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The Heart Collector

von

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Kapitel 12: Das Monster

Vor Empörung holte Maxime tief Luft. Er wollte Nathan seine ehrliche Meinung ins Gesicht schleudern, denn von so einem Arschloch ließ er sich gar nichts sagen, aber dann klappte er den Mund wieder zu, als er diesen verletzten und gebrechlichen Ausdruck in den goldenen Augen seines Gegenübers sah. Auf einmal kam ihm der böse Verdacht, dass es ein gewaltiger Fehler gewesen war, am Vortag mit Nathan zu schlafen.
 

„Hör zu, ich möchte mal etwas klar stellen...“, begann Maxime und versuchte seine Stimme fest und selbstsicher klingen zu lassen. „Das was da zwischen uns passiert ist, war nur eine einmalige Sache, okay? Ich weiß, dass ich vorgestern vielleicht noch anders darüber gedacht habe, aber es ist nun mal, so wie es ist. Im Grunde genommen bist du für mich nur ein fremder Kerl, der eines Abends auf meinen Balkon geklettert ist.“ Und der Scarlett umbringen möchte, fügte er in seinen Gedanken hinzu.
 

„Wie bitte? Was hast du da gerade gesagt!?“
 

Plötzlich sprang Nathan auf die Beine und funkelte Maxime wütend an. Noch in der gleichen Sekunde hatte er das Bett erreicht, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Grob stieß Nathan die Decke zur Seite und kniete sich wie schon beim ersten Mal, mit gespreizten Armen und Beinen über dem Rosahaarigen.
 

Nathan schaute ihn an wie eine Kobra und packte Maximes Unterkiefer, der automatisch herunterklappte. Darauf hatte der Kerl nur gewartet! Hart und lieblos küsste den Jungen auf die Lippen und stieß seine Zunge wie ein Messer in die geöffnete Mundhöhle. Es interessierte ihn gar nicht, dass sich dieser sofort verspannte und sichtlich in Abwehrhaltung ging.
 

Das ist nicht gut, dachte Maxime panisch und stemmte die Hände gegen die fremde Brust. Er drückte zu und schrie in der gleichen Sekunde schmerzerfüllt auf. Er war ein Idiot! Seine Hände waren doch verletzt!
 

Nach einer Weile ließ Nathan von seinem Opfer ab und lehnte sich wieder zurück. „Du schmeckst immer noch so gut wie beim ersten Mal, Süßer.“, raunte er grollend und leckte sich über die Lippen. „Ich habe Lust auf dich. Lass es uns tun!“
 

„Nein!“, fauchte Maxime und schüttelte energisch seinen Kopf. „Siehst du nicht dass wir in einen Krankenhaus sind? Heute Mittag hat jemand versucht mich zu vergiften! Ich habe keine Lust auf Sex!“
 

Er zwang sich, den Kopf zu heben und Nathan in die glühenden Augen zu gucken. Zuerst sahen sie normal aus – vielleicht war die Farbe sehr ungewöhnlich - aber dennoch sahen sie aus wie die Sorte von Augen, die jeder Mensch besaß. Dann veränderte sich auf einmal das Bild. Nathans Augen leuchteten noch intensiver als vorher und veränderten ihre Form. Die runden Pupillen verwandelten sich in schmale Striche, die so spitz waren wi geschliffene Nadeln.
 

„Ihr Menschen seid doch gar nicht in der Lage zu lieben“, zischte Nathan und drückte seine Schulterblätter nach vorne, während seine Wirbelsäule einen scharfen Ruck zur Decke machte. „Und dabei mochte ich euch kleine, zerbrechliche Geschöpfe eigentlich immer. Ich dachte ihr seid sanftmütige und ruhige Kreaturen... Aber da sieht man mal wieder, wie sehr man sich täuschen kann.“
 

Die Hände an Maximes Schulter begannen zu wachsen, wurden größer, stärker und mächtiger. Wo früher einmal gewöhnliche Fingernägel waren, schossen nun lange, säbelartige Klauen in die Freiheit. Maximes Augen wurden starr vor Schreck. Sein Atem stockte.
 

Nathan, der hübsche junge Mann aus der Diskothek, wurde von Sekunde zu Sekunde immer unheimlicher. Seine Hände waren mittlerweile so groß wie Mülleimerdeckel, der einst gerade Rücken Vergangenheit. Die einzelnen Knochen der Wirbelsäule hatten die Haut von innen aufgerissen und wuchsen wie scharfe Widerhaken in die Luft. Aber auch die Haut des Jungen sah nicht mehr so aus wie am Anfang; zuerst war sie schön weich und sonnengebräunt gewesen, jetzt war sie schuppig und glänzte wie nasse Kohle.
 

In der nächsten Sekunde hatte Maxime seinen Mut zusammen gekratzt, die Klauenhände von seiner Schulter gestoßen und sich aus dem Bett geworfen. Mit einem Fauchen auf den Lippen und einem kräftigen Satz nach vorne, sprang das Nathan-Ding ebenfalls aus dem Bett und attackierte Maxime mit seinen Klauenhänden. Wütende Schläge prasselten auf seinen ungeschützten Körper nieder, doch das bändigte die Wut der Kreatur nicht.

Die Hiebe wurden immer stärker und gezielter. In dem Moment wo sie fast das Gesicht den Jungen erwischten, schoss Maximes angewinkeltes Bein in die Höhe und trafen seinen Brustkorb mit voller Kraft.
 

Zu seinem Glück rollte sich das Wesen winselnd auf die Seite, was Maxime wohl das Leben rettete, denn er sah, dass auch Nathans Zähne inzwischen aussahen, wie das Gebiss eines fleischfressenden Raubtieres. Schmerzlich wurde Maxime in diesem Augenblick bewusst, dass normale Menschen maximal zwei Eckzähne besaßen. Nathans Mund hingegen entblößte eine Reihe, die NUR aus Eckzähnen bestand; alle waren lang, scharf und leicht nach hinten gebogen.
 

