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Opus Magnum

von

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Le Prélude - Opus I

Die Welt der Dämonen.

Eine Welt nur regiert vom Gesetz des Stärkeren. Unter dem schwarzen Zweimond, gebettet in ein blutrotes, unbewegliches Himmelsmeer, kämpfen deren Bewohner sich von einem Tag zum nächsten. Die einen mit resignierender Faulheit, die anderen mit jedem Funken Stärke, der ihrem vom Krieg gegen die Wächter gestählten Körper innewohnt. Kämpfend, bis zu dem Tag, an dem sie sich in nichts außer Funken auflösen und damit ihren letzten Gegner, dem Tod, gegenüberstehen. Bis zu diesem Tag, an dem nicht einmal mehr ihr toter Körper übrig bleibt, kämpfen sie. Jeder auf seine Weise. Ums Weiterleben. 

 

Ein individualistisches, Freiheit liebendes Volk.

   

Eine Welt, deren Gesetz vorschreibt, dass der stärkste Dämon die Krone trägt. Ein Wechsel der Krone kann nur durch Tod geschehen. Lange hat ein solcher Wechsel nicht mehr stattgefunden, denn der stärkste Dämon strahlt seit nun mehr als 100 Jahren von goldener Pracht gekrönt an der Spitze, als absoluter Sieger des ewigen Kampfes. 

 

Der am liebsten namenlos verbleibende Erschaffer dieser roten Welt lächelt in sich hinein.

Überblickt von seinem Turm aus sein geliebtes Spielfeld, das ihm seit Äonen mit seinem nie gleich seienden Wechsel von Tragödien und Komödien immer gute, unterhaltsame Dienste geleistet hat. Aber mehr als hundert Jahre will er nicht denselben König sehen. Seine Welt schreit. Sie fleht ihn an, einzugreifen mit seinen göttlichen Händen.

 

Er beobachtet diese Geschichte bei ihrer Entfaltung. Sein eigenes Epos, in das er nun seinen Schützling hinein wirft, um ihn auf seinem Weg zu begleiten.

 

 
 

Aufwachen, Youma… die Krone wartet auf ihren wahren Besitzer.
 

 

 
 

OPUS MAGNUM
 


 

Le Prélude - Opus I
 

 

 

 

Youma hatte sich nie für Musik interessiert.

Er konnte daher nicht beurteilen, ob das, was er hörte, „gut“ war; störend war das Spiel des Flötenspielers nicht und es war wahrscheinlich schon ein Kunststück, so viele Menschen anlocken zu können, die augenscheinlich alle nur aus einem Grund in diesem roten Auditorium versammelt waren – um einem einzelnen Flötenspieler zu lauschen. Es war sogar schwer gewesen, einen Platz zu bekommen, hatte man Youma erzählt, „alles ausgebucht“ hatte es weiter geheißen, sehr nachgefragt seien der Flötenspieler und sein Spiel, der es vollbrachte, ein so großes Publikum ganz alleine und ohne die Begleitung eines anderes Instruments so zu verzaubern. Auch das hatte Youma nur gehört, denn er hätte sich nicht darüber gewundert, dass da oben auf der Bühne nur eine einzelne Person stand; er wusste nicht, dass das recht ungewöhnlich war und die Flöte normalerweise nur ein Begleitinstrument war, aber nur sehr selten der Kern einer ganzen Aufführung.

 

Die schwarz gekleideten Menschen um ihn herum lauschten fasziniert, die meisten mit dem Blick auf den in weißes Scheinwerferlicht gebadeten Flötenspieler, der von dieser bedingungslosen Aufmerksamkeit allerdings nichts sah. Er hielt die Augen geschlossen; fernab von jeglicher konzentrierter Anspannung schien er zu sein, völlig in seinem eigenen Spiel vertieft. Youma versuchte, das ihm vorgespielte Lied für sich selbst zu beschreiben; aber es fiel ihm schwer, Worte zu finden, die zu diesen sanften Tönen passen würden. War es eine traurige Melodie? Nein, das war sie nicht... sie war viel eher von einer mysteriösen Aura erfüllt, die den ganzen Saal auszufüllen schien. Ob es diese Mystik und der unbekannte Zauber war, der so viele Menschen anzulocken vermochte? Die Töne schienen einen in eine andere Welt einladen zu wollen... Man spürte förmlich in diesen einlullenden Tönen, dass ihr Urheber kein Teil dieser Welt war, der Welt der Menschen, dass er sich von ihnen unterschied, abgrenzte, auch wenn sein unscheinbares Aussehen es nicht verriet – und doch, wenn man genauer hinsah, stachen einem seine langen Finger ins Auge... wahre Skelettfinger, die sich mal schnell, mal langsam hoben und senkten; die Flöte gekonnt nach oben und nach unten flitzten. Er war sehr dünn; das Scheinwerferlicht war eigentlich ungünstig gewählt, denn es betonte ein ungesund aussehendes, spitzes Becken, obwohl der schwarze Anzug mit allen Mitteln versuchte, die Unförmigkeit seines Trägers zu verbergen. Seine bereits erwähnten Skelettfinger, sein spitzes Kinn, die langen Stangenbeine und seine für einen Menschen überdurchschnittliche Höhe machten ihn nicht gerade ansehnlich.

 

Aber sein Aussehen war definitiv gänzlich nebensächlich; alles, was zählte, war, dass er ihn endlich gefunden hatte.

 

Den Dämon, von dem er wusste, dass sein Name Nocturn war.  

 

Der begeisterte Applaus brach sofort aus, als der Dämon die schwarze Flöte senkte und langsam die Augen öffnete; braune Augen, wie es Youma von der Ferne her vorkam – Kontaktlinsen; natürlich trug er solche, wenn er unter den Menschen nicht auffallen wollte.

  

Von tosendem Beifall begleitet senkte Nocturn den Kopf, platzierte die flötenspielende Hand auf dem Rücken und verneigte sich elegant. Youma bekam den Gedanken, wie ungewöhnlich unschön Nocturn aussah, nicht aus dem Kopf gefegt, aber die Menschen schien es nicht zu stören. Vielleicht lag es daran, dass ihnen die Musik wichtiger war als sein nicht gerade vorteilhaftes Aussehen.

 

Der Beifall war noch nicht verebbt, als Nocturn wieder aufsah und nonchalant in sein Publikum lächelte. Anstatt seinen Blick allerdings über die Menge schweifen zu lassen, blickte er zu Youma.

Jeder Zufall war ausgeschlossen; er hatte den Augenkontakt mit ihm quer über das Auditorium mit Wissen und Wollen gesucht. Sein Lächeln beibehaltend, nickte er kurz grüßend und kaum auffallend mit dem Kopf, ehe er abgelenkt wurde, als eine in rot gekleidete Frau ihm mit schmeichelndem Lächeln einen weißen Rosenstrauß überreichte.

 

Auch noch als Youma das Auditorium verließ und den gigantischen, goldenen Eingangsbereich mit seinen zwei großen Treppen betrat, sich einfach von der Menge mitziehen ließ, fragte er sich, ob er es sich nicht vielleicht eingebildet hatte? Nocturn kannte ihn nicht – er konnte ihn unmöglich kennen! – wieso hatte er ihm dann zugenickt? Wahrscheinlich hatte er seine Aura unter den Menschen erkannt ... also doch dämonische Aktivität... aber an seinem Gestus war nichts Feindliches gewesen... und müsste er ihm nicht feindlich gestimmt sein?

 

Aber das Ganze wurde noch eigenartiger, was Youma beinahe nicht bemerkt hätte, denn die Sprache der Menschen war ihm fremd, weswegen er fast nicht erkannte, dass ein kleines Fräulein ihn ansprach; sie musste ihn am Arm berühren, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Kein guter Start eines Gesprächs; Youma war von vornherein kein Dämon, der an Menschen sonderlich Gefallen fand, weshalb er sowieso auf jede Konversation verzichten konnte – und dann machte sie auch noch so pedantisch auf sich aufmerksam... aber von seinem finsteren Gesichtsausdruck ließ sie sich nicht abhalten; sie schien erleichtert zu sein, dass sie ihn dazu gebracht hatte, stehen zu bleiben.

Monsieur, excusez mon impolitesse, mais Monsieur Le Noires souhaiterait s'entretenir avec vous. Il vous saurait gré d'accepter cette sollicitation bien entendu...“ Youma war nicht einmal gewillt, ihr auf diese in seinen Ohren unzusammenhängende Ansammlung von Lauten zu antworten und wollte sich gerade tonlos, aber mit einem vernichtenden Blick abwenden, als er es sich doch anders überlegte: hatte er den Namen „le Noires“ nicht schon einmal gehört? War das nicht... Nocturns Nachname? Oder wie auch immer Menschen das nannten… jedenfalls hatte er diesen Namen im Zusammenhang mit Nocturn gehört.

 

Trotz Sprachbarriere schien sie zu verstehen, dass er ihr doch widerwillig folgen würde. Sie lösten sich aus der Menschenmenge und sie lotste ihn mit hin und her schwenkendem brünetten Zopf die linke Treppe hinauf und den goldenen Gang hinunter. Wenn seine Vermutung allerdings richtig war... was wollte dieser Nocturn dann von ihm? Youma gefiel das nicht; ja, er hatte ihn gesucht und ja, er wollte ein Gespräch mit ihm, aber... unter anderen Umständen. Unter Umständen, in denen er die Zügel in der Hand hatte und nicht umgekehrt. Diese Fragen... diese Unklarheiten gefielen ihm nicht.

 

Zusammen mit der Menschenfrau passierte er einen reich verzierten Säulengang, der Youma unter normalen Umständen sicherlich in Staunen versetzt hätte, aber jetzt in diesem Moment war er zu angespannt, um sich auf seine Umgebung einzulassen – und seine Anspannung nahm zu, als die Frau ihn tatsächlich direkt zum Flötenspieler führte.

 

Sie befanden sich in einem großen rechteckigen Saal, über und über in Gold getaucht; von den pompösen Vorhängen, über die hohen Säulen, zur bemalten Decke bis hin zu den dekorierten und hell strahlenden Lüstern. Der hellbraune Parkettboden knirschte ein wenig unter Youmas Stiefeln, welcher sich hier sehr deplatziert vorkam; aber Nocturn sah genauso deplatziert aus in seinem schwarzen Anzug mit kleiner, sich wellender Schleppe. Er stand an einem der hohen Fenster, Youma den Rücken zugekehrt, hinaussehend in die Nacht, die von dem Treiben der Stadt erhellt wurde – Paris nannte man sie wohl, diese Stadt.  

Dix minutes, Monsieur Le Noires. La presse...“

Oui, bien sûr. Je sais“, fiel Nocturn ihr ins Wort – mit einer Stimme, die nicht sonderlich tief war, wie Youma bemerkte; sie wirkte ein wenig kindlich. Sein Tonfall war ein wenig ungeduldig, aber das war nicht das, was Youmas Aufmerksamkeit erregt hatte...

Die Menschenfrau schien noch etwas sagen zu wollen, aber stattdessen warf sie Youma noch einen argwöhnischen Blick zu, ehe sie sich auf den Hacken herumdrehte und den Saal verließ.

 

Nocturn wartete nicht lange – kaum, dass sie den Raum verlassen hatte, wandte er sich herum und sofort lagen seine untersuchenden Augen auf Youma. Dieser war nun allerdings nicht länger gewillt, ihm die Zügel zu überlassen, weshalb er das Schweigen zuerst brach:

„Mein Name ist Youma“, stellte er sich auf Dämonisch vor, in der Hoffnung, dass Nocturn seine Wurzeln nicht gänzlich vergraben hatte und ihn hoffentlich verstehen würde. Nocturn blieb relativ unbeeindruckt; seine dünnen Augenbrauen zuckten kurz, dann prüfte er ihn noch einmal von oben bis unten, ehe ein zynisches Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete. 

„Und Sie sind ein Dämon. Mir war gar nicht bewusst, dass ich sogar Fans in Enfer habe.“

„Ich interessiere mich nicht für Musik“, lautete Youmas Antwort, versucht, ernst statt bissig zu klingen; er wollte immerhin etwas von ihm – und es erleichterte alles, dass Nocturn wenigstens in der Lage war, Dämonisch zu sprechen, auch wenn es eingerostet klang.

„Welch trauriges Leben Sie führen müssen. Ein Leben ohne Musik... unvorstellbar. Wie schrecklich leer das sein muss.“ Das musste gerade jemand sagen, der so konsequent seine Wurzeln verleugnete!

„Mir geht es blendend, danke.“ Oh, das lief nicht gut; Youma musste sich zusammenreißen, sich an die Mission, an die Pläne erinnern... aber wieder war es Nocturn, der die Führung des Gespräches übernahm und immer mehr verhärtete sich Youmas Verdacht, dass nicht nur er etwas von ihm wollte, sondern auch umgekehrt.

„Sie sind also ein Dämon“, stellte er wieder fest, was Youma fast dazu brachte, genervt mit den Augen zu himmeln; stattdessen brachte er sich zu einem verhältnismäßig ruhigen Kopfnicken.

„Dann sind Sie also auch im Krieg aktiv? Im... Elementarkrieg? Die Kriege gegen die Wächter? Nennt ihr diese nicht so?“ Youma runzelte die Stirn:

„Ja, die nennt man so. Und ja, durchaus, das bin ich.“ Eine halbe Lüge, aber Nocturn war gewiss nicht die Person, mit der er das besprechen wollte.

„Dann haben Sie schon viele Wächter getroffen?“ Getroffen? Was für eine... eigentümliche Formulierung. Dämonen trafen keine Wächter; Dämonen bekämpften und töteten Wächter, genau wie umgekehrt. Er hatte wirklich sehr abgegrenzt gelebt.

„Ich stand ihnen schon oft im Kampf gegenüber, ja.“ Nocturn stimmte diese Antwort scheinbar nachdenklich und zum ersten Mal wandte er seinen Blick von Youma ab, begann mit den weißen Blüten seines Geschenks zu spielen, welches er auf dem Fenstersims abgelegt hatte. Youma wollte sich schon diskret räuspern, als er von selbst fortfuhr:

„Ich mag weiß. Weiß ist meine Lieblingsfarbe, daher bekomme ich immer weiße Rosen... ungewöhnlich für einen Dämon, nicht wahr?“ Der Dämon vor ihm tat eine Menge Dinge, die Youma „ungewöhnlich“ nennen würde; farbliche Präferenzen waren nicht unbedingt das, was er an oberste Stelle einer möglichen Liste setzen würde... wohl eher, dass er in der Welt der Menschen lebte statt in der Dämonenwelt.

                                                                                          

„Es gibt jemanden, den ich gerne treffen möchte... Youma war der Name? ... vielleicht können Sie mir ja dabei behilflich sei-“ Gerade als Youma darüber die Stirn runzeln wollte, ertönte plötzlich ein klingelndes Geräusch. Verwirrt über die plötzliche Unterbrechung sah Youma sich um, bis er bemerkte, dass das ziemlich irritierende und störende Geräusch von Nocturn ausging.    

„Oh, excusez-moi – einen Moment...“ Nocturn holte ein schwarzes, kleines Gerät aus seiner Hosentasche, welches Youma auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte, aber dann dämmerte es ihm: war das nicht eines dieser Kommunikationsgeräte der Wächter? Er hatte Karou öfter darüber klagen hören, dass sie solche nicht besaßen, aber warum hatte Nocturn eins? Und dieses anormale Individuum glaubte, seine Lieblingsfarbe wäre eigenartig?!

Bonsoir Raria !.......oui, oui, c'était splendide ! Non, je n'ai fait aucune erreur.... Non ! Mon Troisième Opus Nocturne était parfait... Parfait, te dis-je. Je ne suis pas en train de me venter.... Oui, bien sûr.... Oui, je rentre bientôt... La presse? Oui! Tant-pis, haha!“ Dann warf er wieder einen Blick zu Youma, überlegte kurz, widmete sich dann allerdings wieder dem eigentümlichen Gerät, das er eigentlich gar nicht besitzen sollte.  

„Non, arrête ça.* A Paris, le temps est magnifique.... Oui, je sais....... Je reviens avant minuit, d'accord ? ... Dis bonsoir à Madeleine de ma part !... Oui.... je sais, Raria, je sais....“ Das Gespräch schien er damit abgeschlossen zu haben; jedenfalls ließ er das Gerät wieder geräuschlos in seine Hosentasche gleiten. Während er seinen weißen Rosenstrauß schulterte, lachte er in sich hinein und seufzte:

„Ich verehre sie ja, aber ein wenig übervorsichtig ist sie.“

„Wer?“, fragte Youma automatisch, obwohl er nicht damit rechnete, eine Antwort zu erhalten. Aber das sollte nicht das letzte Mal sein, dass Nocturn ihn überraschte:

„Meine Tante, Raria.“

 

Youma stutzte nicht nur darüber, dass er ihm das so bereitwillig erzählte, sondern auch über den Namen – denn das war die einzige Warnung, die ihm Nathiel mitgegeben hatte... er solle Acht geben vor Raria. Raria war gefährlich, meinte sie. Aber sie meinte viel und Youma glaubte wenig davon.

 

„Sie sagt immer, ich solle vor Fremden Acht geben. Aber Sie sind ja gar kein Fremder, ich kenne ja Ihren Namen, nicht wahr, Youma? Und ich nehme an, dass Sie meinen kennen...“ Plötzlich stand Nocturn neben ihm, seine Hand auf seine Schulter gelegt; eine plötzliche Annäherung, die Youma skeptisch beäugte, was Nocturn aber nicht abzuschrecken schien. Im Gegenteil; er schien in freudiger Erwartung zu sein:

„Leisten Sie mir doch auf meinem Spaziergang Gesellschaft, Youma! Es hat gerade geregnet und Paris ist wunderschön nach einem Regenschauer, besonders bei Nacht.“ 

Le Prélude - Opus II

 

Zerzaust, unruhig und auch ein wenig nervös schritt Youma im Schloss Lerenien-Seis, der Hauptstadt der Dämonenwelt, im Kreis herum. Er befand sich im östlichen Flügel des Schlosses, vierte Etage, Zirkel der Eifersucht, wie die Etagen in diesem Schloss genannt wurden, den sieben Todsünden gewidmet –  obwohl es garantiert keine Eifersucht war, die ihn dazu brachte, in diesem etwas abgelegenen Teil des Schlosses seine Runden zu drehen, die von seiner Frustration deutlich zeugten. Während zur gleichen Zeit im Zirkel der Gier mal wieder eine Konferenz der Fürsten und des Königs ohne ihn stattfand, musste er sich Gedanken darüber machen, wie er dem König am besten beibrachte, dass es keinen Sinn machte, diese vermaledeite Mission weiter zu verfolgen; Nocturn entsprach nicht seinen Vorstellungen, so einfach war das und das war eigentlich auch einfach gesagt… nur leider einfacher gesagt als getan. Youma arbeitete – wohl eher „diente“, aber er hatte noch seinen Stolz… - dem König der Dämonenwelt nun schon fünf Jahre; fünf Jahre, in denen er gelernt hatte, dass der König sich von anderen in nichts reinreden ließ, weshalb Youma sich sicher war, dass seine logischen Einwände auch an ihm abprallen würden. 
 

Er wollte Nocturn in diesem Schloss haben und Youma hatte dafür zu sorgen, dass das auch so geschah. Punkt. 
 

… und egal, wie man es drehte und wendete, und egal wie dumm ein solches Vorhaben war… Nocturn war in diesem Moment nicht im Schloss seiner Majestät. Youma war mit leeren Händen zurückgekehrt und er wusste schon, was sein König dazu sagen würde… jeder logische Einwand sähe wie eine Ausrede aus. 

 

Kurz blieb Youma klagend stehen und drehte unruhig seinen Kopf zum blutroten Fenster, in dessen Röte sich vage sein Spiegelbild abzeichnete. Seufzend wandte er sich wieder ab. Er war so tief gefallen… dass er mal jemandem dienen müsste, dass er mal den Zorn einer anderen Person fürchten müsste…
 

„Och, mein Hübscher, sei nicht traurig!“ Ein genervtes Zucken brannte kurz auf Youmas Gesicht auf, ehe er – noch energischer als vorher – wieder damit begann, auf und ab zu gehen, die plötzliche Stimme ignorierend, die aus dem Nichts in seinem Kopf aufgetaucht war.

 

Nichts was für ihn ungewöhnlich war. Er hatte sich eigentlich viel eher daran gewöhnt, aber das bedeutete nicht, dass es eine Freude war, wenn es geschah. Was allerdings nicht normal war, war etwas, was Youma aus den Augenwinkeln heraus bemerkte und was ihn sofort dazu brachte, erstaunt stehen zu bleiben: rechts neben ihm, im roten Buntglas der hohen Fenster, zeichnete sich die neckisch grinsende Gestalt seines Gönners ab, der sich selbst als den Gott der Dämonen bezeichnete. 

Ob er es war oder nicht, das wollte Youma nicht beurteilen – alleine schon um ihm nicht zu schmeicheln – aber dass seine Macht unermesslich war, bewies nicht nur sein plötzliches Erscheinen in einem Buntfenster.

 

Youma runzelte die Stirn über dieses eigenartige Bildnis; der namenlose, ehemalige Herrscher der Dämonen und – angebliche – Schaffer dieser Welt hatte es tatsächlich vollbracht, sein Aussehen relativ gut mit dem eigentlichen Buntglas zu vereinen; würde er sich nicht bewegen, könnte man ihn wahrscheinlich als ein Teil des Fensters ansehen. Deutlich erkannte Youma die langen, schwarzen, wellenden Haare seines Gönners, den in seine Haare eingearbeitete goldene Schmuck, sein elegantes Gewand, das verriet, dass er wie Youma aus einer anderen… längst vergangenen Zeit stammte und eigentlich genauso wenig in diese Zeit gehörte wie er… und natürlich seine roten, dämonischen Pupillen, schwimmend in dem schwarzem Meer seiner Augen. Schalkhafte Augen, die eigentlich immer heitere Vergnügtheit ausstrahlten; aber auch Macht. Auch Youma kannte seinen Namen nicht; er hatte ihn oft gefragt, aber – so lauteten seine Worte – es gehörte zu seinem Spiel, seinen Namen nicht zu verraten.

 

Anstatt dem namenlosen Dämonenherrscher für diese künstlerische Darbietung allerdings Respekt zu zollen, platzierte Youma seine Arme wieder auf seinem Rücken und ging weiter, als würde er versuchen, seinen Gönner zu ignorieren. Aber er ließ sich nicht ignorieren; galant hüpfte er in das nächste Fenster, während er seinen geliebten Schützling zutextete:

„Du musst es als eine Herausforderung ansehen; als eine Lektion, die deinem Werdegang zum König dient. Du weißt, ich würde dir gerne helfen und wie gerne ich Kasras Visage lieber gestern statt heute loswerden würde, aber…“ Theatralisch hob er den Zeigefinger und beendete entschieden den Satz:

„Das geht nicht. Ich bin dein Gesprächspartner, deine Schulter, an der du dich ausweinen kannst…“ Youmas Augenbrauen hoben sich, diese Worte anzweifelnd.

„… aber ich bin nicht deine Trumpfkarte.“

„Sie würden mir schon behilflich sein, wenn Sie mir Informationen geben würden… oder sämtliche Erinnerungen an Nocturn aus Kasras Gedächtnis löschen, damit diese unsinnige Mission endlich vom Tisch kommt.“ Aber der ehemalige Dämonenherrscher blieb hart:

„Ich bedaure Youma, aber das kann ich nicht tun; das würde das Spiel kaputtmachen.“

„Ich wünsche nicht, Teil eines „Spiels“ zu sein“, erwiderte Youma giftig, was seinen Gesprächspartner allerdings nur noch weiter erheiterte: 

„Dann hättest du dich nicht von Hikaru in einem Zeitbann einsperren lassen sollen, mein Hübscher!“ Die gewünschte Gefühlsregung tauchte sofort auf Youmas hübschem Gesicht auf; wie er das Thema hasste – wie er es allgemein hasste, über sein ehemaliges Leben zu sprechen und wie amüsant es deswegen war, es anzuschneiden.

„Ich hatte dir alle Wege geebnet… ich habe dir so viel geholfen, aber du lässt dich einsperren – und obendrein in der Zeit! Ein sehr extravagantes Gefängnis, wenn du mich fragst, mein Hübscher… Es ist nicht meine Verantwortung, dass es nun, in dieser Zeit, so schwer für dich ist, dein Recht auf den Thron nach so vielen Äonen geltend zu machen. Um es zu sagen, wie es ist: du hast es selbst verbockt, also musst du es auch selbst wieder ausbügeln.“ Da Youma wusste, dass er recht hatte und er ihm diesen Triumph nicht gönnte, antwortete er nicht. Stattdessen war er stehen geblieben, in Gedanken versunken, wobei der ehemalige Dämonenherrscher ihm zusah, um dann schlussendlich zufrieden zu lächeln, als er feststellte, dass Youma sich nun an das Fenster lehnte, in welchem sich sein Bildnis abzeichnete – brauchte er etwa doch ein wenig Beistand? Verwerflich war es wahrscheinlich nicht; er war nicht nur Hals über Kopf in einer fremden Zeit gelandet, sondern auch sofort unter die Fittiche von Kasra geraten – einem Dämonenkönig, unter dem man wirklich lieber nicht arbeiten wollte. Youma hatte zu keinem einzigen Dämon eine Bindung, war jedem gegenüber skeptisch, so wie sie ihm gegenüber skeptisch waren, und hatte somit grundlegend niemanden, mit dem er sich austauschen konnte. Dazu die dauernde Demütigung Kasras, der sich weigerte, Youmas enormes Potential ausbilden zu lassen; aus gutem Grund natürlich. Er wusste, dass von Youma eine Gefahr ausging, weshalb er ihn auch in seinen Stab aufgenommen hatte; nicht um ihn zu fördern, sondern um ihn im Auge zu behalten. Sobald ein Posten als Fürst frei wurde, sollte er angeblich einen solchen politisch wichtigen Posten erhalten, aber daran glaubte weder Youma noch Kasra. Ab und zu „erlaubte“ er Youma, als Teil seiner Horde gegen die Wächter zu kämpfen, aber diese Einsätze waren mit der Zeit weniger geworden. 
 

Der ehemalige Dämonenherrscher lächelte böse in sich hinein – Kasra wusste schon warum. 

Solange er Youma an der Leine halten konnte, war er kontrollierbar. Die Frage war nur – wie lange konnte er ihn noch an der Leine halten? 

 

Es schmerzte ihn natürlich, seinen geliebten Schützling so gedemütigt zu sehen. Youma war zu schön für einen gesenkten Kopf; mit seinem langen, schwarzen Seidenhaar und seinen ebenso dunklen, allem misstrauenden Augen in einem absolut perfekt geschnittenen Gesicht, welches er von seiner Mutter geerbt hatte. Die Augen stammten allerdings von seinem Vater; wie auch seine Höhe und sein feingliedriger Körperbau. Es war ein wahres Vergnügen, ihn anzusehen, dabei zuzusehen, wie jedes kleine Gefühl sein eigentlich immer ernstes Gesicht veränderte. Er war immer strikt, zielgerichtet und eigentlich sehr stolz; eigentlich auch sehr hochmütig, aber diesen Hochmut hatte Kasra zurechtgestutzt. Die Demütigung durch Kasra kleidete seinen Schönling nicht; er ertrug sie, weil er vernünftig war und das Endziel vor Augen hatte, aber dennoch bekam sein Stolz Tag für Tag Risse. Es war schrecklich anzugucken!
 

