, der nur weglaufen kann - das ist ein locker 300 Kilo schweres Riesentier, was zwei messerscharfe Stoßzähne hat. Die Kreatur, die es getötet hat, muss demnach noch viel schlimmer sein!“
 

Blitzschnell holte Marcel aus und schlug Maxime mit der offenen Hand so kräftig vor die Brust, dass ein jedes andere menschliche Wesen normalerweise sofort nach Luft schnappend zu Boden gegangen wäre. Doch Maxime blieb dank seinen gut entwickelten Lungen standhaft. Benommen taumelte er einen Meter nach hinten, und Marcel nutzte seinen Schockzustand und schleppte den rosahaarigen Jungen einfach weiter.
 

Das kurze Handgemenge hatte sie allerdings wichtige Zeit gekostet.
 

Hinter ihren Rücken hörten die Jungen ein schauriges Knurren, das noch viel gefährlicher klang als vor einigen Minuten und sie nun wirklich in Panik versetzte. Marcel stürzte nach vorne, Maxime folgte auf wackeligen Beinen und hechtete dem Blondschopf blindlings hinterher. Das Knurren im Hintergrund wurde immer lauter.
 

„Gleich haben wir es geschafft!“, keuchte Marcel und deutete mit der freien Hand auf einen Punkt, welchen Maxime nur als schemenhaften Lichtfleck in der Ferne beschreiben konnte. In der gleichen Sekunde fragte er sich, wieso sich Marcel hier im Wald so gut orientieren konnte. Für ihn sah jeder Baum und jeder Stein absolut identisch aus...
 

Doch weiter sollten seine Gedankengänge nicht kommen, denn nach einem weiteren Knurren spürte Maxime einen heftigen Zug an seinen Arm und wie er nach hinten gerissen wurde.
 

Für eine Sekunde stand die ganze Welt Kopf. Maximes Körper prallte als Erstes auf den Boden, dann gegen einen dicken Baumstamm, der auf dem Waldweg stand. Der Boden unter seinen Füßen gab nach, Blut pulsierte als rauschendes Echo in seinen Ohren und sein Herz rutschte ihm in die Hose. Der Schmerz trieb Maxime die Tränen in die Augen. Er hätte gerne gewusst was ihn da angegriffen hatte, doch er wagte sich nicht, die Augen zu öffnen; nur allzu deutlich spürte er den röchelnden, nach Schwefel stinkenden Atem auf seinem Gesicht und Maxime graute die Vorstellung daran, dass die Kreatur vielleicht nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Eine unbedachte Bewegung würde ihm wohl das Leben kosten...
 

Eine große und mächtige Klaue ergriff seinen Fußknöchel und Maxime schrie von Angst geschüttelt auf. Auch Marcel begann im gleichen Augenblick zu schreien, aber das Untier ließ sich von dem jähen Gebrüll nicht stören. In aller Seelenruhe zerrte es Maxime vom Baum weg, und presste seinen Brustkorb mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden.
 

Tatenlos musste Marcel mit ansehen, wie sich das Untier über Maxime beugte und dem Jungen seine rasiermesserscharfen Krallenhände in den Rücken presste. Ein gezielter Biss würde genügen und schon würde die Hauptschlagader des Rosahaarigen in tausend Stücke zerfetzt aus seinem Hals gucken.
 

Der Stock in seiner Hand zuckte und ohne zu überlegen, machte Maxime das einzig Richtige, was ihn in den Sinn kam; er kratzte allen seinen verbliebenen Mut zusammen und schwang den dicken Ast mit aller Kraft nach hinten, wo er das Tier vermutete. Ein lautes Knirschen ertönte, dann ein wütendes Jaulen. Der Stock in seinen Fingern verlor an Gewicht, zerbrach, und mit einer raschen Bewegung wurden ihm auch noch die kümmerlichen Überreste des Astes entrissen und in die Ferne geschleudert.
 

„Was stehst du da noch blöd rum? Hau ab!“, rief Maxime stöhnend, als er den Kopf zur Seite drehte. Marcel stand immer noch fest gewachsen da und presste sich beide Hände auf den Mund. Dieser verdammte Idiot! Wieso lief er nicht weg...!?
 

Doch Maxime hätte auch genauso gut mit einer Wand sprechen können: Marcel stand unter Schock

und war unfähig sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen. Das knurrende, nach Schwefel-riechende Tier musste demnach eine imposante Erscheinung besitzen, wenn sie es sogar schaffte, den natürlichen Fluchtinstinkt eines Menschen zu unterdrücken.
 

Maxime presste seinen Bauch auf den Boden und zählte die verstrichenen Sekunden. Wann versetzte ihm das Ungetüm endlich den Gnadenstoß?
 

Als hätte das Wesen Maximes Gedanken gelesen, beugte es sich nach vorne und zeigte seine scharfen, sechs Zentimeter langen Reißzähne in einer Geste, die Marcel aus seiner Trance riss. Er kannte diese kleine Geste, und er wusste was sie bedeutete...!
 

„Lass ihn los! Lass ihn auf der Stelle los! Du kennst die Regeln. Ihr dürft keine Menschen Jagen und Fressen!“, kreischte Marcel plötzlich aus voller Kehle und lief zu seiner alten Hochform auf; die kleine Giftnatter begann einem Inferno gleich zu toben und zu fluchen. „ALSO HALT DICH VERDAMMT NOCHMAL DARAN UND LASS MAXIME IN RUHE!! DU HAST KEINEN GRUND UM IHN ZU VERLETZEN!!“
 

Seltsamerweise wirkte das Gebrüll diesmal.
 

Das Wesen verlagerte sein Gewicht nach hinten und entfernte die langen Krallen von der Haut seines Opfers. Für eine Sekunde starrte es Marcel an. Das unheimliche Monster gab einen knurrenden Laut zum Besten und baute sich nun zu seiner vollen Größe auf. Noch drohte die Kreatur lediglich; es fletschte die spitzen Zähne und rieb die langen, mit Klauen bestückten Hände aneinander – aber es griff Marcel nicht an.
 

„DU HAST MICH GANZ GENAU VERSTANDEN. NIMM DEINE GRIFFEL VON MAXIME UND VERSCHWINDE! HAU AB! GEH NACH HAUSE!“ Das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt hob Marcel seine Hand und richtete den Zeigefinger auf das aschegraue Wesen. „HIER IST DER SPASS VORBEI! DU KANNST SO VIELE TIERE JAGEN WIE DU WILLST, ABER KEINE LEUTE AUS MEINER SCHULE! WENN DU NICHT AUF MICH HÖRST, KRIEGEN DIE ANDEREN ZU HÖREN WAS DU GETAN HAST. UND DAS SCHWÖRE ICH DIR BEI MEINEN NAMEN!“
 

Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Maxime spürte, wie das Wesen endgültig von seinen Rücken stieg und ein frustriertes Bellen über den Weg hallte. Schließlich sah es ein, dass es hier und heute keine Mahlzeit mehr bekommen würde und verschwand lautlos im Unterholz.
 

Kaum, nachdem das Tier im Wald verschwunden war, begann Maxime am ganzen Körper zu beben. Er biss die Zähne so feste zusammen, dass sich seine Kiefermuskeln unter dem Druck sofort verkrampften. Von dem Erlebten geschockt, gaben seine Arme nach und er unterdrückte das jähe Bedürfnis, hier und jetzt sein Frühstück auf die Erde zu kotzen.
 

Gerne würde er sprechen und sich die Angst von der Seele reden, aber seine Stimme zitterte so heftig, dass er nur unzusammenhängende Wortfetzen über die Lippen stieß.

Eine Sekunde später stand Marcel an seiner Seite und starrte ihn eindringlich an. Sein Gesicht war immer noch blass und die Augen geweitet, doch er war ruhiger als Maxime und ging langsam neben diesem in die Hocke.
 

„Na? Verstehst du jetzt, warum wir keine Freunde sein können?“, wisperte Marcel sanft, ohne spöttisch zu klingen. „Diese Wesen sind fast die ganze Zeit bei mir und auf Fremde reagieren sie, wie du siehst, alles andere als freundlich. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass ich dich hier treffen könnte und dass du aufgerechnet zu dieser Tageszeit hier auftauchst. Das ist ihre feste Jagdzeit.“ Schuldbewusst senkte er die Augenlider und zog Maxime auf die Beine. „Ich möchte nicht, dass du oder sonst wer, verletzt wirst. Deswegen bin ich dir aus dem Weg gegangen und war so fies zu dir. Ich dachte ich könnte dich so auf Abstand halten. Du kannst froh sein, dass du mit dem Leben davon gekommen bist.“
 

Maxime nickte wortlos. Sie gingen die letzten paar Meter zum Eingang zurück und Marcel ließ seinen Arm von seiner Taille fallen, als sie nach 10 Minuten auf die menschenleere Straße am Ende des Waldes kamen.
 

„Es tut mir wirklich leid, was passiert ist.“, wiederholte Marcel geknickt und biss sich auf die Unterlippe. „Ich wünsche mir wirklich, dass du keinen schweren Schaden erlitten hast und als Geistesgestörter in der Psychiatrie landest. Wenn ja, verspreche ich dir, dass ich dich so oft wie nur möglich besuchen komme...“
 

Zutiefst erschrocken riss Maxime seinen Mund auf und schüttelte dann resigniert seinen Kopf. Nein, so schlimm stand es noch nicht um seine Psyche. Auch wenn er kurz davor war, sich in den Arm zu kneifen, weil er dachte, dass er immer noch zu Hause als Alkoholleiche in seinem Bett lag und das alles hier nur träumte.
 

Dann wurde die Welt um Maxime herum plötzlich dunkel und ruhig. Bevor der Junge etwas dagegen unternehmen konnte, knickten seine Beine zur Seite weg und Maxime sank in einen tiefen, unruhigen Schlaf, aus Albträumen und brüchigen Erinnerungsfetzen.
 

*xXx*
 

„Verschwinde von hier, Maxime! Hast du jetzt endlich kapiert, warum wir keine Freunde sein können?! Diese Wesen bringen dich um wenn du in meiner Nähe bist!“
 

Mit einem Schrei erwachte Maxime aus seinem Traum und riss die Augen auf.
 

Die Holzdecke, welche er durch die Spalten seiner Augen erkennen konnte, kam ihn bekannt vor. Auch der Katzen-Wecker auf dem Nachtschrank hatte Maxime irgendwo schon mal gesehen. Seltsamerweise war er Zuhause und lag sicher und wohlbehütet in seinem warmen Bett. Sein Herz hämmerte mit der Kraft eines Vorschlaghammers in seiner Brust und schlug ihm bis zum Hals. Reflexartig hob er die Hand und fuhr sich mit den Fingern über das verschwitzte Gesicht – gleichzeitig vernahm er denn Geruch von Erde und Holz an seiner Haut...
 

Als ob ein Ventil in seinem Geist geöffnet wurde, hielt Maxime den Atem an und starrte angestrengt auf die Flut an Gedanken, welche sich zu einem Horrorfilm in seinen Kopf zusammenbrauten.

Die Erinnerungen an das tote Wildschwein, Marcel und das unheimliche Wesen, was sie gejagt und angegriffen hatte, kehrten zu ihm zurück. Jedoch konnte er sich nicht daran erinnern, dass er nachdem ihn Marcel bis zum Ausgang begleitet hatte, wieder nach Hause gegangen war...
 

Er schauderte und bemerkte, wie er in Panik geriet. Er begann am ganzen Körper zu beben. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, der Raum kam ihm plötzlich wie eine Gruft vor. Er lag gefesselt durch eine Decke in seinem Bett, und schaffte es vor lauter Angst noch nicht mal um Hilfe zu schreien!
 

Zum Glück sprang in diesem Augenblick die Zimmertüre auf und ein heller Lichtstrahl fiel in den abgedunkelten Raum. Gleich darauf wurde die Stille durch lautes Getrampel unterbrochen und ein jemand, mit langen, buschigen Haaren beugte sich über Maximes Gesicht. Er spürte schwere Locken auf seine Stirn fallen und wie eine zierliche Hand forschend über seinen schweißnassen Oberkörper auf- und abfuhr. Was sie da machte, war Maxime allerdings ein Rätsel; Fieber kontrollierte man an einer anderen Stelle und einen richtigen Pulsschlag suchte man dort auch vergeblich.
 

„Er ist aufgewacht.“, murmelte eine weibliche Stimme angespannt. „Ich glaube nicht, dass er etwas abbekommen hat. Er fühlt sich ganz normal an.“
 

„Das können wir erst sagen, wenn er wirklich wieder klar bei Bewusstsein ist.“, erwiderte eine zweite Stimme, ebenfalls weiblich, aber relativ kalt.
 

Maxime runzelte seine Stirn und bekämpfte die bleierne Müdigkeit, die seine Augen niederdrückte. Das Licht im Schlafzimmer blendete ihn, aber es fühlte sich trotzdem gut an nicht mehr in der Dunkelheit zu schmoren. Noch bevor er eine Frage stellen konnte, setzte sich jemand auf seine Bettkante und tätschelte ihm vorsichtig die Wange.
 

„Maxime...Hey, bist du wach?“
 

Der Angesprochene grunzte leise und drehte seinen Kopf auf die Seite. Scarlett Nemesis saß neben ihm und betrachtete Maxime mit wachsamen, ernsten Augen. „Ja, bin ich...“, murmelte er heiser.
 

„Wie geht es dir? Fühlst du dich schlecht oder hast du Schmerzen?“
 

„Nein. Aber was ist passiert? Ich habe den totalen Blackout.“, brummelte Maxime gedämpft und kämpfte sich in eine sitzende Position. „Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich nachhause gekommen bin. “
 

Scarlett drehte ihren voluminösen Haarschopf und blickte zu dem anderen Mädchen im Zimmer; die junge, bildschöne Japanerin Yukiko erwiderte ihren Blick eindringlich und sah ausnahmsweise mal nicht so aus, als würde es sich um ein ekeliges Krabbeltier handeln, sobald es um Maxime ging. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich die beiden Teenager nicht gut verstanden, doch heute lag nichts von der gewohnten Feindseligkeit in der Luft.
 

Obwohl Yukiko erst 16 Jahre alt war, ging sie mit ihrer großen Gestalt und erwachsenen Art bestimmt überall als 18 durch, wenn nicht sogar als 20. Die Japanerin war wie immer perfekt gestylt; sie trug ein modernes Designerkleid aus schwarzer Seide, welches ihre femininen Rundungen betonte und so aussah, als wäre Yukiko auf dem direkten Weg zu einem Fotoshooting.
 

„Anscheinend bist du auf der Straße ohnmächtig geworden.“, erklärte Yukiko ruhig und sachlich. „Einer deiner Schulkameraden hat dich zufällig auf dem Bürgersteig gefunden. Zum Glück hast du unsere Festnetznummer unter dem Namen „Zuhause“ eingespeichert. So konnten wir ihm die Adresse durchgeben, als er hier angerufen hat. Vor ungefähr 2 Stunden hat er dich mit dem Taxi hierher gebracht.“
 

„Ach so... Darum kann ich mich wohl auch nicht erinnern.“, murmelte Maxime schwerfällig. „Und ist der Klassenkamerad schon weg? Ich würde gerne noch mal mit ihm sprechen.“
 

„Ja!“, zischte Scarlett schnell.
 

„Nein!“, widersprach Yukiko heftig und die Jüngere warf ihr einen warnenden Blick zu, welchen die Japanerin jedoch geflissentlich ignorierte. „Was ist los, Scarlett? Wieso willst du lügen? Hast du Angst, dass er Maxime ein Haar krümmen könnte? Der Junge ist nicht gefährlich.“
 

Erneut legte sich die Stille wie eine bleischwere Decke über den Raum; Maxime runzelte seine Stirn, Scarlett wendete den Blick ab und Yukiko zuckte lässig die Schultern.
 

„Was auch immer.“, Die Älteste ging mit schnellen Schritten zur Türschwelle weil sie keine Lust mehr auf lange Diskussionen hatte. „Ich schicke den Jungen jetzt hoch. Am besten lässt du Maxime erst mal in Ruhe und kommst mit runter, Scarlett. Was die zwei besprechen, geht uns beide nichts an.“
 

Die Angesprochene nickte, und zog eine Schnute als Yukiko im Flur verschwand; es war ihr anzusehen, dass sie den Vorschlag ihrer hübschen Freundin nicht gut fand. Aber Yukiko gehörte zu den Personen, auf die man innerhalb dieses Haus besser hörte...
 

Einige Minuten später vernahm Maxime erneut das Geräusch von laufenden Füßen und wenige Sekunden später, stand ein Schatten in der Türe und lächelte den wartenden Jungen im Bett etwas schüchtern an.
 

„Ah! Na, bist du wieder unter den Lebenden?“
 

Das Gesicht des blonden Jungen sah immer noch blass und gestresst aus, aber jetzt lag der Hauch eines Grinsens auf seinen Lippen. Langsam musterte Marcel den Rosahaarigen von oben bis unten. „Wie geht es dir?“
 

„Hmm. Ehrlich gesagt könnte es besser sein. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich ihn in eine Waschmaschine gesteckt und die Schleuderfunktion aktiviert. Das ist ekelhaft.“
 

Maxime machte eine flinke Bewegung mit der Hand und deutete auf einen Stuhl, der in der Nähe des Bettes stand; es machte ihm nervös wenn ihn jemand so von oben herab ansah. Marcel tat Maxime diesen Gefallen gerne, zog den Stuhl nach hinten und ließ sich geschmeidig auf die Sitzfläche gleiten.
 

„Also...“, begann der Blonde gedehnt und stützte das Kinn auf seine Handflächen. „Lass mich raten; dir brennen jetzt sicher tausend Fragen auf der Zunge. Aber ich kann dir schon mal im Voraus sagen, dass ich dir vielleicht nur Zehn davon beantworten kann. Und will.“
 

Noch nicht mal im Traum hätte Maxime daran gedacht, dass Marcel das Thema „Albtraum im Wald“ freiwillig ansprach, doch der Junge sah ihn so ernst in die Augen, als könnte er auch noch ganz andere Dinge über die Welt erzählen...
 

„Was ist da draußen im Wald passiert? Du hast doch das Wesen gesehen, was mich beinahe von der Bildfläche geputzt hat. Was war das für eine Kreatur?“
 

„Oh, sehr gut. Das ist deine erste Frage und schon kann ich sie dir nicht beantworten.“ Marcel grunzte sarkastisch und wedelte mit der Hand herum. „Nächste Frage, bitte.“
 

„Okay. Warum bist du jetzt auf einmal so freundlich zu mir? Vor ein paar Tagen hast du mich noch nicht mal mit dem Arsch angeschaut, und jetzt rettest du mich auf einmal vor einem Monster? Ich dachte du hasst mich, und so was tut man nicht für einen Menschen, denn man angeblich nicht leiden kann.“
 

„Ich hasse dich nicht!“, zischte Marcel und funkelte Maxime wütend an. „Okay, ich finde dich auch nicht supertoll, aber von Hass kann nicht die Rede sein! Deine aufdringliche, arrogante Art stört mich schon vom ersten Augenblick an. Und ich mag es nicht, wenn du immer deinen Willen durchsetzen möchtest und ständig bissige, meiner Meinung nach unpassende, Kommentare in den Raum wirfst. Mich nervt es auch, dass du kein >Nein< akzeptierst und ständig ein >Aber< in der Tasche hast! Doch das heißt noch lange nicht, dass ich tatenlos dabei zuschaue wie du als Mittagessen endest und stirbst!“
 

Finster dreinblickend knetete Maxime die Bettdecke und unterdrückte das jähe Bedürfnis, gleich wieder patzig zu werden. Oh, der edle Herr fand ihn also aufdringlich und arrogant? Na, dann hatte er aber noch nicht solche Personen wie Kiley Sandojé, Yukiko oder Raphael kennengelernt!
 

„Ach so!“, zischte er unwirsch. „Obwohl ich dich so nerve, hast du dir meine Charaktereigenschaften aber ganz genau eingeprägt!“ Dann dachte er kurz nach und schluckte seinen Ärger hinunter. Wäre Marcel wirklich ein schlechter Mensch, hätte er Maxime nicht vor dem Ungeheuer gerettet und ihn nach Hause gebracht. „Na gut. Vielleicht hast du in ein paar Dingen recht. Ich bin von mir selbst überzeugt, und ich möchte auch immer meinen Dickschädel durchsetzen, aber ich kann auch anders sein. Hoffentlich gibst du mir eine Chance um dir diese Seite an mir zu zeigen.“
 

„Mal sehen wie es weitergeht...“
 

„Dein Optimismus... Wow, er haut mich immer wieder um!“
 

Knurrend verdrehte Marcel die Augen. „Mein Gott, wenn ich für jedes Augenrollen wegen dir einen Cent bekommen würde, wäre ich heute schon Millionär! Maxime, Mensch, ich habe dir doch schon gesagt, warum wir nicht befreundet sein können...“
 

„Ja, das hast du; erst waren es die mobbenden Mitschüler, dann deine Familie und jetzt sind es diese komischen Viecher aus dem Wald. Morgen ist es die Bundeskanzlerin!“
 

„Danke für dein Verständnis, aber so kommen wir nicht weiter... Ich bin nicht hier um mich mit dir zu streiten. Lass uns lieber weiter über den Vorfall von heute Morgen reden. Maxime, du musst mir versprechen, dass du niemanden von diesen Wesen erzählst. Sie würden jeden Polizisten oder Jäger, der in den Wald kommt und sie angreift, in Stücke zerhauen! Solange man sie in Ruhe lässt, geht von diesen Wesen keine Gefahr aus. Das musst du mir bitte glauben. So wie es jetzt ist, ist es für alle Beteiligten das Beste!“
 

Angespannt biss sich Maxime auf die Unterlippe. Was Marcel da von ihm verlangte, war kein gewöhnlicher Gefallen: Er sollte dieses gefährliche Tier im Wald mit seinem Schweigen beschützen und riskieren, dass es nochmal einen Menschen angriff? Und was war, wenn es das nächste Mal nicht einen Jungen in seinem Alter angriff, sondern ein Mädchen? Oder womöglich sogar ein Kind? Schon alleine bei der Vorstellung wurde Maxime schlecht.
 

„Marcel, bitte, du musst vernünftig sein.“ Maxime beugte seinen Oberkörper nach vorne und schaute dem Jüngeren fest in die Augen. „Du kannst diese Bestien nicht kontrollieren... Das ist das Gleiche wie mit Roy und seinem weißen Tiger. Alle waren von seiner Show begeistert und dann passierte das große Unglück. Irgendwann wirst du auch mit blutender Kehle zwischen ihren Zähnen liegen und dann wird dich vielleicht niemand retten können. Möchtest du dieses Risiko wirklich eingehen?“
 

„Ja, das möchte ich...“, zischte Marcel entschlossen und erwiderte Maximes Blick, ohne zu blinzeln. „Diese Wesen sind keine gewöhnlichen Tiere. Im Gegensatz zu anderen können sie denken und zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Ich lebe schon so lange mit ihnen zusammen, noch nie ist etwas passiert. Würden sie mir wirklich etwas tun wollen, hätten sie das schon 14 Jahre lang machen können. Und? Sehe ich aus, als ob man mich misshandelt? Gib mir einfach dein Wort, dass du mein Geheimnis für dich behältst, und schon sind wir quitt!“
 

„Na gut.“, seufzte Maxime und hatte auf einmal das ungute Gefühl, dass er gerade eben den letzten Willen eines Sterbenden vernommen hatte. „Ich verspreche es dir.“
 

Marcel würde definitiv Schwierigkeiten bekommen, wenn er länger in der Nähe dieser Kreaturen blieb. Solange die Tiere noch Wildschweine und Rehe jagten, war der Junge in ihrer Gegenwart vielleicht sicher. Aber was würde passieren, wenn sie das irgendwann nicht mehr machten? Womöglich bekamen sie mal Appetit auf etwas anderes. Vielleicht sogar auf Menschenfleisch.
 