„Braves Monster, liebes Monster...“, wimmerte Maxime. Auf allen Vieren rutsche er in Richtung Zimmertüre und hoffte sehnlich, dass irgendjemand von draußen den Krach hörte.

Von seiner Position aus sah er, wie rauchender Speichel aus dem Schlund des Wesens tropfte und den Boden zum Zischen brachte, als die dampfende Flüssigkeit ihn berührte.
 

„Warum siehst du so verängstigt aus? Bin ich dir in dieser Gestalt zu hässlich?“, fragte das unheimliche Ding mit Nathans gewohnter Stimme. „Komm zurück ins Bett, Süßer. Dann machen wir da weiter wo wir eben aufgehört haben.“
 

Die düstere Kreatur kam näher und näher. Bei jeden Zentimeter den es nach vorne ging, kroch Maxime weiter nach hinten. Dann schob sich die schwarze Pranke mit den langen Krallen quietschend über den Boden, was Maxime vor lauter Panik den Atem stocken ließ. Starr vor Schreck musste er dabei zusehen, wie sich die mächtige Hand um seinen Fußknöchel schlang, und ihn mit einen mächtigen Ruck von der Türe weg riss.
 

„Wir machen jetzt das gleiche wie Vorgestern. Du entspannst dich, und ich sorge dafür, dass es dir gut geht.“, fauchte Nathan. Obwohl, Fauchen war der falsche Begriff. Eigentlich sprach Nathan in seiner gewöhnlichen Stimmlage, aber alles was aus seinen Mund kam hörte sich grauenhaft verzerrt an.
 

Das Wesen packte Maxime an den Schultern, schleppte ihn zum Bett zurück und warf ihn wie ein kleines Spielzeug auf die Matratze. Und was war das Schrecklichste an der ganzen Situation? Alles was er sah entsprach der Wahrheit.
 

Das war kein Traum, oder irgendeine Spinnerei seines Gehirnes. Das war die grausame und bittere Realität. Über ihm hockte ein riesiges Monster mit einer pechschwarzen Haut. Dieses Monster hatte vorher wie ein normaler Mensch ausgesehen, nun wirkte die Kreatur wie eine Ausgeburt aus der Hölle!

Während das Wesen langsam seinen Kopf in Maximes Halsbeuge legte und spielerisch mit den Reißzähnen über die erhitzte Haut fuhr, starb der Rosahaarige innerlich mehr als tausend Tode.
 

*xXx*
 

Einige Stunden später erwachte Maxime aus einem tiefen und traumlosen Schlaf. Als er die Augen aufschlug, spürte er nichts anderes als Schmerz und Scham. Ein unglaublich schweres Gewicht lag auf seiner Brust und zerquetschte ihn fast das Herz. Jeder verdammte Atemzug war die Hölle für seinen Körper.
 

Maxime wusste nur noch, das er heute Morgen irgendwann bewusstlos wurde als sich das Monster vom dem er dachte, es sei ein normaler Mensch, an seinen Körper verging und ihn vergewaltigte. Jetzt spürte er, dass er sauer wurde, innerlich zu kochen begann, und wenn das noch nicht genug war, dann polterte in diesen Augenblick auch noch die Krankenschwester in das Zimmer.
 

„Gute Morgen, Herr Ravanello.“, sagte das junge Mädchen, augenscheinlich eine Auszubildende. Sie lächelte und näherte sich mit zielstrebigen Schritten dem Bett. Als sie jedoch den kalten und leblosen Blick in Maximes Augen bemerkte, zuckte sie ängstlich zurück. „Geht... es dir nicht gut?“, fragte sie atemlos und vergaß sogar, den Patienten zu siezen.
 

Maxime betrachtete das Mädchen ein paar Sekunden ohne zu blinzeln. Was sollte er sagen? >Nein, mir geht es scheiße. Heute Nacht hat mich ein Monster vergewaltigt, das eine große Karriere in Hollywood beginnen könnte?< Nein. Also schüttelte der Junge seinen Kopf und setzte ein falsches Lächeln auf.
 

„Mir geht es gut. Ich konnte die Nacht nur schlecht schlafen. Das ist alles.“ Er schaute nach links, nahm die Notfallklingel in die Hand und reichte sie der Schülerin. „Ich glaube, dass die Klingel kaputt ist. Ich habe in der Nacht geklingelt, aber niemand ist zu mir ins Zimmer gekommen.“
 

Die Schülerin nahm die Klingel entgegen und betätigte selbst den Notfall-Knopf. Sie wartete ein paar Sekunden, und dachte offenbar angestrengt nach. Anscheinend wartete sie auf etwas. Doch dieses Etwas passierte nicht. „Normalerweise kriege ich eine Meldung auf meinem Stationstelefon, wenn jemand von den Patienten klingelt“, erklärte das Mädchen ruhig und zog den besagten Gegenstand aus ihrer Hosentasche. Für ein paar Sekunden starrte sie stumm auf den dunklen Bildschirm des Telefons. „Aber ich habe nichts bekommen... also muss es wirklich an der Klingel liegen.“
 

Das Mädchen hatte anscheinend öfters mit kaputten Klingeln zu tun, denn sie ging entschlossen in die Hocke und überprüfte den Kabelblock unter dem Patientenbett. Mit einem lauten „Ha!“, schoss sie nach einigen Sekunden wieder in die Höhe. In ihrer geballten Hand hielt sie ein einzelnes, graues Kabel. „Deine Klingel ist nicht kaputt – der Stecker war nur nicht drin! Seltsam...“
 

Nachdenklich runzelte Maxime seine Stirn. Na, das war aber ein Zufall, dass ausgerechnet gestern Nacht die Notfallklingel nicht funktionierte, wo er vergewaltigt wurde...