Aber zum Glück war Youma keine Person, die aufgab –  und auch das war etwas, was der namenlose Dämonenherrscher an ihm schätzte; er stand immer wieder auf, nicht willig, sich mit Niederlagen abzufinden. Genau wie sein Vater einst…
 

Wenn man es genau betrachtete, war das Treffen mit Nocturn ja auch gar nicht so negativ verlaufen; nur sehr… ungewöhnlich. Mit geschultertem Rosenstrauß hatte der Flötenspieler die beiden Dämonen in einen Park nahe der Cours la Reine teleportiert. Der Regen hatte die Straßen leergefegt; nur noch wenige dem Regen trotzende Touristen tummelten sich auf der Pont Alexandre III, auf die Nocturn zielsicher zusteuerte, den skeptischen, leicht verunsicherten Youma im Schlepptau. Wozu sollte das führen? 

„Lassen Sie uns einander duzen, Youma – dann habe ich weniger schlechtes Gewissen meiner Tante gegenüber, wenn du verstehst, was ich meine? Wegen dem, dass ich mich Fremden nicht anvertrauen soll.“ Youma hatte dagegen keine Einwände; nicht, weil er es erstrebenswert fand, mit Nocturn per „du“ zu sein, sondern weil es ihm viel eher egal war, ob sie sich nun duzten oder nicht. Ihn interessierte viel mehr, wozu dieser Spaziergang gut sein sollte.  

„Warst du schon einmal in Paris?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sprach sofort weiter, was auf Youma den Eindruck hinterließ, dass er sich wohl gerne reden hörte.

„Ich liebe Paris. Es war wie eine Offenbarung, als ich die Stadt das erste Mal besuchte. Ist es hier nicht wunderschön? Ich zeige dir hier natürlich eine ihrer schönsten Seiten; diese Gegend hier ist eine wahre Perle und natürlich hat Paris auch seine dunklen Seiten… aber macht es die Stadt nicht besonders inspirierend? Ich muss mich Balzacs Meinung über Paris anschließen; sie ist wie eine lebende, atmende Kreatur, weswegen man stets Neues erkennt und sie weiter erforschen kann, da sie sich immer im Takt ihrer Bewohner verändert… und doch bleibt sie im Kern so, wie man sie immer kennen und lieben gelernt hat. Sie ist ein Kunstwerk. Ein lebendes Kunstwerk.“ Nocturn bemerkte gar nicht, dass Youma ihm schon längst nicht mehr zuhörte, sondern nur nachdenklich, eine Spur genervt, den Blick über die nasse Brücke schweifen ließ, die von unzähligen, reich verzierten Straßenlaternen erhellt wurde. Nocturn bemerkte sein Schweigen, deutete Youmas Desinteresse allerdings als Faszination, weshalb er ihn kurz verweilen ließ, ehe er ihn abermals ansprach:

„Wie ich vorhin andeutete, ehe meine Tante unser Gespräch unterbrach…“ Youma horchte natürlich sofort auf, als das eher einseitige Gespräch endlich wieder in die gewünschte Richtung ging.

„… gibt es jemanden, den ich gerne treffen möchte.“ Youma sah sein Gegenüber aus dem Profil an, welches er aufmerksam beobachtete, weshalb ihm das eigentümliche Lächeln auf Nocturns spitzem Gesicht nicht verborgen blieb:

„Nein, das ist wohl falsch formuliert. Ich verlange danach, sie zu treffen. Ich habe lange genug warten müssen…“ Auf einmal wirkte Nocturn gänzlich woanders, als hätte er Youmas Anwesenheit vergessen; seine Gedanken schienen ihn aufzuwühlen und obwohl sein Gesicht im Schatten lag, war Youma, als könne er die Röte seiner eigentlichen Augenfarbe durch das Braun der Kontaktlinsen hindurch schimmern sehen. 

„Wen willst du treffen?“, fragte Youma angespannt; plötzlich unterbewusst eine Gefahr spürend... aber woher kam sie? Von wem ging sie aus? Doch nicht etwa von Nocturn, der immer noch auf einen ihm unbekannten Punkt starrte, über die Brüstung der Brücke hinweg, die Augen nicht länger auf die Stadt gerichtet... nein, er schien einen gänzlich anderen Ort zu fokussieren.  

 

Ein Windstoß brachte die weißen Rosen dazu, sich aufgebracht hin und her zu bewegen; einige Blüten lösten sich, flogen durch den Wind, verschwanden im Dunkel der Nacht, aufmerksam von Nocturns Augen verfolgt.

„White. Ich möchte sie treffen.“

 

Youmas Gesicht fiel vor Überraschung, ausgerechnet diesen Namen zu hören, förmlich aus den Angeln. Hatte er sich gerade verhört?! White?! Die mächtigste Wächterin des Wächtertums?! Diese wahre Tötungsmaschine wollte er treffen?!

„Wenn ich mit dir in die Dämonenwelt komme, dann könnte ich sie doch womöglich auf dem Schlachtfeld treffen, nicht wahr?“ Der Angesprochene war gänzlich außerstande, das zu verstehen. Warum wollte er White treffen?! War er irre?! Aber, nein, warte.

Youma befahl sich selbst, ruhig zu bleiben und die offensichtlichen Fragen nicht zu stellen; es konnte ihm doch eigentlich egal sein, oder? Kasras Befehl hatte gelautet, dass er Nocturn zu ihm bringen solle; dass dieser scheinbar nicht mehr alle beisammen hatte, konnte Youma ja egal sein, Hauptsache, er kam mit... und dann konnte Kasra sich mit ihm abplagen. Youma hatte dann seine Schuldigkeit getan. Sollte sein König doch herausfinden, was in Nocturns Kopf nicht richtig lief...  

 

„Einverstanden“, begann Youma, seine Souveränität wiedererlangend:

„Dann würde ich vorschlagen, dass wir sofort aufbrechen...“ Doch die eben erlangte Souveränität verlor er auch prompt wieder, denn jetzt war es Nocturn, der ihn geschockt ansah:

„Absolut unmöglich! Hast du meinem Gespräch mit Raria vorhin nicht zugehört?“

„Wie denn – bei einer Sprache, die ich nicht verstehe?!“, entfuhr es Youma, seine Wut kaum noch unterdrücken könnend, aber Nocturn ignorierte ihn gekonnt:

„Ich muss vor Mitternacht wieder zu Hause sein, ansonsten bin ich einen Kopf kürzer! Der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Meine Tante hat mir jeden Kontakt mit den Wächtern immer verboten... sie wäre sehr aufgebracht, wenn sie davon erfahren würde, weshalb es unbedingt geheim gehalten werden muss.“

„Ist sie etwa dein Wachhund?!“

„Entschuldige, vergleichst du meine Tante gerade mit einem Hund?!“, erwiderte Nocturn plötzlich zornig wirkend, aber sich schnell wieder beruhigend:

„Wenn schon, dann ist sie eine Wachlöwin.“ Sein Tonfall klang stolz, als er dies sagte, aber Youma ging darauf nicht ein; ihm wurde das jetzt alles zu viel. Er würde ja wohl nicht Rücksicht darauf nehmen, dass irgendeine Tante ihren Neffen an sich kettete?! Nocturn mochte vielleicht eine bissige „Löwin“ im Nacken haben, aber in Youmas Nacken saß ein wahres Monstrum, das weniger von ihm übrig lassen würde als einen Torso ohne Kopf!

 

„Entweder jetzt oder gar nicht.“ Youmas Worte waren ernst und entschieden, aber trotzdem hinterließen sie nicht den gewünschten Eindruck. In diesem Moment würde Youma herausfinden, dass Nocturn keine Person war, die sich erpressen ließ. Er schloss den vorher noch geöffneten Mund, atmete tief durch die Nase ein und mit einem kalten, abschätzigen Blick erwiderte er:

„Dann gar nicht.“

Und schon war er verschwunden.

 

„Aber das ist doch noch lange keine Niederlage, Youma-kun! Sieh die guten Seiten; du kannst ihn jetzt jederzeit wieder finden. Der Flötenspieler wird ja noch ein paar mehr Auftritte haben.“ Youma wusste natürlich, dass sein namenloser Gönner recht hatte, aber das klärte doch noch lange das Problem nicht.

„Das ändert nichts daran, dass er offenkundig irre ist.“

„Also wirklich, Youma-kun, war ich irre, als ich Light-kun besucht habe? Dein Ziehvater ist immerhin auch ein Wächter gewesen!“

„Könnten Sie bitte die Güte haben, nicht über ihn...“ Der namenlose Dämonenherrscher wollte ihn gerade weiter necken, als er wie Youma bemerkte, dass die Konferenz der Fürsten und des Königs offensichtlich vorbei war und tief durchatmend löste Youma sich vom Fenster, wo nun auch die Erscheinung des Dämonengottes verschwunden war, als Kasras feste Schritte im Gang zu hören gewesen waren.

 

Die Erscheinung des jetzigen Dämonenkönigs war geprägt von stolzer Überheblichkeit und unendlicher Arroganz; in jeder seiner Bewegungen steckte selbstbewusste Stärke, die er auch ohne Krone geltend machen konnte; diese lag golden auf seiner hohen Stirn, umringt von einem rabenschwarzen Pony, welcher in einem langen, stets geflochtenen Zopf mündete, der genauso stolz wie sein Träger hinter ihm her wehte. Die goldene Krone zusammen mit seiner immensen Aura waren die Zeichen und die Untermauerung seiner Macht; aber er selbst pochte lieber auf seine Hörner, die eigentümlicherweise an seinem Hinterkopf zusammengingen und damit fast eine natürliche Krone bildeten. Obendrein waren diese auch noch genauso golden wie die eigentliche Krone; ob das natürlichen Ursprungs war oder nicht, darüber stritt man sich hinter vorgehaltener Hand. Fakt war jedoch, dass Kasra wegen seinen Hörnern auch „der zum König Geborene“ genannt wurde – und diesen Titel zu gerne vertrat.

 

Ob er ein guter König war… das war eine andere Frage, aber er besaß den Titel schon mehr als hundert Jahre – und es deutete nichts darauf hin, dass sich das so schnell ändern würde.

„Ich finde“, hörte Youma die Stimme seines Gönners in seinem Kopf:

„... ich färbe seine Hörner mal pink, mal sehen, was er dazu sagt...“ Das brachte Youma fast zu einem Schmunzeln, obwohl Kasra dann pink wohl einfach zur neuen Modefarbe ernennen würde. Der ehemalige Dämonenherrscher tat es natürlich nicht – damit würde er ja seine eigenen Regeln brechen – und Youma schluckte sein Schmunzeln herunter, denn ihm war klar, dass Kasra das Misslingen der Mission nicht unbemerkt geblieben war. Er schloss es wohl daraus, dass Youma alleine dastand und die Tatsache, dass er gescheitert war, schien den König zu amüsieren; Youma sah das gefährliche Leuchten in seinen roten Augen, ehe er kurz den Kopf neigte.

 

Der namenlose Dämonenherrscher zollte Youma kurz mit einem zufriedenen Lächeln Respekt, denn trotz aller Demütigungen war es Kasra nicht gelungen, Youma sämtliche Würde zu rauben; er hatte sich noch nie vor ihm verbeugt.

 

„Alleine und gescheitert, wie ich sehe, Youma“, stellte Kasra fest, als er bei ihm angekommen war und auf ihn herabblickte, obwohl Youma bereits den Kopf wieder gehoben hatte. Er selbst war mit seinen 191 Zentimetern nicht gerade klein, aber Kasra übertraf ihn mit seinen 254 Zentimetern natürlich.

„Es gab ungewöhnliche Vorkommnisse, Eure Hoheit.“

„Aber getroffen hast du ihn?“, erwiderte Kasra, sich nun an das Fenster lehnend, so wie Youma es vorher getan hatte. Im Moment wirkte es nicht so, als wolle er Youma für den Fehlschlag bestrafen, aber das sollte nichts heißen. Kasra liebte es nicht nur, das Leid seiner Opfer in deren Augen abzulesen; er hatte eine ganz besondere Vorliebe dafür, sich in dem Moment zu laben, in dem das Opfer mit Panik realisierte, was mit ihm geschehen würde. Er wollte sein Opfer schockieren; daher konnte man nie wissen, wann er zuschlug. Aber genauso gerne wie er diese Gefühle in den Augen seiner Opfer sehen mochte, hatte er es auch, wenn er mögliche Zuschauer schockieren konnte; ganz besonders Dämonen, die ja eigentlich an Boshaftigkeit und Schrecken gewohnt waren. Lerenien-Sei besaß dank ihm vier öffentliche Hinrichtungsplätze und er vereinte das Aufgabengebiet des Henkers und Peinigers in sich; stets übernahm er diese Pflichten selbst; das war seine oberste Königspflicht. Er wartete daher vielleicht nur darauf, dass jemand vorbeikam, ehe er zuschlagen würde wie eine giftige Schlange.

  

„Ja, ich habe ihn getroffen.“

„Und?“ Kasra schloss kurz die Augen, um ihn dann mit einem breiten Grinsen wieder anzusehen:

„War er stark?“

„Das kann ich nicht beurteilen. Genau wie Karou vermutet hat, besitzt er keine Aura...“

„Das kann überaus praktisch sein!“

„Und gekämpft haben wir nicht.“

„Nein, das denke ich mir, ansonsten wärst du wohl nicht hier, haha!“ Youma bemerkte diese Beleidigung natürlich und sofort schoss ihm wieder durch den Kopf, wie absolut menschlich Nocturn gewirkt hatte – menschlich im Sinne von schwach. Youma war nicht schwach; er war unterfordert, das war alles und das wusste Kasra auch...

„Mit Verlaub, Eure Hoheit, er wirkte sehr menschlich...“ Kasra fiel ihm ins Wort:

„Willst du mit so einem Vergleich andeuten, dass mein Sohn schwach sein soll?“ Da war es wieder; das gefährliche, drohende Funkeln in Kasras Augen. Aber die darauffolgende Stille und Anspannung war noch viel bedrohlicher – und nicht ohne Grund atmete Youma auf, als er die gänzlich monotone Stimme Karous hörte:

„Mein König, es ist noch zu früh, ihn so zu nennen. Solange ein DNA-Abgleich nicht gemacht wurde, besteht keine Bestätigung dafür, dass er Euer Sohn ist.“ Karous Auftritt war unheimlich positiv für Youma, denn Karou war der einzige, der Kasras Sadismus bändigen konnte; indem sein bloßes Dasein ihn langweilte.  

„Ganz offensichtlich werde ich heute nur beleidigt!“, seufzte Kasra theatralisch, kaum dass Karou zu ihnen gelangt war. Karou war ein stattlicher Dämon; fast so hoch wie Kasra, aber mit weitaus weniger Charisma – das besaß Kasra, das musste man leider zugeben. Karous Augen vermittelten einem nie irgendein Gefühl; sein Gesicht war stets eine monotone Maske von... nichts. Aber er besaß sehr ansehnliche Hörner, die schon bei mancherlei Dämon Eifersucht geweckt hatten; besonders beim Fürsten Lycram. Karou selbst war kein Fürst; er war Forscher, Ratgeber und Arzt des Königs.  

„Mit wem soll Menuét denn sonst ein Kind gezeugt haben?“

„Ich zweifle Euer Besitztum natürlich nicht an, mein König, ich denke nur, dass Ihr Euch sicherlich absichern wollt, ehe Ihr ankündigt, dass der Dämon, der sich selbst Nocturn nennt...“

„Der Name wird geändert. Er gefällt mir nicht.“

„Natürlich, mein König. Aber vorher benötigen wir eine Absicherung.“ Diesen Moment nutzte Youma, um das Ganze vielleicht doch zu seinen Gunsten zu verlagern:

„Ich denke, die kann ich womöglich geben.“ Karous gelborange leuchtende Augen huschten kurz zu ihm, etwas, was Youma irgendwie als Beleidigung auffasste, obwohl er keine Gefühlsregung in seinem Gesicht ablesen konnte.

„Es ist mir gelungen, ein Haar von ihm zu isolieren. Das müsste doch für ein Abgleich genügen, nehme ich an?“ Karou wollte gerade nickend nach dem Haar verlangen, als Kasra schon wieder die Führung des Gespräches übernahm und mit einer Gänsehaut spürte Youma, wie der König seinen Arm um seine Schulter legte und ihn an sich drückte.

„Also doch nicht ganz und gar gescheitert! Gut gemacht, Youma, gut gemacht! Du machst deinen Fehler dann hoffentlich schnell wieder gut und holst ihn her...“

 

„Und dann, meine Majestät? Und dann?“

Mit bangen Vorahnungen sah Youma, wie das Grinsen auf Kasras Gesicht langsam verschwand; es verebbte regelrecht, schmolz dahin, so langsam und bedrohlich, dass man dabei zugucken konnte. Die Person, die das Lächeln zum Ersterben gebracht hatte, bemerkte es allerdings nicht. Karou und Youma dafür umso mehr, und für einen kurzen Augenblick trat ein alarmierter Ausdruck auf Karous Gesicht, den er seiner Begleiterin zusandte, die sich bis jetzt ruhig verhalten, sich beinahe hinter Karou versteckt hatte: Nathiel.

„Darf ich vielleicht einen Kampf, ein Duell, vorschlagen? Wäre das nicht genau richtig, um seine Fähigkeiten zu veranschaulichen?“ Ihre roten Augen huschten kurz zu Youma, dann wieder zu ihrem König zurück:

„Gegen Youma zum Beispiel?“ Gänzlich unbeeindruckt hob Kasra die Augen und blickte nun Karou an:

„Kannst du nicht dafür sorgen, dass deine Nutte in deinem Laboratorium bleibt? Ich habe ja nichts dagegen, wenn eine Frau ihre Meinung sagt – ich wünschte, Menuét hätte das öfter getan – aber was soll das, dass eine Nutte mich unterbricht und ihre Meinung mir aufzwingt?“ Kasra senkte seine roten Augen wieder und ergötzte sich daran, was er in Nathiels geweiteten Augen lesen konnte:

„Was siehst du mich so geschockt an, Kleines? Wir beide wissen doch ganz genau, dass du keine Kinder mehr in die Welt setzen kannst, also bist du auch keine Frau mehr. Demnach bist du einfach nur eine Nutte, die für ein bisschen Spaß gut ist. Jedenfalls für die mit einem weniger erhabenen Geschmack, nicht… Karou?“ Die letzten Worte hatte er an Karou gerichtet gesagt, doch wie immer musste er enttäuscht und gelangweilt feststellen, dass er sich an Karou die Zähne ausbiss. Er verzog keine Miene.

 

Als Karou und die völlig am Boden zerstörte Nathiel wieder verschwunden waren, um der Aufgabe des Königs nachzugehen, wollte Youma sich auch gerade entschuldigen – aber Kasra war mit ihm noch nicht fertig.

„Ich muss leider eingestehen, dass ihr Vorschlag gar nicht so schlecht ist. Was sagst du dazu, Youma?“ Dass er den Sinn dahinter nicht sah – das hatte er dazu zu sagen, aber leider war er nicht in der Position, das auch zu verlautbaren.  

„Wenn Ihr es wünscht, Eure Hoheit.“ Kasra nickte sich selbst zu; er hatte es schon längst beschlossen, ganz gleich, was Youma von dieser Idee hielt.

„Es muss allerdings noch ein wenig warten; ich kann Nocturn leider nur abends treffen, wie Ihr ja wisst...“ Der König der Dämonenwelt nickte wieder; jetzt wandte er allerdings einen prüfenden Blick an Youma, der ihm so gar nicht gefiel.

„Mit welcher Hand führst du deine Sense?“  

„Mit der rechten“, log Youma, denn er wusste, was Kasra vorhatte. Er kannte seine kranke Denkweise mittlerweile bereits, aber das bedeutete leider nicht, dass nicht ein Zucken durch seine Hand ging, als ob sein Körper von selbst fliehen wollte.

Das heimtückische Grinsen kehrte auf Kasras Gesicht zurück.

„Oh Youma, wie sehr ich deine Anwesenheit hier in meinem Schloss schätze... du amüsierst mich immer noch am besten. Und jetzt hör auf zu lügen und gib mir deine linke Hand – oder ich breche dir beide.“

 

Es wäre nicht Kasras Stil gewesen, Youmas linke Hand einfach nur am Handgelenk zu brechen. Nein, nachdem er ihn mit Gewalt auf die Knie gezwungen hatte, brach er ihm erst jeden Finger einzeln, ehe er sich sein Handgelenk vornahm.

Langsam natürlich.

Er musste seinem Sohn beim kommenden Kampf doch einen kleinen Vorteil schenken; nicht, weil Kasra glaubte, er habe es nötig, aber so ein kleines, väterliches Geschenk hielt er einfach für angebracht...

 

Und während Youma sich bemühte, den Blick standhaft zu halten, Kasra nicht die Genugtuung zu geben, seinen Schmerz in Youmas schwarzen Augen ablesen zu können, weinte Nathiel bitterlich, ihr Gesicht in Karous Oberschenkel vergraben, an welchen sie sich voller Verzweiflung klammerte, ohne sonderlich auf seine große Hand zu achten, die auf ihrem Kopf lag. Sie sah nicht einmal auf, als der Computer unter Karous Führung das verkündete, was sie beide bereits wussten.

 

Kasra und Nocturn waren in keinster Weise blutsverwandt. 

Le Prélude - Opus III

 

Lichtintus – das war wohl der schlimmste Schmerz, den ein Dämon erleiden konnte. Das einzige, was einen Dämon definitiv bei einer zu hohen Dosis töten würde, langsam und qualvoll, da das Licht den Körper eines Dämons von innen zerstörte. Youma kannte diesen Schmerz, denn auch er hatte bereits gegen diejenigen gekämpft, die diese Magie beherrschten; die Lichtwächter, die sogenannten Hikari.
 


 

Eigentlich hatte Youma nach diesem Kampf geglaubt, dass er niemals wieder schlimmere Schmerzen erleiden würde als das damals erlebte, enorme Lichtintus; vielleicht hatte er es mittlerweile so weit verdrängt, dass er sich nicht mehr deutlich an den Schmerz erinnern konnte, den eine Hikari wie sie es war dem Körper eines Dämons zufügen konnte... oder aber die Schmerzen in seiner Hand übertrafen diese einst erlebten Schmerzen tatsächlich.

Kasra hatte ihn mit einer absolut unbrauchbaren Hand zurückgelassen, deren Finger alle in eine andere Richtung abstachen. Natürlich war die Regenerationsfähigkeit, die er seinem Vater dämonischer Abstammung zu verdanken hatte, ihm jetzt zum großen Vorteil, aber damit diese überhaupt Wirkung zeigen konnte, war Youma dazu gezwungen gewesen, seine fünf Finger alle eigenhändig wieder gerade zu brechen, damit seine Finger und sein Handgelenk wieder normal heilen konnten... was für ein Schmerz. Ohne das Kissen, dass er sich zwischen die Zähne gequetscht hatte, hätte er bei jedem Knacken seiner Finger laut schreien müssen.

 

Jetzt waren seine Finger zwar wieder gerade, aber immer noch gebrochen... und was schmerzte es. Es schmerzte so ungeheuerlich. Er hatte schon oft Fleischwunden heilen müssen, aber noch nie Knochenbrüche und es schien ihm, als wäre das Blut seines Vaters mit der Aufgabe überfordert. Aber das fast konstante Zucken seiner Hand war wohl ein gutes Zeichen. Wie lange es wohl dauern würde, bis die Hand wieder verheilt war? Hoffentlich würde Nocturn ihm sagen, dass er erst in mehreren Wochen einen Termin in seinem Kalender frei hatte, dann gab es vielleicht eine reelle Chance, dass seine Hand vorher verheilt war.

 

Youma hatte vor, Nocturn vor seinem Auftritt abzupassen, um ihm von deren Duell zu berichten, weshalb er sich direkt in die Opèra Garnier teleportierte, wo auch schon das andere Konzert abgehalten worden war. Das Gebäude war zwar riesig, aber Youma hatte vor, den gesamten Komplex zu durchkämmen, um ihn zu finden, wenn es sein musste... das tat allerdings nicht Not.

 

„Youma?“ Mitten auf der Treppe blieb der Angesprochene stehen und blickte nach oben, wo er Nocturn auf einem der vielen Balkone stehen sah.

„Haha, ich wusste, du würdest wiederkommen – aber so schnell habe ich nicht mit dir gerechnet!“ Youma war nicht in der Stimmung für Small-Talk, weshalb er nicht auf Nocturns Worte einging und die Treppe hinaufstieg, um zu ihm zu gelangen; währenddessen fuhr Nocturn ungehindert fort:

„Ich hoffe, du entschuldigst, wenn ich deine Kleidung anmerke – das ist deine Uniform, nicht wahr? Warum trägst du nicht den Anzug von gestern? Raria sagt immer, ein guter Dämon zeichnet sich dadurch aus, dass er sich anpassen kann... du siehst hier mit deiner Uniform wirklich sehr deplatziert aus. Du wirst noch von den Touristen fotografiert werden.“ Diese Kritik hätte Youma nicht egaler sein können; auch sein Aussehen war ihm vollkommen egal oder die Blicke der Menschen, die Nocturn Touristen nannte. Er hatte wegen seiner Hand sehr schlecht geschlafen, er war absolut in seinem Agieren behindert... und er klagte über sein Aussehen?

„Ich habe eine Botschaft vom König. Dem König der Dämonen“, begann Youma, sobald er bei Nocturn angekommen war. Er sprach diese Worte mit Nachdruck; heute würde er Dinge auf den Punkt bringen, kein Drumherumreden. Dafür war der Schmerz einfach zu groß und zu aufdringlich. Immer wieder zuckte seine Hand, die er auf dem Rücken platziert hatte; nicht nur, damit sie anderen verborgen blieb, sondern auch, damit er nicht in Versuchung geriet, sie zu benutzen. Sie war immerhin seine dominante Hand.

„Oho! Du arbeitest für den König?“

„Ja, ich bin sein... Botschafter.“ Oder was auch immer er war. Wahrscheinlich schmeichelte Youma sich gerade selbst – seine Hand zuckte wieder – war er nicht viel eher das Hobby vom König? Wurde er nicht gehalten wie ein Haustier, völlig den Launen seines Herrschers ausgeliefert? Nicht ohne Grund war ihm ein Zimmer im obersten Zirkel des Schlosses gegeben worden – dem Zirkel, der nur für den König vorgesehen war. Zuerst hatte Youma sich nichts dabei gedacht, hatte es sogar als Privileg angesehen, denn das Zimmer war groß, gut möbiliert und besaß ein eigenes Badezimmer, aber mit der Zeit war ihm klar geworden, dass er nur aus einem Grund ein Zimmer in den Privatbereichen des Königs besaß; weil er sein Eigentum war genau wie die darin sich befindenden Möbel.

Wieder zuckte seine Hand, aber noch viel aufdringlicher als der Schmerz wurde eine Wallung Übelkeit.