In Maximes Hals bildete sich ein Kloß, wenn er so darüber nachdachte. Er musste den schmächtigen Jungen unbedingt von seinen dummen Gedanken befreien. Aber er wusste nicht wie er das anstellen sollte! Marcel war in seiner Wahrnehmung total verblendet. Nur weil ihn diese Tiere bis jetzt noch nicht verletzt hatten, bildete er sich ein dass er ein Teil ihrer Gemeinschaft war...!
 

Aber nun hatte Maxime dafür auf einem anderen Gebiet Gewissheit: Da draußen gab es keine Wilderer, wie die Polizei dachte, Raphael und Herr Kirschbaum hatten recht - der Täter war tatsächlich ein Tier aus dem Wald und kein Mensch!
 

...Zumindest hoffte Maxime, dass es nur ein Tier war...

Kapitel 10: Der König von Bergedorf

Im warmen Sonnenlicht, das durch die klare Fensterscheibe fiel, tanzten tausende Staubflocken wie winzige Blumenkränze durch die Luft. Das Licht durchbrach den unsichtbaren Schleier jedoch mühelos. Kaum hatte sich das Licht im ganzen Raum ausgebreitet, tasteten die Strahlen schon nach einem neuen Opfer, das sie mit ihrem Leuchten zur Weißglut bringen konnten.
 

Dieses Opfer fanden sie in Maxime Ravanello. Nachdem sein Besuch vor einer Weile nach Hause gegangen war, war er vor Müdigkeit wieder eingeschlafen. Auf einmal hatte es Marcel sehr eilig gehabt und bevor Maxime noch eine weitere Frage zu der Gestalt im Wald stellen konnte, war er schon aus dem Zimmer verschwunden. Dieser miese und störrische Bengel hatte ihm keinen einzigen Hinweis auf das Wesen gegeben. Alles Schleimen und Argumentieren hatte keinen Sinn gehabt. Dabei wusste Marcel doch ganz genau, was das für eine Gestalt war und nun musste Maxime sogar so tun, als wäre nie etwas passiert.
 

In diesem Augenblick ertönte ein kurzes Pochen an der Türe. „Ja bitte?“, rief Maxime laut.
 

Als das Holz auf die Seite schwang, stand Scarlett im Türrahmen. In den Händen trug das sie ein Tablett mit einer dampfenden Porzellanschüssel. Maxime konnte ihre Augen in der Dunkelheit nicht erkennen, doch er wusste, dass ihr Blick auf ihn gerichtet war.
 

„Hast du Hunger?“, fragte Scarlett und stand mit zwei großen Schritten am Bett. Als sie den Kopf schief legte und lächelte, funkelten ihre Himbeerfarbenden Augen. „Ich habe dir etwas zu essen gemacht. Das ist zwar nur eine Dosensuppe, aber das ist besser als nichts.“
 

„Da hast du recht. Danke.“ Maxime beugte sich nach vorne und nahm das Tablett entgegen. „Ist das hier demnächst Programm? Kochst du ab jetzt immer für uns?“
 

„Hn! Ich versuche es zu mindestens. Eigentlich macht kochen sogar Spaß und ich kann mich dabei ein bisschen von der Schule ablenken.“ Scarlett atmete theatralisch durch die Nase aus und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Aber sag´ mir lieber, wie es dir geht. Hast du dich mittlerweile von deinem Schwächeanfall erholt?“
 

Stöhnend rollte sich Maxime auf die Seite. Er blinzelte gegen das Licht und tastete mit den Fingern nach seinem Handy, welches hoffentlich irgendwo in der Nähe lag. Kurz schaute er auf den Display und überprüfte die Uhrzeit. 17.25 Uhr. „Hey, es ist schon fast Abend. Wieso habt ihr mich solange schlafen lassen?! Oh Mann, morgen früh bin ich wieder total gerädert.“
 

„Weil du es nötig hattest.“
 

„Ich habe es auch nötig, in der Nacht zu schlafen.“
 

„Hör´ auf zu jammern! Sei lieber froh dass es dir gut geht!“, grummelte Scarlett unwirsch.
 

Maxime nickte zögerlich und nahm einen Schluck Suppe in den Mund. Ja, er konnte wirklich froh sein, dass es ihm gut ging. Wäre Marcel nicht zufällig im Wald gewesen, hätte er wirklich schlechte Karten gehabt...
 

„Übrigens... heute Morgen ist ein Brief für dich angekommen“, sagte Scarlett plötzlich und riss Maxime damit aus seinen Gedankengängen. Sie zog ein kleines Kuvert aus ihrer Hosentasche und reichte ihn ihrem Gegenüber. „Nur dein Name stand auf dem Umschlag, seine eigene Adresse hat der Absender komischerweise nicht angegeben.“
 

Neugierig nahm Maxime den Umschlag entgegen, legte seinen Löffel auf das Tablett und betrachtete den Brief von allen Seiten. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Brief; klein, quadratisch und leicht. Und er war tatsächlich an ihn adressiert. Auf der Rückseite stand in klaren, geraden Linien sein Name geschrieben. Nur Maxime, mehr nicht.
 

„Los. Mach ihn auf!“, drängte Scarlett neugierig und rutschte etwas näher zum Bett. „Wer weiß, was da drin ist! Das kann alles Mögliche sein. Vielleicht... ist das ein Liebesbrief von einem schüchternen Verehrer?“
 

„Halt die Klappe!“, schoss Maxime bitter zurück. „Was geht dich das überhaupt an? Raus hier!“
 

„Vergiss es! Ohne mich hättest du diesen Brief nie in die Finger bekommen.“ Knurrend griff Scarlett nach dem Brief, da sie ihn wahrscheinlich selbst öffnen wollte, aber Maxime war schneller und streckte seinen Arm in die Höhe. „Hör´ auf mit den Spielchen! Mach endlich den verdammten Brief auf, oder es war das letzte Mal, dass ich etwas für dich aus Yukikos Klauen gerettet habe.“
 

Die Blondhaarige summte zustimmend, als Maxime den Umschlag mit dem Stiel seines Löffels öffnete und zwei Papierstreifen zum Vorschein kamen. „Yukiko hat den Umschlag heute Morgen im Briefkasten gefunden, und hätte ihn höchstwahrscheinlich in den Müll geworfen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre.... Oh Gott, jetzt erzähl´ schon endlich was da steht. Ich platze gleich!“
 

Doch Maxime blieb stumm und zeigte lediglich einen der beiden Papierstreifen. Es war ein Zeitungsausschnitt aus dem Wochenblatt. Sofort begann Scarlett zu lesen, stutze nach wenigen Sekunden jedoch und runzelte irritiert die Stirn.
 

„Das ist ein Artikel aus der letzten Wochenzeitung“, murmelte sie leise und untersuchte das Geschriebene noch mal genauer. „Ich glaube ich schiele: Das ist ein Artikel über den Brand in der Grundschule! Warum schickt uns das jemand?“
 

„Das kann ich dir sagen“, sagte Maxime mit Grabstimme. Ohne zu zögern, drehte er den zweiten Papierstreifen um und las die nächsten 4 Wörter laut vor. „IHR.SEID. DIE.NÄCHSTEN!“ Er hielt kurz die Luft an und gab Scarlett damit Gelegenheit, um das gerade gehörte zu verdauen. Ganz wie er erwartet hatte, wurde das Mädchen so blass wie eine Wand und riss die Augen auf. „Das ist kein gewöhnlicher Brief, Scarlett. Das ist eine Drohung. Jemand will uns Einschüchtern und mürbe machen.“
 

Scarlett brauchte einen Moment um sich von ihrer Starre zu befreien und sprang in der nächsten Sekunde auf die Füße. Drohend fletschte sie ihre Zähne und schlug die Faust auf arme Bettkante. „Verdammt! Ich hätte es wissen müssen. Das ist sicher eine Drohung von dem unbekannten Mann, der uns letztens von der Straße aus beobachtet hat! Jetzt will er ernst machen!“
 

*xXx*
 

Einige Tage später hatte Maxime die Kreatur im Wald und den ominösen Brief schon wieder vergessen; im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu erledigen...
 

Schnaubend ließen sich Charlotte und Maxime am Nachmittag in der Küche von Frau Kirschbaum auf ihre Plätze sinken, und streckten ihre steifen Glieder in die Länge.
 

„So, der Aufsatz für Deutsch ist fertig“, krächzte Charlotte erschöpft.
 

„Erdkunde auch“, brummte Maxime zurück und trank einen großen Schluck von der eisgekühlten Cola, die ihm seine Freundin über den Tisch schob. „Dir fehlt noch Physik und Französisch, oder?“
 

„Bitte, erinnere mich nicht daran...“
 

Erneut stießen die Kinder ein tiefes Seufzen aus und Charlottes Mutter, die gerade am Herd stand und das Mittagessen zubereitete, schenkte ihnen einen fragenden Blick. „Was ist denn los? Warum schimpft ihr so? Habt ihr so viele Hausaufgaben?“
 

Es hatte alles vor 3 Tagen begonnen. Plötzlich erinnerten sich die Lehrer wieder daran, dass in einem Monat die Sommerferien begannen und für viele das Jahresende vor der Türe stand. Offenbar fehlten einigen Schülern aber immer noch irgendwelche wichtigen Noten, daher veranlassten die Lehrkräfte eine Menge Hausaufgaben, Präsentationen und Klausuren um diese Lücken noch irgendwie zu füllen. Alle Klassen waren gleichermaßen von dieser „Krankheit“ betroffen. Besonders Charlottes Lehrer brummten den Jungen und Mädchen einen Berg an Aufgaben auf, da ihre Schützlinge nach den Ferien endlich in die Oberstufe kamen und sie sie so gut wie möglich vorbereiten wollten, sehr zum Leidwesen der Betroffenen.
 

Für heute hatten Maxime und Charlotte ihre Arbeiten zwar erledigt, aber dafür war auch der gesamte Nachmittag drauf gegangen. Wahrscheinlich war heute der heißeste Tag des bisherigen Jahres gewesen, und die drei Freunde hatten den halben Tag in Charlottes Zimmer gesessen, und Hausaufgaben gemacht. Ihren tollen Ausflug zum Baggersee konnten die Kinder demnach vergessen.
 

„Lasst euch nicht unterkriegen“, meinte Frau Kirschbaum, eine schlanke, schöne Frau um die 30, und lächelte die beiden Freunde aufmunternd an. „Ich fand die Schule früher auch schrecklich, aber heute weiß ich, dass es die beste Zeit meines Lebens war. Sobald ihr in der Ausbildung seid oder einen Job habt, wünscht ihr euch euer altes Leben als Schüler zurück. Das kann ich euch versprechen.“
 

Maxime nickte und erwiderte das Lächeln der hübschen Frau. Raphael und er waren gern gesehene Gäste in diesem Haus. Auch wenn sie niemals als Schwiegersöhne infrage kämen, behandelten sie Charlottes Eltern immer wie ihre eigenen Kinder. Insgeheim waren Herr Kirschbaum und Frau Kirschbaum sogar sehr froh darüber, dass ihre Tochter in den vergangenen Jahren so gute Freunde wie sie gefunden hatte. Früher wurde das Mädchen in der Grundschule wegen ihrer Schüchternheit oft gehänselt und von den anderen Kindern ausgegrenzt. Heute schaute sie noch nicht mal mehr jemand schief an, wenn Raphael daneben stand.
 

Charlotte lebte in einer fünfköpfigen Familie und besaß eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Obwohl sie von allen Kindern das Vernünftigste war und es sogar bis auf das städtische Gymnasium geschafft hatte, behandelten ihre Eltern sie immer noch wie ein kleines Mädchen.

Ihr jüngerer Bruder, der gerade mal 11 Jahre alt war, schlich seiner großen Schwester schon heute hinterher, wenn sie des Abends mit Raphael und Maxime in die Disko ging.
 

Als ob es ein geheimes Stichwort gewesen wäre, sprang just in diesem Moment die Küchentüre auf und Charlottes Bruder kam mit einer kurzen Sporthose bekleidet in die Küche gestürmt. „Mama!“, knurrte der Junge vorwurfsvoll. „Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Ich habe doch jetzt ein wichtiges Fußballspiel!“
 

„Mama hat ganze 10 Minuten an deiner Türe gerüttelt und gerufen. Aber von dir kam keine Antwort!“, antwortete Charlotte stellvertretend für die Angesprochene und warf dem Jungen einen mahnenden Seitenblick zu. „Und jetzt setz dich auf deine 4 Buchstaben, Tamino. Du bist jetzt sowieso schon eine Stunde zu spät, da ist das Spiel auch schon so gut wie vorbei.“
 

Tamino fletschte die Zähne. „Das weiß ich auch, vielen Dank für dein Verständnis, Schwesterherz.“ Damit ließ er sich neben Maxime auf einen Stuhl sinken und schenkte diesem ein zerknirschtes Lächeln. „Na, ist Charlotte auch immer so freundlich in der Schule, oder nur hier Zuhause?“
 

Dieser grinste leicht und schnipste den Jungen vor die Stirn. „Vorsicht Bürschchen, deine Schwester ist bei uns eine gefürchtete Schlägerbraut. Wenn Raphael oder ich von irgendjemanden blöd angemacht werden, hat er schon ihre Faust im Gesicht!“
 

Auch wenn das eine riesengroße Lüge war, erwiderte Charlotte nichts und lächelte nur heimlich. Sie war alles andere als eine, wie hatte Maxime so schön gesagt?, „Schlägerbraut.“
 

Gegen 15.30 Uhr fand dann endlich auch das letzte Mitglied der Freundesclique seinen Weg in die Küche. Vor lauter Frust hatte sich Raphael nach dem Lernen in Charlottes Bett gelegt und war vor 2 Stunden eingeschlafen. Egal, was auch immer seine besten Freunde vorhin versucht hatten, um ihn aufzuwecken, es klappte nicht!
 

Lautstark gähnend trat Raphael durch die Türe und ließ sich von der anderen Seite neben Maxime in die Sitzecke gleiten. Mit kleinen, schläfrigen Augen schaute er in die Runde. „Guten Morgen alle miteinander... Boor, ist das hier unten hell! Ekelhaft.“
 

„Mein Lieber, hast du schon mal auf die Uhr geschaut? Es ist schon gleich Abend, und du willst mir erzählen, dass du immer noch müde bist?“ Frau Kirschbaum grinste, während sie dem blonden Jungen eine große Tasse mit heißem Kaffee vor die Nase setzte.
 

Raphael zuckte mit der Schulter, trank aber dankbar einen gierigen Schluck von der schwarzen Brühe. „Trotzdem hätte ich noch länger schlafen können.“ Danach warf er einen Blick zu seiner besten Freundin. „Haben wir heute noch etwas vor?“
 

„Ach, ich habe keine Ahnung. Mal schauen, vielleicht gehe ich gleich noch ein bisschen lernen. In meiner Klasse steht bald wieder eine Matheklausur an. Und wenn ich schon alleine das Wort „Trigonometrische Funktionen“ höre, könnte ich anfangen zu heulen. Dieses bescheuerte Thema macht mich total fertig, ich kann mir das einfach nicht merken."
 

„Ohne mich.“, sagte Raphael ernst.
 

„Und auch ohne mich!“, schloss sich Maxime sofort an.
 

*xXx*
 

Der schwarze Asphalt flimmerte in der Sonne wie eine Wasserlache. Als am Himmel eine dicke Wolke auftauchte, atmeten die 3 Freunde erleichtert auf und kurbelten rasch ihre Fenster herunter, da sie den aufkommenden Wind als angenehme Kühlung benutzen wollten.
 

„Ich sterbe“, stöhnte Raphael theatralisch und lehnte seinen Oberkörper so weit nach hinten, wie es die Rückenlehne seines Sitzes zuließ. „Diese Hitze... Ich vertrage keine Wärme. Erst recht nicht, wenn ich 7 Stunden in der Schule hängen soll und mir den Arsch platt sitzen muss!“
 

Von hinten kam ein tiefes Seufzen und Charlotte lehnte ihr Gesicht mit geschlossenen Lidern gegen die kühle Fensterscheibe. „Uns geht es auch nicht besser, jetzt reiß ´dich mal ein bisschen mehr zusammen“, brummte sie erschöpft.
 

Die letzten, angenehmen Tage des Monat Mais waren viel zu schnell vergangen. Es war Donnerstagmorgen, im Schatten lagen die Temperaturen jetzt schon bei 25 Grad, und Maximes Herz tat immer noch schrecklich weh, wenn er an den Sonntag mit Marcel im Wald zurückdachte.
 

So langsam wurden ihm die Geschehnisse der vergangenen Wochen zu viel. Maxime hatte das Gefühl, dass einige Dinge etwas miteinander zu tun haben könnten, aber die Antwort lag verborgen hinter einem Schleier aus Unwissenheit und Angst.
 

...Daimon und Avalon in der Gasse... Marcel... der Kerl in der Diskothek... der andere Kerl vor ihrem Haus.... das Wesen aus dem Wald... wieder Marcel... und schließlich der seltsame Brief von Sonntagmorgen....
 

„Am Samstag hat der neue Tierpark in Hamburg seinen ersten Eröffnungstag. Das heißt, es gibt Ermäßigung auf die Eintrittskarten und gratis Verpflegung für uns Minderjährige. Na, habt ihr beiden Lust darauf?“
 

„Wenn´s bis dahin geschneit hat, können wir gerne hingehen.“ Charlotte zog undamenhaft die Nase hoch und starrte wieder aus dem Fenster.
 

Währenddessen beugte sich Maxime auf die Seite und schenkte seinem Sitznachbarn einen vielsagenden Blick. „Ignoriere sie einfach. Die hat sicher ihre Periode bekommen und ist deswegen so zickig... Lass uns das wie richtige Männer überstehen und so tun, als ob wir von nichts eine Ahnung hätten.“
 

„Oh, der Frauenversteher hat gesprochen!“, scherzte Raphael, nickte aber gleichzeitig und schob seine Sonnenbrille zurecht. „Und was sagst du? Tierpark ja oder nein? Vielleicht treffen wir einen Tierpfleger, den wir zu den Vorfällen im Wald befragen können. Das ist doch eine gute Idee, oder? Er weiß ganz bestimmt, welche Raubtiere sich in dieser Gegend rum treiben, und ob einer von ihnen als Täter infrage kommen könnte. Dann wäre die Geschichte mit den toten Rehen und Wildschweinen sicher bald Vergangenheit. Und wir reich...“
 

Seufzend verschränkte Maxime die Arme vor seiner Brust und wich den Blick des Anderen aus.
 

Natürlich hatte er Marcels Bitte befolgt und niemanden etwas von der düsteren Kreatur im Wald erzählt, auch nicht seinen besten Freunden. Besonders wohl fühlte er sich in dieser Lage nicht. Er hasste es, wenn er Raphael und Charlotte solche wichtigen Ereignisse verschweigen musste. Im Laufe der Jahre hatte er zwar immer wieder kleinere Geheimnisse vor ihnen gehabt, aber keines war so bedeutend gewesen wie dieses.
 

Darum beschloss Maxime, dass es das Beste wäre, vorerst nicht mehr über den Tierpark zu sprechen. Ein weiteres Rätsel glaubte er, nicht zu verkraften.

Also stimmte er Raphaels Vorschlag für Samstag einfach zu und ließ das Thema dann stillschweigend unter den Teppich fallen. Was er sich damit wieder für ein dickes Problem angelacht hatte, konnte Maxime heute natürlich noch nicht ahnen...
 

*xXx*
 

Die Wolken eines Sommergewitters grollten am Himmel. The Haunted Mansion sah dunkel und bedrückend aus, wie es da so still und einsam auf seinem Hügel stand - fast wie das alte, gespenstische Herrenhaus, das die 3 Teenager vor einigen Tagen im Wald entdeckt hatten.
 

Noch am gleichen Tag hatte Maxime am Nachmittag zu Hause eine Krisensitzung einberufen. Aber im Moment sah die Lage leider schlecht für ihn aus...
 

Die Stirn in Falten gelegt, stützte Yukiko ihre Wange mit einer Hand ab. Gelangweilt verdrehte sie die Augen und schaute kurz in Scarletts Richtung, bevor sie wieder nach Maxime sah.
 

„So so“, murmelte die Japanerin gedehnt und funkelte den Jungen ihr gegenüber skeptisch an. „Du möchtest also deine Freunde am Wochenende in diesem Haus übernachten lassen? Das ist ja wirklich eine schöne Idee von dir, aber leider gegen die Regeln. Wir dürfen keine fremden Leute einladen, ohne vorher dem Heim Bescheid zu geben.“ Yukiko schüttelte ihren Kopf und legte ein gemeines Grinsen auf ihre rot bemalten Lippen. „Wenn deinen kleinen Freunden innerhalb dieser Mauern etwas zustößt, wird die Schuld auf das Heim zurückfallen, und wenn wir Pech haben, wird das Re-Sozialisierungsprogramm abgebrochen. Dann müssen wir wieder nach Hause und in unsere alten Unterkünfte zurück. Darauf habe ich keine Lust. Ich lebe gerne in diesem Haus.“
 

Maxime knetete wütend seine Hände. Obwohl es in der Küche brütend warm war, lief ihm bei ihren Worten ein eiskalter Schauer über den Rücken.
 