Ein Schatten huschte über sein Gesicht und er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ihm die Krankenschwester auf den Tisch gestellt hatte. „Danke. Und hat Dr. Blackwood schon gesagt wie lange ich noch hierbleiben muss? “
 

„Ähm, der Doktor sagte, dass Sie so lange hier bleiben sollen, bis wir die Laborwerte von der gestrigen Blutabnahme haben. Der Doktor möchte sicher sein, dass auch wirklich keine Giftstoffe in Ihren Körper sind. Daher werden Sie wohl noch 1 oder 2 Tage hier bleiben müssen, Herr Ravanello.“
 

Maxime presste die Lippen zusammen und atmete hörbar aus. Na toll, das waren dann wieder zwei Nächte mehr, in denen sich das düstere Monster an ihm vergreifen konnte.

Die junge Schülerin schien seinen Unmut zu spüren und versuchte den niedergeschlagenen Jungen mit einem netten, kleinen Gespräch über das schöne Wetter aufzumuntern, biss sich allerdings die Zähne an Maximes Starrkopf aus. Nach einigen Minuten, in denen im Zimmer peinliche Stille herrschte, gab das Mädchen auf und verließ den Raum.
 

Eigentlich war es nicht Maximes Art seine Laune an anderen Menschen auszulassen, aber im Augenblick konnte er einfach nicht anders. So wurde der kommende Tag für Maxime zur Zerreißprobe: die Krankenschwestern gaben sich alle Mühe um den Grund für seine schlechte Laune zu finden und dieser tat alles, damit sie keinen Erfolg bei diesem Unterfangen hatten. Irgendwann, im Laufe des Vormittags, erschien der Chefarzt auf der Station und begann seine alltägliche Visite. Als er gefühlte 3 Stunden später zu Maxime kam, sahen seine alten Augen sofort, dass den Jungen etwas belastete.
 

Ein paar Sekunden stand Doktor Blackwood nur verwirrt ihm Türrahmen und betrachtete Maxime aus sicherer Entfernung. „Geht es dir nicht gut?“ fragte der er betont ruhig und setzte ein kleines Lächeln auf, während er mit wehenden Mantel in das Zimmer trat.
 

„Hmm. Es geht.“, sagte Maxime kalt und wendete demonstrativ seinen Blick ab. „Wenn Sie mich entlassen würden, ginge es mir bestimmt besser.“
 

„Das geht leider noch nicht, Maxime. Wenn du doch irgendwelche Spuren des Rizin-Pulvers aufgenommen hast und ich dich jetzt nachhause schicke, könnte ich das nicht mit meinem Gewissen als Mediziner vereinbaren. Wenn du natürlich sagst, dass dir das Gift egal ist und du trotzdem gehen möchtest, werde ich dich nicht aufhalten. Es ist deine Entscheidung, was du machst, junger Mann.“
 

Der Blick, mit dem Maxime den Arzt nun ansah, war so wuterfüllt, dass der Mann schnell wegschauen musste; solche starken Emotionen konnten unter Umständen schlimmer sein, als jedes böse Wort.
 

„Danke für das schlechte Gewissen. Sie wissen wohl genau, wie Sie ihren Willen kriegen, oder?“
 

„Ja, in meinen Beruf sollte man ein gewisses Talent für solche Angelegenheiten besitzen. Übrigens, gibt es da vielleicht doch eine Sache, womit ich dir eine Freude bereiten kann. Es ist eine Überraschung. Möchtest du sie sehen? “
 

Während Maxime die Augen verdrehte und im Geiste genervt aufschrie, erkannte er, dass der Doktor ein gerissener Manipulator war. Zum Teil würde er gerne wissen wovon der Arzt redete und was für eine Überraschung er für ihn hatte, aber an der Art wie der Mann sprach, erkannte Maxime, dass er dafür eine Gegenleistung wollte.
 

„Also Maxime, ich weiß dass du viel lieber Zuhause bei deiner Familie sein würdest, aber vielleicht kann ich dich aufmuntern, wenn ich dir sage, dass vor 10 Minuten Besuch gekommen ist. Es ist ein Junge aus deiner Schule, der dich gerne sehen möchte. Die kleine Abwechslung wird dir und deinem Gemüt sicher gut tun.“
 

Mit diesen Worten erschien ein großväterliches Lächeln auf dem Gesicht des Arztes und er verschwand rasch aus dem Zimmer, bevor der Patient noch eine weitere Frage stellen konnte.

Wütend ballte Maxime seine Hand zur Faust. Er starrte grimmig auf die Türe und war feste davon überzeugt, dass sein bester Freund Raphael mal wieder den Unterricht schwänzte. Natürlich konnte er Maximes plötzlichen Krankenhausaufenthalt als perfekte Ausrede benutzen, um nicht in die Schule zu müssen.
 

Nachdem einige Minuten vergangen waren, hallte ein zaghaftes Klopfen durch das Zimmer und die Türe schwang für 2 Zentimeter nach innen auf. Von draußen hörte Maxime ein paar Wortfetzen vom Flur hereinwehen. Anscheinend sprach sein Besuch noch kurz mit einer Krankenschwester, bevor er den Patienten begrüßte.
 

„...und sei bitte freundlich zu ihm, ja? Seit heute Morgen ist Herr Ravanello auf einmal sehr kalt geworden und hat sich komplett zurückgezogen. Wir machen uns hier auf der Station inzwischen alle Sorgen um ihn. Vielleicht hat ihn die Giftattacke mehr zugesetzt, als er nach außen hin zu geben möchte? Es ist wirklich nett, dass er von seinen ganzen Schulkameraden Besuch bekommt, ihr seid so nette Kinder. Wenn du Glück hast, kannst du ihn vielleicht ein bisschen aufmuntern.“
 

„Ich versuche es.“, antwortete eine klare und helle Stimme zuversichtlich. „Ich kenne Maxime zwar auch noch nicht so lange, aber ich bin mir sicher, dass ich mehr über ihn weiß, als er sich vorstellen kann.“
 

Als sich die Türe endgültig öffnete, warf Maxime schnell die Decke nach oben und schloss seine Augen. Aus der Ferne hörte er leise Schritte, die immer näher kamen und nach einigen Sekunden schließlich verstummten. Als die Person einen Stuhl zurück zog und sich auf diesem niederließ, hielt Maxime seinen Atem an.
 