 

Youmas ernstes und recht blasses Gesicht verriet seine Gedanken und die damit aufkommenden Gefühle allerdings nicht, weshalb Nocturn auch nichtsahnend weiterfaselte:

„Was will denn der Dämonenkönig von mir?“ Youma hatte sich alles von vornherein zurechtgelegt und sagte nun auch genau das:

„Der König bestimmt, wer das Schlachtfeld betritt und wer nicht. Wenn du also White sehen willst, dann muss der König dich für eine Schlacht einteilen – und da er dich nicht kennt, verlangt er, einem Probekampf beizuwohnen.“ Nocturn runzelte die Stirn:

„Das ist aber ganz schön umständlich. Der König muss viel zu tun haben. Ich soll also beweisen, dass ich kämpfen kann?“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern:

„Das sollte kein Problem sein. Gegen wen soll ich denn kämpfen?“

„Gegen mich.“

 

 

Natürlich wusste Youma, dass Nocturn überhaupt nichts von Kasra wusste, weshalb er natürlich absolut nicht mit ihm unter einer Decke stecken konnte – aber als er kundgab, dass sie dann am besten gleich aufbrechen sollten, hatte er trotzdem das Gefühl, dass Vater und Sohn sich gegen ihn verschworen hatten. Mit dieser zerstörten Hand konnte Youma nicht kämpfen, weshalb er auch versucht hatte, es Nocturn auszureden. Aber er änderte seine Meinung nicht; er hatte an diesem Abend keine Vorstellung – er war wegen einem so genannten „Photoshooting“ in der Oper gewesen – und Raria würde sich nicht wundern, wenn Nocturn später nach Hause zurückkehrte, denn es war für ihn nicht unnormal, ausgiebige Spaziergänge in Paris zu machen. Er müsse nur, das betonte er natürlich, pünktlich zurück sein. Aber so ein Kampf dauerte sicherlich auch nicht lange... war Youma sich überhaupt sicher, dass er gegen ihn antreten wolle?

Diese Aussage machte Youma wütend; er mochte vielleicht untrainiert sein, aber gegen einen Dämon, der seine Zeit mit Flötenspiel verschwendete, kam er gerade noch an.

 

Aber bevor es zum Kampf kommen konnte, hatten sie erst einmal einen anderen Gegner: Kasra. Youma hatte Nocturn angekündigt, aber natürlich ließ der König die beiden erst einmal warten, was allerdings nur Youma zu verärgern schien. Nocturn war der Meinung, dass ein König sich natürlich Zeit lassen konnte, ja, vielleicht sogar musste, immerhin war er der König und die Uhren liefen doch nach seiner Zeit – war das nicht normal?

Die beiden würden sich sicherlich blendend verstehen, dachte Youma säuerlich und wandte sich ab von Nocturn, ohne ihm zu antworten. Er war wieder damit beschäftigt, seine Heilfertigkeiten in Gedanken anzuherrschen, sie sollen sich doch bitte beeilen; aber die Hand, die auf seinem rechten Arm ruhte, da er die Arme vor der Brust verschränkt hatte, um sich an eine Säule zu lehnen, gab nur ein müdes Zucken von sich.

„Es ist lange her, dass ich in Lerenien-Sei war. Oder allgemein in dieser Welt. Es ist so heiß hier! Diese erdrückende Luft habe ich garantiert nicht vermisst…“ Auch wenn sie nur die Zeit totschlagen konnten, hatte Youma keine Lust, mit Nocturn zu sprechen, weshalb er darauf nicht einging, ihm nicht einmal einen seitlichen Blick zuwarf und so nicht sah, dass Nocturn sich neugierig umsah, sich mit der Hand ein wenig Luft zufächelnd.

„Und im Schloss war ich, wenn ich mich richtig erinnere, noch nie. Es ist imposant, aber... Versailles gefällt mir besser.“ Der Angesprochene war immer noch versucht, Nocturns Stimme einfach nur zu ignorieren. Aber dann wurde er sowieso abgelenkt; die Aura des Königs näherte sich.

„Augenblick.“ Ohne auf eine Reaktion Nocturns zu warten, entfernte er sich von ihm und ging seinem König entgegen, der tatsächlich fast bei ihnen angekommen war; Youma musste nur um die nächste Ecke gehen, dann stand er schon seinem König gegenüber.

 

Sofort als er Youma sah, grinste er schadenfroh und fixierte seine Hand.

„Wie gut du deine Finger wieder eingerenkt hast, Youma!“ Ein Schwall Wut brachte den Körper des Angesprochenen zum Beben, aber Youma zwang sich, es zu ignorieren, um pflichtgemäß seinen Kopf zu neigen. Kaum dass er dies getan hatte, huschte seine Hand sofort auf den Rücken und die Aussage des Königs wählte er auch zu ignorieren; er setzte einen ernsten Blick auf und verkündete:

„Majestät, ich habe gute Neuigkeiten für Euch.“ Kasras Augenbrauen hoben sich belustigt, aber er ließ Youma aussprechen:

„Euer Sohn befindet sich in meiner Begleitung.“

„Was, so schnell!? Youma, ich bin ja begeistert; das sind wirklich gute Neuigkeiten... für mich jedenfalls, deine Hand freut sich sicherlich weniger, haha!“ Er lachte boshaft; ihm war natürlich auch klar, dass Youma darauf gehofft hatte, dass der Kampf nicht sofort stattfinden würde.

„Wenn der König wünscht, dass ich kämpfe, dann kämpfe ich natürlich auch...“ Kasra unterbrach ihn, wie es nun einmal seine Natur war:

„Natürlich wünsche ich das, Youma! Der Sex gerade war extrem langweilig, ich brauche eine Abwechslung, eine Erheiterung... besonders in Anbetracht dessen, dass in ein paar Stunden wieder eine Konferenz ansteht...“ Kasra verzog übel gelaunt das Gesicht:

„Und Ri-Il ist Sprachführer. Wenn ich diesen Bastard schon sehe, bekomme ich das Kotzen und dann muss ich ihm auch noch mindestens zwei Stunden lang zuhören...“ Andere hätten diesen Moment womöglich genutzt, um sich mittels Beipflichtungen bei Kasra einzuschmeicheln, aber Youma schwieg, während die Schmerzen in seiner Hand gerade zuzunehmen schienen.

„Vielleicht kann mir mein Sohn ja bei dem Ri-Il-Problem helfen... hast du ihm schon erzählt, dass ich sein Vater bin und er somit Prinz der Dämonenwelt ist?“

„Nein. Ich wollte es Euch überlassen, ihm diese freudige Botschaft zu übermitteln.“ Lachend legte Kasra seine Hand auf Youmas Schulter, ehe er an ihm vorbei schritt:

„Was für eine grandiose Idee! Ich denke, ich werde es ihm auch noch nicht mitteilen, erst nach dem Kampf... falls der Junge eine Enttäuschung ist, was wir einfach mal nicht annehmen bei seinen Eltern, nicht, Youma?“

„Natürlich nicht, Eure Hoheit.“

 

Kasra wunderte sich über Nocturns Kleidung – er war in einen Anzug gekleidet – aber ansonsten konnte Youma in seinen Augen ablesen, dass er zufrieden war mit dem, was er sah, denn Nocturn hatte sich völlig übertrieben vor ihm verbeugt, was ohnehin ein guter Start war für ein Gespräch mit dem König. Später erzählte Kasra Youma, dass Nocturn aber wirklich ziemlich hässlich sei, was für ein dünnes Klappergestell… – aber gut, man konnte nicht alles haben.

„Majestät, es ehrt mich sehr, dass Ihr mir die Möglichkeit gebt, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ich hoffe, ich werde Euch nicht enttäuschen.“ Youma, neben Kasra platziert, himmelte unbemerkt mit den Augen und hoffte beinahe, dass Nocturn doch bitte White erwähnen möge, um sich bloßzustellen, auch wenn das die Sache sicherlich komplizierter machen würde.

„Oh, das hoffe ich auch...“ Das zufriedene Grinsen auf dem Gesicht des Königs verschwand und Youma wusste wieso, denn auch er spürte die Aura Ri-Ils plötzlich. Unwissend, dass Nocturn damit etwas sehr Gewagtes sagte, entfuhr ihm:

„Wow, das ist aber eine starke Aura!“ Ein wütendes Zucken entstellte kurz Kasras Gesicht und Youma war sich sicher, dass das das erste Mal sein würde, dass Nocturns Verwandtschaft mit Kasra ihn vor Bestrafung schützte – jedenfalls vorerst, denn Kasras Sadismus hatte auch vor seinen Kindern nicht Halt gemacht. Es gab einen Grund, weshalb er keine mehr hatte...

 

Ri-Il war so ziemlich die eigenartigste Person, die Youma in der Dämonenwelt getroffen hatte; seine extrem dünne Taille und besonders die schwebenden, orangenen Zöpfe verliehen ihm ein überaus skurriles Aussehen, das Youma immer wieder dazu brachte, die Stirn zu runzeln. Wie flogen diese Haare überhaupt? Waren das Haare? Wie hielt der in schwarz gekleidete Körper überhaupt zusammen, warum konnte der Unterkörper den Oberkörper überhaupt halten? Die Taille war viel zu dünn; er müsste in der Mitte durchbrechen... und seine eigentlich stets geschlossenen Augen mit den dunklen Einkerbungen darunter machten die Sache auch nicht besser.

Auch jetzt hielt er seine Augen geschlossen, während er seine obligatorische Verbeugung vollführte – bei diesem Körper ein anatomisches Wunder...

„Was willst du denn schon hier?“, fauchte Kasra ungeduldig und in keinster Weise geschmeichelt über die Verbeugung. Ri-Il ließ sich aber wie gewöhnlich nicht einschüchtern:

„Majestät, entschuldigt mein Zufrühkommen, aber es gäbe noch etwas, was vor der Konferenz besprochen werden müsste-“ Kasra fiel ihm ins Wort:

„Ob etwas besprochen werden muss, bestimme immer noch ich. Und tja, ich habe keine Zeit – und auch keine Lust. Wenn es etwas zu klären gibt, klär das mit Karou!“ Aber Ri-Il war nicht nur wegen seinem Aussehen so merkwürdig; er fand auch immer auf alles die passende Antwort:

„Natürlich, wenn das Euer Wunsch ist, werde ich diesem auch mit Freuden nachgehen; allerdings erscheint mir dieses Wissen doch zu pikant für Karou-sans Ohren.“ Es war deutlich, dass Kasra nachdachte; scheinbar musste er zwischen Pest und Cholera wählen. Diesen Moment des Schweigens wusste Ri-Il zu nutzen:

„Mein König, es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Ihr werdet den Kampf trotzdem uneingeschränkt genießen können.“ Da Ri-Il seine Augen immer noch nicht geöffnet hatte, konnte Youma es nur schwer beurteilen, aber es kam ihm so vor, als würde er Nocturn mustern, während er dies sagte. Er lächelte immer noch, aber irgendetwas war ernster an ihm geworden und auch die Frage klang ernst, auch wenn sie unter einem gelassenen Tonfall verborgen war:

„Ein neues Talent für Eure Horde? Eine überaus interessante Fähigkeit, seine Aura verbergen zu können.“ Da Nocturn nun direkt angesprochen wurde, war er es, der antwortete – wieder unüberlegt in Anbetracht von Kasras Anwesenheit, wie Youma fand, aber das war ja nicht seine Sache:

„Das ist keine Fähigkeit. Ich bin damit geboren.“ Überraschenderweise öffnete Ri-Il seine Augen und seine so selten gesehenen gelben Augen fixierten Nocturn argwöhnisch, obwohl seine Lippen immer noch zu einem dünnen Lächeln geformt waren.

„So so, wie ungewöhnlich. Aber das scheint nicht das einzig Ungewöhnliche an Ihnen zu sein.“ Er gab Nocturn keine Möglichkeit zum Antworten; stattdessen wandte er sich nun wieder Kasra zu, der dem Ganzen schweigend, aber misstrauisch gefolgt war. Ri-Il verbeugte sich abermals, ehe er seine Bitte vortrug:

„Wenn Ihr es erlaubt, würde ich gerne dem Kampf beiwohnen.“

„Kommt gar nicht in Frage, Ri-Il. Das ist kein öffentlicher Kampf.“ Diese Aussage verwunderte Youma; sie würden nicht öffentlich kämpfen? Das war äußerst befremdlich für Kasra...

Ri-Il wollte sich gerade für seine unverschämte Bitte entschuldigen, da kam ihm allerdings Nocturn zuvor:

„Majestät, wenn Ihr erlaubt, dass ich meine Meinung kundgebe...“ Youma runzelte die Stirn; er hatte nicht geglaubt, dass Nocturn so unterwürfig sein würde und das obwohl er noch nicht einmal erlebt hatte, wie boshaft Kasra sein konnte.

Youma konnte ja nicht wissen, dass Nocturn einfach nur großen Gefallen daran fand, mit einem König zu sprechen und dass alles mehr als eine fantastische Reise in die Vergangenheit ansah, wo es in Frankreich noch florierende und pompöse Königshäuser gegeben hatte. Es war eines seiner Lieblingsthemen.

Kasra schien immer mehr und mehr Gefallen an Nocturn zu finden, weshalb er Nocturn erlaubte, seine Meinung auszudrücken:

„Ich hätte nichts dagegen, wenn Monsieur Ri-Il...“ Alle runzelten die Stirn über diese Betitelung.

„... dem Kampf beiwohnen würde. Du etwa, Youma? Aber natürlich nur, wenn Ihr es erlaubt, Majestät.“

 

Youma war es gewohnt, dass Kasra plötzlich seine Meinung änderte; er tat es oft und meistens aus heiterem Himmel, weswegen er auch nicht sonderlich überrascht darüber war, dass der Kampf nun doch öffentlich stattfinden sollte.

„Ri-Il soll gar nicht auf den Gedanken kommen, er hätte irgendwelche Privilegien!“, erklärte Kasra Youma, während die Arena sich natürlich schnell füllte; öffentliche Kämpfe wurden immer gerne gesehen und wenn dann auch noch der König persönlich zum Spektakel einlud, versprach man sich eine gute Unterhaltung – und einem blieb sowieso keine andere Wahl als zu erscheinen…   

Während Youma das aufgeregte Treiben vom Schatten der Königstribüne aus beobachtete, versuchte er ganz langsam und vorsichtig, die gebrochenen Finger zu biegen – aber schon die kleinste Bewegung war ausreichend, um einen brennenden Schmerz durch seinen Körper zu jagen. Er konnte demnach definitiv nicht mit seiner Sense kämpfen, da er sie nicht einmal halten konnte... und beidhändig war er leider nicht. Wie Nocturns Kampfstil wohl aussah? Youma hatte keine Ahnung, worauf er sich einließ; die Zeit war viel zu knapp gewesen, um irgendetwas über ihn herauszufinden. Auf was ließ er sich da ein, gänzlich ohne Waffe? Ausgerechnet im Zweikampf war er sehr untalentiert... Sein Ziehvater Light hatte ihn, damals in der Zeit, in der er aufgewachsen war… im Schwertkampf unterrichtet und er selbst hatte sich das Kämpfen mit der Sense angeeignet, weil er nicht gut umgehen konnte mit einem Schwert. Als Zuschauer hatte er bei diesen öffentlichen Kämpfen oft teilgenommen und auch versucht, etwas von den Techniken der anderen Dämonen zu lernen, aber er hatte sie noch nie in die Tat umgesetzt – und mit nur einer Hand?

Youma befahl sich, ruhig zu bleiben; Nocturn lebte als Mensch in der Menschenwelt, er besaß eine Karriere als Flötenspieler, nicht als Kämpfer... er konnte garantiert nicht...

 

Okay.

 

Doch, er konnte kämpfen.

 

Das musste Youma eine halbe Stunde später leider zugeben, als er darum kämpfte, nicht aufgespießt zu werden. Nocturn hatte die Fähigkeit, seine Fingernägel zu verlängern, die er als scharfe Stichwerkzeuge benutzte. Youma hatte diese Technik so überrumpelt, dass die erste Attacke Nocturns auch gleich getroffen hatte und Youma fünf horizontale Risse in seinem Gesicht quittiert hatte.

„Er hat Menuéts Fingernägel!“, trällerte Kasra erfreut an keine bestimmte Person gerichtet:

„Und wie gut er sie einsetzt, haha!“ Etwas weiter weg von ihm grummelte ein gehörnter Dämon mit ultramarinem Haar und genehmigte sich daraufhin einen Schluck von seinem alkoholischen Getränk.

„Ich dachte, die Gezeichneten wären alle ausgerottet?“ Lycrams orangene Augen glitten zu Ri-Il, der rechts neben ihm mit der Schulter an einer Säule lehnte und sehr ernst wirkte. Kein Lächeln hatte er auf dem Gesicht, die Augen waren geöffnet. Lycram wusste, was das bedeutete.

„Scheinbar nicht“, antwortete Ri-Il und Lycram sah, dass seine Augen das schwarze Zeichen unter Nocturns Auge fixierten – das Zeichen, das deutlich machte, dass er zu einer alten Dämonenrasse gehörte, die man eben wegen diesem Mal die Gezeichneten genannt hatte; bis die Wächter sich dann entschieden hatten, systematisch Jagd auf diese starke und talentierte Rasse zu machen und sie binnen eines Jahrzehnts ausgerottet hatten. Einer war ihnen wohl durch die Lappen gegangen…   

„Also hat Menuét noch ein Kind in die Welt gesetzt, ehe sie gestorben ist? Davon hatte ich nichts gehört“, bohrte Lycram weiter nach, sich natürlich bewusst, dass Ri-Il mehr wusste als er – einfach weil er immer mehr wusste als er. Oder stammte seine Anspannung und Ernsthaftigkeit daher, dass er es mal nicht wusste?  

 

Ri-Il antwortete nicht sofort, aber da Lycram mehr auf ihn achtete als auf den Kampf, sah er, wie Ri-Ils Augen kurz ihren sehr erfreuten König fixierten, während die Menge tobte, weil Nocturn gerade wieder einen Treffer gelandet hatte.

„Ich auch nicht.“ Lycram hatte also recht mit seiner Vermutung – und aus irgendeinem Grund erfreute ihn das nicht gerade; es machte ihn eher nervös. Ri-Il wusste etwas nicht?

„Aber er ist nicht so talentiert wie Menuét“, schlussfolgerte Ri-Il, als er seine Augen wieder auf den Kampf richtete:

„Er hat eine gute Technik, verbesserungsfähig, aber die Basis ist vorhanden. Aber seine Ausdauer ist gering...“ Ri-Il verengte seine Augen, Lycram konnte ihm förmlich dabei zusehen, wie sein Mitfürst den Kampf analysierte:

„... er scheint lange nicht mehr gekämpft zu haben... wieso? ... und die Kleidung ist eindeutig menschlich... europäisch womöglich... natürlich... sein Akzent, seine Wortwahl… Frankreich...“

„Und Youma muss unseren König mal wieder verärgert haben.“ Ri-Il sah auf, als Lycram dies sagte, obwohl er zugeben musste, dass Youma ihn – jedenfalls im Moment – weniger interessierte.

„Seine Hand ist gebrochen, ansonsten würde er ja seine Sense benutzen“, erklärte Lycram, was Ri-Il zu einem verschmitzten Grinsen brachte:

„Sehr gut beobachtet, Lycilein!“

„Als ob du das nicht auch schon bemerkt hättest?! Und ich heiße immer noch nicht so, verdammte Scheiße nochmal...“, beschwerte Lycram sich prompt, da er sich sofort angegriffen gefühlt hatte, was Ri-Il sehr gut passte; denn in diesem Moment hatte Kasra gerade misstrauisch zu ihnen herüber gelinst, wo er nun nichts anderes entdecken konnte als ihre normalen Neckereien, weshalb er sich dem Kampf wieder zuwandte.  

  

 

Youmas Atem war beschleunigt; er war aus der Puste, weil er sich bis jetzt nur aufs Ausweichen – das hatte er wenigstens gelernt – konzentriert hatte. Aber Nocturn war ebenfalls aus der Puste; er konnte seinen Atem dank der Lautstärke des Publikums nicht hören, aber er konnte sehen, wie seine Brust sich hastig hob und senkte.

Einige Meter lagen zwischen den beiden schnell atmenden Kontrahenten, die sich argwöhnisch und angriffsbereit fixierten; sie befanden sich beide noch in Angriffsstellung; Nocturns gespreizte Finger bewegten sich unruhig hoch und runter im Takt mit seinem Atem.

Ein verschmitztes Grinsen tauchte plötzlich auf seinem Gesicht auf:

„Es war eine gute Idee, dir hierher zu folgen; ich merke, ich habe das Kämpfen vermisst!“ Da Youma nicht mit ihm kommunizieren wollte, war er es nun, der den ersten Angriff startete – doch Nocturn wich der schwarz glühenden rechten Hand Youmas aus, setzte mit einem Fußkick nach und kaum, dass Youma diesem nach hinten ausgewichen war, folgte auch schon ein Hieb mit Nocturns Fingernägeln, die dieses Mal so lang waren, dass Youma mittels eines hohen Sprungs rückwärts ausweichen musste, um nicht aufgeschlitzt zu werden. Gut, das hätte er wahrscheinlich nicht getan, weil sie den anderen nur zu Boden bringen sollten und sich nicht umbringen durften – „Töte meinen Sohn nicht, Youma! Der einzige, der ihn umbringen darf, bin ich.“ – aber auch wenn er das im Hinterkopf hatte: genug war genug.

Youma mochte nicht ausgebildet sein, aber er hatte seine Magie. Die Magie, die er seiner Mutter zu verdanken hatte. Er war ein Halbdämon; aber nicht das, was die Allgemeinheit heutzutage unter diesem Begriff verstand. Er war nicht das Zeugnis eines Dämons und eines Menschen. Seine Mutter war eine Wächterin gewesen; mehr noch.  

Das von seiner Mutter geerbte Element der Dunkelheit reagierte sofort, antwortete ihm auch umgehend, noch während Youma Nocturns langen Fingernägeln rücklings auswich. Seine Hand leuchtete in einer Mischung aus schwarz und lila auf, bewegte sich seinen gesamten Arm hoch, züngelte förmlich bis zu seiner Schulter empor – er bremste, sah mit leichtem Triumph, wie sich Nocturns Augen alarmiert weiteten, flitzte auf ihn zu, die Magie vereinte und sammelte sich in seiner Hand, bildete eine große Kugel, die Nocturn zu spüren bekommen würde---

 

Das ganze geschah so schnell, dass es Nocturn gerade noch gelungen war, seine Fingernägel einzufahren – warum!? – die Kugel sauste auf seinen Torso zu und genau in dem Moment, als die Kugel eigentlich mit eben diesem kollidieren sollte, packte er Youmas leuchtendes Handgelenk und riss es nach oben.

Während die Kugel einen nahegelegenen Turm traf und diesen unter den verblüfften Blicken der Zuschauer zum Einsturz brachte, starrten die beiden Kontrahenten kurz in die dämonisch leuchtenden Augen des jeweils anderen – nur einen kurzen Augenblick – dann setzte Nocturn zum Gegenangriff an und beförderte Youma mit einem gezielten Kick in die Magengegend in die Luft.         

 

Youmas Instinkt übernahm ganz automatisch und ohne, dass er es verhindern konnte, ohne dass sich überhaupt ein warnender Gedanke aktivierte, streckte er die linke Hand Richtung Boden aus, um den Sturz abzufedern.

 

Ein so enormer Schmerz entflammte in seiner Hand, loderte den gesamten Arm empor, lechzte an seiner Schulter und lähmte für einen kurzen Augenblick seinen gesamten Körper. Natürlich konnte seine gebrochene Hand das Gewicht seines Körpers nicht halten; für eine Millisekunde beschrieb sein Körper eine senkrechte Gerade, aber dann brach er mit einem gepeinigten Schmerzensschrei zusammen und genüsslich grinsend beobachtete Kasra erfreut, wie Youma zu Boden ging.  

Das verspottende Lachen der Zuschauer folgte sofort, aber Youma hörte es kaum; die Schmerzen vernebelten sein Gehör, seine Wahrnehmung. Er wollte die rechte Hand benutzen, um sich wieder aufzustützen, aber er rutschte weg, landete mit der Stirn wieder auf dem harten Steinboden, schürfte sich daran auf.

Fern hörte er, wie der schadenfrohe Jubel sich zu einem einstimmigen Rausch verwandelte; sie wünschten, dass Nocturn ihn umbringen solle, den Kampf richtig abschließen solle, wie es sich für einen Dämon gehörte--- Youma war doch schon am Boden, töten, töten, töten!

Das bellende Lachen des Königs übertönte aber natürlich alle:

„Haha, nein, lass ihn mal am Leben! Es wäre viel zu schade...“ Youma spürte, wie seine Augen brannten, wie sich Tränen der Wut, des Schmerzes, der Schande, in seinen Augenwinkeln auftaten...

„... um so ein grandioses Spielzeug! Gut gemacht, Junge, gut gemacht! Daran können sich andere...“  

 

Aber dann schwieg er. In der gesamten Arena verebbten die Stimmen langsam – und als wären es die Stimmen gewesen, die Youma daran gehindert hatten, den Kopf zu heben, gelang es seiner rechten Hand nun, den Körper ein wenig aufzurichten, womit er das sah, was dem König die Sprache verschlagen hatte: Nocturn hielt ihm die Hand hin.

 

Er wollte ihm offensichtlich aufhelfen; sein Blick war ernst, aber auch über irgendetwas verärgert, doch Youma starrte nur seine Hand an. Youma hätte sie nehmen können, seine Hilfe annehmen können, aber stattdessen übermannte ihn die blanke Wut, die ihn zu neuer Kraft beflügelte. Wütend, gar hasserfüllt, schlug er mit der rechten Hand Nocturns beiseite und richtete sich mit vor Schmerzen schreiendem Körper wieder auf.

Er sammelte den Rest seiner Kraft und Würde zusammen, ignorierte Nocturns Blick, ignorierte alles und verließ mit erhobenem Kopf die Arena.

 

Aber kaum dass er alleine war im Dunkel des Schlosses, verließ ihn sämtliche Kraft und der Schmerz übermannte ihn; überwältigte ihn. Zuerst ging er nur langsamer, dann zwang ihn der Schmerz in die Knie; er wollte sich an einer Säule abstützen, aber der Schmerz war zu lähmend, zu allumfassend. Seine Hand rutschte weg, Youma verlor die Kontrolle über seinen Körper; er fiel auf die kalten, schwarzen Marmorfliesen, die Haare unter ihm ausgebreitet, kurz vor der Ohnmacht.

Doch kurz bevor er das Bewusstsein gänzlich verlor, war ihm, als beuge sich ein Schatten über ihn.

„... Light...?“ Nein, es war nicht sein einst so geliebter Ziehvater; nach dessen liebevoller Wärme er sich so sehr sehnte, der Schatten war zu groß, Light war kleiner als er gewesen...

 

In diesem Moment, in dem der namenlose Dämonenherrscher den bewusstlosen und unheimlich klein wirkenden Youma in seinen Armen hielt, war ihm natürlich bewusst, dass er seine eigenen Regeln brach. Aber er war ein Gott. Er konnte seine Regeln so viel brechen wie er wollte.

Und in diesem Moment schwor er sich, dass Kasra den Tag bereuen würde, an dem er Youma so zugerichtet hatte. 

Le Prélude - Opus IV

Es war nach null Uhr – das wusste Nocturn, weshalb er sich auch mit bangen Vorahnungen in den Eingangsbereich seines Zuhauses teleportiert hatte, anstatt normal durch die Haustür das Haus zu betreten; kam man nämlich durch diese hinein, würde ein donnerndes Glockenläuten erklingen, welches seine Tante sicherlich wecken würde. Wenn sie denn schlief. Viel Hoffnung hatte Nocturn nicht…

Eine kleine Tischlampe warf ihr gelbes Licht in den langen Gang, der direkt zu deren kleinem, privaten Auditorium führte. Haha, wenn Raria wirklich noch wach war, dann würde er den Raum lange nicht mehr betreten dürfen. Zugegeben, dachte Nocturn, als er seinen Mantel aufhängte und aus seinen Schuhen schlüpfte – es gab jetzt auch Wichtigeres als das Musizieren.