„Darum müsst ihr mir auch helfen“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Wenn am Samstagabend jemand vom Heim kommt und uns einen Kontrollbesuch abstattet, müsst ihr den Kerl irgendwie loswerden Bitte, ihr beiden seit meine einzige Rettung.“
 

„Nein“, knurrte das lilahaarige Mädchen bestimmend. „Ich werde meinen Kopf ganz sicher nicht für deinen Idiotischen Plan hinhalten. Das kannst du schön alleine machen!“
 

„Sei nicht immer so stur!“ Nun konnte Maxime sich nicht länger zurückhalten und verlor die Nerven. „Ich möchte, dass Raphael am Wochenende bei uns ist! Er ist mutig und nicht auf den Kopf gefallen. Wenn der gruselige Kerl hier am Wochenende vorbei kommt und auf Raphael trifft, wird er sein blaues Wunder erleben!“ Wütend drehte sich Maxime zu Scarlett und schaute ihr auffordernd ins Gesicht. „Jetzt sag´ doch auch mal was! Was sollen wir machen, wenn der irre Kerl wieder kommt und tatsächlich unser Haus anzünden möchte?! Alleine können wir es nicht mit ihm aufnehmen! Aber Raphael ist stärker als wir 3 zusammen. Er ist zäher, wie er aussieht und wird den Typen schon so lange in Schach halten, bis wir die Polizei gerufen haben! Dann sind wir gerettet! Warum willst du das nicht kapieren, Yukiko?! Das ist eine großartige Idee!“
 

Der ernst gemeinte Vorschlag beeindruckte die Halbjapanerin nicht im Geringsten. Eher war das Gegenteil der Fall: ihre Mundwinkel zuckten so heftig als unterdrückte sie ein Lachen. „Du bist doch ganz hysterisch vor Angst!“, zischte Yukiko eisig. „Als ob der Mann wieder kommt und das Haus anzündet, wenn wir zuhause sind. Da ist die Gefahr doch viel zu groß, dass wir ihn auf frischer Tat ertappen. Wenn er seine Drohung wirklich wahr machen möchte, wird er warten, bis wir in der Schule sind. Das ist doch logisch! Denk´ doch erst mal nach, bevor du sprichst.“
 

Es passierte so schnell, das Yukiko noch nicht einmal ansatzweise realisieren konnte, was geschah.
 

Gerade eben hatte sie noch ihre Kaffeetasse in der Hand gehalten und in der nächsten Sekunde war sie verschwunden. Irritiert nahm sie nur einen dumpfen Schmerz auf ihrer Haut wahr und hörte dann das Scheppern von zerbrechendem Porzellan.
 

Okay, jetzt musste sie erst mal eins und eins zusammenzählen: Plötzlich war die Tasse verschwunden, sie spürte wie ihre Hand brannte, dann das Scheppern an der Wand und Maxime... der aussah, als hätte er jemanden gerade eine Ohrfeige verpasst.
 

„Du... hast mich...“, flüsterte Yukiko und drehte den Kopf auf die Seite, damit sie ihren Verdacht bestätigen konnte. Da! Da war sie. Auf den Boden lag ihre Kaffeetasse, zerbrochen und in tausend Scherben über den weißen Fliesenboden verteilt...
 

Yukiko schluckte geräuschlos. „Du hast mich geschlagen“ wiederholte sie leise und spürte wie ihr die Flammen in die Kehle schossen. Mit einen kräftigen Ruck stieß sie ihren Stuhl nach hinten und sprang auf die Beine. „Du Mistkerl! Du hast mich geschlagen!“
 

Langsam erwachte Maxime auf seiner Trance und starrte seine Hand an. Sie schmerzte noch immer von dem Schlag und nun, wo er sich auf sie konzentrierte, bemerkte er auch das warme Kribbeln von Blut in seinen Adern.
 

Was zum Geier war da gerade passiert!? Scheiße! Er hatte Yukiko in einem unachtsamen Moment der Wut die Kaffeetasse aus der Hand geschlagen. Sogar Scarlett saß einfach nur stocksteif da und ließ ihren mit Nudelsuppe gefüllten Löffel in das Englischbuch fallen. Das gemütliche Mittagessen von eben hatte sich von jetzt auf gleich in einen Gladiatorenkampf verwandelt. Zumindest könnte es darauf hinauslaufen, wenn sie nicht dazwischen ging...
 

„Hey Leute...“, sagte sie betont ruhig. „Was auch immer ihr jetzt vorhabt... überlegt es euch gut. Die Konsequenzen könnten bei Weitem Schlimmer ausfallen, als nur eine zerbrochene Tasse...“
 

Yukiko erwiderte nichts und presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden. Sie sah nicht nur so schön aus wie ein Model, sie besaß auch die passende Größe für diesen Job. Die schlanke Japanerin überragte die Mädchen in ihrer Altersklasse um ein Vielfaches und sogar Maxime als junger Mann musste den Kopf in den Nacken legen, um ihr in die Augen zu schauen.
 

„Ja, da hast du ausnahmsweise Mal recht... Und es wird dem Mistkerl wirklich leidtun heute und hier in dieser Küche zu sein.“,
 

„Yuki! Reiß dich zusammen!“ Scarlett sprang ebenfalls auf die Beine und wirbelte um den Tisch herum. Besänftigend streckte sie ihre Hände und drückte Yukiko behutsam nach hinten. „Es war nicht okay, was Maxime getan, aber das war sicher keine Absicht, oder? Belassen wir es einfach dabei. Was bringt es dir denn, wenn du dich jetzt mit ihm prügelst und zur Strafe vielleicht das Projekt abbrechen musst! Dann hast du genau das erreicht, was du nicht haben möchtest!“
 

Instinktiv wich Maxime einen halben Meter zurück. Oh oh... das sah aber gar nicht gut aus! Die Japanerin explodierte ja gleich vor Wut! Jetzt musste er schnell handeln und irgendwie die Wogen glätten, bevor hier in der Küche nicht nur die Kaffeetassen, sondern auch gleich die Fäuste durch die Luft flogen.
 

„Hör mir zu, ja?“, bat er leise. „Es tut mir wirklich leid, dass ich deine Tasse kaputt gemacht habe. Wenn du möchtest kann ich sie dir ersetzen. Aber wir sollten jetzt auf Scarlett hören, und einen Schlussstrich ziehen! Lass uns lieber über das kommende Wochenende nachdenken!“
 

Kopfschüttelnd begann Yukiko zu lachen. Aber es war kein gewöhnliches und fröhliches Lachen, sondern ein kaltes und gemeines, welches Maxime sofort eine dicke Gänsehaut auf die Arme zauberte. „Du sagst „es tut mir leid“ und meinst, dass das schon reicht? Meinst du, es geht mir um diese blöde Tasse? Nein! Das blöde Ding habe ich schon lange vergessen. Aber was ich nicht vergessen werde, ist, dass du mich geschlagen hast, und dafür kannst du dich wohl nicht entschuldigen, was? Na gut, ich habe dich vielleicht provoziert, aber das war es auch schon. Ich habe dich noch nie angefasst!“
 

„Aber...“
 

Auch Scarlett schluckte hörbar und ihre Augen huschten von Unsicherheit erfüllt zwischen ihren beiden Mitbewohnern hin und her. Es war das erste Mal, dass Maxime so etwas wie Besorgnis in ihrem Blick entdeckte – und diese Besorgnis galt offenbar nicht Yukiko, sondern tatsächlich seiner Person! Dieses Gefühl verstärkte sich nur noch mehr, als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte und seufzend ausatmete. Ihre Hand, mit der sie den Löffel erneut anheben wollte, zitterte so heftig, dass sie sie wieder sinken lassen musste.
 

„Das reicht jetzt. Das ist mir alles zu blöd!“, zischte sie leise und schon nach kurzer Zeit veränderte sich Scarletts Miene ein zweites Mal. „Ich hasse die ständigen Streitereien in diesem Haus! Damit vergiftet ihr die ganze Atmosphäre. Mittlerweile ist es doch kein Wunder mehr, dass wir immer noch zu dritt sind, obwohl hier eigentlich sechs Kinder wohnen sollten. Die Beamten vom Jugendamt haben bemerkt, dass wir nicht in der Lage sind, wie gewöhnliche Menschen miteinander zu leben. Wir sind in ihren Augen unfähig. Deshalb wollen sie auch keine neuen Teilnehmer zu uns schicken. Und ihr zwei unterstützt dieses Bild mit eurem albernen Gezanke auch noch. Vielen Dank!“
 

Dann begann Scarlett plötzlich, leise zu schluchzen. Ihre schönen, pinken Augen erstrahlten in einem verdächtigen Glanz und ehe sich ihre Mitbewohner versahen, war sie auch schon aufgesprungen und aus der Küche gerannt.
 

„Wunderbar, jetzt haben wir sie endgültig vertrieben“, knurrte Yukiko sarkastisch.
 

Laut polternd stürmte Scarlett in die erste Wohnetage hoch und beiden anderen schauten ihr mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht hinterher.
 

„Und das alles wegen so einer Kinderkacke.“, zischte Maxime verächtlich.
 

„Oh! Du meinst wohl eher, wegen deinem idiotischen Vorschlag!“
 

Wütend starrten Yukiko und Maxime einander an. Niemand war in der Lage etwas zu sagen oder auch nur zu wissen, was als Nächstes passierte. Ganz egal wie freundlich die attraktive Frau zu Scarlett oder zu anderen Menschen war, sie hasste Maxime aus tiefster Seele und ließ ihn dieses Gefühl bei jeder Gelegenheit spüren.
 

„Mir ist der Appetit vergangen. Ich gehe auch!“
 

Yukiko gab sich keine Mühe um den Streit zu bereinigen und verschwand im Hausflur. Ein paar Sekunden hörte Maxime sie noch schimpfen und fluchen, dann wurde die Wohnungstüre aufgerissen und gleich darauf wieder zugeschlagen.
 

Seufzend stand Maxime auf und räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine.
 

Alle drei Tage half Yukiko für ein paar Stunden in einem kleinen Café aus, und stockte damit ihr mageres Taschengeld auf. Das einzig Gute daran war, dass Maxime sie dadurch nicht so oft ertragen musste. Aber er fand es ziemlich gemein, dass Yukiko ihre niedergeschlagene beste Freundin einfach alleine zurück ließ. Wenn es Raphael oder Charlotte schlecht ging, würde er alles tun, um sie wieder aufzumuntern.
 

Maxime biss die Zähne zusammen und knurrte wie ein schlechtgelaunter Pitbull. Er ärgerte sich noch ein bisschen über Yukiko und ihre herablassende Art, doch es hatte keinen Sinn, sich darüber zu beschweren. Sie war eben eine Diva und würde sich niemals ändern!
 

Nachdem er am Abend ein entspannendes Schaumbad genommen hatte, fühlte sich Maxime schon gleich besser und wieder ausgeglichen. Lässig zog er sein knallrotes Haarband fester und warf sich seinen langen, geflochtenen Pferdeschwanz über die Schulter nach hinten. Danach fischte er einen kleinen, Schaumgummi überzogenen Knopf aus seinem Bademantel hervor. Er war durch ein Kabel mit seinem Mp3-Player verbunden und versorgte Maxime die ganze Zeit über mit Musik, während er gemütlich in sein Zimmer tapste und sich draußen auf seinem kleinen Balkon niederließ.
 

Seufzend streckte der Junge seine müden Glieder. Ach, wie herrlich es hier draußen doch war! Auch wenn dicke Gewitterwolken wie hungrige Aasgeier ihre Runden am Horizont drehten, war die Luft immer noch angenehm warm.
 

Die sanften Klänge der Musik ließen ihn genießerisch die Augen schließen und in das weiche Kissen seines Liegestuhls sinken. Maxime träumte von warmen Händen und von süßen Typen mit muskulösen Körpern. Er schien nicht zu merken, dass sich ein feines Grinsen auf seine Züge geschlichen hatte, doch die Berührungen wurden von Sekunde zu Sekunde immer realer. So real, bis er irgendwann wirklich glaubte, eine warme Hand auf seiner Schulter zu spüren. Irgendwie war das Gefühl aber anders, als erwartet. Die Hand streichelte ihn nicht sanft. Die Hand bohrte ihre spitzen Fingernägel erbarmungslos und mit Nachdruck in seine Haut.
 

Schockiert riss Maxime die Augen auf und blickte zielgenau in zwei schimmernde Bernsteine.

Ihm gegenüber, auf dem schmalen Geländer des Balkons, saß ganz lässig ein junger Mann, welcher dem verdutzten Jungen ein breites Lächeln schenkte. Er hatte etwas längere dunkelbraune Haare, die ihm ungehindert in das attraktive Gesicht fielen.
 

„Jo!“, grüßte der Fremde freundlich.
 

Unfähig, das Gesehene zu begreifen, blieb Maxime erst mal still sitzen und starrte den späten Besucher einfach nur entgeistert an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den ersten Schrecken verdaut hatte.
 

„Wie...Wie, in drei Teufels Namen, kommst du hier hoch?“, stieß Maxime keuchend hervor, und riss sich in der gleichen Bewegung die Kopfhörer aus den Ohren.
 

Die Sonne schien hinter den Gewitterwolken verschwunden zu sein. Die großen, alten Eichen, die rund um das Mehrfamilienhaus wuchsen, spendeten zusätzlich Schatten und bestärkten das beklemmende Gefühl, welches sich langsam in Maximes Herz ausbreitete. Sein Zimmer befand sich im zweiten Stockwerk, der Balkon war mehr als 11 Meter von der Erde entfernt. Wie um alles in der Welt war der Mann hier hochgekommen? Nirgendwo stand eine Leiter oder etwas Ähnliches.
 

„Ich bin geklettert“, erklärte der Mann zugleich, der wohl Gedankenlesen konnte. „Na, dein Gedächtnis scheint aber nicht mehr das Beste zu sein. Du erkennst mich wohl nicht wieder!“ Leichtfüßig sprang der Kerl von dem Geländer, schlug die Hacken zusammen und deutete eine kleine Verbeugung an. „Entschuldigen Sie meine aufdringlichen Worte, aber darf ich Ihnen sagen, dass Sie selbst in einem lumpigen Bademantel immer noch umwerfend aussehen?“
 

Bei dieser Bemerkung fiel Maxime alles wieder ein. Schlagartig erschien der letzte Abend in der Disco vor seinen Augen und jetzt wurde ihm klar, woher er diesen Satz kannte. Vor ihm stand der unheimliche Mann, der ihn an jenem Ort in die Ecke gedrängt hatte.
 

Der braunhaarige Schönling setzte sich auf einen kleinen Plastiktisch und ließ seine goldgelben Augen über das Anwesen gleiten. Schließlich drehte er sich wieder zu Maxime und ein weiteres Grinsen verzerrte seine attraktiven Züge. „Hey, du sagst ja gar nichts mehr. Habe ich dir Angst gemacht? Dabei wollte ich dieses Mal doch gar keinen Ärger machen... Oh, aber da fällt mir doch gerade ein, dass ich mich bis jetzt noch nicht vorgestellt habe!“
 

Rasch stand der Mann wieder auf seinen Beinen. Er drückte die linke Hand in einer alten Geste auf die Brust und schob die andere von seinem Körper weg. „Mein Name ist Nathan, und ich bin der Besitzer dieser Stadt. Bergedorf ist mein Revier und ihr Menschen seit mein geliebtes und geschätztes Volk. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen.“
 

Doch Maxime empfand alles andere als Freude. Viel lieber würde er diesen eigenartigen Kerl mit einem gezielten Tritt von seinem Balkon befördern! Er fand Nathan unheimlicher als alle anderen Dinge, die er bis jetzt erlebt hatte. Daimon, Avalon und die Kreatur im Wald konnte er wenigstens noch in eine geeignete Schublade einsortieren, aber an Nathan zerbrach alles, was irgendwie einen logischen Hintergrund besaß. Der Kerl war Irre! Am Sonntagmorgen musste er ihm nach Hause gefolgt sein, wenn er wusste, wo er wohnte!
 

„Warum bist du hierhergekommen? Wenn du keinen Ärger möchtest, weiß ich nicht, was du hier zu suchen hast...“
 

„Weil ich sehen wollte, ob du meine Botschaft an die Nemesis-Göre weiter gegeben hast, aber deine Erinnerungen geben mir schon die Antwort auf diese Frage. Bis jetzt hast du ihr noch nichts erzählt. Das ist schade, denn jetzt muss ich dir wohl oder übel wehtun. Es ist nicht einfach, den richtigen Weg zwischen Nachsicht und Strenge zu finden. Leider wirst du nun die Konsequenzen für deine Ungehorsamkeit zu spüren kriegen..“
 

Innerhalb von wenigen Sekunden war Maxime hochgesprungen und hatte sich hinter einen großen Blumentopf versteckt. Nathan sah im ersten Augenblick ein wenig verdutzt aus, lachte aber leise über die Flucht und winkte lässig mit der Hand ab.
 

Trotz aller Schnelligkeit stand der ältere Mann einen Wimpernschlag später vor Maxime und packte den verstörten Jungen grob am Arm. Er grinste so bösartig, dass es Maxime augenblicklich schlecht wurde. Nathan wusste anscheinend ganz genau, was er wollte; er stieß sein Opfer mit einen kurzen Schlag auf die Schulter zurück in das Schlafzimmer.
 

Maxime stolperte haltlos über herumliegende Bücher und wollte sich aus Nathans Gewalt befreien, doch der hübsche Mann war leider stärker, als er aussah. In seinen schlanken Händen steckte so viel Kraft, dass die Fensterscheibe einen kleinen Riss bekam, als er die Balkontüre knallend hinter sich zu schlug.
 

„Was wird das hier!?“ fauchte Maxime verunsichert. „Lass mich los. Wenn du nicht bei drei aus diesem Zimmer verschwunden bist, werde ich mich vergessen und dir das blöde Feixen aus dem Gesicht prügeln. Ich habe den schwarzen Gürtel in Kung-fu!“
 

Nathans goldene Augen glänzten wie Eis. Unbeeindruckt bugsierte er Maxime weiter durch das Zimmer und schubste ihn schließlich mit den Rücken voran in das große Bett. Spätestens an dieser Stelle hatte der Junge verstanden, was hier gespielt wurde...
 

„Vielleicht kannst du mich nicht mit Kampfsport in die Flucht schlagen, aber gegen ein bisschen Matratzensport sage ich nie nein.“ Mit der Zunge fuhr sich Nathan über die karamellfarbende Unterlippe und musterte den rosahaarigen Jungen mit einem hungrigen Blick. „Du bist doch sicher keine Jungfrau mehr, oder? Es nervt mich nämlich, wenn ich eine habe und immer Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nehmen muss. Aber bei dir sieht das wohl anders aus. Ich glaube, du magst es, wenn man dich auf die harte Tour nimmt.“
 

Ein scharfes Knurren rollte über Maximes Lippen. Als Nathan seinen Oberkörper senkte und breitbeinig auf das Bett kletterte, fühlte sich sein Innerstes wie Eis an. Frech grinste ihn der Mann von herab an, und schon alleine für diese gemeine Geste hätte ihn Maxime erwürgen können.
 

„Jetzt lächel´ doch auch mal, Kleiner. Warum bist du so zimperlich? Als ich dich am Wochenende in der Disko angesprochen habe, warst du auch nicht so zurückhaltend.“ Ohne auf die Antwort zu warten, hob Nathan seine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über den flauschigen Stoff des Bademantels. Ein zufriedenes Schnurren brummte in seine Kehle, anscheinend gefiel Nathan die Aussicht von da oben.
 

„Pech für dich! Ich stehe nun mal nicht auf adelige Snobs. Also verpiss´ dich.“
 

Maxime rollte sich auf die Seite und wollte Nathan die stützenden Hände wegschlagen, doch diese Bewegten sich keinen Millimeter vom Fleck. Verflucht! Wieso hatte er sich nicht richtig angezogen? Jetzt lag er hier nur in seinen dünnen Bademantel gehüllt und wusste nicht, wie er diesen schrägen Kerl loswerden sollte.
 

„Tja, wohl eher Pech für dich. Mich wirst du erst los, nachdem ich dir das Gehirn aus deinem hübschen Kopf gevögelt habe...“ Nathans Lippen verzogen sich zu einer strengen Linie und seine Stimme hatte mit einen mal einen harten Unterton bekommen. Rasch flog seine Hand wieder nach oben, umfasste Maximes Kinn und zwang ihn hochzuschauen.
 

Unweigerlich erschauderte Maxime. Okay, nicht ganz neidlos musste er zugeben, dass der junge Mann doch nicht so schlecht war, wie vermutet. Und verflucht noch mal, vorher wusste Nathan, dass er bei dominanten Männern so scharf wurde wie eine Rasierklinge?!
 

Auch diese Gedankengänge musste Nathan gelesen haben; sofort erhellte ein Schmunzeln seine Miene. Durch diese Empfindungen ermutigt, senkte er seinen Kopf und drückte Maxime einen heißen Kuss auf den entblößten Hals.
 

Unter anderen Umständen hätte Maxime dem arroganten Arschloch nun die Ohrfeige seines Lebens verpasst, aber sein Körper erstarrte unter der intimen Berührung. Unruhig rutschte er von links nach rechts. Doch alles zappeln und wehren hatte keinen Sinn, Nathans Lippen hatten sich bereits wie eine Saugglocke an seine Haut geheftet. Gleichzeitig ertönte ein dunkles Lachen aus seiner Kehle und die Zähne, die verdammt spitzen Zähne des Mannes, bohrten sich in der nächsten Sekunde in Maximes helles Fleisch.
 

„Oh Gott...“, stöhnte er erregt und verwünschte seinen verräterischen Körper. Maxime bebte. Seine Haut glühte wie Feuer.
 

Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Maxime setzte seinen devotesten Blick, zu dem er fähig war, auf und sah Nathan von unten herauf an. Mit seiner Zungenspitze fuhr er leicht über seine geöffneten Lippen und spürte ein erregtes Kribbeln in seinem Lendenbereich. Obwohl bis jetzt noch nicht viel passiert war, war er schon verdammt geil! Aber das war nun mal die Strafe dafür, wenn man in dem besten Alter auf Sex verzichtete; dann machte die Libido, was sie wollte!
 

„Willst du mich noch weiter quälen, oder irgendwann auch ficken?“
 

Maximes Worte klang hart und ordinär, aber es war ein Test, weil er wissen wollte, wer hier eigentlich wen in der Hand hatte. Auch Nathan wirkte nicht mehr ganz so cool wie am Anfang. Unter seiner Jeanshose zeichnete sich ein erregtes und verdammt scharfes Glied ab. Nun wollte er Nathan wirklich haben! Jetzt verabschiedete sich seine Angst und in Maxime erwachte das Raubtier.
 

Nathan staunte nicht schlecht, als sich sein „Opfer“ plötzlich aufbäumte, die langen, rot lackierten Fingernägel in seinen Nacken grub und ihn so heftig an seine Lippen zog, dass er sogar einen kurzen Angstschrei ausstieß. Der Junge war plötzlich wie ausgewechselt. Ehe er sich versah, hatte Maxime seine ganze Kraft zusammengenommen, Schwung geholt und Nathan auf die Seite geworfen. Keine 2 Sekunden später hatte sich das Blatt gewendet. Nun lag Nathan mit den Rücken auf der Matratze und Maxime hockte wie eine Harpyie auf seiner Brust.
 

„Ich bin keine Schlampe, die sich von jedem daher gelaufenen Kerl knallen lässt“, zischte Maxime und seine Pupillen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Er sah, wie Nathan die Spucke wegblieb und den Mund auf riss. Diese Gelegenheit nutzte der Junge sofort; geschickt und sehr schnell zwang er Nathan einen weiteren Kuss auf und zerteilte seine Lippen mit einer raschen Bewegung.
 

Als Maxime den Mann nach einigen Sekunden wieder los ließ, keuchte Nathan sichtlich schockiert. „Himmel! Ich dachte, du bist unterwürfig!“
 

Nun grinste der Rosahaarige bösartig und nun war er es, der Nathans Kopf auf die Seite drehte und ihm hart in den Hals biss. Ein paar Sekunden hörte er den Mann bloß die Luft anhalten, dann begann sich Nathans Körper gegen die Schmerzen zu wehren und das nicht gerade sanft. Maxime musste ihn mit seinem Gewicht und seiner ganzen Kraft festhalten. Die Rangelei dauerte mehrere Minuten, offenbar wollte keiner so richtig nachgeben. Am Ende behielt Maxime die Oberhand und Nathan kassierte einen brutalen Schlag auf den Brustkorb.
 