5 Sekunden vergingen, in denen nichts passierte. 10 Sekunden ... 20 Sekunden...
 

„Maxime? Bist du wach?“
 

Ohne zu zögern, schlug der Angesprochene seine Augen auf. Im selben Moment, wo er erkannt hatte wer da neben dem Bett saß, fuhr er hoch und stieß ein verzücktes Quieken aus.

Ein blonder Junge lächelte ihn aus sanftmütigen blauen Augen an und legte den Kopf wie eine Katze auf die Seite. Wie immer wirkte seine helle Haut rein und weich. Die halblangen, leicht glänzenden Haare besaßen heute kleine Wellen und verliehen Marcel den unwiderstehlichen Charme einer jungen Göttin.
 

Maxime blinzelte ein paar Mal verwirrt. Er war nicht in der Lage zu begreifen was ER im Krankenhaus verloren hatte.
 

„Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen.“, meinte Marcel nüchtern. Er rutschte etwas nach vorne und legte ein kleines, quadratisches Päckchen, das in buntes Papier eingepackt war, auf die Bettdecke. Als er Maximes perplexen Blick begegnete, stieß er ein kleines Kichern aus. „... Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Wenn ich dich schon besuchen komme, dann kann ich hier doch nicht mit leeren Händen auftauchen. Nun guck mich doch nicht so ratlos an!“
 

„Ja, aber...“ Maxime schluckte peinlich berührt und schaute mit roten Wangen auf das Päckchen. „Ähm, hmm... Danke, würde ich mal sagen...“
 

„Gerne.“
 

„Aber...“
 

„Ja, was ist?“
 

Erneut schaute er Marcel an und der Ausdruck in seinen Augen reichte aus, um sich zu wünschen, er hätte einfach so getan, als ob alles in Ordnung wäre. „Warum bist du zu mir gekommen? Ich sollte mich doch von dir fernhalten. Und jetzt verstößt du gegen deinen eigenen Wunsch? Ich verstehe das alles nicht.“
 

„Ich weiß.“ Marcel machte ein betroffenes Gesicht. „Aber ich habe heute Morgen in der Schule gehört, was mit dir passiert ist. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgehört und erfahren, dass du seit gestern im Krankenhaus liegst. Das ist eine Ausnahme. Ich wollte mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es dir gut geht. “
 

Für einen kurzen Moment hielt Maxime die Luft an. Hatte er da gerade so etwas wie Sorge in Marcels Stimme vernommen? Auch sein Gesichtsausdruck wirkte ziemlich niedergeschlagen.

Weil ihm diese Situation selbst unsagbar unangenehm war, heftete er seinen Blick wieder auf das Paket und nahm es in die Hand. „...Was ist da drin? Nachdem Erlebnis von Gestern bin ich vorsichtig geworden. Vielleicht bist du ja der Täter?“
 

Der kleine Scherz wirkte. Marcels Mundwinkel begannen gefährlich zu zucken und das alte, wütende Funkeln kehrte in seine Augen zurück. „Du bist blöd!“, zischte der Jüngere schnippisch, riss Maxime das Geschenk aus der Hand, und öffnete es mit einer flinken Bewegung.
 

Jetzt war die Lage schon sehr viel erträglicher und Maxime knuffte Marcel freundschaftlich in die Seite. Dann betrachtete er das Geschenk. Es war eine feine, silberfarbene Kette mit einen kleinen Stern, und 2 japanischen Kirschblüten als Anhänger.

Verblüfft hielt Maxime die Kette gegen das Licht. Zwischen den beiden Accessoires versteckt, hing noch ein dritter, bis jetzt unbemerkter Gegenstand: es war ein daumengroßer, rosa schimmernder Rosenquarz, dessen glatt polierte Oberfläche leicht funkelte.
 

„Na, gefällt sie dir?“, fragte Marcel nach einigen Sekunden, da Maxime keine Anstalt machte irgendetwas zu sagen.
 

„Wow... Marcel, ich weiß gar nicht was ich dazu sagen soll. Sie ist... Sie ist der absolute Hammer.“
 

„He, sehr schön. Ich wusste doch, dass du auf so ein kitschiges Zeug stehst.“ Marcel lehnte sich mit einen zufriedenen Lächeln wieder nach hinten. Er wartete so lange bis Maxime die Kette wieder weg gepackt hatte und ihn anschaute. Kurz zögerte Marcel noch, dann stellte er die Frage, die ihn sein gestern Mittag unter den Nägeln brannte. „Und was ist nun gestern passiert? Ich habe nur gehört, dass man dich irgendwie mit irgendwas vergiften wollte – Einzelheiten habe ich nicht erfahren. Bitte klär mich auf!“
 

„Oh weh, das ist alles ein bisschen kompliziert.“ Dann erzählte er Marcel die ganze Geschichte mit den zwei mysteriösen Briefen. Auch der blonde Junge wunderte sich darüber, dass die zwei Briefe beide Male keinen Absender hatten.
 

„Hast du den Brief zufällig hier?“, erkundigte sich Marcel als er und Maxime mehrere Sekunden in Gedanken versunken waren und sich jetzt wieder anschauten.
 