Hatte er das wirklich gerade gedacht?

Auf Zehenspitzen, darauf bedacht keinen Laut zu verursachen, schlich er den Gang hinunter, steuerte die Treppe an, um schnell in sein eigenes Zimmer zu gelangen. Bloß keinen Laut verursachen, bloß nicht...

„Es riecht nach Schwefel und schlechtem Gewissen.“

 

 

Lycram war noch nicht einmal auf der ersten Etage seiner geliebten Bar – seiner zweiten Heimat mittlerweile – angekommen, da wurde auch schon die erste Absinth-Flasche des Abends bestellt. Wie er es liebte, diese Etage zu betreten! Ein Beweis dafür, dass er es endlich geschafft hatte, immerhin stand diese Etage nur den Fürsten und ihrer Begleitung zu und er war ein Fürst. Mit einem Gebiet – dem Gebiet, dem Gebiet, das neben Ri-Ils lag, haha! – einer Horde – noch klein, aber das würde schon noch werden! – und dem Privileg, diese Etage zu betreten. Es war ein tolles Gefühl; ein Gefühl von „Ich habe es geschafft!“, weshalb die Füße auch mit extra viel Inbrunst auf den Tisch geworfen wurden. Er war Fürst! Er durfte das.

Selbstzufrieden grinste er bis über beide Ohren und bereitete sich schon auf ein „Also, Lycilein, deine Tischmanieren...“ vor, als Ri-Il sich galant neben ihn setzte. Erfreut bereitete er sich schon auf eine Gegenantwort vor, genüsslich beinahe. Aber die Flasche kam, ein großer Schluck Absinth floss seine Kehle herunter... und Ri-Il hatte immer noch nichts gesagt. Er hatte ja nicht einmal seinen Sake bestellt. War er etwa immer noch mit denselben Gedanken beschäftigt, die ihm auch beim Kampf durch den Kopf gegangen waren? Kasra hatte die Konferenz kurzerhand abgesagt – woher auch Lycrams Feierlaune stammte – war es das, worüber er nachdachte? Er sollte sich lieber ein Beispiel an Lycram nehmen...

„Ey, Ri-Il!“ Der Angesprochene wandte sich herum, ein wenig langsamer als normal, wie es Lycram vorkam, wenn auch nur eine Millisekunde; er war tatsächlich weit weg gewesen mit seinen Gedanken.

„Das hier ist eine Bar, falls du es nicht bemerkt hast; hier kommt man hin, um zu trinken, Spaß zu haben oder irgendeinen Scheiß zu vergessen – und da ich nicht annehme, dass du etwas vergessen willst – das kannst du wahrscheinlich gar nicht?! –  ist es wohl an der Zeit, dass du mal etwas bestellst!“ Lycram wartete nicht lange und mit Inbrunst riss er den Arm nach oben und verlangte mit Hilfe seiner kräftigen Stimme nach der Bedienung; ehe Ri-Il Einwände erheben konnte, hatte sich die stämmige Frau schon zu ihnen herüber teleportiert. Sie öffnete den Mund, um nach der Bestellung zu verlangen, aber auch sie überrumpelte Lycram:

„Sake! Sofort!“ Da Lycram Stammgast war, wunderte sie sich nicht darüber, dass der hitzköpfige Fürst ihr zuvorgekommen war; sie wunderte sich eher über seinen Wunsch, denn natürlich wusste sie, dass er keinen Sake trank.

So. Und jetzt....“ Lycram zog das letzte Wort besonders lang, sich dabei zu Ri-Il herumdrehend:

„... erzählst du mir, was dein verficktes Problem ist!“ Ri-Il kam nicht drum herum, ihn mit offenen Augen ein wenig verdattert anzusehen; wie war es Lycram nur möglich, ihn immer wieder zu überraschen? Hmmm. Ri-Il grinste plötzlich wieder und schloss auch seine Augen: es war eben Lycram.

 

Der Sake kam im wahrsten Sinne des Wortes angeflogen und unter dem argwöhnischen Blick seines Sitznachbarn genehmigte Ri-Il sich auch erst einen Schluck aus dem niedrigen Schälchen, ehe er Lycrams Aufforderung nachging.

„Siehst du denn keinen Grund zur Beunruhigung, Lyci?“

„Ehrlich gesagt sehe ich nur einen Grund zum Feiern! Unser König hat ein neues Spiel mit Youma anfangen und solange wir nicht mitspielen sollen und er gut abgelenkt ist, kann mir das doch egal sein. Aber scheinbar ist dir das nicht egal. Woher kommt das plötzliche Mitgefühl für Youma?“

„Oh, es geht mir nicht um Youma-san. An Kasras Verhalten Youma-san gegenüber war nichts Ungewöhnliches; er hat immerhin schon Dämonen mit Lichtintus in die Arena geschickt.“ Bei dem Gedanken lief es Lycram eiskalt den Rücken runter, was er sich natürlich nicht anmerken ließ und stattdessen einen großen Schluck seines Alkohols nahm. Das war eine schreckliche Vorstellung gewesen! Der besagte Dämon war ein Mitfürst gewesen, ein ganz neuer, noch sehr jung. Er hatte Glück gehabt und einen Kampf gegen White überlebt, obwohl sie seine gesamte Horde ausgelöscht hatte. Er hatte Kasra trotz extremen Lichtintus Bericht erstatten wollen; er war mitten in eine Konferenz geplatzt. Lycram konnte sich noch extra lebhaft daran erinnern, weil er Sprachführer gewesen war; obwohl... daran konnten sich sicherlich auch die anderen Fürsten erinnern, die wie sonst auch nur als Hologramme im Konferenzsaal sichtbar gewesen waren. Das Lichtintus war enorm gewesen; man hatte seinem Körper regelrecht dabei zusehen können, wie das Licht sein Inneres zerfraß, sich immer weiter ausbreitete, bis der Körper nicht mehr standhalten konnte.

„Du bist nicht nur ein Feigling – du wagst es auch noch, mit deinem verseuchten Körper hierher zu kommen?“ Kasra hatte den ziemlich versteinerten Lycram grob zur Seite geschoben, hatte sich vor den völlig sprachlosen Fürsten gestellt, der eigentlich ein Mitglied der Elite der Dämonenwelt sein sollte, aber gegenüber dem König einfach nur schwaches Ungeziefer war, und das Urteil seines Königs auch einfach nur ohnmächtig hinnehmen musste:

„Aber ich werde dir beweisen, dass ich mich nicht anstecken lasse. Ich werde dir zeigen, wie mächtig dein König ist!“ Kasra hatte den völlig wehrlosen Fürsten regelrecht auseinander genommen – und das obwohl er dank des Lichtes sowieso schon im Begriff war, von innen heraus zu sterben –in einer überraschend langen Privatvorführung für die Fürsten, die er alle zum Kommen beordert hatte.

 

„Meine Befürchtung ist...“, begann Ri-Il, die Oberfläche seines Sakes ansehend, auf dem sich die Ringe sacht ausbreiteten:

„... dass dieser Nocturn Kasras Sohn ist.“

„Du meinst, weil er offensichtlich Menuéts Sohn ist? Das bedeutet aber doch nicht, dass Kasra gleich der Vater ist.“ Ri-Il war kurz davor, seinem Mitfürsten mit einem Blick zu bedeuten, dass er solche Dinge vielleicht nicht zu laut sagen sollte, aber da senkte Lycram schon selbst die Stimme; wieder bis über beide Ohren grinsend:

„Was ist, wenn Menuét fremdgegangen ist und sich von jemand anderem hat schwängern lassen? Oh, das würde ich dem König gönnen! Das würde auch erklären, warum sie nicht mehr da ist und warum dieser komische Dämon sich in der Menschenwelt aufgehalten hat.“

„Kasra hätte ihn umgebracht, sobald er die Gelegenheit gehabt hätte“, antwortete Ri-Il nach wie vor angespannt, was Lycram zu irritieren schien. Mit einer fahrigen Bewegung griff er wieder nach seiner Flasche und nahm einen großen Zug; er ließ diese allerdings beinahe fallen, als er sah, dass Ri-Il sich aufrichtete.

„Ey! Wo...“

„Danke für den Sake, Lycilein! Ich muss einigen Dingen nachgehen; entschuldige mich daher bitte.“ Mit einer galanten Handbewegung setzte Ri-Il seinen Zylinder auf, grinste, wie Lycram es eigentlich von ihm gewohnt war, und mit einem Zwinkern und folgenden Worten verschwand er:

„Ich revanchiere mich das nächste Mal dafür ♥!“

Als Ri-Il dies sagte wurde Lycram rot – aber er wusste nicht warum. Es musste der Alkohol sein. Ja. Definitiv.

 

 

Nach dem Kampf war Nocturn klar geworden, dass er in etwas hineingeraten war, was größer war und nicht nur darum handelte, dass er White treffen durfte. Sein Verdacht war erregt worden, als er am Ende des Kampfes bemerkt hatte, dass man Youma mit einer verletzten Hand hatte kämpfen lassen. Natürlich hätte es auch dämonischer Stolz von Youmas Seite aus sein können, der ihn dazu gebracht hatte, trotz verletzter Hand zu kämpfen – aber er hatte in Paris noch versucht, Nocturn davon abzubringen, den Kampf an diesem Tag auszuführen. Das hätte er nicht getan, wenn er dem Kampf freiwillig zugestimmt hätte –trotz gebrochener Hand – er war also... gezwungen worden. Nocturn wusste nicht genug über die Dämonen, um beurteilen zu können, ob das normal war... aber das Lachen Kasras nach dem Kampf, als sie alleine waren… wie er Youma ausgelacht und beleidigt hatte und wie er Nocturn gelobt hatte... das hinterließ nicht nur einen bitteren Nachgeschmack, sondern machte Nocturn auch wütend. Für so eine Niederträchtigkeit, bei der er ohne es zu wissen mitgespielt hatte, wollte er nicht gelobt werden.

„Du hast hoffentlich nichts gesagt.“ Raria sah sehr ernst aus. Sie hatte ihren Haarknoten aufgelöst und saß nun mit herunter hängenden dunklen Haaren vor ihm am Küchentisch. Eine Ausgabe der Le Figaro lag auf dem Tisch, es roch nach Kaffee, von fern waren bereits die ersten morgendlichen Vögel zu hören. Aber die Sonne war noch nicht aufgestanden, weshalb das einzige Licht in der Küche die niedrige Deckenlampe war, die einen kreisrunden Lichtkegel auf dem Tisch entstehen ließ.

„Nein, habe ich nicht, obwohl ich es wollte. Ich wollte eigentlich sagen, dass wir den Kampf nochmal wiederholen sollten, sobald die Hand von diesem Youma wieder geheilt war – das wäre doch das einzig Faire?“ Raria antwortete nicht, aber sie lächelte kurz zufrieden über diese Antwort. Das sah Nocturn jedoch nicht, da sie ihr Gesicht halb durch ihre gefalteten Hände verbarg.

„Aber in dem Moment habe ich versucht, seine Gedanken zu lesen.“ Rarias Augen fixierten ihn eindringlich; eigentlich sollte sie ihn jetzt zurechtweisen, denn sie hatte ihm verboten, diese einzigartige Fähigkeit überhaupt zu benutzen. Aber stattdessen schwieg sie angespannt. Ihr Neffe schien dieses Gefühl zu teilen; seine weißen Hände klammerten die Tasse förmlich an sich:

„Ich konnte sie nicht lesen.“ Die Augen seiner Tante weiteten sich überrascht und völlig perplex über diese Aussage fielen ihre Arme geräuschlos auf den Tisch, aber sie sagte nichts; sie ließ Nocturn fortfahren:

„Ich habe es versucht, aber es war, als würde eine Wand mich blockieren. Vielleicht hätte ich es schaffen können, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte oder Körperkontakt... aber...“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe, wandte sich nun von seiner Tasse ab, hob den Kopf und sah Raria direkt an:

„Da war so viel Boshaftigkeit. So viel habe ich selten gespürt. So viel reine Boshaftigkeit... Boshaftigkeit, die nicht aus Trauer, Leid und Einsamkeit geboren ist... sondern aus der schieren Boshaftigkeit selbst. Wie ein Abgrund, in dem sich nur dieses Gefühl und dieser eine Drang befindet. Ich dachte nicht... dass das möglich ist.“ Kurz sah Nocturn wieder weg, schwieg, lauschte kurz dem fernen Zwitschern der Vögel, ehe er weitersprach:

„Es ist nicht so, dass ich mich deswegen nicht getraut habe, es zu sagen, es ist nur...“ Nocturns Tasse knackte, er klammerte sie zu fest an sich, aber er bemerkte das Geräusch gar nicht, denn die Schuldgefühle, die in ihm aufkamen, übertünchten alles.

 

„Ich habe uns in Gefahr gebracht, oder, Raria?“ Obwohl sie das Leid deutlich in seinen Augen ablesen konnte und sie Mitgefühl für ihn empfand, blieb sie dennoch hart:

„Ja, das hast du mit deiner egoistischen Unüberlegtheit.“ Schuldbewusst senkte er den Kopf, was Raria allerdings nicht zum Schweigen brachte:

„Aber wir verschwenden nur unsere Zeit, wenn wir darauf jetzt rumreiten – und wir haben nicht mehr viel davon. Jetzt zählt jede Sekunde.“ Mit einem entschlossenen Ruck richtete sie sich auf, schob den Stuhl wieder an den Tisch und ging zur Tür, wo sie das Licht ausschaltete; das Dämmerlicht war angebrochen und tauchte die Küche nun in ein dunkles Blau. Die Augen der beiden Dämonen leuchteten in dieser unheilschwangeren Atmosphäre, die eigentlich so friedlich war.

„Was hast du vor, Raria?“ Nocturn saß noch auf dem Stuhl, auf dessen Lehne sein Name eingeritzt war, sich zu ihr herum drehend und sie verwirrt ansehend. Raria antwortete nicht sofort. Sie sah ihn an, lange. Aber nicht nachdenklich, sondern... traurig. Aber gerade als Nocturn noch einmal fragen wollte, festigte sich ihr Blick.

„Das wird unser letztes Werk, Nocturn.“ Langsam, ein wenig zögerlich... und Nocturn wusste warum, denn solche Dinge waren für sie ungewohnt, aber sie tat es dennoch und beide sahen sich in die Augen, bewusst, welche Bedeutung hinter Rarias Hand lag, die sie auf seinen Kopf gelegt hatte, dort kurz verweilte, ehe sie sie an seine Wange legte. Sie lächelte eigenartig; eigenartig sehnsüchtig und traurig.

„Es ist Zeit, dass wir aufwachen.“

 

 

Den Schlaf der Gerechten nannte Youma momentan noch sein Eigen. Er lag auf seinem Bett, mehr begraben in Kissen als unter der leichten Decke, die auf den Boden gerutscht war und nur noch an seinem Fuß festhing. Seine linke Hand hing schlapp über der Bettkante, die andere war unter seinem Kopf, in seinen Haaren, vergraben. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Haare überaus zerzaust und unordentlich.

Er schlief tief und fest.

Aber darauf nahm Kasra natürlich keine Rücksicht.

Mit einem Knall wurde die Tür zu Youmas Zimmer aufgestoßen, aber nicht einmal das konnte Youma wecken. Er gab erst ein noch halb schlafendes Murren von sich, als Kasra sich zu ihm auf das Bett warf, das eine Bein über das andere geworfen.

„Youma! Aufstehen!“ Grinsend, wie ein kleines Kind, beugte er sich über Youma, der ihn immer noch nicht bemerkt hatte. Eine einzelne Strähne rutschte über seine Wange, als er seinen Kopf leicht bewegte – eben dieser sprang nun in die Höhe, als Kasra kurzerhand gegen seine linke Hand trat, um ihn zu wecken.

 

Die Schmerzen, die Youma dabei natürlich durch den Körper jagten, waren besser als jeder Wecker und sofort war der Halbdämon hellwach. Eine Entschuldigung gab es dafür natürlich nicht; Kasra grinste einfach nur, klopfte ihm auf das angewinkelte Knie und sprach:

„Auf geht’s, Youma! Es gibt viel für dich zu tun!“    

Il commence - Opus I

Nocturns Hand lag auf dem bronzefarbenen Geländer der Treppe; sie war ein wenig verkrampft, er spürte, er war noch nicht gänzlich bereit. Er hatte die Rolle zwar gelernt, das Drehbuch verinnerlicht, aber das Stück, was er zu spielen hatte, machte ihn dennoch nervös –  obwohl es bereits begonnen hatte.  

Mit einer fremdartigen Unruhe stand Nocturn wieder am Balkon des goldenen Eingangsbereiches seiner geliebten Oper, in der er so viel Zeit verbracht hatte. Er war dankbar für all diese Erlebnisse, für jeden Ton, den er hier hatte spielen dürfen. Er wusste nicht, ob er es jemals wieder tun würde. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was kommen würde, er wollte auch nicht darüber nachdenken. Er konnte es auch nicht. Das Spiel hatte begonnen und angespannt beobachtete Nocturn, wie Youma die Treppe empor gerannt kam.

Youma hatte ihn gesichtet, aber nichts gesagt; nur seine Schritte beschleunigt, als würde Nocturn im nächsten Moment verschwinden. Statt das zu tun, ging er ihm jedoch entgegen. 
 

„Guten Tag, Youma. Wie geht es deiner Hand?“ Youma reagierte nicht auf seine Frage; er funkelte ihn nur finster und ungeduldig an:

„Was geht hier vor?!“ Als Nocturn ihn nur fragend ansah, führte Youma aus:

„Der König hat mir gerade gesagt, dass du den Kampf wiederholen willst…“

„Das ist richtig.“

„... warum?!“

„Weil er nicht fair war. Du bist verletzt. Du bist eingeschränkt gewesen.“

„Das war doch der Sinn…“ Youma unterbrach sich selbst, wütend, dass es ihm überhaupt herausgerutscht war und die nach oben gezogenen Augenbrauen Nocturns gefielen ihm gar nicht. Um davon abzulenken fragte Youma:

„Wie hast du den König von deiner Idee überzeugen können?“ 

„Mit Höflichkeit und der Untergebenheit, die einem König gegenüber angebracht ist.“ Youma knirschte mit den Zähnen, aber das sah Nocturn nicht, denn er war an ihm vorbei gegangen und war auf dem Weg die Treppe herunter, langsam, die Hand auf dem Geländer.  

„Nach unserem Kampf habe ich ihn noch einmal aufgesucht und dem König meine Bitte unterbreitet, dass wir den Kampf noch einmal wiederholen.“ Youmas Augenbrauen hoben sich skeptisch:

„Gut, Gratulation, das ist dir geglückt. Das ist eine Sache. Was mich viel mehr wundert…“ Er drehte sich zu Nocturn herum, der beinahe auf der letzten Stufe angekommen war und ihn nun über die Schulter hinweg ansah:

„… der König berichtete mir, dass du trainieren möchtest, um seinen „Anforderungen“ und „Erwartungen“ gerecht zu werden, damit er dich in seine Horde aufnimmt?! Er hat dir sogar eine hohe Stellung versprochen!?“

„Das stimmt.“ 

„Kannst du mir mal erklären warum?! Ich dachte, du wolltest einfach nur White treffen; was hat das alles noch mit ihr zu tun?!“
 

Nocturn sah ihn kurz einen Moment lang schweigend an, dann drehte er sich auf der Treppe herum, um ihn nun gänzlich anzusehen, die Arme auf dem Rücken, ineinander verschränkt, womit er die Hand, die sich während seiner Antwort verkrampfte, verbarg.

„Während unseres Kampfes ist mir etwas bewusst geworden; dieses Leben hier, meine Karriere…das ist alles nur ein Teil einer Illusion, einer Traumwelt. Ich gehöre nicht hierher. Ich gehöre in die Welt der Dämonen und als Dämon gibt es doch keine größere Ehre als dem König zu dienen, nicht wahr?“ Nocturn achtete nicht darauf, dass Youma bei jedem Wort blasser und schockierter geworden war und rundete seine Worte mit einer Frage ab:

„Ist es nicht auch für dich eine Ehre?“ 

„Eine… Ehre?!“ Wie säuerlich, wie verbittert Youma dieses Wort voller Abscheu ausspie bemerkte nicht nur er selbst, aber Nocturn wankte nicht, auch als der Halbdämon ihn nun direkt anspie:

„Wie kannst du dein Leben hier aufgeben!? Du hast eine Familie, ein Zuhause! Hast du keine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst?!“ Diese Worte brachten Youma selbst zum Schweigen, denn er begann plötzlich, es zu verstehen; das Gefühl, das er immer hatte, wenn er Nocturn ansah, wenn er ihn reden hörte… eine Mischung aus Eifersucht und Sehnsucht nach dem, was er selbst verloren hatte. 

Und dass er es so einfach aufgeben wollte, machte ihn noch wütender.
 

„Wir können nicht vor unserem Blut davon rennen.“ 
 

Es war gut, dass die beiden Dämonen in diesem Moment nicht die Gesichter des jeweils anderen sahen. 
 

Kasra hatte Youma einen neuen Befehl gegeben; er solle Nocturn in seinem Bestreben, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden – was Kasra sehr theatralisch verkündet hatte – unterstützen. Was sei er doch für ein guter Sohn, obwohl er nicht einmal wisse, dass er sein Sohn war! So gut erzogen, daran könnten sich andere wirklich ein Beispiel nehmen… er sei doch nicht einmal ein so schlechter Kämpfer; Kasra hätte ihn auch unter den jetzigen Bedingungen bei sich aufgenommen… aber einen Jungen mit so einem Elan, mit so einem Talent, dürfte man jetzt doch nicht bremsen! 
 

Im Stab des Königs befanden sich natürlich viele Dämonen, die für das Trainieren und Ausbilden der Jungdämonen zuständig waren, aber anstatt ihnen diese Aufgabe anzuvertrauen, hatte Kasra den Vorschlag seines Sohnes angenommen, dass dieser in der Menschenwelt trainieren wollte. Nocturn hatte ihm erklärt, dass er ihn überraschen wolle, aber Nocturns eigene Intentionen waren Kasra in diesem Fall ziemlich egal; er selbst hielt es aus gänzlich anderen Gründen für eine gute Idee, wenn Nocturn nicht in Lerenien-Sei trainieren würde… Ri-Il hatte seine Nase einfach überall und Kasra vertraute nicht darauf, dass die Ausbildung seines Sohnes lange geheim bleiben würde, wenn man ihn in der Dämonenwelt trainieren würde. 
 

„Wenn mir die Frage erlaubt ist, Hoheit… warum setzt Ihr nicht einen Lehrmeister für Nocturn ab, der ihn in der Menschenwelt trainiert?“ 

„Hast du mir etwa nicht zugehört, Youma!? Er will seinen Vater überraschen und hat mir versichert, dass er keinen Lehrmeister braucht; also lassen wir ihn mal! Aber eine Absicherung muss sein, und damit ich die Gewissheit habe, dass er auch wirklich trainiert…“ Er grinste Youma feixend an, seine gute Laune war sehr deutlich zu erkennen; man spürte sie förmlich:

„… wirst du sein Training observieren und dafür sorgen, dass…“ Er lachte, fast so als müsste er sich selbst noch weiter erheitern:

„… mein Sohn keine Faxen macht, haha! Du bist momentan doch sowieso ein Krüppel; da ist so eine entspannende Mission doch genau das richtige für dich? Wer weiß!“ Er klopfte – oder eher schlug – Youma mit der flachen Hand auf den Rücken und fuhr lachend fort:

„Vielleicht hast du dann ja in eurem zweiten Kampf eine größere Chance, haha!“ 
 

Youma kochte vor Wut, wenn er nur daran dachte! Ja, vielleicht hätte er ja eine größere Chance – allein schon, weil seine Hand dann verheilt sein würde?! 

Jetzt hatte er also die Mission, den Babysitter zu spielen. Aber gut, auch wenn ihn das ärgerte und er wirklich nicht mehr Zeit mit Nocturn verbringen wollte als nötig, so sollte er versuchen, das Positive daran zu sehen; es war immer ein großer Vorteil, nicht in Kasras Nähe zu sein. Und dazu kam, dass die Mission an sich ja auch keine Schwere war; einfach nur observieren und sichergehen, dass Nocturn seine Versprechungen hielt, denn natürlich brauchte Kasra eine Absicherung, ganz gleich wie sehr er sich über den Enthusiasmus seines Sohnes freute. Kasra war eine skeptische Person; er vertraute niemandem. Vielleicht vertraute er nur Youma… weil er wusste, dass er auf ihn angewiesen war. 
 

Nocturn schien sofort beginnen zu wollen. Er hatte Youma am Arm gepackt und ihn ohne Vorwarnung an einen anderen Ort gebracht, womit sich der Halbdämon plötzlich in einem Wald wiederfand. Es war warm, obwohl sie im Schatten standen; etwas weiter entfernt hörte er Stimmen von Menschen. Die beiden Dämonen standen auf einem Pfad, der sich durch den Wald nach oben schlängelte und direkt zu einem großen, dunklen Haus führte, im welchem Nocturn die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte.
 

Raria stand am Fenster des ersten Stocks; ihre eigentlich immer skeptisch aussehenden Augen lagen auf Youma, der Nocturn den Pfad hinauf folgte und ebenfalls einen skeptischen Eindruck machte; er hatte ihren Blick nicht bemerkt, anders als ihr Neffe, der kurz zu ihr hochsah, aber keine Anzeichen auf Verunsicherung in seinem Gesicht. Gut. 

Die Dämonin lauschte dem sachten Gurgeln der Gießkanne, als das Wasser aus dieser hinauslief und die Erde der Hortensie nässte. Auch sie fragte sich, wo das alles hinführen würde; etwas, was ihr absolut nicht gefiel, denn sie war keine Person, die sich auf Ungenauigkeiten verließ. Sie war eine Planerin und mit dieser Charaktereigenschaft war es ihr nicht nur gelungen, sich eine Existenz in der Menschenwelt aufzubauen, sondern auch versteckt zu bleiben. Es war viel Arbeit gewesen. Viele Jahre bevor sie der Dämonenwelt endgültig den Rücken zugekehrt hatte, hatte sie bereits begonnen, Geld zu sammeln; überall in der Welt der Menschen hatte sie sich bei jeder freien Gelegenheit Geld zusammengestohlen. Sie hatte immer ein großes Interesse für die Menschenwelt gehabt und anders als viele ihrer Mitdämonen hatte sie das finanzielle System verstanden; für sie waren es nicht einfach nur „Goldmünzen“ oder „Zettel“; sie verstand was eine Währung war und wusste im Gegensatz zu anderen Dämonen, dass die „Zettel“ mehr Wert hatten als die Münzen. Sie war geduldig gewesen, niemals hatte sie den Bogen überspannt, hatte sich ihren Mitdämonen gegenüber nie etwas anmerken lassen und ihr gesammeltes Geld stets in Dollar umgetauscht, ohne es irgendwie anzurühren oder ihre eigentliche Aufgabe als Lehrmeisterin zu vernachlässigen, bis sie sich dann per Zufall in das Haus verliebt hatte, in welchem sie auch jetzt noch wohnte. Sie hatte immer von einem solchen Haus geträumt; ein Haus, wie es die Menschen hatten, ein Haus mit vielen, verschiedenen Zimmern, mit Treppen, nicht mit Schächten, in denen man hochfliegen musste, mit zwei Badezimmern, mit Fenstern, aus denen man hinausgucken konnte und die einem nicht die Sicht versperrten. Mit einem Garten, mit Grün, mit dem Rauschen des Meeres. Mit Wasserhähnen, aus denen Wasser floss; Wasser, das man trinken konnte, was die Badewanne füllte, für welches man kein König sein musste, um es mit Duftöl zu versetzen; Wasser, wofür man nicht betteln oder töten musste. 
 