Warum Maxime sich so plötzlich verändert hatte? Nun, er hatte noch nie zu der Sorte von Männern gehört, die ihrem Partner gerne die Führung überließen. Bei allen anderen Dingen ja, da lehnte er sich gerne zurück und genoss, aber nicht beim Sex. Er bestimmte gerne, wo es lang ging und nur sehr wenigen, geeigneten Männern schenkte er das Vergnügen, seinen Arsch zu nehmen. Und im Moment war er so wütend auf diesen eingebildeten Kerl, dass er das auf keinen Fall zulassen würde.
 

Was als ein harmloses Spiel begonnen hatte, verwandelte sich mit dem nächsten Kuss in bitteren Ernst. Inzwischen fand Nathan seine untergeordnete Position gar nicht mehr so schlimm, lächelte fein, und sog Maximes Unterlippe in seinen Mund.
 

„Du hast mich ziemlich überrascht, Süßer. Anscheinend bist du ein kleiner Löwe, kein Kätzchen.“

Zärtlich knabberte Nathan an dem süßen Fleisch und ließ seine Hände unter dem Bademantel verschwinden. Wie er vorhin schon vermutet hatte, fühlte er dort keinen störenden Stoff, sondern nackte, heiße Haut.
 

„Und du bist doch nicht so verrückt, wie ich dachte“, gestand Maxime und keuchte hemmungslos auf. Dass sie nicht alleine waren und Scarlett eine Etage tiefer saß, machte das Ganze noch viel spannender. Mittlerweile hatte sich sein Keuchen in ein richtiges Stöhnen verwandelt. Die kühlen Finger auf seiner erhitzten Haut waren der Oberwahnsinn!
 

„Wie süß deine Stimme klingt, wenn du stöhnst.“ Nathan leckte ein letztes Mal über Maximes Lippe und entließ sie dann in die Freiheit. Als er einen Blick nach oben richtete, konnte er ein Grinsen nicht länger unterdrücken. „Machst du das öfters? Gehst du häufig mit wildfremden Männern ins Bett?“
 

„Tzz! Ganz sicher nicht!“ Maxime griff nach Nathans Händen und drückte sie bestimmend in seinen pochenden Schoss. „Spürst du das hier? Ich platze gleich, wenn du mich nicht bald befriedigst. Komm schon, Nathan, ich möchte, dass wir beide gleich eine Menge Spaß miteinander haben.“
 

Das ließ sich Nathan natürlich nicht zwei Mal sagen. Grinsend presste er die Lippen auf Maximes Kinn und murmelte: „Alles, was du willst.“
 

*xXx*
 

Die Luft im Raum war hart und verbraucht. Maxime war erschöpft, aber der Drang nach Sauerstoff war stärker als die Schwäche. Schließlich schwang er seine langen Beine aus dem Bett und torkelte benommen zum Fenster. Rasch zog er es auf und atmete tief die frische kühle Abendluft ein.
 

Was für eine Nacht, schoss es dem Jungen durch den hämmernden Kopf. Schmunzelnd betrachtete seine Arme und zugleich verschwand das Lächeln wieder. Sie waren zerkratzt und von Bissen übersät!
 

„Dieser Mistkerl...“, grummelte Maxime und streichelte seine Haut vorsichtig mit den Fingerspitzen. Sofort zuckte er unter der jähen Berührung zusammen. Von dem Sex mit Nathan war er immer noch ganz aufgewühlt. Eigentlich wollte er die letzten Stunden schon lange geschlafen haben, aber sein Gedankenkarussell drehte sich einfach immer weiter.
 

Nathan. Dieser beschissene Bastard. Der Kerl wollte seine Mitbewohnerin umbringen und Maxime war nichts Besseres in den Sinn gekommen, als mit ihm in die Kiste zu steigen? Im Nachhinein war man bekanntlich immer schlauer. Nun würde Maxime nichts lieber tun, als seinen Kopf gegen die nächstbeste Wand zu schlagen.
 

Wie oft sie miteinander geschlafen hatten? Einmal? Von wegen! Sie hatten es nicht nur einmal getan, Nathan hatte ihm in den vergangen 2 Stunden mehr als 3 Orgasmen beschert. Der Sex war super gewesen, das konnte Maxime beim besten Willen nicht bestreiten, aber solche Sachen sollte man doch nicht mit seinem... Arg!...Feind machen!
 

Langsam taumelte der Rosahaarige zurück zu seinem Bett und ließ sich mit dem Gesicht nach vorne in das Kissen sinken.
 

Igitt. Es roch immer noch nach dem Kerl. Wahrscheinlich musste er es Morgen in den Mülleimer schmeißen. Angewidert schleuderte Maxime das Ding aus seinem Bett und hörte zugleich das leise Rascheln von Papier. Es war ein kleiner Zettel mit einer langen Zahlenreihe, der da gerade auf den Boden segelte.
 

Verflucht... Der Mistkerl hatte auch noch die Dreistigkeit besessen und ihm beim Abschied seine Handynummer in die Hand gedrückt und etwas von einem „nächsten Mal“ gefaselt. Ein langer Kuss auf die Lippen sollte seine Worte wohl unterstreichen, danach war Nathan auch schon mit einem breiten Grinsen im Gesicht verschwunden.
 

Als Maximes Gedanken allmählich ruhiger wurden und er fast in das Traumland eintauchte, drang plötzlich ein scharfes, hohes Piepen an seine Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen schoss Maxime in eine aufrichte Position.

Er wusste nicht mehr genau, wo er sein Handy das letzte Mal gesehen hatte, doch plötzlich entdeckte er ein schwaches Leuchten am Fußende des Bettes. Da war das Ding also geblieben! Sofort stützte sich Maxime auf das Höllenteil und ließ die laute Musik verstummen.

Oh Gott! Wenn er Scarlett und Yukiko aufgeweckt hatte, konnte er sich morgen Früh wieder eine Strafpredigt anhören,
 

Eigentlich wollte Maxime sein Handy auf dem direkten Weg im Nachttisch verschwinden lassen, aber dann hielt er plötzlich inne. Nanu? Die Nummer auf dem Display hatte er doch schon mal gesehen!

Noch bevor sich sein Gehirn einen Reim auf die Nummer machen konnte, fing das Ding schon wieder an in voller Lautstärke zu summen. Diesmal war es ein digitales Briefchen, was da vor seinen Augen erschien.
 

Erst dachte er an Raphael, der sich wegen vorletzter Nacht an ihm rächen wollte, oder an Charlotte, die mal wieder einen Albtraum hatte und jemanden zum Reden brauchte. Doch es war keiner von seinen besten Freunden. Als Maxime den Namen am Ende der Nachricht las, blieb sein Herz vor Schreck fast stehen.
 

An Maxime:
 

Denk an meine Worte, Kleiner; sag deiner Mitbewohnerin, dass sie aus Bergedorf verschwinden soll! Möglichst bald. Hier ist nicht der richtige Ort für ein Wesen, wie sie.

Die Kreaturen, die hier leben stehen allesamt unter meinem Befehl und sie verletzen keine Menschen. Ich lasse es nicht länger zu, dass das Nemesis-Weib meine unschuldigen Untertanen tötet.

Aber wenn Sie unbedingt einen Sündenbock haben will, bitteschön! Dann soll sie doch in den Wald gehen. Mit der Dämonenfamilie kann sie sich ruhig anlegen, das juckt mich nicht. Mal sehen wer am Ende noch gradesteht. Die Familie oder deine Freundin? Auf jeden Fall wird das ein interessanter Kampf werden. Es ist schon eine Weile her, dass Lichtgestalten und Schattenkreaturen gegeneinander gekämpft haben...
 

Dein König, Nathan
 

„Wie kommt der Assi an meine Nummer?!“, murmelte Maxime gedankenverloren und las die SMS gleich nochmal. „... Nanu, was für eine Familie?“
 

Aber nein, seine Augen hatten sich nicht vertan. Da stand tatsächlich das Wort >Dämonenfamilie< Okay, ganz ruhig, redete er sich selbst ein, das ist sicher ein Synonym für eine schreckliche Familie, die dort im Wald wohnte.
 

Natürlich war Nathan auch kein richtiger König. Eher ein gestörter Psychopath.
 

Aber die Sache mit den Dämonen klang sonderbar. Und lächerlich! Dämonen waren Fabelwesen! Es gab keine Monster. Nur Angst, und verschiedene Krankheiten, die solche „Monster“ in ihrer Präsenz stärkten.
 

Oder wusste Nathan mehr als er?

Kapitel 11: Stalker; Blicke wie Eis

„So, meine Lieben, bis nächste Woche will ich einen zehnseitigen Aufsatz über den italienischen Seefahrer Christoph Kolumbus haben. Ich akzeptiere auch PDF-Dateien oder Powerpoint Präsentationen. Gibt euch Mühe. Nach der letzten Geschichtsklausur haben die meisten von Euch eine gute Note wirklich nötig. Ihr wisst ja, dass ihr bei drei Fünfen auf dem Zeugnis sitzen bleibt. Also, der kommende Donnerstag ist der Abgabetermin.“
 

Stöhnend schlug Raphael seinen Kopf auf die Tischplatte und schnaufte hörbar. Maxime meinte sogar ein leises „Fick dich, du Mistkerl“ aus seinem Mund gehört zu haben.
 

In diesem Moment klappte Herr Asthon das Geschichtsbuch zu. Als es endlich zur Pause klingelte, waren die Jungen und Mädchen der neunten Klasse waren sofort Aufbruch-bereit. Sie klaubten ihre Sachen zusammen und verließen in Windeseile den Raum.
 

„Lass den Kopf nicht hängen. Ich kann dir helfen. Wir können das gerne zusammen machen“, sagte Maxime und schob seinen Stuhl nach hinten.
 

Ihm gefielen die Hausaufgaben auch nicht, aber der Lehrer hatte recht; die letzte Geschichtsklausur war der absolute Horror gewesen. Mit seiner Drei hatte Maxime noch zu den Klassenbesten gehört, alle anderen Schüler erhielten weitaus schlechtere Noten wie er.

Raphael hatte es sogar geschafft, eine Sechs zu kriegen. Keine Fünf, sondern eine Sechs, das Ende aller Taschengeld Erhöhungen. Gott sei Dank hatte er niemanden, der ihm das Geld kürzen konnte.
 

„Laber nicht so eine Scheiße“, knurrte Raphael keinesfalls freundlich und rammte seinen Collegeblock in die Tasche. „Du hast darauf doch auch keine Lust! Und wenn wir so unmotiviert sind, kriegen wir nichts Gescheites gebacken. Dieser Kerl ist so ein Hurensohn! Es ist Freitag, warum gibt er uns so einen Mist auf?! Irgendwann werde ich dem Kerl dafür persönlich die Fresse polieren.“
 

„Raphael!“, zischte Maxime empört. Schnell blickte er zur Tafel, aber zum Glück war ihr Lehrer schon in die Mittagspause gegangen.
 

„Was denn? Ist doch so! Stehst du etwa auf der Seite von dem Wichser? Wollten wir nicht am Wochenende nach Hamburg fahren, oder hast du das schon wieder vergessen?“
 

„Natürlich nicht!“, beeilte sich Maxime zu sagen und folgte Raphael aus dem Klassenraum. Schnell schloss er zu ihm auf und hakte sich bei den Älteren ein. „Aber denkt doch bitte nicht so negativ darüber. Wir schaffen das! Du weißt doch, dass ich gut in der Schule bin, und du bist ein Ass, sobald es um Computerkram geht. Also! Zusammen können wir alles erreichen!“
 

„Aber trotzdem kotzt mich das an! Wir zwei wollten mit Charlotte in den Tierpark gehen und danach noch ein bisschen durch die Altstadt bummeln. Das können wir uns nun abschminken.“ Die anderen Schüler bildeten eine Gasse als Raphael wie eine Straßenwalze an ihnen vorbei rauschte. „Diese Hausaufgaben versauen mir den ganzen Tagesplan! Ich habe sogar extra meinen Vater angerufen und ihn gefragt, ob er mir das Geld für den kommenden Monat schon etwas früher überweisen kann, damit wir uns für Samstagabend etwas zu knabbern und zu trinken kaufen können. Aber der Mistkerl muss uns ja alle Ideen über den Haufen werfen. FUCK!“
 

Draußen angekommen, zündete sich Raphael sofort eine Zigarette an und ging zu ihrem gemeinsamen Stammplatz. Wie immer wurde er am Fahrradkäfig von seinen Freunden erwartet, aber angesichts seines Gesichtsausdrucks sprachen ihn nur die Mutigsten an.
 

„Was ist denn mit dem passiert?“, fragte Charlotte, welche hier auf ihre Freunde gewartet hatte.
 

„Frag nicht“, antwortete Maxime und schloss das Mädchen zur Begrüßung in die Arme.
 

„Warum? Ist das wieder eins eurer Männergeheimnisse?“
 

Maxime verdrehte mit einem kleinen Grinsen die Augen. „Nein, Charlotte, das ist ein Geheimnis zum Ausrasten.“ Sanft löste er ihre Finger aus seinem Nacken und nahm stattdessen ihren Rock in Begutachtung: er war aus blauem Stoff gefertigt, schön dick und schwer, damit er nicht so schnell hoch flog. „Oh ho sexy! Ist unsere kleine Frau Kirschbaum heute auf Beutejagd?“ Das Grinsen verwandelte sich in ein laszives Feixen und Charlottes Wangen fingen Feuer.
 

„N...nein! Aber heute ist es so warm und Mama hat alle meine kurzen Hosen in die Waschmaschine gesteckt. Dieser Rock war das einzige, was ich bei dieser Hitze anziehen konnte!“
 

„Aha. Ich finde ihn aber zu kurz.“
 

Der knappe Rock betonte Charlottes Beine und ließen sie im besten Licht erscheinen. Es war deutlich, was sie mit diesen gewagten Schnitt erreichen wollte: die Aufmerksamkeit der Männer. Natürlich war das dem verantwortungsbewussten Maxime ein gewaltiger Dorn im Auge.
 

Charlotte begann zu schmollen und streckte dem Anderen die Zunge raus. „Schau mal in den Spiegel. Dein Rock ist auch nicht länger!“
 

„Ich bin ein Mann.“ Die Arme noch immer verschränkt bekamen Maximes feine Gesichtszüge einen tadelnden, fast väterlichen Ausdruck der Strenge. „Aber im Gegensatz zu dir kann ich mich verteidigen. Eine kleine und schmächtige Göre wie dich könnte man in jede Seitenstraße zerren und vergewaltigen. Ich bin mir sicher, dass ich einen freien Ausblick auf alles habe, was ein Mann an einem weiblichen Körper interessant finden könnte, wenn ich deinen Rock auch nur ein winziges bisschen anhebe. “
 

In diesen Augenblick fuhr ein heißer Blitz durch Maximes Glieder. Etwas... war hier faul. Unbewusst drehte er seinen Kopf nach hinten und blickte sich verstohlen nach allen Seiten um.

Etwas war hier sogar oberfaul!
 

Plötzlich spürte er einen stechenden Blick im Nacken, der ihm ein Loch in die Haut zu bohren schien. Jemand starrte ihn an. Doch auch als Maxime noch mal die gesamte Gegend abgesucht hatte, konnte er niemanden erkennen der in seine Richtung schaute. Alle hier draußen waren mit sich selbst beschäftigt. Niemand schaute zu ihm. Niemand sah so aus, als wollte er Maxime beim lebendigen Leibe die Haut von den Knochen schälen.
 

„Maxime? Ist was? Du bist auf einmal so still geworden.“
 

Die Stimme seiner besten Freundin vertrieb das stechende Gefühl in seinem Nacken, und Maxime lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. Naja, dieser Blick war sicher nur eine Produktion seiner Einbildung. Nach all den Dingen, die er in der letzten Zeit erlebt hatte, wurde Maxime wohl langsam paranoid.
 

Wo waren sie stehen geblieben? Ach ja, der Rock!
 

Ruckartig griff Maxime nach den Armen des Mädchens und zog sie gewaltsam an seine Brust. In Momenten wie diesen genoss er es, die weiblichen Hormontabletten reduziert zu haben. Nun konnte er wieder so feste zupacken wie die anderen Vertreter seines Geschlechtes.
 

Er hörte wie Charlotte einen kleinen Schrei ausstieß, doch schon in der nächsten Sekunde lagen seine Finger auf ihren Mund. „Na na, wer wird den gleich die Beherrschung verlieren? Aber wer weiß? Vielleicht bin ich ja gar nicht mehr schwul und stehe jetzt auf niedliche, Miniröckchen tragende Zehntklässlerinnen. Hm, wie wäre es mit uns Zweien? Sollen wir mal auf die Toilette gehen?“
 

Maximes Stimme war kaum hörbar gewesen, doch seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht;

Charlotte stand die nackte Panik deutlich ins Gesicht geschrieben.

Beinahe automatisch legte sie ihre Hand über das blaue Kleidungsstück und drückte ihn bestimmend nach unten.
 

Na gut, Maxime wollte es mit seinen Verhalten nicht auf die Spitze treiben; nachher war ihm die ältere Schülerin wirklich böse. Vorsichtig strich er Charlotte eine störrische Haarsträhne aus den Augen und umfasste ihr gerötetes Gesicht mit seinen Händen. „Hast du Angst? He, mach dir keine Sorgen, Süße. Ich tue dir nichts. Aber du weißt nicht, was ein anderer Mann mit dir machen könnte, wenn er dich in so einem aufreizenden Outfit sieht. Sei etwas vorsichtiger bei deiner Kleiderwahl, mein Liebling.“ Zum Abschluss ersetzte er seine Finger durch seine Lippen und küsste das zarte Gesicht des Mädchens.
 

„Alter... Was geht bei euch ab? Habt ihr jetzt genug geknutscht?“
 

Die zwei Freunde zuckten zusammen, als jemand die Arme um ihre Schultern schwang. Ohne ihn zu bemerken, war Raphael auf einmal hinter ihnen erschienen und hatte den beiden einen gewaltigen Schrecken eingejagt.

Eine Weile blödelten die Drei noch auf dem Pausenhof herum, warfen sich nicht sehr ernstgemeinte Beleidigungen an den Kopf und lachten über die Blicke der anderen Leute. Irgendwann ging Charlotte die Luft aus und sie hob flehend die Hände.
 

„Ich gebe auf!“, keuchte sie. „Ich gebe mich geschlagen. Gnade!“
 

Raphael zwickte dem Mädchen ein letztes Mal liebevoll in die Nase und drückte ihr dann einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Hey Süße, Maxime und ich haben jetzt eine Freistunde. Unser Mathelehrer hat sich krank gemeldet. Wir wollen die nächsten 2 Stunden ein bisschen in der Bücherei abhängen und ein paar Bücher über Amerika wälzen. Du hast Unterricht, oder?“
 

„Ja, leider.“
 

„Dann schreiben wir nachher aber noch mal miteinander.“, sagte Maxime und schaute kurz auf seine Armbanduhr. „Heute Abend, okay? Ich möchte jetzt wissen, ob deine Eltern ja sagen und du nach dem Ausflug am Samstag auch bei mir schlafen darfst.“
 

Als Charlotte ihren Eltern vor einigen Tagen von der Übernachtung bei ihrem Freunden erzählt hatte, waren die beiden auf einmal ungewohnt skeptisch geworden. Vielleicht lag es daran, dass Maxime und Raphael bis jetzt immer nur im Hause Kirschbaum übernachtet hatten, und noch nie in ihren eigenen Wohnungen.
 

„Ach, ihr wisst doch wie spießig meine Eltern sind. Nachher rede ich nochmal mit meinen Vater. Vielleicht habe ich heute mehr Glück“, murmelte sie aufmunternd. „Wenn ich ihm versichere, dass ihr mir keine Drogen in die Fanta mischt und dann irgendwelche krummen Sachen abzieht, wird er schon nichts dagegen haben.“
 

Einige Minuten später hallte das Klingen der Pausenglocke über den Hof und die meisten Schüler verzogen sich zurück in das Schulgebäude. Auch Charlotte verabschiedete sich mit einer liebevollen Umarmung von ihren Freunden und verschwand in der Menschenmenge.
 

„Lass uns unsere Schulbücher wegbringen und dann in das alte Gebäude gehen.“, sagte Maxime, nachdem er Charlotte so lange hinterher geschaut hatte, bis sie nicht mehr zu sehen war. „Um diese Zeit wird wohl niemand in der Bücherei sein, oder? Die meisten Schüler sind jetzt bestimmt im Unterricht. Dann haben wir unsere Ruhe und können schon mal mit den Recherchen zu Columbus beginnen.“
 

„Das denke ich auch. Vielleicht sehen wir einen Fuzzi aus der Sonderklasse, aber die Chancen sind relativ gering. Wofür brauchen diese Superhirne denn noch Bücher? Wissen die nicht jetzt schon alles?“
 

Maxime lachte auf, dachte an den arroganten Kiley Sandojé, und ging mit Raphael zurück ins Hauptgebäude. Jetzt, wo alle Schüler in ihren Klassenräumen waren, herrschte auf den Fluren eine fast schon gespenstische Stille. Wo sonst immer reger Betrieb herrschte, konnte man nun eine Stecknadel fallen hören.
 

Zielstrebig steuerte Maxime seinen Spind an, welcher von oben bis unten mit bunten Stickern, oder irgendwelchen Fotos verziert war. Hier kugelte sich ein Kätzchen über die Türe, da guckte ihm ein Bild von Raphael und Charlotte entgegen.

Als Maxime gerade das letzte Buch in den Schrank schob, runzelte Raphael plötzlich seine Stirn. „Guck mal, da liegt was. Du hast einen Brief bekommen!“
 

Maxime folgte dem Beispiel seines besten Freundes und schaute auf die Stelle, wohin Raphaels Finger zeigte; auf dem Boden seines Spinds lag ein einzelner, glatter und weißer Umschlag. Die Seite die die Freunde sehen konnten, war mit einer schönen und grazilen Handschrift versehen. Aber viel war dem Absender offenbar nicht eingefallen, denn er hatte nur ein einziges Wort auf die Rückseite geschrieben. Maxime. Schon wieder...!
 

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen griff Maxime nach dem Brief und schluckte die aufsteigende Säure hinunter. Oh, oh, er ahnte Böses, als er den Brief mit den Fingern aufschlitzte und einen Zettel aus der Hülle zog.
 

„Und? Wer hat dir geschrieben?“ Raphael war offenbar genauso neugierig wie Scarlett und beugte sich über Maximes Schulter.
 

„Niemand.“
 

„Wie niemand?“
 

„Keiner. Hier steht nichts.“
 

Der Zettel war schneeweiß. Keine Drohung, keine Erklärung, kein gar nichts. Fast schon hätte Maxime mit einen neuen Attentat gerechnet, aber das ihm der Absender diesmal GAR NICHTS zusagen hatte, fand er noch beunruhigender. Warum hatte ihn dieser Jemand schon wieder einen Brief geschickt, wenn es ihm offenbar an kriminellen Ideen mangelte?
 