„Ja klar, der Chefarzt hat ihn mir gestern Abend zurückgegeben. Bitte, du kannst ihn dir gerne ansehen. So, wie er jetzt eingepackt ist, kann kein Rizin-Pulver mehr nach außen gelangen.“
 

Maxime deutete mit einen Nicken auf seinen Nachtschrank, wo ein weißer Brief in einer eingeschweißten, durchsichtigen Folie lag. Dr. Blackwood hatte ihm geraten, sofort zur Polizei zu gehen und den Anschlag zu melden, wenn er in eine oder zwei Tagen das Krankenhaus verlassen konnte.
 

Marcel nickte dankend und betrachtete den Brief gründlich. Er wendete den Umschlag nach allen Seiten und schien diese Inspektion sehr ernst zu nehmen. Als er schließlich bei der Rückseite angekommen war und die Schrift mit dem Namen sah, weiteten sich plötzlich seine blauen Augen. Er öffnete den Mund und wurde auf einmal so blass wie eine Wand.

Schnell, für Maxime jedoch ein bisschen zu schnell, legte Marcel den Brief zurück an seinen Platz und atmete tief ein. Irgendetwas schien den blonden Jungen stark zu beunruhigen.
 

„Hey, was ist los Marcel? Du sieht auf einmal so verängstigt aus... Hast du irgendwas an dem Brief bemerkt?“
 

„Nein.“, antwortete der Blonde und biss sich nervös auf die Zunge. „Ähm, ich glaube ich sollte so langsam nachhause gehen. Meine Familie weißt nicht, dass ich dich nach der Schule besucht habe. Sie werden sich sicher Sorgen machen, wenn ich nicht pünktlich Zuhause bin.“ Seufzend erhob sich Marcel von dem Stuhl und wischte sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Tut mir leid, dass ich so schnell wieder gehen muss, aber ich habe keine Lust auf Ärger. In letzter Zeit sind meine Geschwister sowieso immer auf Krawall gebürstet. Und ich will ihnen jetzt nicht schon wieder einen Grund geben, um... Naja, jedenfalls würde das nur Ärger bedeuten. Wie auch immer, du solltest in Zukunft mehr auf dich aufpassen.“
 

Maxime starrte den Jüngeren verblüfft an. Es war offensichtlich, dass Marcel etwas verheimlichte. In seiner Angst hatte er sogar freiwillig über seine Familie gesprochen! Und dabei wusste Maxime bis jetzt nur die wenigen Dinge, die Marcel bei ihrem Kennenlernen erzählt hatte. Das Verhältnis zu seiner Familie war anscheinend ziemlich schlecht, da sie Marcel wohl nicht als vollwertiges Mitglied akzeptierten. Warum war dem Rosahaarigen jedoch schleierhaft.
 

Bevor Marcel ging, tätschelte er nochmal kurz Maximes Beine und wünschte ihm eine gute Besserung. Er lächelte verzerrt und verschwand fluchtartig aus dem Raum.
 

Die Reaktion hatte Maxime nachdenklich gemacht. Warum geriet der Kleine so in Panik, nur weil er seinen Namen auf den Umschlag gelesen hatte? Wusste er mehr, als er nach außen hin vorgab? Aber noch etwas anderes beunruhigte Maxime; als sich Marcel vorhin den Pony aus dem Gesicht strich, war sein Ärmel nach Oben gerutscht und hatte die Sicht auf seinen Unterarm freigegeben. Die Haut dort war schwarz, rot, blau und lila unterlaufen – ein riesiger Bluterguss zierte seinen schlanken Arm.
 

Entweder hatte Marcel mal wieder Ärger mit Sebastian und Jaromir gehabt, oder mit jemand Anderem. Aber mit wem? Seitdem die Lehrer darauf aufmerksam geworden waren, dass Marcel oft Probleme hatte, behielten sie den Jungen im Auge. Eigentlich gab es niemanden mehr auf der Schule, der ihm Schwierigkeiten bereiten konnte.
 

Oder... war dieses Hämatom vielleicht irgendwo anders entstanden? Womöglich zuhause bei seiner Familie?
 

Unweigerlich musste Maxime wieder an die schaurige Gestalt aus dem Wald denken. Vielleicht hatte sie Marcel verletzt? Außerdem standen die Chancen hoch, dass die Kreatur da draußen, auch ein Monster war, so wie Nathan. Ihre Krallen, der Schwefelgestank, die Tatsache, dass sie bis jetzt von niemandem gesehen wurde... Alle Beweise sprachen dafür!
 

Maxime griff nach seinem Handy und schrieb Raphael eine Nachricht. Bei ihrem nächsten Treffen würde er ihm und Charlotte von dieser Kreatur erzählen! Das Letzte, was er sich wünschte, war, dass dem Jungen, den er tief in seinem Inneren gern hatte, etwas geschah.
 

Jemand musste Marcel vor dieser Kreatur retten. Und dieser Jemand war er!
 

*xXx*
 

Trübselig blickte Maxime auf seinen Nachttischschrank. Neben dem Brief standen ein altmodisches Kabeltelefon mit Wählscheibe und eine kleine Digitaluhr. Vor einer halben Stunde hatte eine Schülerin das Tablett mit seinem Abendessen abgeholt und zurück in den Wärmewagen gebracht, worin die Mahlzeiten vor dem Austeilen aufbewahrt wurden.
 

Weil Maxime so einen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zur Schau trug, hatte ihm die Schülerin erzählt, dass man draußen auf dem Krankenhausdach des Abends eine wunderbare Aussicht auf die Lichter der Stadt hatte. Sie ermutigte ihn dazu, dem Dach vor der Nachtruhe noch einen kleinen Besuch abzustatten.
 

Eine halbe Stunde später lief Maxime eiligst über den Flur. Er folgte den Hinweis-Schildern, die ihm den Weg hinauf zum Dach zeigten. Schwer war das nicht und er musste auch gar nicht lange laufen, bis er die etwas abseits gelegene Treppe gefunden hatte, die ihm von der Türe zur Freiheit trennte.
 