Das Auditorium war das Herzstück des Hauses. Es war früher eigentlich das Esszimmer gewesen, aber Raria hatte es zum Musikraum umfunktionieren lassen: es war der schönste Raum, mit großen Fenstern, die keine Vorhänge besaßen, weil nichts die Aussicht auf das Meer stören durfte. Das Meer und die Musik – das waren die Schätze, die Raria in der Menschenwelt gefunden hatte und die sie behütete und liebte. 
 

Das Haus hatte fast ihre gesamten Ersparnisse verbraucht und sobald sie das Haus und damit einen Wohnsitz besaß, musste sie lernen, sich anzupassen. Sie war immer sehr gut darin gewesen; aber es war etwas anderes, sich vorübergehend für eine Mission anzupassen, als die Fassade dauerhaft aufrechtzuerhalten. Das Dorf, in dem sie lebte, war klein, in sich gekehrt und ruhig; es gab hier nicht einmal einen Supermarkt. Nur Landwirtschaft und niedrige Häuser mit Blick aufs Meer. Umso wichtiger war es gewesen, nicht aufzufallen. Es war schwer gewesen, sich anzugewöhnen immer Kontaktlinsen zu tragen, sich beizubringen, dass sie diese vor ihre rote Iris schieben musste, sobald sie das Bett verließ. Am Anfang hatte sie es nur getan, wenn sie das Haus verließ, bis sie herausgefunden hatte, dass Menschen einen Begriff besaßen, der sich „Nachbar“ nannte und dass dieser etwas anderes bedeutete als „Gebietsnachbar“ – Essen vorbeibringen, einfach auftauchen, um zu fragen, wie es einem ging, Zucker für den Sonntagskuchen zu leihen…. all das gehörte zu diesem eigenartigen Begriff. 

„Wie ein Mensch zu sein“ war wahrscheinlich die größte Herausforderung ihres Lebens gewesen. Sie hatte sich vielen Problemen stellen müssen, von ökonomischen bis hin zu den sozialen, doch sie hatte sie gemeistert. Sie war immer zurückhaltend gewesen – nur in Instrumente investierte sie Geld – vielleicht auch geizig, geduldig hatte sie das Geld beiseitegelegt, ihm beim Wachsen zugeguckt und konnte jetzt behaupten, dass sie vermögend war. Aber wichtiger als das; sie war in die Dorfgemeinschaft integriert. 

 

Sie hätte allen Grund, Nocturn für seine Unüberlegtheit Vorwürfe zu machen. Er brachte all das, was sie erarbeitet hatte, in Gefahr. 

Aber sie tat es nicht.
 

Dafür liebte sie ihn zu sehr. 

Il commence - Opus II

Opus Magnum
 
Il commence - Opus II
 

 

„Guten Tag.“

Misstrauisch lagen die Augen Youmas auf der Frau vor ihm im Eingangsbereich des großen Hauses; misstrauisch, aber auch verblüfft. Er musste zugeben, dass er sich Raria anders vorgestellt hatte... älter. Um einiges älter. Er wusste es nicht, er hatte nicht zu viele Gedanken an sie verschwendet. Aber obwohl er sich was das Alter anging verschätzt hatte, hatte er ansonsten mit seiner Einschätzung ganz richtig gelegen; sie sah sehr streng aus. Das strahlten nicht nur ihre braunen Augen aus, die Youma genauso streng musterten wie umgekehrt, sondern auch ihr nach oben gesetztes schwarzes Haar; ihr formelles, figurbetontes, aber schlichtes, braunes Kleid und nicht zuletzt ihre Haltung. In ihrer Haltung lag Würde und Selbstachtung. Sie übernahm auch sofort die Führung des Gespräches:

„Dank Nocturn weiß ich, wer du bist und ich denke, du weißt auch, wer ich bin.“ Youma deutete ein Nicken an:

„Ja, ich nehme an, dass sie Raria-san sind.“ Sie nickte ebenfalls auf eine sehr ruhige Art, die ihr Haar kaum in Bewegung brachte.

„Nur verstehe ich nicht, was wir hier tun...“, fuhr Youma fort, einen Seitenblick zu Nocturn werfend, der sich in aller Alltäglichkeit Schuhe und Mantel auszog und in die Garderobe hängte. Der Halbdämon machte keine Anstalten, es ebenfalls zu tun; auf der einen Seite war er zu verwirrt und zu skeptisch den aktuellen Begebenheiten gegenüber und auf der anderen wollte er sich hier nicht allzu häuslich niederlassen. Er war immerhin Observator, kein Teilnehmer... was auch immer die beiden vorhatten.

„Nun, wir bereiten dem König die versprochene freudige Überraschung“, erwiderte Raria, ohne dabei irgendwie „erfreut“ auszusehen; sie verzog absolut keine Miene, behielt ihre strengen Gesichtszüge aufrecht. Ob sie immer so war - oder war sie einfach nur skeptisch wegen Youmas Anwesenheit?

 

Youma hatte nicht das Gefühl, dass es angenehm war, länger mit ihr zusammen zu sein... eigenartig, dass Nocturn so einen sorglosen und kindischen Eindruck machte, wenn er mit so jemandem zusammen gelebt hatte.

„Aber zuerst werden wir frühstücken. Nocturn, sei so lieb und setz den Kaffee auf. Youma, trinkst du Kaffee?“ Der Angesprochene war für einen Moment zu perplex, um zu reagieren und achtete auch nicht sonderlich darauf, wie Nocturn an ihm vorbei huschte, um in die Küche zu gelangen. Daher kam also der angenehme Geruch, der sich schon beim Betreten des Hauses in Youmas Nase geschlichen hatte; er hatte ihn verdrängen wollen, aber er war sehr... aufdringlich. Es war lange her, dass Youma ein Frühstück gehabt hatte. Es war nicht so, dass Kasra ihn hungern ließ, aber viel Nahrung bekam Youma deswegen trotzdem nicht. Er bekam sie sporadisch und auch in sehr unterschiedlichen Mengen, je nachdem wie gut Kasras Stimmung war. Manchmal nahm er ihn mit zu sich an den Tisch, wo Youma sich dann bedienen durfte; aber auch da musste man aufpassen. Es konnte nämlich sein, dass Kasra es dann doch plötzlich als zu frech empfand, dass sein „Fußvolk“ sich an seinem Essen „labte“ und er einem dann den Teller unter der Gabel wegriss. Natürlich, alles Teil seines Spiels, besonders gerne angewandt in Kombination mit einer langen Durststrecke davor. Aber Youma war da nicht der einzige; er tat es mit jedem, der auf ihn angewiesen war. Mit seinen Frauen, mit seinem Personal. Mit jedem. Sie waren alle seine Spielzeuge, seinem Sadismus dienlich…  

 

Trotzdem wollte Youma sich nicht zu ihnen an den Küchentisch setzen. Er verstand nicht, warum sie in dieser Situation überhaupt an solche Dinge denken konnten, aber das war ihre Sache. Youma war gespannt auf Kasras Blick, wenn er ihm erzählte, dass das erste, was sie getan hatten, daraus bestand, erst einmal ausgiebig zu frühstücken…

Youma würde einfach im Hausflur bleiben und darauf warten, dass sie fertig gegessen hatten, aber obwohl Nocturn bereits in der Küche verschwunden war, bewegte Raria sich nicht – und ihr Blick lag auch immer noch auf Youma.

 

„Du hast sicherlich lange nichts mehr gegessen.“ Youma antwortete nicht. Ihr Blick wurde eindringlicher, als wollte sie in das Tiefste seiner Seele blicken. Er musste zugeben, dass er sich wirklich bemühen musste, ihrem Blick standzuhalten, denn er hatte tatsächlich das Gefühl, dass es ihr gelingen würde.

Und dann lächelte sie plötzlich; kein besonders deutliches Lächeln, nur ein kleines Zucken ihrer Mundwinkel, aber doch wurden ihre Augen kurz erwärmt:

„Wenn du schweigst, schweige ich auch.“

 

Dann drehte sie sich um und verschwand in die Küche. Verdattert und verwirrt blieb Youma stehen, auf die lebhafte Stimme Nocturns und den angenehmen Geruch des Kaffees nicht achtend. Was hatte sie damit gemeint? Wie sollte er diese Aussage verstehen? Er war verwirrt, gänzlich verwirrt – aber ganz automatisch wanderte seine Hand zu dem Knopf, der seinen Umhang zusammen hielt und schon hing der Umhang an der Garderobe und die Stiefel darunter.

 

 

Was war es für ein Genuss, ein richtiges Frühstück zu essen! Wie lange war es her, dass er auch nur in die Nähe eines Eies gekommen war – und Orangensaft! Er hatte ganz vergessen, dass es Säfte gab... im Schloss seines Königs sah er immer nur Wasser und Alkohol, aber nie Säfte und er... ja, er hatte Säfte immer geliebt. Allgemein Früchte. Oh, wie lange war es her, dass er einen Apfel vom Baum gepflückt hatte, um ihn zu essen... Youma befahl sich selbst, standhaft zu bleiben und nicht in Erinnerungen zu schwelgen. Aber seine Erinnerungen gehorchten ihm nicht, ließen Bilder einer vergangenen, glücklicheren Zeit vor seinem inneren Auge auftauchen; die Ernte im Herbst, das frische Obst, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Silence in die Baumkronen hinauffliegen, um die dort hängenden Äpfel herunter zu holen, im Glauben, dass die höchsten Äpfel die besten waren... es war so lange her.

 

Ach… Silence. Wie sehr er sie vermisste. Wie selten er an sie zurückdachte, zurückdenken wollte, weil ihn dann seine Einsamkeit zu zerreißen drohte… Seine geliebte Zwillingsschwester. Wie sehr vermisste er nicht ihre Stärke, ihren Halt! Ihr Lächeln, ihre manchmal harten Worte… einfach ihr Dasein. Er trug nicht einmal mehr den Ring, der ihren Bund bezeugte, aus Angst davor, in Kasra irgendwelche Gedankenstöße zu wecken, die ihn dazu bringen könnten, ihm das goldene Schmuckstück zu entreißen, einfach weil es ihm wichtig war. Aber die Ohrringe, die sie sich einst gegenseitig geschenkt hatten… die schwarzen, von seinen Ohren herunter hängende Prismen – die trug er. Sie waren zu sehr ein Teil von ihm.

 

Eigentlich schmerzte der Gedanke an Silence ihn immer, aber in diesem Moment dachte er mit einem Lächeln an sie, sich auf deren gemeinsame Erinnerungen besinnend, die nicht von Blut und Grauen und Verrat befleckt waren. Ja… an Blut… und… Verrat… wollte er nicht mehr denken. Er pflegte schon zu oft davon zu träumen.    

 

Nachdem Youma das Glas mit Orangensaft in schweigsamer Euphorie ausgetrunken hatte und daraufhin gleich das nächste Glas mit Apfelsaft gefüllt hatte, bemerkten auch Raria und Nocturn, dass Youma offensichtlich eine Vorliebe für Säfte hatte; seinen Kaffee hatte er gänzlich unberührt gelassen.

„In der Vorratskammer haben wir auch noch Kirschsaft; wenn du möchtest, hole ich ihn dir hoch?“, fragte Nocturn recht überrascht, Youma plötzlich so strahlend zu sehen, dessen Strahlen nach Nocturns Worten sogar noch größer wurde.

„Wirklich!? Oh, das wäre wirklich ganz...“ Aber kaum, dass er den Mund geöffnet hatte und seine eigenen Ohren realisiert hatten, wie erfreut er klang, kehrte er prompt zu seinem ernsten Selbst zurück, sogar ein wenig beschämt. Was tat er hier eigentlich? Es war nur Saft. Das war kein Grund, sich so kindisch zu benehmen und sowieso... er sollte sich nicht zu sehr daran gewöhnen, immerhin war es ihm nicht möglich, im Schloss an Saft zu gelangen. Für einen kurzen Augenblick stellte er sich vor, wie Kasra reagieren würde, wenn Youma ihn einfach fragen würde; würde er ihn auslachen oder ihn irgendwie erpressen?

 

„Bist du dir sicher?“, bohrte Nocturn nach, mit einem großen Grinsen; scheinbar gefiel es ihm sehr gut, dass Youma sich für irgendetwas schämte, aber so leicht ließ dieser sich nicht aus der Reserve locken:

„Ja, ich bin mir sicher.“ Aber Nocturn war auch nicht leicht abzuschütteln:

„Das ist wirklich absolut kein Problem; wir haben auch noch ganz viele andere Sorten, weißt du?“

„Danke vielmals, aber ich...“

„Wir haben auch noch Traubensaft, Ananas...“

„Traubensaft? Oh, den mag ich so ger – trotzdem, nein. Nein, danke.“

„Ah, ich glaube dir kein Wort! Ich...“

Nocturn.“

 

Ein Wort aus Rarias Munde hatte genügt, um Nocturn zum Schweigen zu bringen. Das Grinsen war verschwunden und schuldbewusst wandte er sich wieder seinem Schokoladencroissant zu, wie ein kleines Kind, das zurechtgewiesen worden war. Raria hatte ihn wirklich unter Kontrolle; sie hatte es nicht einmal sonderlich wütend oder genervt gesagt; nicht einmal aufgesehen hatte sie dafür. Aber obwohl sie ihn zurechtgewiesen hatte, warf Nocturn Youma dennoch ein verstohlenes Grinsen zu und schob den Apfelsaft näher an ihn heran, was der Halbdämon aber strikt ignorierte.

 

Raria setzte Nocturns Spielereien endgültig ein Ende, als sie begann, über das bevorstehende Training zu sprechen.

„Wir werden uns erst einmal den allgemeinen Kampftechniken zuwenden“, begann sie, Messer und Gabel ordentlich auf den Teller legend.

„Das Training wird hier im Wald stattfinden, was natürlich bedeutet, dass es bei diesem Training nicht um Magie geht und die natürlich nicht eingesetzt werden darf.“ Nocturn nickte einfach nur, ohne Fragen zu stellen, was Youma wunderte; er hatte schon ziemlich viele und das obwohl es dabei nicht einmal um ihn und sein Training ging; Nocturn dagegen akzeptierte Rarias Entscheidungen einfach nur.

„Erst einmal werden wir uns den grundlegenden Dingen zuwenden. Nocturn, du achtest mit deinem Gedankenlesen während des Trainings bitte auch auf deine Umgebung; nicht dass uns doch plötzlich einer unserer Nachbarn überrascht.“

„Gedankenlesen?!“ Youma verschluckte sich, hustete und wandte sich dann an Nocturn, der ihn fragend ansah, scheinbar konnte er nicht verstehen, warum er so aufgeregt war:

Gedankenlesen?! Du kannst Gedanken lesen?!“ Ab und zu hatte Youma Erzählungen darüber gehört, dass es Wesen geben sollte, die dieser einzigartigen Fähigkeit mächtig waren, aber er hatte es immer angezweifelt. Und wenn es diese Wesen gab, dann mussten sie sehr mächtig sein… und hier saß ein Dämon, der das Leben eines Menschen lebte und konnte Gedanken lesen?! Nocturn?!

„Keine Sorge“, antwortete Nocturn, seinen Kaffee trinkend:

„Ich mache das normalerweise nicht. Ich habe gelernt, es auszuschalten. Zugeben, ich habe versucht, deine zu lesen…“ Youma wurde mit einem Mal so blass, dass er Rarias zusammengekniffene Augen nicht sah, die Nocturn sofort sagten, dass sie das nicht begrüßte; sie hatte es ihm nicht umsonst verboten. Aber in Anbetracht dessen, dass Youma kein Mensch, sondern ein Dämon und damit eine potentielle Gefahrenquelle war, ließ sie es durchgehen.

„… aber es hat nicht funktioniert. Wir scheinen gleichstark zu sein, hehe!“ Jetzt wanderte Rarias skeptischer Blick zu Youma, der sich von dieser erschreckenden Neuigkeit erst einmal erholen musste, ehe er sich Raria zuwandte und zum eigentlichen Thema zurückfand:

„Warum findet das Training denn nicht einfach an einem anderen Ort statt? Hier in der Menschenwelt gibt es doch sicherlich auch abgelegene Orte.“ Nocturn sah ihn verblüfft an, als würde er sich wundern, dass Youma überhaupt auf den Gedanken kam, Rarias Entschlüsse zu hinterfragen; sie dagegen schien es nicht zu stören:

„Nun, da es in diesem Training erst einmal nur um eure Grundausbildung geht, halte ich einen Ortswechsel nicht für nötig.“ Gut, wenn es heute nur um die Grundausbildung ging, dann... warte.

„... eure?“ Raria sah nun auf:

„Aber natürlich. Nocturn benötigt einen Trainingspartner und dieser werde nicht ich sein. Ich kämpfe nicht.“ Youma versuchte, dieser Aussage mit einem ruhigen Lächeln zu erwidern, aber es gelang ihm nicht gänzlich:

„Natürlich ist Trainieren einfacher mit einem Partner, aber ich bin nur hier als Observator und Berichterstatter für den König.“

„So?“ Raria klang gleichgültig, als sie dies sagte:

„Ich dachte eigentlich, kein Dämon wäre Training abgeneigt; besonders wenn man Botschafter des Königs ist?“ Youmas Antwort folgte zu schnell, zu gedankenlos und zu emotional:

„Der König würde es nicht erlauben, dass ich...“ Die beiden Dämonen sahen ihn fragend und skeptisch an, worauf Youma versuchte nicht zu achten, denn es war ihm peinlich, dass ihm das herausgerutscht war. Aber... Raria hatte eigentlich recht. Alle Dämonen trainierten viel; auch Kasra vergaß nie das Training und es sollte auch für Youma normal sein... Wenn er so genauer darüber nachdachte, so hatte Kasra es ihm eigentlich nie direkt verboten; er hatte nur... jegliche Möglichkeiten blockiert, in denen Youma etwas hätte lernen können. Vielleicht war das jetzt die Chance? Viel konnte er sich wahrscheinlich nicht erhoffen zu lernen, aber alles war besser als nichts... und er musste es Kasra ja nicht erzählen. So konnte er ihn vielleicht beim nächsten Kampf wenigstens ein wenig überraschen. Ihn zur Abwechslung mal überrascht zu sehen... ja, das wäre ein Genuss.

 

Raria hatte ihm angesehen, dass er seine Meinung geändert hatte, weshalb sie das Thema für abgeschlossen hielt; statt also weiter darüber zu sprechen, beorderte sie Nocturn dazu, die Küche aufzuräumen, während sie Youma den Befehl gab, ihr zu folgen. Ein wenig unsicher warf Youma Nocturn einen Blick zu, doch dieser bemerkte es nicht, da er dabei war, summend die Teller zu stapeln, genau wie Raria es ihm aufgetragen hatte.

In diesem Haus war sie scheinbar die Königin.

„Warte hier einen Moment“, befahl sie und zeigte in die Stube; noch bevor Youma etwas sagen konnte, war sie die Treppe hinauf gestiegen.

 

Aus der Küche drang Geklapper und das Geräusch des fließenden Wassers zu ihm, aber der Gedanke, dass er Nocturn ja helfen könne mit dem Abwasch bis Raria zurückkam, streifte ihn nicht. Stattdessen sah er sich neugierig in der Stube um: ein großer Raum, dessen eine Seite komplett von Bücherregalen eingenommen wurde. Youma konnte die Buchrücken natürlich nicht lesen, aber er schätzte einfach, dass sie alle um Musik handelten, so wie die Gemälde es auch taten. Links und rechts neben der großen Öffnung in der Wand, die vom Gang direkt in die Stube führte, hingen zwei Gemälde von Musikern: rechts ein Geigenspieler, links ein Mensch, der Cello spielte. Die Stube wirkte dank ihrer dunkelroten Verkleidung und dem dunklen Parkett nicht gerade einladend, sondern eher düster, vermittelte einem aber den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung; nichts Überflüssiges lag herum, nichts wirkte irgendwie deplatziert. Die Kissen auf den doch recht gemütlich aussehenden Sofas wirkten sehr steif und es waren schwere Vorhänge vor den hohen Fenstern angebracht, die sicherlich in der Lage waren, sämtliches Licht auszusperren. Um der Düsterkeit des Raumes entgegenzuwirken, waren sehr viele kleine Tischlampen aufgestellt; alle ähnlich vom Stil her, mit olivgrünen Schirmen aus Glas; auch über dem massiven, langen Esstisch zu Youmas Rechten hingen diese Lampen aus grünem Glas.

Alles in allem ein Raum... der vielleicht ein wenig düster wirkte, aber doch sicherlich ein Raum war, in dem man sich länger aufhalten mochte, besonders wenn die Lampen entzündet waren.

 

„Setz dich.“

Youma erschrak, als er Rarias ruhige Stimme neben sich hörte; wie lange war sie schon da gewesen? Aber lange stellte er sich diese Frage nicht, denn er wurde abgelenkt von dem kleinen Kästchen, welchen sie in ihrer Hand hielt und auf dessen Deckel ein kleines, türkises Kreuz war.  

 

Sie erklärte es ihm nicht, aber sobald sie sich an den Esstisch setzten – die Stühle waren überraschend bequem – verstand Youma, dass es sich bei dem Kästchen um einen Verbandskasten handelte – und dass es ihre Absicht war, ihn zu verarzten, wurde ihm auch schnell bewusst, als Raria mit ihren Augen auf seine Hand deutete. Dennoch überreichte er ihr diese nicht; es war wirklich freundlich von ihr, dass sie ihm Verband anlegen wollte, aber er wollte es lieber selbst tun... aber sie kam ihm zuvor:

„Gib mir bitte deine Hand; es wird die Heilung beschleunigen, wenn Verband darum gelegt wird und es ist umständlich, es alleine zu tun. Außerdem habe ich Erfahrung damit.“ Youma zögerte, doch nach einem kurzen Schweigen legte er seine gebrochene Hand vorsichtig in ihre. Raria hatte sehr kleine Finger, bemerkte er dabei; ganz anders als Nocturns. Aber ihre Finger waren kalt, was er in diesem Moment als sehr angenehm auffasste; ihre kühlen Finger linderten den Schmerz.

 

Sie beherrschte ihr Handwerk tatsächlich; zehn Minuten später befand sich Youmas Hand in einem gut angelegten Verband. Er konnte regelrecht spüren, wie ihm seine Regenerationsfähigkeiten für diese Hilfe dankten. Sie hatten bereits gute Arbeit geleistet; die Schürfwunden an seiner Stirn waren verschwunden, genau wie die Kratzspuren Nocturns – aber eine gebrochene Hand und fünf gebrochene Finger waren ein anderer Härtegrad.    

 

„Vielen Dank, Raria-sa-“ Doch beide wurden überrascht und fuhren erschrocken zusammen, als ein lautes Krachen aus der Küche durch das Haus fegte.

Oh mon dieu! Desolé, desolé, Rar-“, ertönte Nocturns aufgeregte Stimme, kaum dass das Krachen verklungen war, aber schnell wurde er unterbrochen; abrupt sprang Raria auf die Füße und auch sie brach in Französisch aus:

Nocturn! Ne me dit pas que c'était la chère, porcelaine danoise, ce que tu as là juste ruiné?!“ Und schon war sie in die Küche gerannt, wo Youma Nocturn weiterhin sich entschuldigen hörte; jedenfalls deutete er das vom Tonfall her. Irgendwie... Youma wusste nicht, warum... aber er spürte, wie ein leichtes Schmunzeln über seine Lippen huschte.

Aber es verschwand schnell, als er seine nun weiße Hand ansah.

 

Warum wollte Nocturn das bloß aufgeben?    

 

 

Raria war ohne Zweifel eine erbarmungslose Lehrmeisterin; angsteinflößend gar. Langsam verstand Youma, warum Nocturn um alles in der Welt vermeiden wollte, sie wütend zu machen... es war sicherlich keine gute Idee, das zu tun. Nein, sicherlich nicht.

„Nocturn, was soll das?! Das waren drei Lücken in nur zwei Minuten!“ Wie ein beobachtendes Tier zog sie langsam und beobachtend ihre Kreise um die beiden Dämonen, die im Nahkampf vertieft waren. Sie befanden sich am Fuße der hohen Steilklippen, auf einem dünnen, steinigen Stück Strand, innerhalb eines Kreises, der einen fünf Meter Radius beschrieb. Die Aufgabe bestand darin, nicht aus dem Kreis heraus zu kommen; weder durch eigene Ungeschicklichkeit noch durch den Gegner.

„Und, Youma! Ich hätte gedacht, du wärst intelligenter als Nocturn-“

Qua?!“

„- Und in der Lage, seine Lücken zu durchschauen! Er hat dir wirklich lange genug seine Angriffsfläche offenbart!“ Nocturn grummelte eingeschnappt, war aber dennoch in der Lage, Youmas Schlag mit der Rechten mittels eines Rückwärtssaltos auszuweichen. Rarias Reaktion folgte sofort:

„Wenn du glaubst, mich oder deinen Gegner mit solchen Spielereien beeindrucken zu können, Nocturn, dann liegst du falsch!“ Obendrein war der nun wirklich sehr beleidigt aussehende Nocturn – er wollte wahrscheinlich wirklich gelobt werden – durch seinen Salto ziemlich nah an den Rand gekommen, wie Youma auffiel.

„Aber, Raria! Wenn ich kämpfen und Gedankenlesen gleichzeitig machen muss, dann bin ich natürlich abgelenkt...“ Raria ließ da natürlich überhaupt nicht mit sich reden:

„Junge, du musst immer auf die Umgebung achten! Immer!“  

„J-Junge!? Du... du hast mich schon lange nicht mehr...“ Genau in dem Moment traf ihn Youmas Bein seitlich und Nocturn verlor den Boden unter den Füßen:

„Wenn du ins Meer stürzt, wirst du deine Kleidung selbst waschen, Junge.“ Ob es nun die Unlust war, seine Kleidung selbst zu waschen oder einfach nur Können, so fing Nocturn sich auf jeden Fall noch selbst ab, ehe er in die Wellen stürzte.

„Der erste Kampf geht offensichtlich an Youm-“ Ohne auf Rarias Worte zu achten, oder vielleicht ignorierte er diese auch willentlich, schoss Nocturn ohne Vorwarnung und mit ausgefahrenen Fingernägeln wieder auf Youma zu; dieser machte sich bereit zum Ausweichen, Nocturns Blick genauso kampfeswillig erwidernd, aber es kam anders:

„Nocturn!“

Und ein weiteres Mal hatte ihre Stimme dieselbe Wirkung auf ihn wie beim Frühstückstisch; er verharrte sofort. Trotz zeigte sich aber dennoch in seinem Gesicht und eingeschnappt sah er zu ihr herüber, während er auf dem Sand landete.

„Ich habe den Kampf beendet und wenn ich den Kampf beendet habe, dann ist er auch beendet, verstanden?! Gefühlsausbrüche kannst du dir für die Musik aufbewahren, aber in den Kampf gehören solche Ausbrüche nicht hin!“ Dieses Mal schien Nocturn nicht willig zu sein, ihre Worte einfach so einzustecken. Mit anklagendem Finger zeigte er auf Youma, der seine Arme über der Brust verschränkt hatte und dem Ganzen aufmerksam folgte:

„Warum kritisierst du nur mich!? Er hat doch auch Fehler gemacht!“

„Und meine Kritik sofort umgesetzt, indem er deine Lücken ausgenutzt hat. Youma hat alles richtig gemacht. Also muss ich ihn nicht kritisieren.“ Nocturn wollte scheinbar noch etwas erwidern, aber schien dann zu bemerken, dass er dazu kaum etwas sagen konnte, weshalb er einfach weiterhin schmollte, aber nicht ohne Youma einen finsteren Blick zuzuwerfen, was Youma mit einem neckenden Grinsen erwiderte. War da etwa jemand eifersüchtig?