„Am Sonntagmorgen hat mir auch jemand einen Brief geschickt“, murmelte Maxime leise. „Jemand hat gedroht, das Haus abzufackeln. Und jetzt bekomme ich schon wieder eine Nachricht ohne Absender.“
 

Raphael zog eine finstere Miene und blies sich eine hellblond gefärbte Haarsträhne aus den Augen. „Aha? Schön, dass ich so was als dein bester Freund erst jetzt erfahre...“
 

„Raphael, bitte, jetzt reg´ dich nicht schon wieder auf!“, zischelte Maxime unwirsch. Auch wenn er es nicht mochte, musste er jetzt lügen, damit der Ältere keinen Verdacht schöpfte. „Sei mir nicht Böse. Bis gerade eben hatte ich diesen Brief auch schon wieder vergessen!“
 

„Pfft! Dann musst du vorsichtiger sein! So eine Drohung sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Anscheinend weiß der Kerl nicht nur wo du wohnst, sondern auch wo deine Schule ist. Demnach wird er dich ausspioniert haben, oder es ist jemand, der dich kennt.“
 

„Daran habe ich bis jetzt noch gar nicht gedacht!“ Geschockt riss Maxime seinen Mund auf. „Wer weiß, was der Kerl oder das Weib noch alles von mir weiß. Oh Gott, ich glaube, ich habe einen Stalker!“
 

„Das ist nicht witzig. Wenn du noch mal einen Brief von dieser Person bekommst, würde ich an deiner Stelle sofort zur Polizei gehen. Ich habe keine Lust meinen besten Freund im Krankenhaus zu besuchen, weil er nicht früher reagiert hat und das Opfer eines Brandes geworden ist.“
 

„Ach was, so weit wird es schon nicht kommen.“
 

Maxime versuchte Raphael mit einem breiten Grinsen aufzumuntern und steckte das weiße Blatt zurück in seinen Umschlag. Er fand es schrecklich wenn sich seine Freunde Sorgen machten, deshalb hatte er ihnen nichts von dem Drohbrief erzählt. Oder von all den anderen Dingen, die er in der letzten Zeit erlebt hatte.
 

Bevor sie zum alten Schulgebäude aufbrachen, inspizierte Maxime seinen Schrank noch mal von oben bis unten. Aber der war bis auf seine Schulsachen leer und unauffällig. Nach dem Fund war Raphaels Laune wieder im Keller, und er gab nur noch bissige Kommentare von sich. Auf jede Frage bekam Maxime von jetzt an nur noch kalte und gereizte Antworten zu hören, was auch seine Laune schnell zum Sinken brachte. Kurz darauf betraten die Freunde die Bücherei.
 

Zu allen Überfluss spürte Maxime auf einmal auch noch ein lästiges und beißendes Jucken an den Fingern. Vielleicht war das ja ein Zeichen, dass er dem Blonden an die Kehle gehen sollte. Aber nein. Maxime gab sich Mühe seine Laune zu verbergen.
 

„Guck mal, das ist ein gutes Buch. Hier stehen echt interessante Dinge drin.“, sagte Maxime und schob ein dickes Geschichtsbuch zu Raphael über den Tisch.
 

„Gut.“
 

„Ah, und hier gibt es auch ein paar Informationen über Columbus´ Kindheit. Vielleicht sollten wir das auch in den Aufsatz einbauen, ein paar Hintergrund Informationen können schließlich nie schaden. Das wird Herr Asthon zeigen, dass wir uns mit dem Thema beschäftigt haben.“
 

„Aha, richtig.“
 

Nach einer Dreiviertelstunde war Maxime mit der Situation total überfordert. „Dann mach´ denn Mist doch alleine, wenn du keinen Bock auf mich hast!“, rief er gereizt. Knallend warf er einen Stapel mit Büchern auf den Tisch, würgte Raphael noch einen gemeinen Spruch rein und verschwand dann mit wehender Haarmähne aus der Bücherei.
 

Maxime lief zügig an den verschiedenen Klassenzimmern vorbei und ignorierte dabei die Tatsache, dass er sich wie ein bockiges Kind verhielt, dem man gerade die Süßigkeiten abgenommen hatte. Kurz nachdem er in einen der vielen Gänge abgebogen war, hielt er abrupt an. Nanu? Hätte hier jetzt nicht eigentlich der Ausgang sein müssen?
 

Und dann spürte er es schon wieder.
 

Ein Blick, so scharf wie ein Messer, bohrte sich mit alle Gewalt in seinen Rücken. Schnell, so schnell er konnte, wirbelte Maxime herum. Aber er sah niemanden! HIER. WAR. KEINE. MENSCHENSEELE!

Und doch hatte er die Augen auf seiner Haut deutlich gespürt. Diesmal, war das sicher keine Einbildung gewesen!
 

„Scheiße ey.“, knurrte Maxime und kratzte sich geistesgegenwärtig an der Hand. „Ich werde hier langsam aber sicher verrückt.“
 

Da ihn das Wissen beobachtet zu werden störte, ging er schnell weiter den Flur entlang, um den Blicken zu entkommen. Seine Angst trieb Maxime immer tiefer in den verwinkelten E-Trakt hinein. Leider hatte er seine Orientierung irgendwann gänzlich verloren. Es reichte ja nicht, dass er erst seit 3 Monaten auf der Schule war und sich hier deshalb noch nicht zurecht fand. Nein! Hier musste auch noch jeder verdammte Flur und jede beknackte Türe absolut identisch aussehen!
 

Schließlich legte Maxime eine Pause bei der Herrentoilette ein. Zuerst mal wollte er seine Blase erleichtern und die juckenden Hände waschen. Dann würde er weiter machen, und nach dem Ausgang aus diesem verfluchten Labyrinth suchen.

Kurz bevor seine Finger die silberne Messingklinke erreicht hatte, vernahm er von der anderen Seite der Türe auf einmal eine tiefe, kraftvolle Stimme. Rasch zog er seine Hand zurück und lauschte. Wenn Maxime die gereizte Tonlage richtig deutete, dann flogen auf der Toilette gerade die Fetzen...
 

„...so, ich hoffe, dass wir uns nun verstanden haben? Das war das letzte Mal, dass ihr den Kleinen angefasst habt, kapiert?“, giftete die Männerstimme bedrohlich. „Wenn ich noch mal von irgendwelchen Vorfällen höre, oder wenn ihr meine Warnung in den Wind schießt, dann wird euch noch nicht mal mehr die Polizei helfen können. Dann seid ihr am Ende. Meinen kleinen Bruder könnt ihr mit eurer miesen Schläger-Nummer vielleicht beeindrucken, aber ich bin mit anderen Wassern gewaschen! Gegen mich habt ihr nicht den Hauch einer Chance!“
 

Okay, dachte Maxime, da gibt es wirklich Ärger! Oh, wie gerne würde er nun die Türe aufdrücken und einen kurzen Blick in den Raum werfen! Aber dann würde er womöglich mitten in einen Konflikt rein stolpern, der ihn nichts anging, und dadurch noch womöglich böses Blut erzeugen. Nein, darauf hatte Maxime wirklich keine Lust. Also blieb er lieber hier draußen stehen und drückte seine Ohren an das Holz.
 

„Ist ja gut. Wir haben es jetzt verstanden...“, brummelte eine zweite Stimme und Maxime bekam das ungute Gefühl, sie zu kennen. „Wir lassen deinen Bruder von jetzt an in Ruhe. Hätte ich schon früher gewusst, dass ihr beiden Geschwister seid, wären wir ihm wohl von Anfang an aus dem Weg gegangen.“
 

„Das will ich auch hoffen. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werden wir wohl kaum

eine Gelegenheit zum Sprechen haben. Dann werde ich nämlich euch die verbliebenen Milchzähne raus prügeln. Na dann, Botschaft ist damit angekommen. Schönen Tag noch!“
 

Mit einem leisen Quietschen wurde die Toilettentüre plötzlich von innen aufgerissen. Maxime schaffte es gerade noch einen Satz zur Seite zu machen, ohne über seine eigenen Beine zu stolpern.
 

„Vorsicht, Kleiner. Nicht hinfallen.“
 

Eine kräftige Hand ergriff Maximes Ellenbogen und zog ihn brutal nach vorne. Der Junge hievte ihn in eine aufrechte Position zurück und setzte ein falsches Lächeln auf. „Sorry, ich habe nicht daran gedacht, dass es hier auch noch andere Menschen mit Bedürfnissen gibt. Tut mir leid, wenn ich dich erschrocken habe.“
 

Maxime atmete bei diesem Satz innerlich auf. Puh, Glück gehabt. Anscheinend war der Mann nicht auf die Idee gekommen, dass er an der Türe gelauscht hatte. Erleichtert hob er den Blick, schaute auf das schwarze T-Shirt von einer Rock-Band und legte den Kopf in den Nacken. In dem Moment, wo er das Lächeln erwidern wollte, erstarrten seine Züge zu Eis.
 

Vor ihn stand ein Hüne von einem Mann. Der Kerl, der ihn gerade vor einen Sturz bewahrt hatte, war niemand Geringeres als Daimon Sandojé. Kileys fucking Zwilling!
 

Noch während der Ältere die Finger von Maximes Arm nahm, standen diesem schon die ersten Tränen in den Augen. Die Schicksalsgöttin hatte heute offenbar ihren humorvollen Tag. Ansonsten konnte sich Maxime nämlich nicht erklären, warum ausgerechnet er, von über 400 Schülern, plötzlich diesem Einen begegnen musste, der seinen Untergang bedeuten könnte.
 

Daimon bemerkte die Anspannung glücklicherweise nicht und hob stattdessen seine Augenbrauen. „Hast du dir auf die Zunge gebissen? Du guckst auf einmal so verstört.“
 

„Nein... Ich... Tut mir leid. Ich... habe mich verlaufen. Jetzt kann ich den Weg nach draußen nicht mehr finden“, stammelte Maxime hektisch. „Und da dachte ich, vielleicht bekomme ich auf dem Klo einen Geistesblitz.“
 

„Ach so. Na dann bist du hier aber im falschen Gang. Der Ausgang ist einen Flur weiter.“, erklärte Daimon kühl. „Du musst wieder zurückgehen und in den nächsten Gang auf der linken Seite abbiegen. Dann kommst du am Chemieraum vorbei, und zwei Türen weiter siehst du dann schon den Weg nach draußen.“
 

Die meisten Schüler würden sich wohl glücklich schätzen, wenn sie einer lebenden Legende wie Daimon gegenüber standen oder mit ihr sprechen konnten. Immerhin war sein Name, oder die Bezeichnungen; „Die Sandojés“, oder die „Sandojé-Zwillinge.“, für jeden hier ein Begriff. Doch Maxime fühlte sich wie ausgeliefert. Vor ihn stand nicht nur ein berühmter Schüler – vor ihn stand ein gemeiner Brandstifter und Mörder!
 

Daimon verabschiedete sich mit einem Nicken und lief dann zügig an ihn vorbei. Da Maxime nun die Gelegenheit hatte, flog sein Kopf nach hinten und er nahm in Sekundenschnelle alle Details auf, die er gesehen hatte oder immer noch sah:
 

Mit seinen roten, schulterlangen Haaren und den symmetrischen Gesichtszügen sah Daimon eigentlich ganz attraktiv aus. Aber der kalte, boshafte Ausdruck in seinen smaragdgrünen Augen machte alle Schönheit zunichte. Für einen gewöhnlichen Teenager besaß Daimon eindeutig zu viele Muskeln. Sie bestärkten den Eindruck, dass er ein unangenehmer Zeitgenosse war, nur noch mehr.

Außerdem schien Daimon eine Vorliebe für Piercings zu hegen. Mehrere zierten seinen Körper, aber am auffälligsten waren die Schmuckstücke in seinem Gesicht. Er besaß mehrere Ohrringe in allen Größen und Formen und einen Metallring in der rechten Unterlippe.
 

In der Zwischenzeit hatte der rothaarige Hulk seine Suche beendet und die Person gefunden, mit der er so dringend sprechen wollte. „Oi, da bin ich wieder. Und hast du mich schon vermisst?“
 

„Pfft, so sehr wie einen Nagelpilz“, murrte Kiley Sandojé mit emotionsloser Miene. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Wo warst du so lange? Ich dachte schon, dass du Hilfe brauchst.“
 

Daimon grinste vielsagend und klopfte Kiley so feste auf die Schulter, das es ihn fast von den Füßen riss. „Du willst mir helfen? Soll ich jetzt lachen?"
 

„Wenn du einen Schlag in die Fresse haben willst, nur zu...“
 

„Oho! Hat Kim heute mal wieder schlechte Laune?“
 

„Kann schon sein.“ Kiley stellte sich leicht auf die Zehenspitzen und schnippte dem Rothaarigen mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Jetzt werd ' hier bloß nicht übermütig, kleiner Bruder. Erzähl´ mir lieber, wie es gelaufen ist. Hattest du Erfolg?“
 

„Natürlich. Wie sehe ich denn aus?“ In einer schnellen, fließenden Bewegung, schnappte sich Daimon Kileys Finger und stöhnte schmerzerfüllt auf, da ihn der Schwarzhaarige in der gleichen Sekunde einen scharfen Leberhaken verpasst hatte.
 

Ein paar Sekunden verharrte Daimon noch in seiner Position, dann pustete er sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und boxte Kiley gegen die Schulter. „Wie niedlich. Na, wolltest du mir auch mal zeigen, dass du ein Mann bist. Ha! Deine Schläge waren auch mal besser. So, du wolltest wissen wie es gelaufen ist? Ich glaube, dass die beiden Typen nun geschnallt haben was Sache ist. Die haben mir versprochen das die unser Nesthäkchen nicht mehr anfassen.“
 

„Das ist auch gut so. Danke, dass du das diesmal übernommen hast. In solchen Angelegenheiten kannst du irgendwie... überzeugender sein als ich.“
 

„Ach ja, das Karate-Training muss sich ja irgendwann mal auszahlen. Und auch wenn es nur darum geht, um mit physischer Stärke anzugeben. Damit hätten wir unsere brüderlichen Pflichten für heute erfüllt, was?“
 

Kiley nickte. Er schenkte dem jungen Mann ein Lächeln, das, wie er wusste, sogar Eis zum Schmelzen bringen konnte. „Okay, ich muss jetzt wieder in die Klasse zurück und mich für meine nächste Vorlesung vorbereiten. Danke nochmal für deine Hilfe, Daimon. Du weißt ja, dass mir bei solchen Konflikten schnell der Hut hochgeht. Und das kann ich in meinem letzten Jahr vor dem Medizinstudium nun wirklich nicht gebrauchen.“
 

*xXx*
 

Er konnte sich nicht genau erklären, wieso er das getan hatte, aber nachdem Daimon Sandojé verschwunden war, war Maxime zurück zu der Toilette geschlichen und hatte wieder angefangen zu lauschen. Nun kamen wieder Stimmen aus dem Raum. Demnach waren da drin wohl drei, und keine zwei Menschen gewesen.
 

„Geht es dir gut?“, fragte eine Stimme mitfühlend, welche Maxime gerade das erste Mal hörte. „Der Kerl hat dir aber ein ordentliches Veilchen verpasst... Oh Mann, dann stimmen also die Gerüchte die man sich über ihn erzählt: Wo Daimon hinschlägt wächst kein Gras mehr.“
 

„Danke, Jaro. Sei so gut und halt´ einfach deine Klappe! Ich bin nicht so scharf darauf zu hören, wie ich aussehe.“

Hinter der Türe dachte Maxime gerade fieberhaft über die Stimmen nach, während er langsam zurückging. Sein Gedächtnis hatte ihn vorhin also nicht getäuscht. Die Stimme des ersten Jungen kam ihn wirklich bekannt vor. Das war Sebastian! Und bei den anderen Jungen, handelte es sich zu hundert Prozent um seinen besten Freund, Jaromir.
 

Auf der einen Seite empfand er Schadenfreude, weil die gemeinen Schläger endlich mal ihre gerechte Strafe bekamen. Auf der anderen hatte er Mitleid, weil sie gegen Daimon und seiner Kraft keine Chance hatten.
 

In der nächsten Sekunde zuckte Maxime innerlich zusammen. Zwei paar Füße näherten sich dem Ausgang und er stand immer noch hinter der Türe. Da Maxime sein Glück dieses Mal nicht herausfordern wollte, nahm er die Beine in die Hand und flüchtete so schnell wie er konnte in den erstbesten Flur.
 

Trotz der kalten Luft stand Maxime plötzlich der Schweiß auf der Stirn. Und das war ungewöhnlich; von so einem kurzen Sprint kam er normalerweise noch nicht mal außer Atem.
 

Maxime stieß mit dem Rücken gegen einen Metallschrank und rutschte daran entlang, bis es nicht mehr weiterging. Er hockte sich auf den Boden, zog die Knie an den Körper und hoffte, dass sich die weißen Punkte vor seinen Augen bald verzogen. Auf einmal ging es dem Jungen kotzübel...!

Kurz rieb er sich über den kribbelnden Handrücken, der sich inzwischen so anfühlte, als feierte dort ein ganzer Schwarm Ameisen eine Party.
 

Doch leider linderte das den Juckreiz nicht im Geringsten. Das Kribbeln und Brennen auf seiner Haut wurde von Sekunde zu Sekunde immer schlimmer. Und als der Rosahaarige einen Blick auf seine Finger warf, fuhr ihm ein gewaltiger Schrecken in die Knochen. Seine Hände, die ganze Haut war bis zu den Gelenken mit dicken, roten und nässenden Quaddeln übersät!
 

„Ach du Scheiße...“, entfuhr es seinen leicht geöffneten Lippen.
 

Auf einmal begann sich die Welt vor Maximes Augen zu drehen. Sein Magen rebellierte, als ob er einen Steinbrocken verschluckt hätte. Was waren das für seltsame Blasen auf seiner Haut?! Hatte er eine allergische Reaktion auf irgendwas bekommen?

Soweit Maxime wusste, litt er nur unter einer Lebensmittelallergie gegen Zitrusfrüchte. Aber seitdem er vor 5 Jahren mit einem zugeschwollenen Hals in die Notaufnahme eingeliefert wurde, weil er eine halbe Mandarine gegessen hatte, hielt er sich von allen Sorten dieser Dinger fern!
 

„Maxime?“
 

Der Angesprochene drehte seinen Kopf in die Richtung der Stimme, aber er sah nur verschwommene Schattenrisse vor seinen schwächelnden Augen. Feste biss er die Zähne aufeinander und krächzte ein heiseres, „Ja?“
 

„Geht es dir gut, Pinkie? Du hängst hier rum wie ein Schluck Wasser in der Kurve...“
 

Maxime nickte nur. Zum Sprechen war er nicht mehr in der Lage. Und dann erreichte die Dunkelheit seine Augen. Innerhalb kürzester Zeit wurde alles um ihn herum still und ruhig. Die Geräusche in seinen Ohren verstummten, das Brennen auf seiner Haut verschwand. Maxime spürte wie ihm die Beine wegknickten und er mit rasender Geschwindigkeit in die Schwärze eintauchte, die hinten seinen Augen herrschte.
 

….
 

Das monotone Summen von elektronischen Geräten wummerte in seinen Ohren. Es durchlief Maximes Körper von den Haarspitzen, bis zu den Zehennägeln. Würde er wissen, wieso es so dunkel war, und wieso er seine Hand nicht bewegen konnte, würde er sich auf die Seiten drehen und seinen Wecker gegen die Wand schmeißen.
 

„Hey, seine Augenlider haben sich bewegt. Er wacht auf!“
 

Das was die Stimme von Charlotte. Als Nächstes spürte Maxime eine kleine, weiche Hand, die über seine Stirn streichelte und ihn die Ponysträhnen aus den Augen wischte.

In der nächsten Sekunde wurde ein Stuhl nach hinten geschoben und ein Schatten legte sich auf Maximes Gesicht. „Okay, bleib du hier. Ich hole die Krankenschwester.“
 

Aha, Raphael war also auch hier. Aber was redete er da von einer Krankenschwester? Waren sie in einem Krankenhaus? Wie seltsam. Charlotte klang so, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde und Raphael, als ob er jemanden umbringen wollte.
 

Moment mal...
 

Langsam und zähflüssig kehrten die Erinnerungen an die letzten Stunden zurück. Dummerweise begannen auch in diesem Augenblick wieder seine Hände zu jucken. Als Maxime sich kratzen wollte, hielt ihn jemand fest.
 

„Na na, junger Mann, das würde ich an ihrer Stelle lieber sein lassen.“
 

Maximes Eingeweide fühlten sich an wie von einer Dampfwalze überrollt. Er spürte wie seine

Augenlider flackerten und den Kampf gegen die Finsternis begannen. Auch wenn sie so schwer waren wie Blei, schaffte er es nun doch, sie zu öffnen und die alte Gestalt eines weißhaarigen Mannes zu erblicken.
 

„Ich bin Doktor Merlin van Blackwood, Ihr betreuender Arzt.“ Der Doktor betrachtete seinen jungen Patienten eindringlich und lächelte milde. Er trug eine dicke Hornbrille auf der Nase und ein Klemmbrett auf dem Arm.„ Können Sie sich an die letzten Stunden erinnern, Herr Ravanello? Nein? Dann lassen Sie mich es Ihnen erklären: vor 2 Stunden sind Sie mit massiven Kreislaufproblemen und diversen Hautausschlägen auf meine Station gekommen. Sie sind hier im städtischen Krankenhaus von Hamburg. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, kümmere ich mich im Augenblick um Ihre Behandlung, und möchte Sie wieder fit machen.“
 

Von den Worten des Arztes schwirrte Maxime der Kopf. Aber eine Sache hatte er inzwischen verstanden: ihm ging es offenbar ziemlich schlecht, deshalb war er hier.
 

Kurz schaute er nach links; Charlotte saß auf einen Holzstuhl und auch Raphael ließ sich in diesem Moment wieder neben ihm sinken. Hinter ihnen befand sich eine Türe in der weißen Wand, sehr wahrscheinlich bildete sie den Weg nach draußen. Er selbst lag in einem großen und weichen Krankenhausbett. Über einen Zugang in der Armbeuge verabreichte man ihn irgendeine klare Flüssigkeit, die sich in Maximes Adern wie Eis anfühlte.
 