„Mach dir wegen dem Brief und wegen Marcel keine Sorgen.“, zischte Maxime durch zusammengebissenen Zähne, als er sein Spiegelbild in einer milchigen Fensterscheibe erblickte. „Du hast schon viel schlimmere Dinge überstanden. Das hier ist auch nur eine weitere Prüfung des Lebens. Kopf hoch, Prinzessin! Du schaffst das schon.“
 

Vorsichtig suchte sich Maxime seinen Weg die steile Treppe hinauf. Es war inzwischen früher Abend geworden und der Junge dachte schon voller Sehnsucht an die klare, kühle Luft da draußen. Auch wenn er hier im Krankenhaus von Menschen umgeben war, fühlte er sich dennoch schrecklich einsam.
 

Ein warmer Lufthauch wehte Maxime entgegen, als er die Türe durchquerte und das Flachdach betrat. Andächtig ließ er seinen Blick umherschweifen. Das Mädchen hatte recht gehabt! Die Aussicht von hier oben war der Wahnsinn. Wenn er bis zu dem Rand des Gebäudes ging und sich über das Sicherheits-Gitter beugte, konnte er auf ganz Hamburg hinunter sehen und sogar die Kirche von Bergedorf in der Ferne entdecken!
 

„Na Kleiner, gefällt dir der Ausblick von hier oben?“
 

Erschrocken wirbelte Maxime herum: er entdeckte eine Gestalt auf der anderen Seite des Daches, die ihn finster musterte und den Abscheu nur mit großer Mühe aus seinem Blick verbannen konnte. Die Sonne strahlte die Gestalt so ungünstig von hinten an, dass seine Vorderseite komplett in Schatten gehüllt war. Auch wenn er sich Mühe gab, Maxime konnte das Gesicht des Fremden beim besten Willen nicht erkennen.
 

Da Maxime nicht genau wusste ob er nun freundlich oder aggressiv reagieren sollte, setzte er nur ein leicht höhnisches Lächeln auf und betrachtete die Person aus der Entfernung.
 

„Ja, in der Tat. Hamburg ist wirklich eine wunderschöne Stadt.“
 

„...dann möchtest du sicher noch lange hierbleiben, oder?“
 

Verblüfft hielt Maxime den Atem an. „Wie meinen Sie das?“
 

Die Gestalt machte einen Schritt nach vorne – und stand in der nächsten Sekunde vor dem rosahaarigen Jungen, der vor lauter Schreck zurück stolperte und mit den Rücken gegen das Sicherheits-Gitter stieß.
 

„So wie ich es gesagt haben.“, zischte der Fremde kaltschnäuzig und lächelte grausam. „Ich bin sicher, dass du meine Aussage verstanden hast. Sie bedeutet, dass ich dich kalt mache, wenn du nicht tust was ich dir sage!“
 

Trotz der skurrilen Situation und der Tatsache das der Fremde, der eindeutig ein Mann war, ihn mit dem Tod bedrohte, schaffte es Maxime nicht, den Mund zu schließen und das Gesicht von ihm abzuwenden. Würde er dem Kerl nicht persönlich gegenüber stehen, würde er diese Lage als einen Traum bezeichnen. Der Mann war...!
 

„Mein Name ist Avalon.“, erklärte der Mann wie auf ein geheimes Stichwort hin und griff in seine Jackentasche, um ein weißes Briefkuvert hervor zu holen. Als Maximes Blick auf die Hinterseite des Bogens fiel, stieß er einen leisen Fluch aus. Das war sein Brief – oder vielmehr der Brief, der ihn umbringen sollte!
 

„Woher hast du meinen -“
 

„Halt deine Klappe!“
 

Avalon packte den jüngeren Schüler am Kragen, und schleuderte ihn einmal quer über das Dach. Maxime verlor durch die Kraft des brutalen Schlages sein Gleichgewicht, ruderte kurz mit den Armen in der Luft herum. Zu seinem Glück konnte er sich noch im letzten Augenblick mit einer Rolle-Vorwärts abfangen. Nach einigen Sekunden kam er wieder auf die Beine, aber Avalon lachte bloß wie eine Hyäne.
 

„Du willst ihn zurück haben?“, fragte er scheinheilig. „Das kannst du vergessen! Du wirst diesen Brief nicht als Beweismittel benutzen und damit zur Polizei gehen, kapiert? Ich kann es nicht haben, wenn sich irgendwelche Leute zuerst wie die großen Helden aufspielen, einem armen, schwachen Jungen Flausen in den Kopf setzen, und dann beim ersten Anzeichen von Gefahr zur Polizei rennen!“
 

Avalon spuckte erzürnt aus und bleckte seine perlweißen Zähne. Wenn man ihn ansah, würde niemand auf die Idee kommen Avalon als schön zu bezeichnen. Trotzdem ging eine so seltsame, faszinierende Aura von ihm aus, dass jedes Wesen in der Entfernung von 5 Metern in seinen Bann gezogen wurde.
 

Maxime erging es ebenso.
 

Auch wenn er am liebsten weggelaufen wäre, konnte er seinen Blick einfach nicht von Avalon abwenden. Schon vom ersten Tag an im Bücherladen, hatte der junge Mann einen besonderen Zauber auf ihn ausgeübt. Und dieser Zauber war so stark, das Maxime noch nicht mal dazu kam, sich zu fragen, was Avalon mit einem >armen, schwachen Jungen< meinte.
 