„So, weiter geht es mit der zweiten Runde – Nocturn, achte auf deine Lücken!“

 

 

Youma spürte jeden einzelnen seiner Knochen; wie erbarmungslos Raria gewesen war! Ob das Nocturn auch so ging - oder war es einfach nur er, der keine Ausdauer besaß und nun dank mangelnder Übung deutlich spürte, dass er am nächsten Morgen mit Muskelkater aufwachen würde; und dann musste er auch noch so früh aufstehen...

Er war jetzt schon erschlagen.

„Aber geschlaucht auf eine gute Art, oder, Youma-kun?“ Youma war kurz überrascht, die Stimme seines göttlichen Gönners zu hören; er hatte sie lange nicht mehr gehört und er spürte sogar kurz eine leichte Freude in sich aufflammen darüber, ihn wieder zu hören. Aber auch dieses Mal kehrte er schnell zu seinem ernsten Ich zurück:

„Das wird sich morgen herausstellen.“ Dann klopfte er an die Tür, die ihn von Kasra trennte; die Tür, die zu seinem Privatbadezimmer führte. Er hatte natürlich nicht vor, den Raum zu betreten, aber er wollte seine Rückkehr anmelden, damit er das unvermeidliche Gespräch mit seinem König schnell hinter sich bringen konnte; er wollte so schnell wie möglich ins Bett.

 

Die schwere Tür öffnete sich einen Spalt breit und zusammen mit heißem Dampf steckte ein pinkhaariges Dämonenmädchen ihren Kopf heraus, Youma ängstlich ansehend, aber auch mit einer Spur Hoffnung, was Youma nicht gerade ein gutes Gefühl gab – was hatte Kasra jetzt schon wieder getan?  

„Ja... Sie wünschen?“  

„Ich wollte nur ankündigen, dass ich...“

„Youma!?“ Oh nein, dachte er, oh nein, nicht aus einem bestimmten Grund, sondern einfach aus Erfahrung.

„Mädel, steht nicht im Weg rum! Youma sieht zwar aus wie eine Frau, ist aber ein Mann – lass ihn reinkommen!“ Das Mädchen und Youma warfen sich vielsagende Blicke zu; sie kannten sich nicht, aber sie waren im Einverständnis miteinander, denn sie waren beide im selben Boot. Youma hatte wirklich keine Lust, das Badezimmer zu betreten, wenn Kasra gerade am Baden war, aber ihm blieb wohl gar keine andere Wahl als sich dem Wunsch des Königs zu fügen.  

 

Das riesige Badezimmer war unglaublich luxuriös gebaut worden: mit überaus hohen Wölbungen, Fenstern, deren obere Hälfte mit rotem Glas ausgelegt war, die aber ansonsten einen freien Ausblick auf Lerenien-Sei bot. Einer der Gründe, weshalb Kasra das Fliegen in Lerenien-Sei verboten hatte; denn natürlich wollte er, der König, nicht beim Baden gestört werden, weshalb man eine Flughöhe von 30 Metern nicht überschreiten durfte. Über dem großen, im Boden eingelassenen Wasserbecken hing ein gigantischer goldener Lüster herab, was gut zum Rest des Badezimmers passte, da es allgemein in Gold- und Rottönen gehalten war. Es passte zu Kasra; man sah dem Raum förmlich an, dass er ihn selbst gestaltet hatte. 

 

Youma war dankbar darüber, dass Kasra mit dem Rücken zu ihm im Wasser saß; ihm persönlich war es egal, ob sie dasselbe Geschlecht hatten; baden war Privatsphäre, weshalb er auch auf Abstand blieb, was bei der Größe des Raumes, oder eher des Saales, nicht sonderlich schwer war.

 

Kasra warf ein kurzes Grinsen über seine muskulöse Schulter hinweg, ohne darauf zu achten, dass er damit die Arbeit der zwei Mädchen behinderte, die beide dabei waren, seine schwarzen Haare feinsäuberlich mit Shampoo einzureiben. Das andere Mädchen war auch zu seiner Arbeit zurückgekehrt: es säuberte Kasras Fingernägel. Kasra war nämlich ein sehr sauberer Dämon, weshalb ihm das Badezimmer auch besonders wichtig gewesen war; er wusch sich oft – oder eher ließ sich waschen – und achtete sehr darauf, dass er nicht dreckig war. Nicht nur aus Eitelkeit, glaubte Youma, sondern weil es für Dämonen keine Selbstverständlichkeit war, sauber zu sein. Hygiene war ein Luxus und das zeigte Kasra dadurch, dass er immer ein sauberes Äußeres zur Schau stellte. Er hatte auch sehr weiße und ebenmäßige Zähne... wenn sein schlechter Charakter nicht alles überschatten würde, könnte man ihn sicherlich als gutaussehend bezeichnen.

 

Youma war die ganze Situation mehr als unangenehm; nicht nur wegen Kasra, sondern auch wegen der Mädchen. Sie waren alle nackt. Er war der einzige im Raum, der angezogen war.

Der Halbdämon hüstelte und bemühte sich, ernst zu bleiben; dennoch gelang es ihm nicht, die Röte gänzlich aus seinem Gesicht zu verbannen.

 

„Gute Neuigkeiten, Youma?“ Youma räusperte sich noch einmal; er musste sich zusammenreißen.

„Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde... es läuft aber alles wie geplant. Euer Sohn hat mit dem Training begonnen.“

„Ah, das klingt doch gut!“, erwiderte Kasra, dem Mädchen nun seine andere Hand hinhaltend, während er dessen Arbeit an seiner rechten Hand kontrollierte.

„Wollt Ihr denn mehr erfahren, Hoheit? Es soll ja eine Überraschung sein...“ Es dauerte eine Weile, ehe Kasra antwortete; scheinbar gefiel ihm das, was er an seinen Fingern sah, nicht und alle im Raum schienen gleichzeitig den Atem anzuhalten, sich darauf vorbereitend, dass etwas geschehen würde, dass das Mädchen, das sowieso schon so ängstlich war, für irgendeinen Fehler bestraft werden würde... hatte sie womöglich etwas übersehen oder die Fingernägel falsch abgeschnitten? Ihre Augen wurden immer kleiner, man sah ihr ihre panischen Gedanken schon an – und als Kasra die Hand einfach ins Wasser fallen ließ, sah es so aus, als würde sie in Ohnmacht fallen vor Erleichterung.

 

„Wenn es irgendwelche... ungewöhnlichen Vorkommnisse gab, dann musst du es mir natürlich mitteilen“, fuhr Kasra fort, als wäre nichts geschehen, was natürlich ein Teil seines Spiels war, denn natürlich waren ihm die Reaktionen der anderen Dämonen nicht unbemerkt geblieben.

„Und, Youma? Gab es welche?“ Youma antwortete sofort, ohne länger darüber nachzudenken, obwohl er sich noch den ganzen Abend darüber den Kopf zerbrechen würde:

„Nein, gab es nicht.“    

Il commence - Opus III

 

 

 

Jeden Tag verbrachten Youma und Nocturn nun an diesem Strand; immer fünf Stunden auf einmal, mit kurzen Pausen, wenn einer den Kampf für sich entschieden hatte. Nach den ersten fünf Stunden gab es Kaffee und süßes Gebäck, bis Raria sie dann wieder an den Strand jagte mit ihrer ruhigen Stimme. Sie begleitete sie immer und obwohl sie manchmal ein Buch las, folgte sie den Kämpfen stets aufmerksam und überaus kritisch.

 

Es war hart und natürlich wurde auf Youmas Muskelkater keine Rücksicht genommen, genauso wenig wie auf Wind und Wetter, welches nach dem ersten Tag deutlich umschlug – so deutlich, dass Kasra Youma am dritten Abend fragte, ob er in einen See gefallen war, da Youma bis auf die Knochen durchnässt in die Dämonenwelt zurückgekehrt war. Raria hatte sie natürlich trotzdem nach draußen geschickt und kämpfen lassen, während sie unter einem großen, schwarzen Regenschirm relativ trocken geblieben war. Am Tag darauf stürmte es und die beiden Dämonen mussten mehr gegen die hohen Wellen ankämpfen als gegeneinander. Man dürfe das Wetter nicht als mitspielenden Faktor unterschätzen, lehrte Raria die beiden, als sie wieder im trockenen Haus angekommen waren und sie Nocturn die Haare abstruppelte, wie man es bei einem Kind ebenfalls tun würde. Sie erklärte weiterhin, dass man das Wetter besonders in einem Kampf gegen Wächter nicht unterschätzen dürfte, immerhin konnten sie das Wetter beeinflussen und daher war es wichtig, bei jedem Wetter kämpfen zu können...

 

... ohne sich selbst zu unterbrechen küsste sie plötzlich Nocturns Stirn.

 

... aber auch in der Dämonenwelt gab es Wetterbedingungen, die es zu beachten gäbe... davon könne Youma sicherlich einiges berichten, wo Youma aber natürlich eher das Schweigen gewählt hatte, um nicht zu verraten, dass er die Dämonenwelt nur knapp fünf Jahre lang kannte und sich in dieser Zeit fast ausschließlich in Lerenien-Sei aufgehalten hatte.

 

Aber dieser bemerkte momentan nur eines; den leichten Stich an Eifersucht, als er die überraschte Freude in Nocturns Augen ablas, nachdem Rarias Lippen seine Stirn berührt hatten. Auch wenn sie sehr streng war – und es kam Youma so vor, als wäre sie Nocturn gegenüber noch strenger als in seinem Fall – sie liebte ihren Neffen ganz ohne Zweifel sehr. Es war unglaublich, wie viel Geborgenheit sie schenken konnte; keine warme Geborgenheit, sondern eine sichere Geborgenheit.

 

Als sie allerdings die Treppe hinauf ging, um sich umzuziehen und Youma und Nocturn alleine im Eingangsbereich zurückblieben, schlug es den Halbdämon plötzlich, dass es scheinbar nicht normal war, dass Raria Nocturn solch Zärtlichkeiten schenkte. Warum sonst sollte er so überrascht gucken, wenn es normal war? Aber anstatt sich darüber zu freuen, bemerkte Youma aus den Augenwinkeln, halb verborgen von dem Handtuch, was Raria ihm gegeben hatte, dass Nocturn ihr traurig hinterher sah.

 

Youma wollte schon fast fragen, was sein Problem war, aber da erinnerte er sich wieder daran, dass es ihn nichts anging. Trotzdem folgte er Nocturn in die Küche, wo er, wie Raria es aufgetragen hatte, Tee zubereitete. Denn obwohl ein solches Training absolut notwendig war, so sollten sie natürlich dennoch nicht krank werden.

„Ich frage mich, wie lange wir uns noch mit dem Grundtraining aufhalten müssen“, fragte sich Youma laut, der nun nach sieben Tage Ruhe heute zum ersten Mal seine linke Hand im Kampf benutzt und erstaunlich wenig Schmerzen verspürt hatte. Sie war so gut wie geheilt.

„Ich denke, ich kann meine Sense auch bald wieder benutzen. Vielleicht sollte ich mal mit Raria-san darüber sprechen... Nocturn?“ Aber Nocturn hörte ihm nicht zu; er hatte nicht einmal bemerkt, dass Youma seinen Namen genannt hatte. Youma versuchte es kein zweites Mal; er kannte diese Momente, er hatte sie schon öfter im Verlauf der letzten Woche erlebt... sie waren immer nur kurz, aber sie gingen von beiden aus; eine... unbestimmte Traurigkeit.

 

Nach dem wärmenden Tee wollte Youma eigentlich sofort aufbrechen, aber er entschied sich anders. Es gab einfach Dinge, die er klären musste.

Nocturn hatte sich bereits von ihm verabschiedet und hatte sich – nach Rarias Erlaubnis – in das Musikzimmer zurückgezogen, welches Youma bis jetzt immer noch nicht betreten hatte. Aber obwohl er wohl zum Musizieren dort hineingegangen war, hörte Youma nichts – ob die Wände schalldicht waren? Das konnte der Halbdämon sich bei so einem alten Haus nicht vorstellen.

 

Um sich eben diesen Dingen zu widmen, müsste Youma hinaufgehen, denn es war ein unvermeidliches Gespräch, dass er mit Raria zu führen hatte und diese hatte sich bereits von ihm verabschiedet, sich in ihr eigenes Zimmer aufgemacht, was wohl im ersten Stockwerk lag. Statt sich aber nach oben aufzumachen, war er im Flur stehen geblieben, immer noch mit gespitzten Ohren, ob Nocturn zu spielen anfangen würde. Aber er tat es tatsächlich nicht – warum hatte er sich dann zurückgezogen? Was war das für eine eigenartige Atmosphäre, die dieses Haus zu umgeben schien? Youma hatte das Gefühl, als würde er sie kennen… aber er wollte sie nicht kennen, schoss es ihm durch den Kopf mit einem verbissenen Gesichtsausdruck. Er wollte nicht daran denken, nicht diesen Vergleich ziehen. Es war doch auch ein unsinniger Vergleich.

 

Jeder Gedanke an früher war unsinnig.

 

Die ganze Zeit hatte Youma es so gut verdrängen können. Warum kam es jetzt wieder hoch? Youma biss sich, wütend über sich selbst, auf die Unterlippe, wandte seinen Kopf herum, sah damit nicht länger zur Treppe, die er eigentlich empor gehen müsste – schon längst. Was stand er eigentlich hier rum!? Aber anstatt das zu tun, was er eigentlich vorhatte, sah er nun mit einem ruhigen, melancholischen Blick auf die Kommode zu seiner Rechten… sah auf die eingerahmten Fotografien… ah, da begann Nocturn zu spielen.

 

Eine traurige Melodie, aber sie entstammte nicht seiner Flöte, sondern einem Klavier. Warum musste er diese Melodie gerade jetzt spielen? Warum musste es gerade jetzt so eine traurige… Melancholie weckende Melodie sein, die sein Herz noch weiter beschwerte? Sie stand in einem eigenartigen Kontrast zu den Bildern, auf die Youmas Blick immer noch gerichtet war. Die meisten Bilder zeigten Nocturn – lachend und unterschiedlichen Alters. Er hatte scheinbar schon früh mit seiner Musik Erfolge feiern können, dachte Youma, als er Bilder entdeckte, auf denen ein kleiner Nocturn dem Fotograf Auszeichnungen hinhielt… eine Raria, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und ebenfalls in die Kamera lächelte. Zurückhaltender, immer doch irgendwie streng wirkend, aber dass sie lächelte bedeutete wohl, dass sie schon sehr stolz auf den strahlenden Jungen neben ihr war.

 

… eine lobende Hand auf der Schulter. Ein „Gut gemacht“. Eine tröstende Umarmung. Keine Angst mehr zu haben. Wie lange war es her…

 

Nicht darüber nachdenken. Es brachte doch nichts.  

 

Aber es geschah. Er konnte es nicht verhindern. Es war die Melodie Nocturns, sie war schuld… vielleicht sollte Youma in sein Musikzimmer hineinstürzen und ihn dazu auffordern, aufzuhören – aber es war nicht nur die Melodie… es war das alles hier. Das Aufhalten in diesem Haus - in diesem Haus, in dem schöne Erinnerungen geschaffen worden waren – Erinnerungen, die nicht… von Verrat und Blut gezeichnet worden waren. Erinnerungen, die immer noch in hellen Farben erstrahlten, die niemanden in irgendwelche Albträume verfolgten.

 

Es machte Youma eifersüchtig, Raria und Nocturn zu sehen – eine Familie zu sehen. Klein, aber… was spielte die Größe für eine Rolle? Die Gefühle waren es, die eine Rolle spielten und die Gefühle in diesem Haus… sie waren echt. Anders als die, die seine Familie ausgemacht hatten. Auch er war oft in den Arm genommen worden, auch auf seiner Schulter hatte eine Hand gelegen – aber wenn er daran zurückdachte, dann erstrahlten diese Erinnerungen nicht mehr. Sie waren grau… grau oder rot – die Farbe, in die sie getaucht worden waren, indem Youma all das beendet hatte.

 

All die Lügen! Alle verräterischen Worte! Alles nutzlose Zugucken! Er hatte es beendet – hatte all das zerstört. Aber zu welchem Preis? Zu welchem Preis?

 

„Youma, warum – warum!? Warum tust du das?!“ Es war immer Silence, die diese Frage schrie, immer wieder dieses verdammte „warum“. Diese dauernde, ihn immer wieder quälende Frage entstammte nur seinen Albträumen, das wusste Youma, weil die echte Silence… nicht dazu gekommen war, diese Frage zu stellen. Stattdessen rief sie diese nun in seinen Träumen. Rief sie immer lauter, manchmal schüttelte sie ihn dabei.

 

Manchmal antwortete er ihr, dass er keine andere Wahl gehabt hatte.

Aber war das die Wahrheit?

Hatte er… wirklich keine andere Wahl gehabt?

Wie gerne würde er diese Frage nicht weitergeben.

 

Aber Light… die Person, die er so geschätzt hatte, die er so sehr geliebt hatte… die Person, die er seinen Vater genannt hatte… würde ihm keine Antwort mehr geben, ganz egal wie sehr Youma das Glöckchen Lights an sein Herz drückte.

Es würde ihm keine Antwort geben… und auch keinen Trost.

 

 

Mit dem Verklingen der letzten Töne wischte Youma sich die verräterischen Tränen aus den Augenwinkeln, den Kopf schüttelnd, das Glöckchen wieder unter seiner Uniform verbergend. Warum hatte er es überhaupt herausgeholt! Was tat er hier eigentlich… Er musste nach oben; er wollte doch mit Raria sprechen. Er musste sich konzentrieren! Die Gedanken an damals waren doch sinnlos – war es nicht schon schlimm genug, dass sie ihn in seinen Träumen heimsuchten? Diese Zeit war schon so lange nicht mehr existent… Youma schon so lange kein Teil mehr davon. Er lebte in dieser Welt, in dieser Zeit – und Youma hatte es sich selbst zuzuschreiben; egal ob er nun das richtige getan hatte oder nicht; es waren seine Handlungen, die darin resultiert hatten und nun musste er damit leben – und er hatte etwas zu tun! 

 

Oben angekommen entdeckte Youma vier Zimmertüren; zwei davon waren wohl mit den Namen der hier Wohnenden versehen, die dritte Tür hatte ein kleines Schildchen mit zwei Buchstaben, die Youma dank seiner mangelnden Lesefertigkeiten, was die menschliche Sprache anging, nicht entziffern konnte und die vierte... war komplett ohne irgendwelche Namen oder Schildchen und... Youma stutzte; es gab auch keinen Türgriff. Wie eigenartig... ob das Zimmer nicht mehr benutzt wurde? Aber warum denn gleich den Türgriff entfernen? Das kam Youma sogar mehr als eigenartig vor, aber statt sich darüber weiter Gedanken zu machen, klopfte er an die Tür, hinter der er Rarias Aura spüren konnte.

 

Ihre Stimme klang überrascht, aber sie bat ihn dennoch herein, womit Youma nun in einem großen, geräumigen Schlafzimmer stand. Der Raum war in denselben Farben gehalten wie das Wohnzimmer und auch in diesem Raum befanden sich viele Bücherregale. Nur waren diese niedriger, so dass ein großes Gemälde über ihnen hängen konnte. Auch dieses passte vom Stil her zum Wohnzimmer, denn es zeigte eine Frau, die an einem Klavier spielte. Gegenüber der Bücherkommoden, auf der anderen Seite des Zimmers, rechts von Youma, stand ein großes Himmelbett, welches sofort Youmas Aufmerksamkeit hatte, nicht wegen seiner luxuriösen Ausstattung, sondern weil es zwei Kissen und zwei Bettdecken in diesem Bett gab.

 

Raria, die an einem geordneten Frisiertisch saß, hatte seinen neugierigen Blick bemerkt und erklärte:

„Nocturn hat oft Albträume.“ War Nocturn wirklich 24 Jahre alt? Manchmal fiel es Youma schwer, das zu glauben... naiv wie ein Kind war er jedenfalls. Aber Youma kommentierte es nicht; deswegen war er immerhin nicht gekommen.

 

„Ich habe über einige Dinge nachgedacht...“ Raria hob die Augenbrauen, ließ ihn aber fortfahren, ohne ihn zu unterbrechen.

„... und es gibt da etwas, was mich wundert.“ Keine Überraschung für sie, wenn er ihren Blick richtig deutete. Sie richtete sich auf und platzierte sich mit dem Rücken an den Pfeiler des Himmelbettes gelehnt genau vor ihm, einem Gespräch scheinbar nicht abgeneigt – nein, es schien sogar so, als hätte sie nur darauf gewartet.  

„Sie leben hier ein menschliches Leben, Sie suchen die Dämonenwelt nie auf und Nocturn hat mir erzählt, dass Sie ihm verboten haben, mit Dämonen Kontakt aufzunehmen; er solle ihnen aus dem Weg gehen. Sie wollen ganz offensichtlich ein verstecktes Dasein führen. Die Gründe dafür... kenne ich nicht und es steht mir auch nicht zu, das zu hinterfragen.“ Auch wenn es ihn schon interessierte; aber er meinte das, was er gesagt hatte:

„Aber wenn es Ihnen so wichtig ist, hier als Menschen zu leben, dann frage ich mich, warum Sie mir nicht aufgetragen haben, dem König nichts über Ihren Aufenthaltsort zu verraten. Sie haben... nichts dergleichen gesagt. Nicht einmal angedeutet.“  

„Du hast es aber nicht gesagt. Du hast meinen Namen nicht einmal erwähnt.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung – und sie hatte recht, was er auch zugab.

„Das stimmt, aber woher wussten Sie das? Sie kannten mich nicht. Sie konnten mir unmöglich so viel Vertrauen schenken.“ Wieder sah er dieses kleine, kurze Lächeln, ehe sie ihn aufklärte:

„Ich habe auch nicht dir vertraut. Ich habe darauf vertraut, dass Kasra sich nicht verändert hat.“ Verwirrt sah Youma sie an; was hatte Kasra mit all dem zu tun? Lange blieb er allerdings nicht im Unklaren, denn sie fuhr fort:

„Nocturn kann nicht nur Gedanken lesen, sondern Erinnerungen auch auf eine andere Person übertragen. Mittels dieser Gabe habe ich euren Kampf sehen können...“ Ah, Youma hatte sich schon gewundert, wie es Raria möglich gewesen war, so zielsicher seine Schwächen herauszufinden und wie schnell sie auch am ersten Tag bemerkt hatte, dass seine Hand gebrochen war... jetzt war dieses Mysterium also geklärt.

„Anders als Nocturn war mir sofort klar, dass deine Hand nicht durch einen Unfall gebrochen war. Ich vergewisserte mich, als ich deine Hand in Bandagen legte... natürlich ist es möglich, dass man alle fünf Finger bei einem Unfall bricht, aber doch sehr unwahrscheinlich. Dazu deine Reaktionen bei einigen Themen, beim Frühstück... es gab keinen Zweifel. Kasra ist immer noch derselbe wie früher, weshalb ich wusste, dass du meinen Namen ihm gegenüber nicht erwähnen würdest, auch ohne, dass ich dich darum bat... du bist nicht auf den Kopf gefallen. Von unserem Lebensstil und den bereits angeführten Gründen war dir klar, dass wir es vorziehen, nicht zu sehr in der Hölle umsprochen zu werden. Am nächsten Tag erhielt ich dann auch Vergewisserung. Denn hättest du meinen Namen erwähnt, wären wir jetzt nicht hier.“
 

„Er kennt Sie also?“

„Ja.“ Die Art, wie sie dies sagte, weckte bei ihm den Eindruck, dass sie darüber nicht weiter sprechen wollte und das akzeptierte er.

„Man könnte diese Argumentation aber auch umdrehen“, erwiderte Youma:

„Kasra hätte auch ein Grund dafür sein können, dass ich es erzähle.“ Mit geschlossenen Augen lächelte sie:

„Du meinst so wie ein rückgratloser Speichellecker? Ja, das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Aber...“ Raria öffnete die Augen wieder und sah ihn direkt an:

„... Kasra mag dir deine Würde geraubt haben. Aber deinen Stolz hast du noch.“   

Il commence - Opus IV

Schon ab dem Moment, wo Youma Kasras Frage, ob es etwas Ungewöhnliches zu berichten gäbe, verneint hatte, konnte Youma das Gefühl nicht abschütteln, dass er... ja, eine Seite gewählt hatte. Eine Seite im Kampf – aber was war das für ein Kampf? Was war das für ein Kampf, den er genau gewählt hatte? Was waren die Konsequenzen seiner Wahl?  

 

Urgh, Youma war es dieses Mal, der zu abgelenkt war; das war bereits der zweite Schlag Nocturns, den er einkassieren musste. Raria hatte sich noch nicht dazu bereit erklärt, sie ihre Magie einsetzen zu lassen und auch sah sie die Zeit für Youmas Sense noch nicht gekommen, aber dieses Mal ließ sie sie im freien Terrain kämpfen, ohne dass sie darauf achten mussten, den jeweils anderen aus ihrem gemalten Kreis herauszubefördern. Sie sollten auf ihre Umgebung achten, was eigentlich nur für Nocturn ein Problem war; er durfte zwar seine Fingernägel einsetzen, aber sie hatte ihn aufs Strengste ermahnt, nicht einen einzigen Baum mit seinen Nägeln zu streifen – ansonsten würden die Dorfbewohner sich noch um wilde Tiere Sorgen machen.  

 

Sowieso war es eine Herausforderung – aber auch eine spannende Herausforderung – im Wald zu kämpfen. Es war dadurch etwas gänzlich Anderes, weil Rarias kritischer Blick nicht auf ihnen lag. Sie hatte verkündet, dass sie ihnen vertrauen würde, dass sie keinen „Unfug“ anstellen würden und war ins Haus zurückgegangen. 

Man hätte es wohl als ein Kompliment auffassen können, aber es klang mehr wie eine Drohung. 

  

„Ist da etwa jemand abgelenkt?“, rief Nocturn belustigt, nachdem sein Faustschlag Youmas Brustkorb getroffen und ihn mehrere Meter zurückgeworfen hatte.  

„Pah!“ Youma setzte sofort zum Gegenangriff an, woraufhin ein schneller Schlagabtausch folgte:  

„Nimm den Mund nicht zu voll! Normalerweise bist du es, der abgelenkt ist!“ Nocturn packte den Arm seines Kontrahenten und schwang sich beschwingt und mit einem spaßigen Grinsen über Youmas Kopf hinweg; dafür hätte er bei Raria Minuspunkte bekommen, aber er mochte solche Spielereien und Fakt war, dass er Youmas Fausthieb tatsächlich so aus dem Weg gegangen war. Er war sogar schnell genug, um die Sekunde für einen Gegenangriff zu nutzen, in der Youma sich wieder herumdrehen musste. 

„Man muss aber ja auch bedenken, dass ich ein Handicap habe, weil ich darauf achten muss, dass sich uns niemand nähert... und Gedanken zu lesen ist anstrengend!“ Da Youma nicht schnell genug war, um auszuweichen, parierte er Nocturns heransausendes Bein mit dem rechten Unterarm – dennoch zwang der Druck und die Stärke von Nocturns Angriff ihn einige Zentimeter rückwärts.  