„Bin ich krank?“, fragte Maxime geradewegs. „Oder warum hat mein Körper auf einmal solche Schwierigkeiten? Normalerweise bringt mich nichts so schnell aus der Fassung.“
 

Der alte Mann lächelte dünn. „Da muss ich Ihnen vielleicht recht geben, Herr Ravanello. Aber Ihre Symptome kommen nicht etwa von einer Krankheit. Sie haben sich vermutlich mit Rizinpulver vergiftet.“ Das Lächeln verschwand von Dr. van Blackwoods Lippen. „Sie können von Glück sprechen, dass Ihr Freund so schnell zur Stelle war und einen Krankenwagen gerufen hat. Ansonsten hätten Sie schwere Schäden davon getragen. Rizin ist ein hochgefährliches Eiweißprotein, schon eine geringe Menge kann für einen Menschen fatale Folgen haben. Ich kann mir zwar nicht erklären, wieso Ihnen jemand so schwer schaden möchte, aber das Gift an Ihren Fingern hätte gereicht um Sie ... nun ja, wie soll ich sagen? Okay, ich drücke es mal so aus: Hätten Sie mit diesen kontaminierten Fingern etwas gegessen, wie zum Beispiel einen Apfel, wäre das ihre letzte Mahlzeit gewesen. Für immer. “
 

„Bitte was...?“
 

„Haben sie keine Angst, Herr Ravanello. Bei uns sind Sie in guten Händen.“, sagte der Doktor und klang dabei zuversichtlich. „Wir haben bereits alles getan, was in unserer Macht steht, um das Gift zu entfernen. Darf ich Sie beim Vornamen nennen?“
 

Maxime nickte geistesgegenwärtig. Das Sprechen schien er im Augenblick verlernt zu haben.
 

„Also, Maxime.“, redete der Doktor einfach weiter und kritzelte etwas auf sein Klemmbrett. „Du möchtest sicher wissen, wie du an dieses Pulver gekommen bist? Nun, deine Freunde waren so nett und haben mir alle Sachen gegeben, die du heute in der Schule bei dir hattest. Wir haben alles untersucht was du von heute Morgen an, bis zum Zeitpunkt deines Zusammenbruchs, berührst hast. Der blonde junge Mann an deiner Seite hat das Rätsel recht schnell gelöst: er hat mich auf einen seltsamen Briefumschlag aufmerksam gemacht, denn du in deinen Schulspind gefunden hast. Und weißt du was? Das war der Auslöser. Das Blatt im Umschlag war mit hauchdünnen Rizinpulver bestreut und hat sich an deine Finger geheftet. Zum Glück wird das Gift Subkutan nur sehr schlecht aufgenommen. Daher kamen auch deine ersten Vergiftungssymptome, wie der Schwindel und die Kurzatmigkeit.“
 

Nachdem Doktor Merlin van Blackwood den Kreislauf und Maximes Blutzuckerwerte überprüft hatte, verabschiedete er sich mit einem schmalen, professionellen Lächeln von den Kindern. Kaum war der Mann richtig weg, schob Maxime die Decke zur Seite und betrachtete seine Hände. Ganz wie er vermutet hatte, hatten die Krankenschwestern sie mit dicken Mullbinden umwickelt und gut verschlossen.
 

Verständnislos betrachtete der Rosahaarige die Verbände. „Und wie soll ich damit essen? Oder duschen? Oder auf die Toilette gehen?“
 

„Die Schwestern werden dir bei allen Dingen helfen...“, versicherte Charlotte und ließ den Kopf hängen. „Ach man... Ich kann immer noch nicht begreifen, dass es jemanden an unserer Schule gibt, der dich offenbar so sehr hasst, das er dich töten möchte.“
 

Ihre Worte verursachten ein seltsames Nachbeben im Raum. Raphael und Maxime tauschten einen schweigsamen Blick, in dem sich alle Sorgen und Ängste der letzten Stunden widerspiegelten. Sie hatten keine Ahnung wohin das Ganze noch führen sollte.
 

Seufzend ließ Maxime seinen Rücken gegen das Kissen sinken. Er massierte sich den Nasenrücken und schüttelte erneut den Kopf. „Ich kann mir nicht erklären, wer das gewesen sein könnte. Natürlich gibt es viele Schulkameraden, die mich wegen meiner Erscheinung nicht mögen – aber es gibt niemand der mich...“ Er schluckte geräuschvoll. Es war seltsam wenn man so jung war, und schon über seinen Tod nachdenken musste. „... es gibt niemanden, der mich so sehr hasst, dass er mich umbringen möchte. Zumindest dachte ich das bis jetzt.“
 

„Was auch immer das für ein Jemand ist, und was auch immer ihn dazu bewegt hat, dich anzugreifen, er wird keine zweite Chance bekommen.“, verkündete Raphael mit todernster Stimme und ein mörderischer Zug machte sich auf seinem Gesicht breit. „Von nun an wirst du uns immer erzählen, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. Du kannst Charlotte und mir vertrauen. Wir stehen hinter dir, Kumpel, egal was da alles noch kommen mag.“
 

Die nächsten paar Stunden vergingen wie im Fluge; um 16 Uhr kam eine aufgewühlte und schwer atmende Scarlett zur Türe rein gestürmt. Sie schnaufte wie ein Walross und hatte Maxime einen großen Koffer mit allen wichtigen Dingen von Zuhause mitgebracht. Obwohl sie Raphael und Charlotte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen hatte, verstand sie sich gut mit ihnen. Das hieß; Raphael schaute sie so an als ob er sie am liebsten fressen würde, und Scarlett ignorierte seine Blicke.
 

Als sie die ganze Geschichte erzählt bekommen hatte, standen dem sonst so gefassten Mädchen die Tränen in den Augen. Seltsam, dachte Maxime und musterte Scarlett flüchtig von der Seite. Bildete er sich das nur ein, oder war sie in der letzten Zeit sehr labil geworden?

Vor 3 Monaten war Maxime davon überzeugt gewesen, das Scarlett zu den wenigen Personen gehörte, die niemals weinten. Aber nun musste sich die Goldhaarige offenbar sehr zusammenreißen um nicht an ihren Kummer zu ersticken.
 

Zwei Stunden später kam eine rundliche Krankenschwester mit dem Abendessen rein und warf Maximes Freunden einen fragenden und abwartenden Blick zu. „Der junge Mann möchte jetzt sicher in Ruhe essen. Ihr könnt ja morgen wieder kommen und ihn besuchen.“ Die Dame versuchte es mit einem freundlichen Lächeln, aber bei Raphael und Scarlett war sie schon dreimal unten durch.
 

Die beiden schnappten sich angesäuert ihre Jacken und erhoben sich von den unbequemen Holzstühlen.

„Wir telefonieren nachher noch ein bisschen“, sagte Raphael in einen provozierenden Tonfall, weil er wusste, dass die Schwester immer noch im Raum war und lauschte.
 

„Ja, und ich schreibe dir eine Nachricht, wenn ich zuhause bin.“, verkündete Scarlett ebenso biestig. „Aber morgen kommen wir etwas früher und dann stören wir hoffentlich niemanden.“
 

Die Schwester machte ein langes Gesicht und murmelte etwas von „der heutigen Jugend.“. Aber Scarlett hatte Raphael mit ihren Worten offenbar schwer beeindruckt. Er schenkte dem Mädchen ein kleines Grinsen und so etwas wie Sympathie flackerte in seinen Augen auf.
 

Die kommende Nacht war wie vermutet ziemlich lang. Natürlich konnte Maxime in der neuen und ungewohnten Umgebung nicht schlafen und wälzte sich von der einen auf die andere Seite. Schmerzen hatte er keine, aber seine Hände kribbelten wie verrückt!
 

Eine halbe Stunde später gab Maxime den Kampf gegen das nervige Jucken schließlich auf.

Resigniert griff er nach der Notfallklingel und drückte den kleinen, roten Knopf am Ende des Gerätes. Hoffentlich konnte ihm der Nachtdienst eine Tablette zum Einschlafen geben, dann hätte er wenigstens noch ein paar Stunden zum Ausruhen.
 

So, danach hieß es erstmals warten. Maxime lehnte sich wieder nach hinten und holte tief Luft. Es kam ihn so vor, als vergingen die Minuten von da an nur noch im Zeitlupentempo. Seine Haut kribbelte immer mehr und kurz wurde Maxime schwarz vor Augen. Er musste ein paar Mal blinzeln und seine Stirn massieren, bis er wieder klar sehen konnte. Und dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Er war nicht mehr alleine! Eine dunkle Gestalt saß neben seinem Bett auf einen Stuhl.
 

Als sich ihre Blicke begegneten, erschien ein unauffälliges Lächeln auf den Lippen des Fremden. Es war kein freundliches Lächeln, aber auch kein Spöttisches.
 

„Guten Morgen, Kleiner.“, murmelte der junge Mann, und zog seine Mundwinkel noch ein Stückchen höher. „Na, kannst du auch nicht schlafen?“
 

Diesmal musste Maxime nicht lange überlegen. Diesmal erkannte er den Jungen mit den goldenen Augen sofort. “Nathan!“, stieß er seinen Namen wie ein Schimpfwort über die Lippen. „Wie kommst du denn schon wieder hierher?“
 

„Durch die Türe? Wieso regst du dich so auf? Ich wollte dich nur sehen, oder ist das verboten?“
 

„Natürlich nicht! Aber hast du schon vergessen was du mir in der Diskothek an den Kopf geknallt hast? Du willst meine Freundin Scarlett umbringen! Sorry, aber unter diesen Umständen kann ich dich nicht mit offenen Armen empfangen!“
 

Über Nathans attraktives Gesicht huschte ein finsterer Zug: „Ach ja? Aber als du vorgestern mit mir geschlafen hast, hat dich das aber auch nicht gekümmert. Wieso jetzt auf einmal, hm? Bin ich nicht mehr interessant für dich?“

Kapitel 12: Das Monster

Vor Empörung holte Maxime tief Luft. Er wollte Nathan seine ehrliche Meinung ins Gesicht schleudern, denn von so einem Arschloch ließ er sich gar nichts sagen, aber dann klappte er den Mund wieder zu, als er diesen verletzten und gebrechlichen Ausdruck in den goldenen Augen seines Gegenübers sah. Auf einmal kam ihm der böse Verdacht, dass es ein gewaltiger Fehler gewesen war, am Vortag mit Nathan zu schlafen.
 

„Hör zu, ich möchte mal etwas klar stellen...“, begann Maxime und versuchte seine Stimme fest und selbstsicher klingen zu lassen. „Das was da zwischen uns passiert ist, war nur eine einmalige Sache, okay? Ich weiß, dass ich vorgestern vielleicht noch anders darüber gedacht habe, aber es ist nun mal, so wie es ist. Im Grunde genommen bist du für mich nur ein fremder Kerl, der eines Abends auf meinen Balkon geklettert ist.“ Und der Scarlett umbringen möchte, fügte er in seinen Gedanken hinzu.
 

„Wie bitte? Was hast du da gerade gesagt!?“
 

Plötzlich sprang Nathan auf die Beine und funkelte Maxime wütend an. Noch in der gleichen Sekunde hatte er das Bett erreicht, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Grob stieß Nathan die Decke zur Seite und kniete sich wie schon beim ersten Mal, mit gespreizten Armen und Beinen über dem Rosahaarigen.
 

Nathan schaute ihn an wie eine Kobra und packte Maximes Unterkiefer, der automatisch herunterklappte. Darauf hatte der Kerl nur gewartet! Hart und lieblos küsste den Jungen auf die Lippen und stieß seine Zunge wie ein Messer in die geöffnete Mundhöhle. Es interessierte ihn gar nicht, dass sich dieser sofort verspannte und sichtlich in Abwehrhaltung ging.
 

Das ist nicht gut, dachte Maxime panisch und stemmte die Hände gegen die fremde Brust. Er drückte zu und schrie in der gleichen Sekunde schmerzerfüllt auf. Er war ein Idiot! Seine Hände waren doch verletzt!
 

Nach einer Weile ließ Nathan von seinem Opfer ab und lehnte sich wieder zurück. „Du schmeckst immer noch so gut wie beim ersten Mal, Süßer.“, raunte er grollend und leckte sich über die Lippen. „Ich habe Lust auf dich. Lass es uns tun!“
 

„Nein!“, fauchte Maxime und schüttelte energisch seinen Kopf. „Siehst du nicht dass wir in einen Krankenhaus sind? Heute Mittag hat jemand versucht mich zu vergiften! Ich habe keine Lust auf Sex!“
 

Er zwang sich, den Kopf zu heben und Nathan in die glühenden Augen zu gucken. Zuerst sahen sie normal aus – vielleicht war die Farbe sehr ungewöhnlich - aber dennoch sahen sie aus wie die Sorte von Augen, die jeder Mensch besaß. Dann veränderte sich auf einmal das Bild. Nathans Augen leuchteten noch intensiver als vorher und veränderten ihre Form. Die runden Pupillen verwandelten sich in schmale Striche, die so spitz waren wi geschliffene Nadeln.
 

„Ihr Menschen seid doch gar nicht in der Lage zu lieben“, zischte Nathan und drückte seine Schulterblätter nach vorne, während seine Wirbelsäule einen scharfen Ruck zur Decke machte. „Und dabei mochte ich euch kleine, zerbrechliche Geschöpfe eigentlich immer. Ich dachte ihr seid sanftmütige und ruhige Kreaturen... Aber da sieht man mal wieder, wie sehr man sich täuschen kann.“
 

Die Hände an Maximes Schulter begannen zu wachsen, wurden größer, stärker und mächtiger. Wo früher einmal gewöhnliche Fingernägel waren, schossen nun lange, säbelartige Klauen in die Freiheit. Maximes Augen wurden starr vor Schreck. Sein Atem stockte.
 

Nathan, der hübsche junge Mann aus der Diskothek, wurde von Sekunde zu Sekunde immer unheimlicher. Seine Hände waren mittlerweile so groß wie Mülleimerdeckel, der einst gerade Rücken Vergangenheit. Die einzelnen Knochen der Wirbelsäule hatten die Haut von innen aufgerissen und wuchsen wie scharfe Widerhaken in die Luft. Aber auch die Haut des Jungen sah nicht mehr so aus wie am Anfang; zuerst war sie schön weich und sonnengebräunt gewesen, jetzt war sie schuppig und glänzte wie nasse Kohle.
 

In der nächsten Sekunde hatte Maxime seinen Mut zusammen gekratzt, die Klauenhände von seiner Schulter gestoßen und sich aus dem Bett geworfen. Mit einem Fauchen auf den Lippen und einem kräftigen Satz nach vorne, sprang das Nathan-Ding ebenfalls aus dem Bett und attackierte Maxime mit seinen Klauenhänden. Wütende Schläge prasselten auf seinen ungeschützten Körper nieder, doch das bändigte die Wut der Kreatur nicht.

Die Hiebe wurden immer stärker und gezielter. In dem Moment wo sie fast das Gesicht den Jungen erwischten, schoss Maximes angewinkeltes Bein in die Höhe und trafen seinen Brustkorb mit voller Kraft.
 

Zu seinem Glück rollte sich das Wesen winselnd auf die Seite, was Maxime wohl das Leben rettete, denn er sah, dass auch Nathans Zähne inzwischen aussahen, wie das Gebiss eines fleischfressenden Raubtieres. Schmerzlich wurde Maxime in diesem Augenblick bewusst, dass normale Menschen maximal zwei Eckzähne besaßen. Nathans Mund hingegen entblößte eine Reihe, die NUR aus Eckzähnen bestand; alle waren lang, scharf und leicht nach hinten gebogen.
 

„Braves Monster, liebes Monster...“, wimmerte Maxime. Auf allen Vieren rutsche er in Richtung Zimmertüre und hoffte sehnlich, dass irgendjemand von draußen den Krach hörte.

Von seiner Position aus sah er, wie rauchender Speichel aus dem Schlund des Wesens tropfte und den Boden zum Zischen brachte, als die dampfende Flüssigkeit ihn berührte.
 

„Warum siehst du so verängstigt aus? Bin ich dir in dieser Gestalt zu hässlich?“, fragte das unheimliche Ding mit Nathans gewohnter Stimme. „Komm zurück ins Bett, Süßer. Dann machen wir da weiter wo wir eben aufgehört haben.“
 

Die düstere Kreatur kam näher und näher. Bei jeden Zentimeter den es nach vorne ging, kroch Maxime weiter nach hinten. Dann schob sich die schwarze Pranke mit den langen Krallen quietschend über den Boden, was Maxime vor lauter Panik den Atem stocken ließ. Starr vor Schreck musste er dabei zusehen, wie sich die mächtige Hand um seinen Fußknöchel schlang, und ihn mit einen mächtigen Ruck von der Türe weg riss.
 

„Wir machen jetzt das gleiche wie Vorgestern. Du entspannst dich, und ich sorge dafür, dass es dir gut geht.“, fauchte Nathan. Obwohl, Fauchen war der falsche Begriff. Eigentlich sprach Nathan in seiner gewöhnlichen Stimmlage, aber alles was aus seinen Mund kam hörte sich grauenhaft verzerrt an.
 

Das Wesen packte Maxime an den Schultern, schleppte ihn zum Bett zurück und warf ihn wie ein kleines Spielzeug auf die Matratze. Und was war das Schrecklichste an der ganzen Situation? Alles was er sah entsprach der Wahrheit.
 

Das war kein Traum, oder irgendeine Spinnerei seines Gehirnes. Das war die grausame und bittere Realität. Über ihm hockte ein riesiges Monster mit einer pechschwarzen Haut. Dieses Monster hatte vorher wie ein normaler Mensch ausgesehen, nun wirkte die Kreatur wie eine Ausgeburt aus der Hölle!

Während das Wesen langsam seinen Kopf in Maximes Halsbeuge legte und spielerisch mit den Reißzähnen über die erhitzte Haut fuhr, starb der Rosahaarige innerlich mehr als tausend Tode.
 

*xXx*
 

Einige Stunden später erwachte Maxime aus einem tiefen und traumlosen Schlaf. Als er die Augen aufschlug, spürte er nichts anderes als Schmerz und Scham. Ein unglaublich schweres Gewicht lag auf seiner Brust und zerquetschte ihn fast das Herz. Jeder verdammte Atemzug war die Hölle für seinen Körper.
 

Maxime wusste nur noch, das er heute Morgen irgendwann bewusstlos wurde als sich das Monster vom dem er dachte, es sei ein normaler Mensch, an seinen Körper verging und ihn vergewaltigte. Jetzt spürte er, dass er sauer wurde, innerlich zu kochen begann, und wenn das noch nicht genug war, dann polterte in diesen Augenblick auch noch die Krankenschwester in das Zimmer.
 

„Gute Morgen, Herr Ravanello.“, sagte das junge Mädchen, augenscheinlich eine Auszubildende. Sie lächelte und näherte sich mit zielstrebigen Schritten dem Bett. Als sie jedoch den kalten und leblosen Blick in Maximes Augen bemerkte, zuckte sie ängstlich zurück. „Geht... es dir nicht gut?“, fragte sie atemlos und vergaß sogar, den Patienten zu siezen.
 

Maxime betrachtete das Mädchen ein paar Sekunden ohne zu blinzeln. Was sollte er sagen? >Nein, mir geht es scheiße. Heute Nacht hat mich ein Monster vergewaltigt, das eine große Karriere in Hollywood beginnen könnte?< Nein. Also schüttelte der Junge seinen Kopf und setzte ein falsches Lächeln auf.
 

„Mir geht es gut. Ich konnte die Nacht nur schlecht schlafen. Das ist alles.“ Er schaute nach links, nahm die Notfallklingel in die Hand und reichte sie der Schülerin. „Ich glaube, dass die Klingel kaputt ist. Ich habe in der Nacht geklingelt, aber niemand ist zu mir ins Zimmer gekommen.“
 

Die Schülerin nahm die Klingel entgegen und betätigte selbst den Notfall-Knopf. Sie wartete ein paar Sekunden, und dachte offenbar angestrengt nach. Anscheinend wartete sie auf etwas. Doch dieses Etwas passierte nicht. „Normalerweise kriege ich eine Meldung auf meinem Stationstelefon, wenn jemand von den Patienten klingelt“, erklärte das Mädchen ruhig und zog den besagten Gegenstand aus ihrer Hosentasche. Für ein paar Sekunden starrte sie stumm auf den dunklen Bildschirm des Telefons. „Aber ich habe nichts bekommen... also muss es wirklich an der Klingel liegen.“
 

Das Mädchen hatte anscheinend öfters mit kaputten Klingeln zu tun, denn sie ging entschlossen in die Hocke und überprüfte den Kabelblock unter dem Patientenbett. Mit einem lauten „Ha!“, schoss sie nach einigen Sekunden wieder in die Höhe. In ihrer geballten Hand hielt sie ein einzelnes, graues Kabel. „Deine Klingel ist nicht kaputt – der Stecker war nur nicht drin! Seltsam...“
 

Nachdenklich runzelte Maxime seine Stirn. Na, das war aber ein Zufall, dass ausgerechnet gestern Nacht die Notfallklingel nicht funktionierte, wo er vergewaltigt wurde...

Ein Schatten huschte über sein Gesicht und er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ihm die Krankenschwester auf den Tisch gestellt hatte. „Danke. Und hat Dr. Blackwood schon gesagt wie lange ich noch hierbleiben muss? “
 

„Ähm, der Doktor sagte, dass Sie so lange hier bleiben sollen, bis wir die Laborwerte von der gestrigen Blutabnahme haben. Der Doktor möchte sicher sein, dass auch wirklich keine Giftstoffe in Ihren Körper sind. Daher werden Sie wohl noch 1 oder 2 Tage hier bleiben müssen, Herr Ravanello.“
 

Maxime presste die Lippen zusammen und atmete hörbar aus. Na toll, das waren dann wieder zwei Nächte mehr, in denen sich das düstere Monster an ihm vergreifen konnte.

Die junge Schülerin schien seinen Unmut zu spüren und versuchte den niedergeschlagenen Jungen mit einem netten, kleinen Gespräch über das schöne Wetter aufzumuntern, biss sich allerdings die Zähne an Maximes Starrkopf aus. Nach einigen Minuten, in denen im Zimmer peinliche Stille herrschte, gab das Mädchen auf und verließ den Raum.
 

Eigentlich war es nicht Maximes Art seine Laune an anderen Menschen auszulassen, aber im Augenblick konnte er einfach nicht anders. So wurde der kommende Tag für Maxime zur Zerreißprobe: die Krankenschwestern gaben sich alle Mühe um den Grund für seine schlechte Laune zu finden und dieser tat alles, damit sie keinen Erfolg bei diesem Unterfangen hatten. Irgendwann, im Laufe des Vormittags, erschien der Chefarzt auf der Station und begann seine alltägliche Visite. Als er gefühlte 3 Stunden später zu Maxime kam, sahen seine alten Augen sofort, dass den Jungen etwas belastete.
 

Ein paar Sekunden stand Doktor Blackwood nur verwirrt ihm Türrahmen und betrachtete Maxime aus sicherer Entfernung. „Geht es dir nicht gut?“ fragte der er betont ruhig und setzte ein kleines Lächeln auf, während er mit wehenden Mantel in das Zimmer trat.
 

„Hmm. Es geht.“, sagte Maxime kalt und wendete demonstrativ seinen Blick ab. „Wenn Sie mich entlassen würden, ginge es mir bestimmt besser.“
 

„Das geht leider noch nicht, Maxime. Wenn du doch irgendwelche Spuren des Rizin-Pulvers aufgenommen hast und ich dich jetzt nachhause schicke, könnte ich das nicht mit meinem Gewissen als Mediziner vereinbaren. Wenn du natürlich sagst, dass dir das Gift egal ist und du trotzdem gehen möchtest, werde ich dich nicht aufhalten. Es ist deine Entscheidung, was du machst, junger Mann.“
 

Der Blick, mit dem Maxime den Arzt nun ansah, war so wuterfüllt, dass der Mann schnell wegschauen musste; solche starken Emotionen konnten unter Umständen schlimmer sein, als jedes böse Wort.
 