In der Zwischenzeit war Avalon einige Schritte nach vorne gegangen, und platzierte sich nur eine Nasenlänge breit vor Maximes Gesicht. Seine roten Augen glitzerten wie ein See aus Blut. „Hast du deine Zunge abgebissen? Ich möchte, dass du mir antwortest. Was sollst du tun, damit ich dich nicht in Stücke reiße?“
 

Maxime schluckte. „Ich... soll nicht zur Polizei gehen und ihnen von dem Brief erzählen.“
 

„Sehr schön.“, antwortete Avalon lächelnd. „Und was solltest du noch nicht tun...?“
 

„Ich... Ich...“
 

Bis dahin hatte Maxime den Blick auf den Boden gerichtet, doch als Avalon ihn eine Hand auf den Kopf legte und diesen leicht streichelte, sah er ihn direkt ins Gesicht. Avalon schaute mit einen gütigen Ausdruck in den Augen auf ihn herab. „Kannst du dich nicht mehr an meine Worte erinnern, Kleiner?“
 

„Ich... nein... ich meine...“
 

Als Avalon das hörte sah er aus, als würde der das Gesagte lustig finden, denn er schüttelte mit einem leisen, hinreißenden Lachen seinen Kopf. Ehrlich gesagt, Maxime hatte noch nie so einen beängstigenden und zugleich charismatischen Mann gesehen. Er dachte, Avalon wollte das ganze nun als riesigen Scherz enthüllen, aber nachdem er noch einen Moment gelächelt hatte, holte er aus und versetzte Maxime eine schallende Ohrfeige.
 

„Dann hör´ mir beim nächsten Mal gefälligst zu, du Miststück!!!“, fauchte Avalon und bohrte seine Hände in Maximes hüftlange Mähne. „Ich habe dir gesagt, dass du dich von meinem Kleinen aus deiner Schule fernhalten sollst! Hast du das endlich kapiert, oder muss ich deutlicher werden?!“

Der Junge schrie vor Schmerz laut auf. Doch Avalon kannte kein Erbarmen. Er zog Maxime an seinen Haaren bis auf die Zehnspitzen nach oben.
 

„Okay!!! Bitte, bitte, ich habe es verstanden! Aber lass mich los. Ich werde mich dem Kleinen nicht mehr nähern! “
 

Tatsächlich ging der Angesprochene auf die Bitte ein und Maxime sackte erschöpft auf die Knie. Er fühlte den kalten, rauen Luftzug an seinem Kopf vorbeiziehen und war davon überzeugt, das Avalon ihm nicht nur ein paar Haarbüschel ausgerissen hatte, sondern auch ein paar Fetzen Haut.
 

Was Avalon von ihm wollte, war Maxime jedoch immer noch schleierhaft. Mit dem >seinem Kleinen aus deiner Schule<, konnte der gemeine Kerl so ziemlich Jeden meinen.
 

Der Albino schien mit seinen Ergebnis sehr zufrieden zu sein; er steckte den Brief wieder in seine Lederjacke zurück und zog eine Zigarette hervor. Obwohl es im Augenblick sicher wichtigere Dinge zu tun gab, schob er sich den orangen Filter in den Mund und zündete die Spitze mit einem kleinen Feuerzeug an.
 

„Eigentlich bist du ja ein ganz hübscher Junge, aber leider bist du mir und meiner Familie lästig geworden.“, murmelte der Albino, während er verträumt einen Ring aus Nebel in die Luft pustete. „Wir mögen keine neugierigen Kinder in unserer Nähe. Es kann für einen Jungen wie dich ganz schön gefährlich werden, wenn er seine Nase in fremde Angelegenheiten steckt, die ihn unter Umständen nichts angehen. Wenn du diesen Rat nicht befolgst – wirst du schneller du auf dem Friedhof landen als du gucken kannst...“
 

Maxime spürte, wie er rot wurde. Er wollte etwas Schlagfertiges erwidern, doch seine Stimme versagte aus Angst. Avalon stand immer noch vor ihm, richtete den Blick auf die Stadt. Er zog an seiner Zigarette, schloss kurz die Augen und stieß den Qualm wieder nach draußen.
 

„Aber du hast Recht. Hamburg ist wirklich eine wunderschöne Stadt. Ich bewundere die Welt und das Leben von euch Menschen sowieso.“ Der Albino schlenderte zum Sicherheits-Gitter, spähte über den Zaun und seufzte leise. „Weißt du überhaupt, was für ein Glück du hast, dass du in die heutige Zeit geboren wurdest, kleiner Mensch? Vor noch nicht mal hundert Jahren sah so die Welt noch anders aus, das Leben war schwieriger, die Menschen rauer... Heute kann man sich vor Luxus gar nicht retten. Ist das alles nicht schrecklich unfair?“
 

Avalon drehte seinen Kopf nach hinten und lächelte müde.
 

Der Ton, indem er sprach, ließ Maxime das Blut in den Adern gefrieren. Es hörte sich so an als ob Avalon schon eine ganze menge in seinem Leben gesehen hatte. Dabei schien er nicht viel Älter zu sein wie Raphael oder Charlotte. Maxime schätze ihn auf ungefähr 17, oder 18 Jahre. Dennoch... Irgendetwas war faul an diesem skurrilen Jungen mit den weißen Haaren.
 

*xXx*
 

Seitdem „Besuch“ von Avalon waren inzwischen 2 Tage vergangen.
 

Als Maxime endlich seine Sachen packen konnte und nach Hause gehen durfte, konnte er seine Freude kaum unterdrücken. Nach dem Treffen mit Avalon war Maxime in die Realität zurückgekommen und hatte die schreckliche Nacht mit Nathan für den ersten Augenblick verdrängt. Dass der Albino ihn kannte, und offenbar auch über den Anschlag informiert war, war für Maxime noch schlimmer, als ein weiteres Mal vergewaltigt zu werden. Immerhin wollte ihn Nathan nicht umbringen, der Absender des Briefes sehr wohl.
 