Ich habe auch ein Handicap, weil ich meine Sense nicht benutzen darf.“ 

„Du willst also damit andeuten, dass du mit ihrer Hilfe stärker wärst als ich?“ Die beiden Dämonen waren wieder aus der Puste; ihr Atem hatte sich beschleunigt und war deutlich in dem verlassenen Wald zu hören – aber ihre Ausdauer hatte sich deutlich verbessert; besonders im direkten Vergleich mit dem Kampf in der Arena von Lerenien-Sei.  

Youma kam nicht zum Antworten, denn als Nocturn sich plötzlich davon teleportierte, stolperte er perplex einige Schritte nach vorne, ehe er hochsah und Nocturn auf einem hohen Ast stehen sah. Grinsend sah er auf ihn herunter, mit seinen vor Freude und Aufregung glühenden roten Augen, die Youma in der Düsternis des Waldes noch deutlicher sah als sonst.  

„Ich muss sagen... ich freu mich darauf!“ Was taten sie hier eigentlich? Sie sollten trainieren, sich gänzlich auf ihre Kampffähigkeiten konzentrieren; aber stattdessen spürte Youma, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete und noch etwas ganz Anderes –er spürte, dass er Spaß hatte. War es, weil Nocturn so ausgelassen wirkte? War das ansteckend? Youma sollte sich nicht mitreißen lassen... aber er tat es.  

 

Youma tat es Nocturn gleich; auch er teleportierte sich in die Höhe – allerdings nicht, um ebenfalls auf einem Ast zu landen, sondern um Nocturn in einem Moment, in dem er gerade noch was sagen wollte und daher den Angriff nicht kommen sah, an den Schultern zu packen und ihn zu Boden zu werfen.  

Bei diesem Sturz landeten die beiden Dämonen nun außerhalb der schützenden Bäume und kurz blendete Youma das Sonnenlicht, ehe er feststellte, dass er Nocturn förmlich an den Waldboden genagelt hatte. Der unter ihm Liegende schien verwirrt über diese plötzliche Situation zu sein, was Youma zu einem triumphierenden Grinsen brachte – ha, da hatte er wohl trotz Ablenkung gewonnen. 

„Ich denke, der Sieger ist ganz eindeutig!“ Youma erwartete einen schmollenden Gesichtsausdruck oder die Herausforderung zu einem zweiten Kampf – aber Nocturns Gesicht zeigte ihm immer noch Verwirrung. Verwirrung und... 

„Geh bitte von mir runter.“ Youma konnte es nicht deuten, aber... da war etwas in seiner Stimme, was Unbehagen in ihm weckte. Sein Grinsen war auch verschwunden und er wollte der Aufforderung auch gerade nachgehen, als er plötzlich verharrte.      

 

Youmas Gesicht veränderte sich langsam und mit Erstaunen konnte Nocturn unter ihm dabei zusehen, wie seine Gesichtszüge sich zuerst in gerührtes Erstaunen verwandelten, fast schon fasziniert, ehe eine plötzliche immense Traurigkeit seine Augen füllte. Was war es, was er plötzlich sah, ihn so fesselte und davon abhielt, Nocturn endlich gehen zu lassen? Nocturn versuchte, den Kopf in den Nacken zu legen, aber er konnte nichts sehen außer den endlosen, weit unter ihnen am Fuße des Hanges gelegenen Ackerfeldern, die im Licht der untergehenden Herbstsonne beinahe golden wirkten. War es etwa... diese Aussicht, die ihn so in den Bann zog?   

„Youma?“, fragte Nocturn, nachdem Youma sich abrupt und mit einem rasselnden Luftholen aufrichtet hatte und sich endlich von ihm entfernte. Er bemerkte nicht, dass Nocturn erleichtert aufatmete; er war zu sehr gefangen in seinen eigenen Gefühlen. Die verblüffte Faszination war verschwunden, aber die Traurigkeit sah Nocturn immer noch in seinen Augen, aber da war noch etwas... Sehnsucht? Ja, unerfüllte Sehnsucht. Aber nach was?  

Der sonst so hochmütig wirkende Youma wirkte nun plötzlich sehr klein; er hatte sich nicht einmal aufgerichtet, hockte auf dem Boden, den Rücken an einen Baum gelehnt. 

„Youma? Was ist los?“  

Es sah nicht so aus, als würde er Nocturn irgendeine Antwort geben wollen; es sah nicht danach aus, als würde er überhaupt in der nächsten Zeit wieder irgendetwas sagen. Er sah richtig... in sich zerstört aus, als hätte eine alte Wunde – eine lebensgefährliche Wunde – wieder angefangen zu bluten, zu schmerzen, ihn zu zerreißen. 

 

Nocturn kannte dieses Gefühl. Er wusste wie es war, wenn ein solches einen übermannte.  

 

Daher waren seine Bewegungen auch sehr langsam, als er sich Youma näherte; er bemerkte ihn allerdings gar nicht, was Nocturn nicht sonderlich überraschte. Erst als er seine Hand mit Bedacht auf seine Schulter legte, sah Youma ihn an.  

Kurz erwartete Nocturn, dass er sich abwenden würde, sich wegbewegen würde, um Nocturns Hand von seiner Schulter zu schütteln, doch er sah ihn einfach nur an; sehr lange sogar, bis er sich grämend, ja, beinahe beschämt über sich selbst, abwandte. Nocturns Hand schüttelte er aber dennoch nicht ab.  

„Entschuldigung, ich... halte uns auf... es ist gleich wieder in Ordnung.“ Auch seine Stimme klang anders; als wäre sie zusammengebrochen. Er gab sich Mühe, sie genau wie sonst klingen zu lassen, aber Nocturn hörte es dennoch – und daher entschied er sich, zu handeln.  

„Ich weiß, was wir jetzt machen. Das hilft mir immer.“ Und da Youma Nocturns Hand nicht von sich geschüttelt hatte, konnte er nichts dagegen tun, dass dieser sie plötzlich an einen anderen Ort brachte.  

 

Und zwar zum Champs de Mars. Umgeben von Unmengen von Touristen und im Schatten des Eiffelturmes sprang Youma förmlich auf die Beine, Nocturn sofort, mit erröteten Wangen, anfahrend:  

„Wo sind wir?! Warum hast du uns hierher gebracht?!“ Nocturn war kurz davor, eine schnippische Antwort zu geben, dass es ja wohl ziemlich klar war, wo sie waren – sie standen vor dem Eiffelturm; wo könnten sie sonst sein als in Paris? Es gab doch gar kein deutlicheres Zeichen für die Stadt als den gigantischen Stahlturm?!   

Aber in Anbetracht der Situation und dass er Youma aufheitern wollte – der momentan sehr verwirrt aussah, fast wie ein Tier, das in eine Situation geworfen worden war, die nicht zu seinen gewohnten Lebensumständen passte – entschied er sich anders. Er hatte sich eine andere Reaktion erhofft... wenn er traurig war, teleportierte er sich immer nach Paris; es ging ihm dann sofort besser. Vielleicht wirkte der Zauber der Stadt nicht auf alle? Nein, unmöglich; es musste daran liegen, dass es nicht Nacht war. Paris war am schönsten in der Nacht.  

„Wir sind in Paris. Champs de Mars, um genau zu sein...“ 

„Und was machen wir hier?!“ Na, wenigstens festigte seine Stimme sich langsam wieder und den Willen sich zu beschweren fand er scheinbar auch wieder:  

„Wir sollten schnell zurückkehren und mit dem Training fortfahren. Dir ist doch bewusst, dass Raria wütend sein wird, weil wir verschwunden sind? Das willst du in Kauf nehmen?!“ Nocturn setzte sich in Bewegung, Richtung Eiffelturm, sich an den Touristen vorbei schlängelnd. 

„Ja, das nehme ich in Kauf.“ Skeptisch hob Youma die Augenbrauen, folgte ihm aber. Was hatte er nur vor? Was sollten sie hier an diesem Ort, an dem es von Menschen nur so wimmelte? Es war laut, es war voll, es war chaotisch und eng. Sie mussten sich förmlich durch die Menge quetschen, als sie unter dem Turm hindurch wollten. Youma hielt seinen Blick eigentlich strikt auf Nocturns Rücken geheftet – er wollte ihn hier auf keinen Fall verlieren – aber als sie direkt unter dem Turm standen, wanderten seine schwarzen Augen doch nach oben. 

„Ganz schön groß...“, urteilte Youma und war überrascht, eine Antwort von Nocturn zu erhalten, denn er hatte es nicht gerade laut gesagt; dennoch sah er, wie sein Begleiter sich erfreut herum drehte: 

„Ja, das ist er! Das ist la Tour Eiffel ♥ ♥ Ist er nicht...“   

„...hässlich. Genauso hässlich wie der Turm in Lerenien-Sei, wenn du mich fragst.“ Und da stolperte Youma plötzlich, obwohl überhaupt nichts auf dem Boden lag, worüber er hätte stolpern können. 

„Ha! Der liebe Gott bestraft kleine Sünden eben zuerst!“, lachte Nocturn, wieder weitergehend und nicht auf Youmas Blick achtend, der finster den Punkt fixierte, wo er eben gestolpert war – so viel zu seinen „Regeln“, huh?  

  

Nocturn führte die beiden über die belebte Straße zum Fuße des Eiffelturmes und pflanzte daraufhin Youma gleich neben einem großen, rustikalen, aber sehr liebevoll instand gesetzten Karussell, während er selbst plötzlich verschwand. Youma war immer noch sehr verwirrt über deren Anwesenheit an diesem wirklich viel zu überfüllten Ort, aber die kühle Luft tat gut... und das Karussell war sehr hübsch anzusehen. Es war in Bronze und Gold gehalten, die bunten Lichter nicht zu knallig, sondern eher dezent. Youma wusste natürlich nicht, was ein Karussell war, aber er durchschaute seinen Nutzen schnell, indem er neugierig beobachtete, wie Eltern ihre Kinder in die verspielt bemalten und fantasievoll kreierten Wagen setzten, woraufhin das zweistöckige Karussell zu drehen begann, im Takt mit der romantisch klingenden Musik, die knisternd aus den Lautsprechern drang. Es drehte sich nicht sonderlich schnell, aber für Kinder war es sicherlich ein richtiges Abenteuer.  

 

„So, da bin ich wieder.“ Youma blickte auf und sah, wie der eben zurückgekommene Nocturn etwas in jeder Hand hielt; etwas kleines, flaches, in buntes Papier umhülltes... Etwas, das süß, aber sehr gut roch. 

„Zucker oder Schokolade?“ Anstatt auf Nocturns Frage zu antworten, stellte er eine Gegenfrage: 

„Was... ist das?“   

„Ein Crêpe sucre. Sag mir nicht, das kennst du nicht?“ Youmas Blick war Antwort genug.  

„Ich mag eigentlich nichts Süßes... jedenfalls nicht zu süß. Trotzdem, dankeschön.“ Und diese „Crêpes“ rochen sehr süß. Aber Nocturn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hielt ihm dennoch eins hin: 

„Das habe ich mir bei einem Miesepeter wie dir schon gedacht!“ Mit gerunzelter Stirn wurde Nocturn angesehen; so hatte man ihn noch nie betitelt, aber gut... er hatte schon weitaus uncharmantere Dinge gehört, weswegen er Nocturn fortfahren ließ, ohne ihn auf die Beleidigung anzusprechen. 

„Deswegen habe ich ja auch ein Crêpe mit zartbitterer Schokolade für dich geholt.“ Und schon hielt Youma das warme – er wusste nicht, wie er es nennen sollte...Stück Teig? – in den Händen. Ein wenig verunsichert, was das nun genau war und wie man es aß, warf Youma einen Seitenblick zu Nocturn, der sich nun neben ihn auf die niedrige Mauer gesetzt hatte und bereits herzhaft in sein Crêpe gebissen hatte. Gut, es wäre überaus unhöflich von ihm, abzulehnen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er auch Hunger, also biss er hinein – und war überrascht! Es schmeckte tatsächlich gut.  

 

Nocturn musste beim Essen des zuckrigen Crêpes ein wenig schmunzeln; Youma gefiel es wohl besser, als er zugeben wollte, denn er hatte es tatsächlich schneller als er aufgegessen und während Nocturn noch saß und sich den Zucker von den Fingern leckte – etwas, was er nur tat, weil Raria nicht dabei war und es nicht sehen konnte, denn natürlich durfte er das eigentlich nicht – war Youma bereits wieder in Gedanken versunken.  

Aber er sah anders aus. Ruhiger. Aber immer noch etwas bedrückt; da hatte scheinbar das Crêpe auch nicht viel geholfen, obwohl er sich bedankt und ihm versichert hatte, dass es ihm geschmeckt hatte. Daraufhin war er wieder in sein Schweigen versunken. Nocturn mochte kein Schweigen. Das war absolut nicht seine Welt. Aber er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Sollte er über das Training reden? Was für ein langweiliges Thema... eigentlich würde er ihn gerne fragen, weshalb der Anblick der Kornfelder ihn so wehmütig gemacht hatte und ob das derselbe Grund war, weshalb in das goldene Karussell so zu faszinieren schien. Aber Nocturn war der festen Überzeugung, dass Youma ihm einfach sagen würde, dass es ihn nichts anginge – und das tat es ja so gesehen auch nicht. Es hatte nichts mit dem Training zu tun... nichts mit irgendetwas Anderem... es interessierte ihn einfach. 

  

Aber Nocturn hielt sich zurück. Wahrscheinlich sollte er einfach schweigen und Youma mit seinen Gedanken alleine lassen, aber Schweigen löste in ihm ganz automatisch den Drang aus, es vertreiben zu wollen und so begann Nocturn über das zu reden, was absolut unverfänglich war: er sprach über Paris. 

Ohne von Youma unterbrochen zu werden, erzählte Nocturn ihm vom Trocadero-Platz, von dem man einen einzigartigen Blick auf den Turm hatte und das dort liegende große Theater; erzählte ihm, wie er da mal mit Raria gewesen war, als Kind und dass er wegen seinen mangelhaften Französisch-Kenntnissen kaum etwas verstanden hatte, dass es aber einen starken Eindruck auf ihn hinterlassen hatte. Er erzählte ihm weiter, wie schwer es für ihn gewesen war, die Sprache zu lernen, machte dann plötzlich einen Seitensprung zur Musik, dann sprach er plötzlich vom Eiffelturm, erklärte Youma was von Straßenplänen, bombardierte ihn mit Namen, die für eben jene verantwortlich waren, warf immer wieder Anekdoten hinein, Dinge, die er mit Raria erlebt hatte. Wie es war, das erste Mal mit der Metro zu fahren, das erste Mal in der Opéra Garnier zu sein, sein erstes Crêpe, oder das erste Mal auf dem Eiffelturm zu sein.  

„Ehrlich gesagt war ich nur einmal oben auf der dritten Plattform“, erzählte Nocturn mit einem leichten Kopfnicken zur Spitze des Eiffelturmes. 

„Du kannst dir ja denken, warum. Man muss sehr lange anstehen, um ganz nach oben zu gelangen... Raria hat mir eine Fahrt nach oben geschenkt zu meinem 13. Geburtstag. Sie hatte die Karten lange im Voraus reserviert. Wir haben zuerst etwas gegessen und sind dann abends hochgefahren, genau in dem Moment, als das Licht des Turmes eingeschaltet wurde. Wenn du meinst, dass er jetzt hässlich ist, dann bin ich zwar weiterhin der Meinung, dass du ein vermaledeiter Miesepeter bist, aber ich wette, du würdest deine Meinung ändern, wenn du ihn in der Nacht sehen würdest.“ Nocturns Gesichtszüge nahmen einen verträumten Ausdruck an und völlig von seiner Erinnerung eingenommen flüsterte er: 

„Sie hat mir nie etwas Schöneres geschenkt.“  

 

Youma hatte sich bis zu diesem Augenblick ruhig verhalten; er hatte ihm zugehört, über so manche Dinge mit den Augen gerollt und empfand – zugegeben – auch einiges als gänzlich unnütze Information abgetan, die er sich nur aus Höflichkeit angehört hatte. Wenn er sich Nocturn so ansah, der ihm so offen von seinen vergangenen Erlebnissen erzählt hatte und ihm seine Gefühle so offen zeigte, dann...  

„Ich bin nicht so an Gebäude oder...“ Er wusste nicht, wie er den Stahlturm vor ihm nennen sollte: 

„...Monumente geknüpft. Mich verbindet mehr... mit der Natur.“ Es fiel ihm schwer, das zu sagen, darüber zu sprechen. Er hatte mit niemandem über seine Vergangenheit, sein Leben in Aeterniem gesprochen; natürlich, mit wem sollte er auch? Mit Kasra etwa? Mit Ri-Il?! Er kannte ja niemanden und natürlich hätte er mit seinem namenlosen Gönner sprechen können, aber es genügte schon, wenn dieser das Thema auch nur nannte... Light erwähnte... um in Youma das Gefühl zu wecken, dass er fliehen wollte, um das Gespräch zu beenden. Ein großer Part von ihm wollte das Thema auch um jeden Preis umgehen, den größtmöglichen Bogen drum herum machen, aber... irgendwo in ihm, verborgen unter der anderen Stimme, war da doch der Wunsch, über diese längst vergessene Welt zu reden. Er wollte, dass ihm jemand zuhörte... dass jemand ihm half, seine so geliebte Welt nicht zu vergessen, sie am Leben zu halten.   

„Du meinst mit Kornfeldern?“ Nocturns ehrliche Antwort brachte Youma zu einem traurigen Schmunzeln. 

„Nicht direkt. Eher...“ Er zögerte. Die beiden starken Stimmen in ihm kämpften jeweils um die Vorherrschaft; der Kampf war schmerzlich, Youma konnte es fast spüren an seinem eigenen Körper, in seiner Seele. Aber am Ende siegte seine Sehnsucht. Sie hatte auch lange genug gewartet. 

„Die Kornfelder haben mich nur... an etwas erinnert.“ Dieses Mal war es Nocturn, der ihn nicht unterbrach, auch wenn es ihm schwerfiel, geduldig zu sein. Er ahnte zwar nichts von dem Kampf, der in Youma tobte, aber er hörte ihn förmlich aus dessen Stimme heraus, aus seinem Zögern.  

„An einen Ort.... den ich gerne besucht habe. Zusammen mit meiner Zwillingsschwester und meinem... Vater.“ Nocturn konnte sich kein Bild davon machen, wie schwer es Youma fiel, dieses Wort zu benutzen; aber auch wenn er keine Ahnung hatte, so war er ein guter Beobachter und während Youma das letzte Wort über die Lippen gebracht hatte, bemerkte Nocturn, dass seine Hände sich an die weiße Mauer krallten.  

„Wenn ich an diesen Ort denke, dann sehe ich ihn im goldenen Licht vor mir... hohes Gras, so hoch, dass man sich nicht bücken muss, um mit den Händen darüber zu streichen... wie eine goldene Wasseroberfläche. Da war ein kleiner See, nein, eine Flussmündung, nicht besonders tief, man konnte darin baden...“ Wieder ein schmerzhaftes Zucken. 

„Die Oberfläche war aber genauso glatt und ruhig wie die eines Sees. Es breiteten sich nur Ringe auf dem Wasser aus, wenn die langen Äste der Trauerweide das Wasser berührten. Wir waren dort immer alleine, als würden nur wir diesen Ort kennen, als würde er... uns gehören. Wir hatten einen offenen Ausblick über die Felder, Aeterniya lag hinter uns. Vor uns, am Horizont, zeichnete sich Lerenien-Sei ab...“ Youma spürte sofort, dass er zu weit gegangen war; er war zu sehr abgerutscht in seine Erinnerungen – er hatte zu viel preisgegeben! Und seine erste, instinktive Reaktion – sich die Hand vor den Mund zu werfen – machte das Ganze nicht gerade weniger auffällig. Nocturn war aber auch ohne Youmas heftige Reaktion darüber gestolpert. 

„Lerenien-Sei? Der Ort, den du beschrieben hast, klingt sehr schön – so ein Ort existiert in der Dämo...“  

„Schon gut, ich habe mich versprochen – das ist ja auch nicht wirklich... von Interesse, oder?“ Ohne Nocturn die Möglichkeit auf eine Antwort zu geben, sprang Youma auf die Füße, um ihm noch deutlicher zu machen, dass sie los müssten; jetzt

„Wir sollten schnell zurückkehren, auch so wird Raria uns den Kopf abreißen. Es ist ja auch sehr egoistisch von uns, einfach zu verschwinden, sie macht sich sicherlich Sorgen...“ 

„Ich habe sie natürlich schon längst angerufen-“ 

„... und wir sollen ja auch trainieren statt hier... Crêpas...“ 

Crêpes.“ 

„Ja, Crêpres. Die sollten wir jetzt nicht essen, dafür haben wir keine Zeit. Wir sollten zurück, jetzt.“                

  

 

Il commence - Opus V

 

Es war sehr gut gewesen, dass Nocturn Raria angerufen hatte. Youma wollte sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er es nicht getan hätte – denn trotz des Anrufs wirkte sie recht gereizt, als die beiden bei Anbruch der Dunkelheit zurückkehrten. Finster zusammengekniffene Augen lagen auf den gerade Angekommenen, die es nicht wagten, auch nur einen Ton zu sagen. Youma wusste nicht, wie lange sie da standen und sich anstarren ließen; aber es war mehr als eine Minute.

„Fünf Minuten später und ich hätte euch geköpft.“ Diese Drohung wandte sie oft an, wie Youma aufgefallen war, aber auch er hatte in der vergangenen Woche gelernt, sie zu fürchten, weshalb er und Nocturn fast im Takt nach unten sahen.

„Aber jetzt gibt es Essen.“ Das sah Youma als den Moment an, wo er sich verabschieden sollte, denn bis jetzt hatte er zwar ein paar Mal mit den beiden gefrühstückt, aber noch nie mit ihnen zu Abend gegessen. Er hatte daher schon den Mund geöffnet, um ihnen einen guten Abend und guten Appetit zu wünschen – und den würden sie haben, denn das Essen roch verlockend – aber Raria kam ihm zuvor:

„Es gibt genug für drei. Du bist eingeladen. Ich weiß, du hast gerade etwas gegessen...“ Sie warf Nocturn einen Blick zu, um zu verdeutlichen, dass er ihr von dem Crêpe-Essen erzählt hatte:

„... aber ein ausgewachsener Mann wie du wird sicherlich nicht von einem Crêpe satt sein?“

 

Kurz flammte die Stimme der Vernunft in Youma auf: er musste ablehnen – aber warum sollte er? Es war immerhin nicht so, dass es eine Uhrzeit gab, zu der er wieder in der Dämonenwelt sein musste und gestern Abend hatte Kasra ihm sogar ausrichten lassen, dass er ihn nicht sehen wollte; Youma wusste nicht wieso, aber da er ein Treffen mit Kasra nicht gerade herbeisehnte, war er einfach nur froh gewesen und hatte nicht nachgefragt.

 

Die kleine Stimme war nicht nur leise, sondern auch unbedeutend gewesen –er hatte seinen inneren Widerstand kaum gehört, ehe er sich für die Einladung bedankt hatte. Schon saß er einige Minuten später am gedeckten Speisetisch in der Stube, auf welchem nicht nur das deftige Essen – Lammragout mit Bohnen, Kartoffeln und brauner Soße mit Petersilie – förmlich glitzerte, sondern auch die hohen Kerzenständer und die vielen grünen Lampen in der Stube – Youma hatte ganz richtig gelegen; es war wirklich ein gemütlicher Raum, wenn alle Kerzen und Lampen ihr sanftes Licht spendeten. 

Raria und Youma hatten sich bereits an den Tisch gesetzt; Nocturn war noch – ganz aus dem Häuschen, wie es Youma vorkam – in den Keller gerannt.

„Gibt es einen Grund zum Feiern?“, fragte Youma, der immer noch über das gute Essen staunte, aber sich auch darüber wunderte, denn an den anderen Tagen hatte es nicht so ein ausgiebiges Essen gegeben und dieses war auch nicht in der Stube serviert worden.

„Heute ist Herbstanfang.“ Das erklärte Youmas Frage nicht, weshalb er nachbohrte:

„Und das ist ein Grund zum Feiern?“

„Für Nocturn schon.“

„Huh?“ Raria faltete ihre Serviette auf ihrem Schoss und erklärte, mit den Blick zum Gang, scheinbar auf Nocturn lauernd:

„Der Herbst ist Nocturns Lieblingsjahreszeit und wir haben es zur Tradition gemacht, diese Jahreszeit mit dem Spielen von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ einzuläuten; natürlich mit den vier Stücken, die dem Herbst gewidmet sind.“ In diesem Moment kehrte Nocturn lachend zurück, beladen mit zwei Flaschen:

„Das wird Youma nichts sagen, Raria – er ist ein Kunstbanause!“ Er warf ein neckisches Grinsen an seinen Trainingspartner und wurde sogar noch von Raria unterstützt, wenn auch zurückhaltender:

„Dann ist das umso mehr ein Grund, um nach dem Essen noch zu bleiben. Man darf nicht von dieser Welt gehen, ohne „Die vier Jahreszeiten“ gehört zu haben. Ich hoffe, du hast nichts verlernt, Nocturn?“ Der Angesprochene stellte die beiden Flaschen auf den Tisch und sprang förmlich auf den Stuhl, womit er nun links von Youma Platz genommen hatte und Raria gegenüber saß, die er schmollend ansah:

„Pah! Egal, wie viel ich trainiere und egal, wie viel Zeit vergeht; Musik ist in meinem Blut, in meinen Adern! Wie könnte ich also jemals auch nur die kleinste Note vergessen?“

„Das wollte ich hören - und jetzt schenk uns bitte ein, das Essen wird sonst kalt.“ Nocturn machte sich trotz Schmollmund sofort an die Arbeit und schenkte sich selbst und Raria Rotwein ein – gerade als er sich Youma zuwenden wollte, unterbrach dieser ihn, mit der Erklärung, dass er keinen Alkohol vertragen würde.

„Aber das weiß ich doch – das hast du mir schon mal erzählt!“, erwiderte Nocturn feixend und hielt die andere Flasche hoch:

„Daher habe ich ja auch den Traubensaft mit nach oben genommen!“ Youmas Augen zeigten zuerst Überraschung – aber die Überraschung verschwand schnell. Er lächelte, als er ihm die Flasche mit dem Beerenetikett abnahm. Ein dankbares, zufriedenes, ja, fast glückliches Lächeln, welches nicht einmal von der lautesten Stimme hätte vertrieben werden können.

 

Es war unglaublich, wie sehr die kleinsten Gesten einem das Herz erwärmen konnten.

 

 

Das Essen hatte vorzüglich geschmeckt; Raria war eine gute Köchin. Dass sie aber nicht nur eine gute Köchin und Lehrmeisterin war, bewies sie knapp eine Stunde später im Auditorium – was für ein schöner Raum! – nachdem sie die Geige angelegt hatte und Nocturn Youma mit an die Wand gezogen hatte, wo er sich und den anderen Dämon auf eine niedrige Bank platzierte. Youma hatte eigentlich geglaubt, dass die beiden zusammen spielen würden, aber scheinbar hatte er sich geirrt. Er kam auch nicht dazu, irgendwelche Fragen zu stellen, denn Nocturn bedeutete ihm mit einem aufgeregten Zeigefinger, dass er jetzt ganz still sein solle.