„Danke für das schlechte Gewissen. Sie wissen wohl genau, wie Sie ihren Willen kriegen, oder?“
 

„Ja, in meinen Beruf sollte man ein gewisses Talent für solche Angelegenheiten besitzen. Übrigens, gibt es da vielleicht doch eine Sache, womit ich dir eine Freude bereiten kann. Es ist eine Überraschung. Möchtest du sie sehen? “
 

Während Maxime die Augen verdrehte und im Geiste genervt aufschrie, erkannte er, dass der Doktor ein gerissener Manipulator war. Zum Teil würde er gerne wissen wovon der Arzt redete und was für eine Überraschung er für ihn hatte, aber an der Art wie der Mann sprach, erkannte Maxime, dass er dafür eine Gegenleistung wollte.
 

„Also Maxime, ich weiß dass du viel lieber Zuhause bei deiner Familie sein würdest, aber vielleicht kann ich dich aufmuntern, wenn ich dir sage, dass vor 10 Minuten Besuch gekommen ist. Es ist ein Junge aus deiner Schule, der dich gerne sehen möchte. Die kleine Abwechslung wird dir und deinem Gemüt sicher gut tun.“
 

Mit diesen Worten erschien ein großväterliches Lächeln auf dem Gesicht des Arztes und er verschwand rasch aus dem Zimmer, bevor der Patient noch eine weitere Frage stellen konnte.

Wütend ballte Maxime seine Hand zur Faust. Er starrte grimmig auf die Türe und war feste davon überzeugt, dass sein bester Freund Raphael mal wieder den Unterricht schwänzte. Natürlich konnte er Maximes plötzlichen Krankenhausaufenthalt als perfekte Ausrede benutzen, um nicht in die Schule zu müssen.
 

Nachdem einige Minuten vergangen waren, hallte ein zaghaftes Klopfen durch das Zimmer und die Türe schwang für 2 Zentimeter nach innen auf. Von draußen hörte Maxime ein paar Wortfetzen vom Flur hereinwehen. Anscheinend sprach sein Besuch noch kurz mit einer Krankenschwester, bevor er den Patienten begrüßte.
 

„...und sei bitte freundlich zu ihm, ja? Seit heute Morgen ist Herr Ravanello auf einmal sehr kalt geworden und hat sich komplett zurückgezogen. Wir machen uns hier auf der Station inzwischen alle Sorgen um ihn. Vielleicht hat ihn die Giftattacke mehr zugesetzt, als er nach außen hin zu geben möchte? Es ist wirklich nett, dass er von seinen ganzen Schulkameraden Besuch bekommt, ihr seid so nette Kinder. Wenn du Glück hast, kannst du ihn vielleicht ein bisschen aufmuntern.“
 

„Ich versuche es.“, antwortete eine klare und helle Stimme zuversichtlich. „Ich kenne Maxime zwar auch noch nicht so lange, aber ich bin mir sicher, dass ich mehr über ihn weiß, als er sich vorstellen kann.“
 

Als sich die Türe endgültig öffnete, warf Maxime schnell die Decke nach oben und schloss seine Augen. Aus der Ferne hörte er leise Schritte, die immer näher kamen und nach einigen Sekunden schließlich verstummten. Als die Person einen Stuhl zurück zog und sich auf diesem niederließ, hielt Maxime seinen Atem an.
 

5 Sekunden vergingen, in denen nichts passierte. 10 Sekunden ... 20 Sekunden...
 

„Maxime? Bist du wach?“
 

Ohne zu zögern, schlug der Angesprochene seine Augen auf. Im selben Moment, wo er erkannt hatte wer da neben dem Bett saß, fuhr er hoch und stieß ein verzücktes Quieken aus.

Ein blonder Junge lächelte ihn aus sanftmütigen blauen Augen an und legte den Kopf wie eine Katze auf die Seite. Wie immer wirkte seine helle Haut rein und weich. Die halblangen, leicht glänzenden Haare besaßen heute kleine Wellen und verliehen Marcel den unwiderstehlichen Charme einer jungen Göttin.
 

Maxime blinzelte ein paar Mal verwirrt. Er war nicht in der Lage zu begreifen was ER im Krankenhaus verloren hatte.
 

„Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen.“, meinte Marcel nüchtern. Er rutschte etwas nach vorne und legte ein kleines, quadratisches Päckchen, das in buntes Papier eingepackt war, auf die Bettdecke. Als er Maximes perplexen Blick begegnete, stieß er ein kleines Kichern aus. „... Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Wenn ich dich schon besuchen komme, dann kann ich hier doch nicht mit leeren Händen auftauchen. Nun guck mich doch nicht so ratlos an!“
 

„Ja, aber...“ Maxime schluckte peinlich berührt und schaute mit roten Wangen auf das Päckchen. „Ähm, hmm... Danke, würde ich mal sagen...“
 

„Gerne.“
 

„Aber...“
 

„Ja, was ist?“
 

Erneut schaute er Marcel an und der Ausdruck in seinen Augen reichte aus, um sich zu wünschen, er hätte einfach so getan, als ob alles in Ordnung wäre. „Warum bist du zu mir gekommen? Ich sollte mich doch von dir fernhalten. Und jetzt verstößt du gegen deinen eigenen Wunsch? Ich verstehe das alles nicht.“
 

„Ich weiß.“ Marcel machte ein betroffenes Gesicht. „Aber ich habe heute Morgen in der Schule gehört, was mit dir passiert ist. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgehört und erfahren, dass du seit gestern im Krankenhaus liegst. Das ist eine Ausnahme. Ich wollte mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es dir gut geht. “
 

Für einen kurzen Moment hielt Maxime die Luft an. Hatte er da gerade so etwas wie Sorge in Marcels Stimme vernommen? Auch sein Gesichtsausdruck wirkte ziemlich niedergeschlagen.

Weil ihm diese Situation selbst unsagbar unangenehm war, heftete er seinen Blick wieder auf das Paket und nahm es in die Hand. „...Was ist da drin? Nachdem Erlebnis von Gestern bin ich vorsichtig geworden. Vielleicht bist du ja der Täter?“
 

Der kleine Scherz wirkte. Marcels Mundwinkel begannen gefährlich zu zucken und das alte, wütende Funkeln kehrte in seine Augen zurück. „Du bist blöd!“, zischte der Jüngere schnippisch, riss Maxime das Geschenk aus der Hand, und öffnete es mit einer flinken Bewegung.
 

Jetzt war die Lage schon sehr viel erträglicher und Maxime knuffte Marcel freundschaftlich in die Seite. Dann betrachtete er das Geschenk. Es war eine feine, silberfarbene Kette mit einen kleinen Stern, und 2 japanischen Kirschblüten als Anhänger.

Verblüfft hielt Maxime die Kette gegen das Licht. Zwischen den beiden Accessoires versteckt, hing noch ein dritter, bis jetzt unbemerkter Gegenstand: es war ein daumengroßer, rosa schimmernder Rosenquarz, dessen glatt polierte Oberfläche leicht funkelte.
 

„Na, gefällt sie dir?“, fragte Marcel nach einigen Sekunden, da Maxime keine Anstalt machte irgendetwas zu sagen.
 

„Wow... Marcel, ich weiß gar nicht was ich dazu sagen soll. Sie ist... Sie ist der absolute Hammer.“
 

„He, sehr schön. Ich wusste doch, dass du auf so ein kitschiges Zeug stehst.“ Marcel lehnte sich mit einen zufriedenen Lächeln wieder nach hinten. Er wartete so lange bis Maxime die Kette wieder weg gepackt hatte und ihn anschaute. Kurz zögerte Marcel noch, dann stellte er die Frage, die ihn sein gestern Mittag unter den Nägeln brannte. „Und was ist nun gestern passiert? Ich habe nur gehört, dass man dich irgendwie mit irgendwas vergiften wollte – Einzelheiten habe ich nicht erfahren. Bitte klär mich auf!“
 

„Oh weh, das ist alles ein bisschen kompliziert.“ Dann erzählte er Marcel die ganze Geschichte mit den zwei mysteriösen Briefen. Auch der blonde Junge wunderte sich darüber, dass die zwei Briefe beide Male keinen Absender hatten.
 

„Hast du den Brief zufällig hier?“, erkundigte sich Marcel als er und Maxime mehrere Sekunden in Gedanken versunken waren und sich jetzt wieder anschauten.
 

„Ja klar, der Chefarzt hat ihn mir gestern Abend zurückgegeben. Bitte, du kannst ihn dir gerne ansehen. So, wie er jetzt eingepackt ist, kann kein Rizin-Pulver mehr nach außen gelangen.“
 

Maxime deutete mit einen Nicken auf seinen Nachtschrank, wo ein weißer Brief in einer eingeschweißten, durchsichtigen Folie lag. Dr. Blackwood hatte ihm geraten, sofort zur Polizei zu gehen und den Anschlag zu melden, wenn er in eine oder zwei Tagen das Krankenhaus verlassen konnte.
 

Marcel nickte dankend und betrachtete den Brief gründlich. Er wendete den Umschlag nach allen Seiten und schien diese Inspektion sehr ernst zu nehmen. Als er schließlich bei der Rückseite angekommen war und die Schrift mit dem Namen sah, weiteten sich plötzlich seine blauen Augen. Er öffnete den Mund und wurde auf einmal so blass wie eine Wand.

Schnell, für Maxime jedoch ein bisschen zu schnell, legte Marcel den Brief zurück an seinen Platz und atmete tief ein. Irgendetwas schien den blonden Jungen stark zu beunruhigen.
 

„Hey, was ist los Marcel? Du sieht auf einmal so verängstigt aus... Hast du irgendwas an dem Brief bemerkt?“
 

„Nein.“, antwortete der Blonde und biss sich nervös auf die Zunge. „Ähm, ich glaube ich sollte so langsam nachhause gehen. Meine Familie weißt nicht, dass ich dich nach der Schule besucht habe. Sie werden sich sicher Sorgen machen, wenn ich nicht pünktlich Zuhause bin.“ Seufzend erhob sich Marcel von dem Stuhl und wischte sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Tut mir leid, dass ich so schnell wieder gehen muss, aber ich habe keine Lust auf Ärger. In letzter Zeit sind meine Geschwister sowieso immer auf Krawall gebürstet. Und ich will ihnen jetzt nicht schon wieder einen Grund geben, um... Naja, jedenfalls würde das nur Ärger bedeuten. Wie auch immer, du solltest in Zukunft mehr auf dich aufpassen.“
 

Maxime starrte den Jüngeren verblüfft an. Es war offensichtlich, dass Marcel etwas verheimlichte. In seiner Angst hatte er sogar freiwillig über seine Familie gesprochen! Und dabei wusste Maxime bis jetzt nur die wenigen Dinge, die Marcel bei ihrem Kennenlernen erzählt hatte. Das Verhältnis zu seiner Familie war anscheinend ziemlich schlecht, da sie Marcel wohl nicht als vollwertiges Mitglied akzeptierten. Warum war dem Rosahaarigen jedoch schleierhaft.
 

Bevor Marcel ging, tätschelte er nochmal kurz Maximes Beine und wünschte ihm eine gute Besserung. Er lächelte verzerrt und verschwand fluchtartig aus dem Raum.
 

Die Reaktion hatte Maxime nachdenklich gemacht. Warum geriet der Kleine so in Panik, nur weil er seinen Namen auf den Umschlag gelesen hatte? Wusste er mehr, als er nach außen hin vorgab? Aber noch etwas anderes beunruhigte Maxime; als sich Marcel vorhin den Pony aus dem Gesicht strich, war sein Ärmel nach Oben gerutscht und hatte die Sicht auf seinen Unterarm freigegeben. Die Haut dort war schwarz, rot, blau und lila unterlaufen – ein riesiger Bluterguss zierte seinen schlanken Arm.
 

Entweder hatte Marcel mal wieder Ärger mit Sebastian und Jaromir gehabt, oder mit jemand Anderem. Aber mit wem? Seitdem die Lehrer darauf aufmerksam geworden waren, dass Marcel oft Probleme hatte, behielten sie den Jungen im Auge. Eigentlich gab es niemanden mehr auf der Schule, der ihm Schwierigkeiten bereiten konnte.
 

Oder... war dieses Hämatom vielleicht irgendwo anders entstanden? Womöglich zuhause bei seiner Familie?
 

Unweigerlich musste Maxime wieder an die schaurige Gestalt aus dem Wald denken. Vielleicht hatte sie Marcel verletzt? Außerdem standen die Chancen hoch, dass die Kreatur da draußen, auch ein Monster war, so wie Nathan. Ihre Krallen, der Schwefelgestank, die Tatsache, dass sie bis jetzt von niemandem gesehen wurde... Alle Beweise sprachen dafür!
 

Maxime griff nach seinem Handy und schrieb Raphael eine Nachricht. Bei ihrem nächsten Treffen würde er ihm und Charlotte von dieser Kreatur erzählen! Das Letzte, was er sich wünschte, war, dass dem Jungen, den er tief in seinem Inneren gern hatte, etwas geschah.
 

Jemand musste Marcel vor dieser Kreatur retten. Und dieser Jemand war er!
 

*xXx*
 

Trübselig blickte Maxime auf seinen Nachttischschrank. Neben dem Brief standen ein altmodisches Kabeltelefon mit Wählscheibe und eine kleine Digitaluhr. Vor einer halben Stunde hatte eine Schülerin das Tablett mit seinem Abendessen abgeholt und zurück in den Wärmewagen gebracht, worin die Mahlzeiten vor dem Austeilen aufbewahrt wurden.
 

Weil Maxime so einen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zur Schau trug, hatte ihm die Schülerin erzählt, dass man draußen auf dem Krankenhausdach des Abends eine wunderbare Aussicht auf die Lichter der Stadt hatte. Sie ermutigte ihn dazu, dem Dach vor der Nachtruhe noch einen kleinen Besuch abzustatten.
 

Eine halbe Stunde später lief Maxime eiligst über den Flur. Er folgte den Hinweis-Schildern, die ihm den Weg hinauf zum Dach zeigten. Schwer war das nicht und er musste auch gar nicht lange laufen, bis er die etwas abseits gelegene Treppe gefunden hatte, die ihm von der Türe zur Freiheit trennte.
 

„Mach dir wegen dem Brief und wegen Marcel keine Sorgen.“, zischte Maxime durch zusammengebissenen Zähne, als er sein Spiegelbild in einer milchigen Fensterscheibe erblickte. „Du hast schon viel schlimmere Dinge überstanden. Das hier ist auch nur eine weitere Prüfung des Lebens. Kopf hoch, Prinzessin! Du schaffst das schon.“
 

Vorsichtig suchte sich Maxime seinen Weg die steile Treppe hinauf. Es war inzwischen früher Abend geworden und der Junge dachte schon voller Sehnsucht an die klare, kühle Luft da draußen. Auch wenn er hier im Krankenhaus von Menschen umgeben war, fühlte er sich dennoch schrecklich einsam.
 

Ein warmer Lufthauch wehte Maxime entgegen, als er die Türe durchquerte und das Flachdach betrat. Andächtig ließ er seinen Blick umherschweifen. Das Mädchen hatte recht gehabt! Die Aussicht von hier oben war der Wahnsinn. Wenn er bis zu dem Rand des Gebäudes ging und sich über das Sicherheits-Gitter beugte, konnte er auf ganz Hamburg hinunter sehen und sogar die Kirche von Bergedorf in der Ferne entdecken!
 

„Na Kleiner, gefällt dir der Ausblick von hier oben?“
 

Erschrocken wirbelte Maxime herum: er entdeckte eine Gestalt auf der anderen Seite des Daches, die ihn finster musterte und den Abscheu nur mit großer Mühe aus seinem Blick verbannen konnte. Die Sonne strahlte die Gestalt so ungünstig von hinten an, dass seine Vorderseite komplett in Schatten gehüllt war. Auch wenn er sich Mühe gab, Maxime konnte das Gesicht des Fremden beim besten Willen nicht erkennen.
 

Da Maxime nicht genau wusste ob er nun freundlich oder aggressiv reagieren sollte, setzte er nur ein leicht höhnisches Lächeln auf und betrachtete die Person aus der Entfernung.
 

„Ja, in der Tat. Hamburg ist wirklich eine wunderschöne Stadt.“
 

„...dann möchtest du sicher noch lange hierbleiben, oder?“
 

Verblüfft hielt Maxime den Atem an. „Wie meinen Sie das?“
 

Die Gestalt machte einen Schritt nach vorne – und stand in der nächsten Sekunde vor dem rosahaarigen Jungen, der vor lauter Schreck zurück stolperte und mit den Rücken gegen das Sicherheits-Gitter stieß.
 

„So wie ich es gesagt haben.“, zischte der Fremde kaltschnäuzig und lächelte grausam. „Ich bin sicher, dass du meine Aussage verstanden hast. Sie bedeutet, dass ich dich kalt mache, wenn du nicht tust was ich dir sage!“
 

Trotz der skurrilen Situation und der Tatsache das der Fremde, der eindeutig ein Mann war, ihn mit dem Tod bedrohte, schaffte es Maxime nicht, den Mund zu schließen und das Gesicht von ihm abzuwenden. Würde er dem Kerl nicht persönlich gegenüber stehen, würde er diese Lage als einen Traum bezeichnen. Der Mann war...!
 

„Mein Name ist Avalon.“, erklärte der Mann wie auf ein geheimes Stichwort hin und griff in seine Jackentasche, um ein weißes Briefkuvert hervor zu holen. Als Maximes Blick auf die Hinterseite des Bogens fiel, stieß er einen leisen Fluch aus. Das war sein Brief – oder vielmehr der Brief, der ihn umbringen sollte!
 

„Woher hast du meinen -“
 

„Halt deine Klappe!“
 

Avalon packte den jüngeren Schüler am Kragen, und schleuderte ihn einmal quer über das Dach. Maxime verlor durch die Kraft des brutalen Schlages sein Gleichgewicht, ruderte kurz mit den Armen in der Luft herum. Zu seinem Glück konnte er sich noch im letzten Augenblick mit einer Rolle-Vorwärts abfangen. Nach einigen Sekunden kam er wieder auf die Beine, aber Avalon lachte bloß wie eine Hyäne.
 

„Du willst ihn zurück haben?“, fragte er scheinheilig. „Das kannst du vergessen! Du wirst diesen Brief nicht als Beweismittel benutzen und damit zur Polizei gehen, kapiert? Ich kann es nicht haben, wenn sich irgendwelche Leute zuerst wie die großen Helden aufspielen, einem armen, schwachen Jungen Flausen in den Kopf setzen, und dann beim ersten Anzeichen von Gefahr zur Polizei rennen!“
 

Avalon spuckte erzürnt aus und bleckte seine perlweißen Zähne. Wenn man ihn ansah, würde niemand auf die Idee kommen Avalon als schön zu bezeichnen. Trotzdem ging eine so seltsame, faszinierende Aura von ihm aus, dass jedes Wesen in der Entfernung von 5 Metern in seinen Bann gezogen wurde.
 

Maxime erging es ebenso.
 

Auch wenn er am liebsten weggelaufen wäre, konnte er seinen Blick einfach nicht von Avalon abwenden. Schon vom ersten Tag an im Bücherladen, hatte der junge Mann einen besonderen Zauber auf ihn ausgeübt. Und dieser Zauber war so stark, das Maxime noch nicht mal dazu kam, sich zu fragen, was Avalon mit einem >armen, schwachen Jungen< meinte.
 

In der Zwischenzeit war Avalon einige Schritte nach vorne gegangen, und platzierte sich nur eine Nasenlänge breit vor Maximes Gesicht. Seine roten Augen glitzerten wie ein See aus Blut. „Hast du deine Zunge abgebissen? Ich möchte, dass du mir antwortest. Was sollst du tun, damit ich dich nicht in Stücke reiße?“
 

Maxime schluckte. „Ich... soll nicht zur Polizei gehen und ihnen von dem Brief erzählen.“
 

„Sehr schön.“, antwortete Avalon lächelnd. „Und was solltest du noch nicht tun...?“
 

„Ich... Ich...“
 

Bis dahin hatte Maxime den Blick auf den Boden gerichtet, doch als Avalon ihn eine Hand auf den Kopf legte und diesen leicht streichelte, sah er ihn direkt ins Gesicht. Avalon schaute mit einen gütigen Ausdruck in den Augen auf ihn herab. „Kannst du dich nicht mehr an meine Worte erinnern, Kleiner?“
 

„Ich... nein... ich meine...“
 

Als Avalon das hörte sah er aus, als würde der das Gesagte lustig finden, denn er schüttelte mit einem leisen, hinreißenden Lachen seinen Kopf. Ehrlich gesagt, Maxime hatte noch nie so einen beängstigenden und zugleich charismatischen Mann gesehen. Er dachte, Avalon wollte das ganze nun als riesigen Scherz enthüllen, aber nachdem er noch einen Moment gelächelt hatte, holte er aus und versetzte Maxime eine schallende Ohrfeige.
 

„Dann hör´ mir beim nächsten Mal gefälligst zu, du Miststück!!!“, fauchte Avalon und bohrte seine Hände in Maximes hüftlange Mähne. „Ich habe dir gesagt, dass du dich von meinem Kleinen aus deiner Schule fernhalten sollst! Hast du das endlich kapiert, oder muss ich deutlicher werden?!“

Der Junge schrie vor Schmerz laut auf. Doch Avalon kannte kein Erbarmen. Er zog Maxime an seinen Haaren bis auf die Zehnspitzen nach oben.
 

„Okay!!! Bitte, bitte, ich habe es verstanden! Aber lass mich los. Ich werde mich dem Kleinen nicht mehr nähern! “
 

Tatsächlich ging der Angesprochene auf die Bitte ein und Maxime sackte erschöpft auf die Knie. Er fühlte den kalten, rauen Luftzug an seinem Kopf vorbeiziehen und war davon überzeugt, das Avalon ihm nicht nur ein paar Haarbüschel ausgerissen hatte, sondern auch ein paar Fetzen Haut.
 

Was Avalon von ihm wollte, war Maxime jedoch immer noch schleierhaft. Mit dem >seinem Kleinen aus deiner Schule<, konnte der gemeine Kerl so ziemlich Jeden meinen.
 

Der Albino schien mit seinen Ergebnis sehr zufrieden zu sein; er steckte den Brief wieder in seine Lederjacke zurück und zog eine Zigarette hervor. Obwohl es im Augenblick sicher wichtigere Dinge zu tun gab, schob er sich den orangen Filter in den Mund und zündete die Spitze mit einem kleinen Feuerzeug an.
 