Um 16.00 Uhr hatte sich Maxime mit Scarlett in der Cafeteria verabredet. Sie wollte ihm helfen, den schweren Koffer zu tragen, da er sich von seinem mageren Taschengeld kein Taxi leisten konnte. Normalerweise hätte Maxime das als junger Mann auch alleine geschafft, aber seine Hände waren immer noch mit juckenden und brennenden Quaddeln überzogen.
 

Wie immer war die Cafeteria am Mittag rappelvoll. Maxime schaffte es gerade noch, sich einen kleinen Doppeltisch zu sichern und seinen Hintern auf einen freien Stuhl zu werfen, bevor ihm jemand anders den Platz vor der Nase weg schnappte. Kurz schaute der Junge auf seine Armbanduhr. Es war schon 16:05 Uhr. Unpünktlichkeit war für Scarlett eigentlich eine Todessünde. Also wo blieb die Goldhaarige?
 

Plötzlich kam Maxime ein finsterer Gedanke: hoffentlich war Scarlett unterwegs nichts Schlimmes passiert. In der Stadt gab es eine Person die das Mädchen wie die Pest hasste und für ein so mächtiges, unheimliches Wesen wie Nathan, wäre es ein Kinderspiel eine zierliche Person wie Scarlett zu überwältigen.
 

Um 16:30 Uhr fasste Maxime einen Entschluss. Wenn Scarlett in einer halben Stunde nicht hier war, ging er alleine zum Bahnhof. Wenn er zuhause angekommen war, konnte er noch immer mit Yukiko reden und sie fragen, ob sie mehr wusste. Behaglich war ihm bei diesem Vorhaben nicht; seit dem Streit hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Auch Yukiko war bis jetzt jeder Konversation aus dem Weg gegangen.
 

Draußen wurde der Himmel allmählich immer dunkler. Eine eisige Windböe wehte über die Straße hinweg und die Menschen warfen besorgten Blicke zu den Wolken: auch wenn ihnen der Wetterbericht heute Morgen etwas von Sonnenschein und einen strahlend blauem Himmel erzählt hätte, würde bald eine Gewitterfront die Stadt erreichen.
 

Entschlossen erhob sich Maxime von seinem Platz und ergriff seinen Koffer. Er konnte hier nicht länger sitzen und Däumchen drehen. Scarlett würde es sicher nicht gut finden, dass er tatenlos in der Cafeteria saß und Löscher in die Luft starrte.

Deshalb lief Maxime mit seinem schweren Gepäck alleine durch die Stadt. Eine Dreiviertelstunde später hatte er nach mehreren Busfahrten endlich den Hauptbahnhof von Hamburg erreicht. Die mächtigen Glashallen entfachten in Kombination mit dem düsteren Wetter, eine beängstigende Atmosphäre.
 

Die Fahrt entpuppte sich wenig später als willkommene Verschnaufpause. Maxime konnte die Füße hochlegen und noch mal in aller Ruhe Kräfte sammeln, bis er Bergedorfs Bahnhof erreichte, und seinen Koffer von dort aus den langen Weg zum Mehrfamilienhaus schleppen durfte. Bei aller Liebe, aber wenn Scarlett nichts Schlimmes zugestoßen war, würde er ihr definitiv den hübschen Hals umdrehen.
 

Nach 30 Minuten hatte Maxime endlich das große Eisentor reicht und drückte die schwere Klinke nach unten. Wie immer klemmte das verfluchte Teil beim Öffnen, das Quietschen des Metalls schoss wie ein Pistolenschuss in alle Himmelsrichtungen.
 

„Ich bin wieder da!“, rief Maxime nachdem er seine Schuhe im Flur ausgezogen hatte und seine Koffer abstellte. „Ist jemand zuhause? Scarlett? Yukiko? Hallo?!“
 

„Wir sind hier!“, antwortete eine Stimme aus der Küche.
 

Dort angekommen, spähte Maxime in den gemütlichen Raum hinein, wo zwei Mädchen am Essenstisch saßen. Als Yukiko den Neuankömmling erblickte, riss sie sich zusammen, stand auf und lächelte den Jungen dünn an.
 

Neben ihr saß ein goldhaariges Mädchen, das den Blick auf den Boden gerichtet hatte und schwieg.
 

Im ersten Moment wollte Maxime sofort aus der Haut fahren und sich verbal auf Scarlett stürzen, aber als sie den Kopf hob und ihn anschaute, erstarrte er. Ihr Gesicht glich einem Schlachtfeld: das linke Auge war rot und zugeschwollen, die einst schmalen Lippen sahen aus wie kleine Luftschläuche.
 

„Oh mein Gott, Scarlett... Was ist passiert?“
 

Maxime war viel zu schockiert um weiter böse zu sein und hockte sich neben der Goldhaarigen auf die Sitzbank. Behutsam griff er nach ihren Knien und drehte das Gesicht auf die Seite. Aus der Nähe betrachtet, sahen die Verletzungen des Mädchens noch viel schlimmer aus.
 

„Scarlett... sag, was. Woher hast du diese ganzen Wunden? Hat dich jemand geschlagen, oder bist du gestützt?“
 

Doch Scarlett schwieg weiterhin, und Yukiko antwortete Maxime mit einem tiefen Schnauben.
 

„Sie wurde heute Mittag auf dem Weg Nachhause überfallen. Derjenige hat sie auch so zu gerichtet.“, erklärte die Japanerin zischend. „Leider konnte Scarlett den Täter nicht erkennen, weil er sie sofort niedergeschlagen und damit bewusstlos gemacht hat. Ich wünschte, dass ich dabei gewesen wäre... Bei mir hätte der Scheißkerl sein blaues Wunder erlebt. Mich hätte der Täter nicht so leicht erledigt.“
 

Maxime schüttelte stumm seinen Kopf und schaute seiner verletzten Mitbewohnerin noch einmal ins Gesicht. Wer... konnte so etwas Schreckliches tun? Sie war doch ein Mädchen!



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