„Eigentlich bist du ja ein ganz hübscher Junge, aber leider bist du mir und meiner Familie lästig geworden.“, murmelte der Albino, während er verträumt einen Ring aus Nebel in die Luft pustete. „Wir mögen keine neugierigen Kinder in unserer Nähe. Es kann für einen Jungen wie dich ganz schön gefährlich werden, wenn er seine Nase in fremde Angelegenheiten steckt, die ihn unter Umständen nichts angehen. Wenn du diesen Rat nicht befolgst – wirst du schneller du auf dem Friedhof landen als du gucken kannst...“
 

Maxime spürte, wie er rot wurde. Er wollte etwas Schlagfertiges erwidern, doch seine Stimme versagte aus Angst. Avalon stand immer noch vor ihm, richtete den Blick auf die Stadt. Er zog an seiner Zigarette, schloss kurz die Augen und stieß den Qualm wieder nach draußen.
 

„Aber du hast Recht. Hamburg ist wirklich eine wunderschöne Stadt. Ich bewundere die Welt und das Leben von euch Menschen sowieso.“ Der Albino schlenderte zum Sicherheits-Gitter, spähte über den Zaun und seufzte leise. „Weißt du überhaupt, was für ein Glück du hast, dass du in die heutige Zeit geboren wurdest, kleiner Mensch? Vor noch nicht mal hundert Jahren sah so die Welt noch anders aus, das Leben war schwieriger, die Menschen rauer... Heute kann man sich vor Luxus gar nicht retten. Ist das alles nicht schrecklich unfair?“
 

Avalon drehte seinen Kopf nach hinten und lächelte müde.
 

Der Ton, indem er sprach, ließ Maxime das Blut in den Adern gefrieren. Es hörte sich so an als ob Avalon schon eine ganze menge in seinem Leben gesehen hatte. Dabei schien er nicht viel Älter zu sein wie Raphael oder Charlotte. Maxime schätze ihn auf ungefähr 17, oder 18 Jahre. Dennoch... Irgendetwas war faul an diesem skurrilen Jungen mit den weißen Haaren.
 

*xXx*
 

Seitdem „Besuch“ von Avalon waren inzwischen 2 Tage vergangen.
 

Als Maxime endlich seine Sachen packen konnte und nach Hause gehen durfte, konnte er seine Freude kaum unterdrücken. Nach dem Treffen mit Avalon war Maxime in die Realität zurückgekommen und hatte die schreckliche Nacht mit Nathan für den ersten Augenblick verdrängt. Dass der Albino ihn kannte, und offenbar auch über den Anschlag informiert war, war für Maxime noch schlimmer, als ein weiteres Mal vergewaltigt zu werden. Immerhin wollte ihn Nathan nicht umbringen, der Absender des Briefes sehr wohl.
 

Um 16.00 Uhr hatte sich Maxime mit Scarlett in der Cafeteria verabredet. Sie wollte ihm helfen, den schweren Koffer zu tragen, da er sich von seinem mageren Taschengeld kein Taxi leisten konnte. Normalerweise hätte Maxime das als junger Mann auch alleine geschafft, aber seine Hände waren immer noch mit juckenden und brennenden Quaddeln überzogen.
 

Wie immer war die Cafeteria am Mittag rappelvoll. Maxime schaffte es gerade noch, sich einen kleinen Doppeltisch zu sichern und seinen Hintern auf einen freien Stuhl zu werfen, bevor ihm jemand anders den Platz vor der Nase weg schnappte. Kurz schaute der Junge auf seine Armbanduhr. Es war schon 16:05 Uhr. Unpünktlichkeit war für Scarlett eigentlich eine Todessünde. Also wo blieb die Goldhaarige?
 

Plötzlich kam Maxime ein finsterer Gedanke: hoffentlich war Scarlett unterwegs nichts Schlimmes passiert. In der Stadt gab es eine Person die das Mädchen wie die Pest hasste und für ein so mächtiges, unheimliches Wesen wie Nathan, wäre es ein Kinderspiel eine zierliche Person wie Scarlett zu überwältigen.
 

Um 16:30 Uhr fasste Maxime einen Entschluss. Wenn Scarlett in einer halben Stunde nicht hier war, ging er alleine zum Bahnhof. Wenn er zuhause angekommen war, konnte er noch immer mit Yukiko reden und sie fragen, ob sie mehr wusste. Behaglich war ihm bei diesem Vorhaben nicht; seit dem Streit hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Auch Yukiko war bis jetzt jeder Konversation aus dem Weg gegangen.
 

Draußen wurde der Himmel allmählich immer dunkler. Eine eisige Windböe wehte über die Straße hinweg und die Menschen warfen besorgten Blicke zu den Wolken: auch wenn ihnen der Wetterbericht heute Morgen etwas von Sonnenschein und einen strahlend blauem Himmel erzählt hätte, würde bald eine Gewitterfront die Stadt erreichen.
 

Entschlossen erhob sich Maxime von seinem Platz und ergriff seinen Koffer. Er konnte hier nicht länger sitzen und Däumchen drehen. Scarlett würde es sicher nicht gut finden, dass er tatenlos in der Cafeteria saß und Löscher in die Luft starrte.

Deshalb lief Maxime mit seinem schweren Gepäck alleine durch die Stadt. Eine Dreiviertelstunde später hatte er nach mehreren Busfahrten endlich den Hauptbahnhof von Hamburg erreicht. Die mächtigen Glashallen entfachten in Kombination mit dem düsteren Wetter, eine beängstigende Atmosphäre.
 

Die Fahrt entpuppte sich wenig später als willkommene Verschnaufpause. Maxime konnte die Füße hochlegen und noch mal in aller Ruhe Kräfte sammeln, bis er Bergedorfs Bahnhof erreichte, und seinen Koffer von dort aus den langen Weg zum Mehrfamilienhaus schleppen durfte. Bei aller Liebe, aber wenn Scarlett nichts Schlimmes zugestoßen war, würde er ihr definitiv den hübschen Hals umdrehen.
 

Nach 30 Minuten hatte Maxime endlich das große Eisentor reicht und drückte die schwere Klinke nach unten. Wie immer klemmte das verfluchte Teil beim Öffnen, das Quietschen des Metalls schoss wie ein Pistolenschuss in alle Himmelsrichtungen.
 

„Ich bin wieder da!“, rief Maxime nachdem er seine Schuhe im Flur ausgezogen hatte und seine Koffer abstellte. „Ist jemand zuhause? Scarlett? Yukiko? Hallo?!“
 

„Wir sind hier!“, antwortete eine Stimme aus der Küche.
 

Dort angekommen, spähte Maxime in den gemütlichen Raum hinein, wo zwei Mädchen am Essenstisch saßen. Als Yukiko den Neuankömmling erblickte, riss sie sich zusammen, stand auf und lächelte den Jungen dünn an.
 

Neben ihr saß ein goldhaariges Mädchen, das den Blick auf den Boden gerichtet hatte und schwieg.
 

Im ersten Moment wollte Maxime sofort aus der Haut fahren und sich verbal auf Scarlett stürzen, aber als sie den Kopf hob und ihn anschaute, erstarrte er. Ihr Gesicht glich einem Schlachtfeld: das linke Auge war rot und zugeschwollen, die einst schmalen Lippen sahen aus wie kleine Luftschläuche.
 

„Oh mein Gott, Scarlett... Was ist passiert?“
 

Maxime war viel zu schockiert um weiter böse zu sein und hockte sich neben der Goldhaarigen auf die Sitzbank. Behutsam griff er nach ihren Knien und drehte das Gesicht auf die Seite. Aus der Nähe betrachtet, sahen die Verletzungen des Mädchens noch viel schlimmer aus.
 

„Scarlett... sag, was. Woher hast du diese ganzen Wunden? Hat dich jemand geschlagen, oder bist du gestützt?“
 

Doch Scarlett schwieg weiterhin, und Yukiko antwortete Maxime mit einem tiefen Schnauben.
 

„Sie wurde heute Mittag auf dem Weg Nachhause überfallen. Derjenige hat sie auch so zu gerichtet.“, erklärte die Japanerin zischend. „Leider konnte Scarlett den Täter nicht erkennen, weil er sie sofort niedergeschlagen und damit bewusstlos gemacht hat. Ich wünschte, dass ich dabei gewesen wäre... Bei mir hätte der Scheißkerl sein blaues Wunder erlebt. Mich hätte der Täter nicht so leicht erledigt.“
 

Maxime schüttelte stumm seinen Kopf und schaute seiner verletzten Mitbewohnerin noch einmal ins Gesicht. Wer... konnte so etwas Schreckliches tun? Sie war doch ein Mädchen!


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo! Ein Herzliches Willkommen zu; "The Heart Collector"

Dies ist hier auf Mexx meine zweite *richtige* Geschichte und ich war wirklich überrascht, das ich schon sofort einpaar Kommentare und Favoriteneinträge bekommen habe!

Deshalb Danke an Witch-Morgana und EisblumenGirl96 für ihre ersten zwei Kommentare! *Euch Knuddel*

Da ist jetzt das erste Offiziell angekündigte Kapitel und schon verstoße ich gegen meine eigenen Regeln! :"D Eigentlich hatte ich jageplant jeden Monat ein neues Kapitel hoch zuladen und jetzt bin ich schon früher dran. Schande über mein Haupt!

Aber da ich wie gesagt schon einige Rückmeldungen bekommen habe, wollte ich euch als Dankeschön eine kleine Freude mit neuem Lesestoff machen. ^^

Für Leser die mich vielleicht schon von meiner anderen Geschichte kennen, mag diese womöglich etwas verwirrend sein. Ihr erkennt Marcel wieder, hmm? :D

Der Kleine ist der Hauptcharakter der anderen Geschichte, aber bis auf die Personen und einige Rahmenbedingungen, haben beide Storys nichts gemeinsam. Als Spin-off kann man es dennoch nicht bezeichnen. Die Beziehung zwischen Marcel und seine Familie ist nicht so wie in LB + BB=Chaos. Ich habe ein paar Änderungen vorgenommen. Und für die, die Marcel etwas eigenartig finden; Das ist extra so gemacht und wird später noch beleuchtet wieso er so ist!

Nun zu dem Inhalt:

In den ersten paar Kapiteln möchte ich euch erst mal die einzeln Charakter näher bringen, deshalb wird es noch nicht so viel Aktion geben und noch was etwas ruhig sein.

Ich hoffe ich konntet euch bis jetzt ein gutes Bild von Maxime und Raphael vermitteln. Ich mag die beiden auf jeden fall! Ich mag schwule Männer, und welche die Frauenkleider tragen, noch viel mehr! *Schmacht.*

In dem nächsten Kapitel wird Maxime dann die Person wieder sehen die ihm in Bus angerempelt hat und als er hört wer das ist, vergeht ihm erstmals das Lachen.

Wer sich schon auf Maximes Mitbewohner freut wird dagegen noch etwas warten müssen. Sie kommen wahrscheinlich erst im übernächsten Kapitel vor. Aber was würde Maximes Mitbewohnerin Scarlett wohl dazu sagen? "Das beste kommt eben zum Schluss!"

Seit gespannt. :D

Na dann, viel Spaß beim Kommentieren und Warten, Eure Gouda. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey, Hey HEY! :D

Das dritte Kapitel ist ONLINE! Party Party!

So.... zu allererst: Vielen lieben Dank für eure Reviews.... und eure ganzen Favoriteneinträge! ;___; Und dabei waren das nur zwei Kapitel...! Womit habe ich das verdient? DANKE!!!

An dieser Stelle, möchte ich mich auch nochmal bei meinen beiden Betalesern; peonie UND mondmaid bedanken, die so lieb waren, mein getippsel zu lesen und zu verbessern. Ich mache einen Kniefall vor euch!
OHHMM! *Verbeug*

Uh, in diesem Kapitel ging es diesmal etwas ruhiger zu, aber wir haben einige neue Leute kennengelernt. Charlotte, Kiley, Jaromir und Sebastian.... drei von iihnen bedeuten für Maxime Probleme...

Seit ihr schon gespannt wie es weitergeht?
Ja? Ich auch! <3 Dann mal her mit euren Kommentaren und Meinungen!
Ich warte.... ;-DDD

In dem Nächsten Kapitel lernen wir dann Maximes Mitbewohner kennen...

Liebe Grüße und bis bald,

Gouda Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Guten Morgen,

geht es euch allen gut? :D Ich hoffe das ihr die letzten warmen Tage auch so genossen hat, wie ich. Also bei mir war es in der letzten Woche extrem warm und ich habe viel zeit mit meinem Laptop auf dem Balkon verbracht.
Hachja...

Wie hat euch das Kapitel gefallen? Ich hoffe ich konnte euch hiermit einen genaueren Einblick in Maximes Leben vermitteln, was seine WG betrifft. :D

Aber ich muss euch an dieser Stelle auch noch etwas erzählen;
Die ersten drei kapitel dieser Geschichte kann man mehr oder weniger als ziemlichen langen Prolog bezeichnen!
Für mich persönlich geht die Geschichte erst mit so richtig den 4 los. :-O Darum wird es in den nächsten Kapitel für einige von euch vielleicht ziemlich schnell. Die ersten drei habe ich bewusst laaaange und ausschweifend geschrieben, damit die Beziehung der einzelnen Figuren gut zur Geltung kommt.

Das war es an dieser Stelle auch schon von mir. Natürlich würde ich mich wie immer über Kommentare oder Rückmeldungen von euch freuen!!!! :DDD

Liebe Grüße, Gouda. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute,
endlich ist das nächste Kapitel fertig! Es tut mir leid das ihr solange darauf warten musstet, aber irgendwie hatte im letzten Monat eine kleine Schreibblockade gehabt! Q_Q Ich hoffe das ihr mir das nicht übel nimmt, dafür werde ich das 10e Kapitel auch etwas früher hochladen. ^^

Wie hat euch dieses Kapitel gefallen? Endlich ist Maxime dem Rätsel von Bergedorf etwas näher gekommen, aber dafür gibt es neue Fragen: Wer ist der Kerl aus der Disko und warum sieht Marcel so aus, als ob er die unheimlichen Kreaturen aus dem Wald kennt?!
Uiuiuii~ Da liegt Spannung in der Luft, Leute!

Wie immer würde ich mich über ein paar Rückmeldungen und Feedbacks von Euch freuen! <3

Bis bald, eure Gouda! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr lieben Leute,

fast pünktlich zum neuen Monat gibt es das 11e Kapitel von THC von mir! Ich hoffe ich hattet bis hier hin euren Spaß gehabt?
Wie ihr bemerkt, wird es für Maxime immer gefährlicher. Irgendjemand hat es auf ihm absehen, und möchte ihn fertig machen. Doch wer ist es, und warum?
Na? Hat einer von euch vielleicht schon eine Vermutung? Ja wenn, könnt ihr mir das gerne in die Kommis schreiben. Bin echt mal gespannt, ob jemand schon die richtige Vorahnung hat. :D

Ihr könnt schon mal auf das nächste Kapitel gespannt sein! Es wird den Titel "Das Monster" tragen, und euch einen Einblick in die tiefen und verwinkelten Geheimnisse von Bergedorf geben, denn man so schnell nicht vergessen wird.

Bis da hin wünsche ich euch alles gute, und viel Spaß beim Lesen und Kommentieren.

Eure Gouda Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shiion
2015-05-23T19:27:02+00:00 23.05.2015 21:27
Wieder mal ein gelungenes Kapitel
freu mich auf mehr
Antwort von:  Gouda-kun
27.05.2015 18:37
Hallo Shiion,
danke für deinen Kommi. Das nächste kapitel wird irgendwann in Mitte des nächsten Monats kommen. :)

Liebe grüße, Gouda
Von:  Niii
2015-04-26T21:00:51+00:00 26.04.2015 23:00
das gesamte kapitel fand ich spannend, besonders jetzt am schluss hat es sich sogar gesteigert. :) ich kann mir nicht helfen aber ich mag scarlett irgendwie! und dass sie irgendetwas mit dem unheimlichen verfolger zu tun hat macht die gute für mich noch interessanter. und was hat es mit dem weishaarigen begleiter marcels auf sich? wieso will der junge nicht nach sonnenuntergang zu hause sein? in meinem kopf stelle ich schon die wildesten vermutungen auf *grins* ich freu mich riesig auf eine baldige fortsetzung dieser tollen geschichte. :D :D
lg niii
Antwort von:  Gouda-kun
04.05.2015 21:21
Danke für deinen Kommentar Niiii! :D
Hey, ich finde es gut, dass du bemerkt hast dass ich das Tempo des Kapitels diesmal etwas angehoben habe. Die ersten 3 Kapitel fand irgendwie etwas schleppend. Außerdem meinten einige Leser, dass die Gespräche in der Geschichte zu lang wären. Naja...

Scarlett ist für mich der typische Fall von: harte Schalle, weicher Kern. :D Ich mag solche taffen Mädchen irgendwie total.

Ach, was hast du denn für Vermutungen??? Das würde mich jetzt aber mal brennend interessieren...
UND ich weiß nicht ob es ich falsch beschrieben habe, oder du falsch gelesen, aber Marcel MÖCHTE vor Sonnenuntergang wieder zuhause sein.
Warum nur?! Das wirst du bald lesen!

LG Gouda
Von:  Niii
2015-04-18T13:59:06+00:00 18.04.2015 15:59
danke für das tolle kapitel :D
charlotte mag ich gern aber die anderen drei? >.< ich hab aber so das gefühl dass kiley wichtig ist, oder irre ich mich? ^-^
lg niii
Antwort von:  Gouda-kun
20.04.2015 14:07
Bitte, leider hatte das solange gedauert bis es vom neuen hochgeladen war.
Welche drei magst du den nicht?
Antwort von:  Niii
20.04.2015 15:31
naja..kiley, jaromir und sebastian. die sorte mensch der jaromir und sebastian scheinbar angehören kenne ich. drum mag ich sie nicht. sie sind gemein und freuen sich, wenn andere wegen ihnen traurig sind. bei kiley bin ich mir noch nicht so sicher. aber laut charlotte und raphael ist der auch ein ziemlicher arsch, verzeih meine ausdrucksweise ^^
aber wie bereits gesagt hab ich das gefühl, dass er noch wichtig wird. vl befreundet sich maxime ja doch mit ihm und/oder sie werden ein paar ^-^ oder aber es wird etwas schlimmes passieren. das weißt nur du gouda-kun :P drum bin ich schon richtig gespannt was im fünften kalitel passiert :D
lg niii
Antwort von:  Gouda-kun
20.04.2015 15:55
ich weiß, ich kenne diese Sorte Menschen auch, aber immerhin brauche ich einpaar Bösewichte, ne?
Du hast recht, Kiley wird definitiv noch eine wichtige Rolle ein nehmen, aber welche. .... Hmmm!
Es dauert aber noch ein paar Kapitel bis der Gute zurück kommt. Erst einmal muss ich um andere Figuren kümmern. XD

liebe grüße, Gouda
Von:  Witch-Morgana
2015-02-24T08:33:31+00:00 24.02.2015 09:33
Hallo,
gutes Kapitel, welches sich angenehm und flüssig Lesen lässt. Jedoch sind noch ein paar stolpersteine durch die Grammatik drin, aber das ist aus zuhalten da man weiß trotzdem was du meinst. :) Der Freund von Maxime ist entgegen der ersten Einschätzung doch ziemlich interessant. Ich bin gespannt welche Rolle er im weiteren Verlauf einmeinnehmen wird.

Gruß Witch-Morgana

Von:  EisblumenGirl96
2015-02-23T14:03:32+00:00 23.02.2015 15:03
OMG! Ich finde Raphael total süß! Und beschützt Maxime immer. Ich fand die Szene am Anfang wo die zwei sich getroffen haben sehr schön und man hat sofort ein gutes Bild von ihrer Bindung zu einander bekommen. Ihre Freundschaft kommt sehr authentisch und echt rüber.
Ich bin auf jeden Fall gespannt wie es weiter geht

Von:  EisblumenGirl96
2015-02-13T15:39:31+00:00 13.02.2015 16:39
Oh wie ich diese Fanfic jetzt schon liebe! ! Man kann gar nicht aufhören mit dem lesen. Und da ist das Kapitel leider schon zuende. Ich mag Marcel er will den einen doch nur beschützen. ichfinde das sehr süß.
schreib Bitte schnell weiter. Grade ist es so richtig spannend geworden und dann... Schluss! ._.

deine Eisblume
Antwort von:  Gouda-kun
13.02.2015 19:09
Ich kann dein Leid verstehen! XD Aber wie heißt es noch mal so schön? Man muss Schluss machen wenn es am besten ist, oder so!

Ich werde mich beeilen und das nächste Kapitel vllt etwas eher hochladen. :D

Gruß Gouda
Antwort von:  EisblumenGirl96
14.02.2015 09:44
Bitte Beeil dich! ich finde deine Fanfic total toll. ich liebe sie und dein Schreibstil gefällt mir auch ziemlich gut. ich ^^
Ich bin wirklich gespannt wie es mit Maxime und Marcel weiter geht, habe das Gefühl das die sich auf jeden Fall noch mal wieder sehen werden, oder?

deine Eiblume
Von:  Witch-Morgana
2015-02-13T04:59:33+00:00 13.02.2015 05:59
Hey, ein wirklich gelungen erstes Kapitel, dass muss ich schon sagen. Super Geschichte. Maxime mag ich vom ersten Moment an, er ist irgendwie Cool. Er hat einfach etwas, weißt du was ich meine? Eine gute Mischung aus Mäuschen und Held! :)

Ich finde auch das sich deine Rechtschreibung und Grammatik verbessert hat. Es sind nicht mehr so viele Fehler wie bei der ersten Fanfic drin.
Und Dazu gleich, kann es sein das dass auch ein Spin-off von der ersten ist?
Auch die Seitenanzahl finde ich gut und angenehm zu lesen. Es ist nicht zuviel und nicht zu wenig.
Ich denke mal, dass das der Marcel aus Little Brother Big Brother = Chaos ist und der Typ der Maxime über den Haufen gerannt hat, kommt mir auch bekannt vor! Aber ich möchte meinen Verdacht beschäftigt bekommen. ..
Soooooo, mehr ich nicht zu sagen.
Ich würde mich auf jeden Fall freuen bald mehr dir zu lesen und freue mich schon auf das nächste Kapitel. ^.^

Witch-Morgana

Antwort von:  Gouda-kun
13.02.2015 11:02
Danke für deinen Kommentar.
Oh du schmeichelst mir! !! >\\\\<

Ich muss auch sagen das mir Maxime als Hauptcharakter auch sehr gut gefällt. Er ist nicht so schüchtern und passiv wie die anderen Hauptcharakters in meinen anderen Geschichten.

Zu alles andere kann ich leider noch nichts sagen, les einfach weiter! :-D

Gruß Gouda
Antwort von:  Witch-Morgana
13.02.2015 15:25
Genau, Maxime ist hart in nehmen, anderes als Marcel! Aber liebe ich beide. Jeder von ihnen hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Obwohl ich sagen muss das ich Marcel nicht mehr so zurückhaltend finde wie zu Beginn der ersten Geschichte. Er hat einen richtig Dramatischen Abgang hinlegt.
Voll der Badass,yo! XD Und Kim... ist eben Kim. Immer fies und trotzdem gehört er zu meinen Favoriten!! hihihi<3


Oh man! Schade das du nicht mehr verrätst. Ich bin jetzt schon total neugierig und muss noch solange warten. :-( Kannst du keine Ausnahme machen? Biiiiiittte!?

Witch-Morgana


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