Wow, wie seine Augen strahlten! Als würde er kurz davor stehen, das größte Geschenk seines Lebens zu erhalten...

 

... als Raria begann, verstand er, warum eine so musikliebende Person wie Nocturn sich darauf gefreut hatte, seine Tante spielen zu hören. Es war unglaublich, was sie diesem Instrument entlocken konnte! Nocturn hatte ihm zuvor erklärt, dass dies sein Lieblingslied war – er nannte es den „Herbststurm“, auch wenn das wohl falsch war, wenn Youma Rarias Worten glaubte. Dieses Stück gehörte wohl noch zum „Sommer“ und stellte den Übergang zwischen den zwei Jahreszeiten dar; jedenfalls laut deren Interpretation. Youma hatte nicht verstanden, wie man so konkret über Musik sprechen konnte oder wie Töne sich irgendwie an eine Jahreszeit knüpfen konnten... aber jetzt verstand er es; jetzt, wo seine Ohren es hörten und die Klänge Bilder vor seinen Augen malten. Er sah wirklich einen Sturm vor sich; nein, er befand sich regelrecht in einem, genau wie vor wenigen Tagen; er sah, wie der Himmel sich verdunkelte, spürte, wie der Wind aufbegehrte, den Regen auf seiner Haut, den Höhepunkt des Unwetters... und dann das langsame, unheilschwangere, fast unheimliche Ausklingen des Sturms... des Liedes.

 

Youma war ganz perplex, als Raria langsam die Geige senkte und die letzten Töne noch nachzuhallen schienen. Das war wirklich... unglaublich. In der Erwartung, dass Nocturn höchstwahrscheinlich zu Tränen gerührt war, drehte Youma sich auf der Bank zu ihm herum – und erschrak. Nocturns Augen waren tatsächlich glasig geworden, aber... nicht aus Glück. Er sah aus, als würde er leiden. Zutiefst leiden. Zerbrechen.

Si inexorable...

 

Auch Raria sah ihn an; beide wirkten auf irgendeine Art zutiefst traurig; so traurig, dass sie Youmas Anwesenheit zu vergessen schienen. Als Raria endlich etwas sagte, war ihre Stimme sanft wie nie:

„Komm, Nocturn – du musst jetzt deinen Part spielen.“

 

 

Raria hatte Nocturn und Youma als Strafe dafür, dass sie ihre Zeit in Paris „verschwendet“ hatten, tatsächlich nach dem Musizieren noch einmal vor die Tür gejagt – auf die Worte, dass sie doch nicht mit vollem Magen kämpfen konnten, antwortete sie mit einer Predigt darüber, dass ein potentieller Gegner sie auch beim Essen überraschen könne und sich sicherlich nicht darum scheren würde, in welchem Zustand ihre Mägen seien.

So hatten sich die beiden im Dunkel der Nacht wieder ans Training gemacht – aber schon nach einer halben Stunde ließen sie sich erschöpft in Gras fallen.

„Ich kann nicht mehr!“, klagte Nocturn rechts neben ihm und Youma musste ihm zustimmen.

„Warum lässt sie uns auch unter diesen Bedingungen kämpfen!“

„Es ist Raria – wunderst du dich allen Ernstes, Nocturn?“

„Haha, nein, eigentlich nicht... wer hat jetzt eigentlich gewonnen?“

„Keine Ahnung... du hast mehr Treffer gehabt.“

„Aber deine Ausweichtechniken waren besser. Darauf achtet Raria doch immer.“

„Sagen wir unentschieden.“

„Klingt gut.“

 

Und dann schwiegen sie. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, die Augen Richtung Firmament, wo die Sterne erwacht waren.

Wie ruhig es war. Man hörte nur das stille Rascheln der Blätter hinter ihnen im Wald und das Rauschen der Wellen weit, weit unter ihnen, dort, wo sie bis heute noch trainiert hatten. Beide hatten ihre Hände auf ihren sich langsam hebenden und senkenden Brustkorb gelegt und sahen zu den Sternen empor. Sogar Nocturn empfand diese Stille als eine sehr angenehme, vielleicht weil es dieses Mal keine schweigsame Stille war... sondern eine Stille, die für sich sprach. Die sie zusammen genossen unter dem strahlenden Firmament.    

 

Youma fühlte sich in diesem Moment so wohl... so zeitlos... dass er fast vergaß, dass der Ort, an den er geknüpft war, ein anderer war. Widerwillig wandte er sich von dem schönen Firmament ab und drehte sich zu Nocturn herum, um sich zu verabschieden – als er mit Erstaunen bemerkte, dass Nocturn ihn ansah statt dem Nachthimmel.

Als er Youmas Blick traf, lächelte er anstatt sich irgendwie für das Anstarren zu entschuldigen.

 

„Jetzt weiß ich, woran ich immer denken muss, wenn ich dich ansehe“, flüsterte er, mit einem sanften Lächeln und einer Stimme, die deutlich offenbarte, wie sehr er sich freute, es endlich herausgefunden zu haben. Youma brachte es allerdings zu einem belustigten Stirnrunzeln:

„Du musst an etwas denken, wenn du mich ansiehst?“

„Ja“, antwortete Nocturn ohne Umschweife:

„Ich muss immer daran denken, wie schön du bist. Genauso schön wie die Nacht.“

 

Youmas Augen weiteten sich vor Überraschung, das zu hören; das aus Nocturns Mund zu hören; von Nocturn, der ihn gerade so selig anlächelte, als gäbe es nirgends auf der Welt irgendein Leid.

„Wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, ich würde die Dunkelheit in Person sehen. Eine Dunkelheit, die düster und tief ist, aber auch das schönste Strahlen hervorbringen kann, genau wie die Sterne, deren Leuchten man nur in der Nacht sehen kann. Weißt du, wie ich darauf komme?“ Er hatte absolut keine Ahnung – absolut gar keine.

Was ging hier vor sich?

Als Youma immer noch mit geweiteten Augen, aber langsam röter werdenden Wangen den Kopf schüttelte – er brachte eigenartigerweise keinen Ton mehr heraus – drehte Nocturn sich grinsend auf den Bauch, stützte seinen Oberkörper mit seinem rechten Ellenbogen ab und streckte die linke Hand plötzlich nach Youmas Gesicht aus. Alles ohne zu zögern, ohne beschämt zu sein – aber kurz bevor er davor war, Youmas Gesicht zu berühren, hielt er inne.

 

„Darf ich?“

Eine reine Höflichkeitsfrage, die Youma zwar nicht verstand, weil er alles an diesem Moment nicht verstand, aber er deutete dennoch ein verwirrtes Kopfnicken an.

 

Flüchtig berührte Nocturns magere Hand seine Haut. Was war das? Was ging hier überhaupt vor sich? Youma wusste, unter welchen Bedingungen sich das Herz eigentlich beschleunigte, aber... das konnte doch nicht sein... was war nur mit seinem Körper los?

Als würde Nocturn weder die wirren Gedanken Youmas noch seinen schnellen Herzschlag bemerken – vielleicht tat er es ja auch wirklich nicht – strich er Youma die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Jetzt grinste er nicht mehr; er lächelte wieder. Ein verträumtes Lächeln, als wäre er woanders. In diesem Moment, als Youma diesen Blick sah, direkt in Nocturns Augen sah, da spürte er, dass nicht nur sein Herz ihm einen Streich spielte, sondern auch seine Hand. Von Nocturn unbemerkt hatte er diese erhoben… sie näherte sich seinem Nacken, sehr zögerlich, immer wieder zurück beordert von sich selbst, weil er es einfach nicht glauben konnte – er wollte Nocturn zu sich runter ziehen. Er wollte ihn spüren. Jetzt.

 

„Ich komme darauf, weil deine Augen erst jetzt im Dunkel der Nacht zu strahlen begonnen haben. Ganz genau wie die Sterne über uns.“

 

Als wäre Nocturns Stimme ein Kommando gewesen, ein Weckruf, um wieder in die Realität zurückzukehren, zog Youma hastig seine Hand zurück, völlig von sich selbst schockiert. W-Was hatte er da gerade... was... und Nocturn hatte nichts bemerkt, er zog sich einfach wieder zurück, grinste unschuldig.      

 

 

Und während Youma rot bis über beide Ohren wurde und Nocturn stammelnd fragte, wie er denn auf so etwas käme, dieser aber einfach nur unschuldig erwiderte, dass es eben sein Eindruck von ihm sei, konnte Ri-Il in der Dämonenwelt Erfolg verbuchen.

Mekare grinste genau wie ihr Vorgesetzter es tat; sie wusste, sie hatte einen Volltreffer gelandet – und sie war stolz darauf. Sehr stolz sogar.

„So so...“ Ri-Il war so erfreut, dass er ein Kichern nicht unterdrücken konnte, obwohl ihm natürlich klar war, dass diese Information keinen Erfolg garantierte – aber alleine das Wissen, dass Kasra alles getan hatte, um jede Wissensquelle, die diese Information preisgeben konnte, in der gesamtem Dämonenwelt auszulöschen und dass er trotzdem daran gekommen war, war einfach... ein zu genüssliches Gefühl von Triumpf, dass es schwer war, nicht zu lachen.

„...deshalb also die plötzliche Sehnsucht nach einem Sohn!“  

 

 

 

 

 

  

La Ténèbres et la Nuit - Opus I

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Wieder einmal lief Youma unruhig in Lerenien-Sei auf und ab – dieses Mal allerdings in seinem eigenen Zimmer, nicht... nicht, dass ihn noch jemand hörte. Gut, er war sich darüber im Klaren, dass er eigentlich nirgends in Lerenien-Sei wirkliche Privatsphäre hatte, aber momentan war es überall besser als in der Menschenwelt! Obwohl... das war auch nicht richtig, so konnte man das nicht sagen, er mochte es ja, da zu sein, aber... nicht gerade jetzt! Jetzt hatte er einfach weggemusst. Ganz schnell.

„Youma-kun, mein kleiner, hübscher, offensichtlich illusionierter Youma-kun...“ Das war das erste, was Youma nun von dem ehemaligen Dämonenherrscher hörte, obwohl er seine Anwesenheit schon von Anfang an vernommen hatte.

„Das Problem lässt sich ganz einfach klären.“ Wieder tauchte er im Glasfenster auf; scheinbar hatte er eine Vorliebe dafür gefunden – nur, dass ihm dieses Mal nicht nach grinsen zumute zu sein schien. Im Gegenteil; er sah sogar ziemlich schlecht gelaunt aus.

„Ich weiß, was du zu tun hast. Du wirst jetzt das Schloss verlassen, die Hauptstraße von Lerenien-Sei entlang gehen und die erste nach links nehmen. Dann werden sich alle deine Probleme klären, glaub mir, Youma-kun! Ich denke, bei deinem Aussehen musst du nicht mal bezahlen, haha!“ Youma kannte ihn natürlich gut genug, um zu wissen, was er meinte, weshalb er auch sofort die Stirn runzelte und finster antwortete:

„Als ob ein Freudenhaus meine Probleme klären würde! Glauben Sie das wirklich?“

„Ob ich das glaube? Ich bin davon überzeugt! Es ist ja auch nur logisch und vollkommen nachvollziehbar. Du warst jetzt so lange alleine und das obwohl du so etwas wie „Alleinsein“ vorher eigentlich gar nicht gekannt hast. Es ist nur natürlich, dass du dich nach der Nähe einer anderen Person sehnst!“

„An diese Möglichkeit habe ich auch schon gedacht...“ Der namenlose Dämonenherrscher ließ ihn nicht ausreden:

„Na, siehst du! Einmal das Bett mit einer hübschen Frau teilen – Lerenien-Sei hat einiges zu bieten! – oder vielleicht mal einen Sprung ans andere Ufer wagen, wie man es so schön sagt...“ Die Person, die er so, so gerne überreden, von seinen Ideen überzeugen wollte, hörte ihm aber scheinbar gar nicht mehr zu.

„Das ist es nicht“, antwortete Youma nach einer Weile gedankenverloren und setzte wieder dazu an, im Zimmer auf und ab zu gehen unter dem missbilligenden Blick seines Gönners.

„Ich habe auch darüber nachgedacht, aber nein, das ist es nicht. Das... fühlte sich anders an.“ Der ehemalige Herrscher wählte nun den direkten Konfrontationskurs; dafür verließ er sogar sein sicheres Glasfenster, um in voller Montur, mit seiner stattlichen Höhe und seinem – wie er selbst fand – unheimlich vorteilhaften Aussehen mit Youma zu sprechen, in der Hoffnung, dass es ihm so einfacher gelingen würde, ihn zur Vernunft zu bringen.

Der plötzliche Auftritt seines Gönners hatte auf jeden Fall seinen erwünschten Effekt; er sah ihn geschockt an.

„Jetzt lass mich dir mal was sagen, Youma-kun: er ist nicht Silence.“ Youma runzelte einfach nur die Stirn; ein Stirnrunzeln, welches noch mehr zunahm, als sein Kopf plötzlich von zwei kräftigen Händen empor gehoben wurde.

„Dieser Typ ist viel zu hässlich, als dass er bei so einem schönen Wesen wie dir überhaupt Herzklopfen auslösen darf!“ Youma öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber scheinbar hatte sein Gegenüber schon genug gehört, ohne dass es Youma überhaupt gelungen war, mehr zu sagen:

„Oh nein! Oh nein! Du wolltest ihn doch nicht gerade verteidigen, Youma-kun, oder etwa doch?! Ist es schon zu spät!?“ Auch der Angesprochene war darüber erstaunt, denn der namenlose Dämonenherrscher hatte recht... er hatte kurz den Impuls gehabt, Nocturn zu verteidigen. Aber er war nicht gewillt, es so zu interpretieren wie er.

„Das kann man doch auch ganz anders deuten!“

„Ach ja? Und wie?!“ Er hatte ihn wieder losgelassen und machte nun, genau wie Youma zuvor, große Kreise im Raum, als wäre es eine überaus ernste Krisenbesprechung.

„Ich denke, es ist vielmehr so, dass ich mich mit ihm anfreunde... ihn vielleicht beginne wie einen... ja, Bruder zu sehen.“ Augenblicklich blieb der Namenlose stehen und der Blick, mit dem er Youma bedachte, war finster wie nie:

„Du magst eine Person nach einem Tag bereits deinen Geliebten nennen können, aber niemals, absolut niemals, kannst du eine Person nach einer Woche schon deinen Bruder nennen! So etwas braucht Zeit, viel Zeit, das passiert nicht Hals über Kopf so wie das Verlangen oder die Liebe!“ Diese Antwort war nicht die gewesen, die Youma erhofft hatte; er sah es deutlich in seinem Gesicht, das nun mehr als verwirrt aussah, was den ehemaligen Dämonenherrscher etwas erweichte:

„Du bekommst doch auch kein „Herzklopfen“ bei einem Freund.“

„Aber... was ist es dann?“

„Youma-kun, um hier mal was festzustellen: er hat nur das Offensichtliche gesagt. Dass du hübsch bist, darüber lässt sich nicht streiten!“

„Er hat erkannt, welches Element ich besitze... ohne, dass ich es ihm gesagt habe...“

„Als ob das so schwer wäre. Hast du dich mal im Spiegel betrachtet, mein Schönling? Du bist die personifizierte Dunkelheit! Du bist der Sohn der Göttin der Dunkelheit!“ Nachdenklich wandte Youma sich ab – und blickte tatsächlich in sein eigenes Spiegelbild, das er verschwommen im roten Glas der Fenster erahnen konnte.

„Es geht mir ja auch weniger um das, was er gesagt hat...“ Youma legte seine Hand über sein Herz, was bei seinem Gönner absolut kein gutes Gefühl auslöste:

„... sondern um das, was diese Worte in mir ausgelöst haben.“  

 

 

Herzklopfen – das war eine Sache. Das konnte man mit vielem erklären:  es war lange her, dass er ein Kompliment gehört hatte – es war lange her, dass er überhaupt etwas Positives gehört hatte. Daher war es wohl auch kein Wunder und sicherlich auch nicht verwerflich, dass sein Herz sich bei Nocturns Worten beschleunigt hatte. War das nicht normal?

Aber das war leider nur die eine Sache. Die andere Sache… war viel schwerer zu erklären und während Youma in seinem Bett lag und nicht schlafen konnte, hielt er seine linke Hand über sich ausgestreckt in die Höhe. Warum hatte er mit dieser Hand Nocturn berühren wollen? Er machte sich nichts vor; Youma war nicht der Typ dafür, sich Dinge vorzumachen, weshalb er auch nicht versuchte, sich selbst einzureden, dass der Impuls, ihn zu berühren, nicht da gewesen war. Er hatte ganz eindeutig das Bedürfnis gehabt, Nocturn zu sich herunterzuziehen… die Arme um ihn zu legen, seinen Körper an seinen zu spüren… genau wie er es oft bei Silence getan hatte. Aber sein Gönner hatte recht: das war nicht Silence! Warum überkam ihn ein solches Gefühl bei Nocturn?! Hatte er womöglich recht? War es, weil er einsam war? Aber hätte er es nicht schon früher gehabt? Ab und zu war es tatsächlich vorgekommen, dass Kasra Youma „eingeladen“ hatte, ein wenig „Spaß“ mit seinen Frauen zu haben und obwohl einige mehr als aufdringlich gewesen waren, hatte keine andere Person ein solches Gefühl in Youma wecken können. Er hatte sich dafür immer gelobt, denn das bedeutete, dass seine Treue Silence gegenüber resolut und absolut war und nur Silence ein solches Verlangen in ihm wecken konnte----

Und jetzt konnte Nocturn so etwas in ihm wecken?!  

Nocturn?!

Er kannte ihn ja nicht einmal besonders gut! Er musste sich wirklich zusammennehmen. Ganz dringend. Er wusste doch, dass Nocturn es nicht so gemeint hatte, wie Youma es meinen würde, wenn er so etwas gesagt hatte.

Moment. Warum war das jetzt überhaupt wichtig? Das klang ja fast so, als würde er es bedauern, dass Nocturn es nicht... Youma drehte sich klagend in seinem Bett herum – da waren sie wieder: die Schreie. Kasra spielte wieder. Er spielte sein grausames, schreckliches Lieblingsspiel. Foltern. 

 

Youma presste die Augen zusammen und drehte sich um, weg von seiner Zimmertür, die Decke über den Kopf gezogen, aber der Schrei quoll an. Es war unmöglich ihn auszusperren, egal wie sehr Youma es auch versuchte.  Warum hatte er ausgerechnet in dem Zirkel des Königs sein Schlafzimmer bekommen müssen: warum ausgerechnet gegenüber dem Schlafzimmer des Königs – dieses verdammten Königs, der gleich neben seinem Schlafzimmer eine Folterkammer hatte – ach, nein, er nannte es ja Spielzimmer…

 

Es war eine Weile her, dass Youma es das letzte Mal gehört hatte; aber sicherlich nicht, weil Kasra es unterlassen hatte, sondern weil er vom Training zu erschöpft gewesen war und daher zu fest geschlafen hatte, um von Kasras Hobby geweckt zu werden. Youma verfluchte sich und seine Gedanken; immerhin waren sie der Grund, weshalb er heute nicht hatte schlafen können und nun dalag, mit offenen, halb zusammengepressten Augen und dazu gezwungen war, sich das anzuhören. Die Schreie gingen hoch und runter. Verstummten ab und zu, wurden wohl zu einem Jammern, einem Flehen, das Youma aber nicht hören konnte… Kasras Lachen, das in diesen Pausen ertönte, das hörte er leider nur zu gut.  Es war so widerlich, wie deutlich herauszuhören war, was für einen großen Spaß er empfand… argh, warum war das dämonische Gehör nur so ausgeprägt, warum musste er das alles so gut hören können. Wer das arme Opfer wohl war? Youma konnte nicht einmal bestimmen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Vielleicht jemand vom Dienstpersonal… vielleicht eine Frau, die ihn nicht zufriedengestellt hatte und die ihn jetzt… anderweitig unterhalten musste.

 

Er war so widerlich. So abartig. So absolut, absolut…

 

Youma schreckte auf: er hatte die Augen zusammengepresst gehabt, riss sie nun aber auf, im Takt seines beschleunigten Herzens – es hatte an seiner Tür geklopft. Oh nein – oh nein. Das war doch jetzt nicht… wahr. Aber die Schreie waren verstummt und es konnte, es konnte einfach nur Kasra sein, der vor seiner Tür stand – wer sollte es auch sonst sein! Diesen Zirkel durfte niemand anderes betreten, es war des Königs Privatbereich…

 

Er wollte es nicht, aber es geschah ganz automatisch – Youma hatte den Kopf gehoben und die Decke rutschte von seiner Schulter herunter, als er sich aufrichtete und zur Tür sah. Er wollte nicht aufstehen und ihm die Tür öffnen, denn er konnte sich schon ausmalen, was dann geschehen würde – Kasra würde dann breit grinsend, etwas außer Atem vielleicht von der… aufregenden Tortur… vor ihm stehen, verhalten lachen, denn er hatte ja gute Laune… und ihn dann fragen, ob er nicht mitmachen wollte. Nein, er wollte nicht mitmachen.

 

Es ertönte ein Hilfeschrei. Ob Kasra immer noch vor der Tür stand? Vielleicht schrie der arme Dämon um Hilfe, weil Kasra gerade nicht da war und er hoffte, dass ihn jemand hören würde, ihm jemand helfen würde… es war ein er. Er klang sehr jung.

 

Youma tat es nicht. Er bewegte sich nicht aus dem Bett. Er ließ sich wieder ins Bett hinabgleiten, hörte noch einmal einen verzweifelten Hilfeschrei… er konnte ihm nicht helfen… er war tot, in den nächsten Stunden war er tot und Youma würde es nicht verhindern können – aber mitmachen, nein, das würde er…

 

Die Tür wurde geöffnet – oh, das hätte Youma sich ja denken können; als ob Kasra es nicht egal wäre, ob er schlief oder nicht. Wenn er Youma dabeihaben wollte, dann wollte er das auch – und dann geschah das auch so, ganz egal, wie sehr Youma sich sträubte, ob er nun schlief oder wach war. Er stand vor seinem Bett. Youma konnte die Gewalt seiner Aura genau neben sich spüren, wie ein Stein, der sich gegen ihn presste, ihn zu erdrücken drohte--- auch er wollte nun schreien, aber er tat weiterhin so, als würde er schlafen. Gleich würde Kasra ihn wecken, die Hand auf seine Schulter legen und ihn schütteln… wieder ein Hilfeschrei – oh ja, wie gerne Youma jetzt nicht auch geschrien hätte, jetzt, in diesem zum Reißen gespannten, aber eigentlich so ruhigen Moment, in dem Kasra sich zu ihm herunterbeugte und in dieser Bewegung kurz über Youma verharrte.

 

Youma hörte seinen Atem; er klang wirklich aufgeregt, aber er schien langsam zur Ruhe zu kommen, anders als Youmas Herz, das immer schneller schlug. Es war ein Kraftakt, seinen Atem unter Kontrolle zu halten, ihn ruhig klingen zu lassen – Youma konnte genauso gut aufhören, dieses Spiel zu spielen, als hätte Kasra nicht schon längst bemerkt, dass er…

 

Aber dann drehte Kasra sich herum. Youma konnte das Rauschen seines Umhangs hören und im Gang begann der König wieder zu lachen – und dann fiel die Tür zu. Die Tortur begann wieder, aber Youma war nicht gezwungen worden mitzumachen. Er konnte es nicht fassen. Er drehte sich auf den Rücken herum und starrte die Decke an.

Er konnte es nicht fassen.

 

 

Was Nocturn anging, so musste er sich wirklich zusammennehmen, das spürte er schon, als er am nächsten Tag wieder in die Menschenwelt zurückkehrte; dieses Mal erst nach Mittag, denn Raria und Nocturn hatten einige Dinge in Paris zu tun gehabt. Es gab wohl noch ein Konzert zu planen, welches Nocturn immer als das „letzte Konzert“ umsprach. Als Youma das warme Haus betrat und sich seines Mantels entledigte, sah er auch, dass die Arbeiten wohl noch nicht abgeschlossen waren, denn Raria stand im Gang und telefonierte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, ohne das Gespräch zu unterbrechen, welches sie sehr schnell führte und sich nebenbei Notizen machte.

Dann kam Nocturn die Treppenstufen herunter gelaufen. Youma spürte es wieder – sein Herz beschleunigte sich, als Nocturn ihn genauso schweigend begrüßte wie Raria es getan hatte; allerdings mit einem heiteren Grinsen und einer grüßenden Handbewegung.

Jetzt war aber genug! Jetzt gab es überhaupt keinen Grund für Herzklopfen!

Und auch als Nocturn geschwind Youmas Arm packte, um ihn mit hinauszuziehen, gab es keinen Grund – nein, nein, nein!

 

„Raria hat noch ein paar Dinge zu klären, wir sollen alleine anfangen mit dem Training, sagte sie.“ Youma versuchte mit aller Macht, alle Gedanken um irgendein Herzklopfen weit, weit nach hinten zu verdrängen. Er musste sich konzentrieren.

„Wieso? Gab es Probleme in Paris?“ Jetzt wo Youmas Herz langsam wieder seinem Kopf gehorchte, bemerkte er auch, dass Nocturn sich noch nicht umgezogen hatte – er trug wieder denselben Anzug, welchen er bei deren ersten Treffen in Paris getragen hatte.

„Probleme nicht, aber viele Dinge, die geregelt werden müssen für mein letztes Konzert. Das ist am Samstag, 19 Uhr. Kommst du auch?“ Youma verwirrte diese Frage. Nocturn wusste, dass er sich nicht für Musik interessierte, warum fragte er ihn dann, ob er zu einem Konzert kommen wollte? Und noch viel wichtiger: warum zögerte Youma, die Einladung abzulehnen? Es war doch ganz klar, dass er nicht kommen würde – warum sollte er auch…

„Wir… wir sollten trainieren. Ich möchte Raria-san heute noch Ergebnisse vorzeigen können, damit wir uns endlich der Magie zuwenden können.“

 

Allerdings stellte er sich selbst ein Bein. Das Trainieren lief eigentlich sehr gut; er wusste, dass er Fortschritte machte… aber sobald er in die unmittelbare Nähe von Nocturn kam, spürte er, wie sein Körper sich verlangsamte, wie er beinahe erstarrte, wie er aus dem Konzept gebracht wurde – und dadurch spürte er die harte Strafe, wenn Nocturn demonstrierte, dass auch er einiges dazu gelernt hatte und Youmas Lücken auszunutzen wusste.

„Was ist denn heute mit dir los?“ Eine Frage, die Youma Nocturn nicht verübeln konnte, die er aber dennoch nicht mochte. Da er nicht darüber nachdenken wollte, wollte er natürlich erst recht nicht darüber sprechen – und dass sein innerer Konflikt sich nun auch noch nach außen trug, war... beschämend.

 

Sie standen unter einer großen Eiche, deren Blattwerk ihnen Schutz bot für den plötzlichen Regen, was die beiden für einen geeigneten Zeitpunkt hielten, eine Pause einzulegen, ehe sie sich wohl oder übel in den Regen hinaus stürzen mussten, denn sie durften sich ja nicht vom Wetter beeinflussen lassen. Rarias Predigten hatten sich schon in ihren Köpfen festgesetzt – genau wie die Zeitangabe für eine Pause. Zehn Minuten. Und die wollte Nocturn offensichtlich damit verbringen, Youma zu fragen, was mit ihm los sei – ja, was sollte er antworten?

„Ich... weiß es nicht.“ Youma, der ihn vorher nicht angesehen hatte, hob nun langsam den Kopf, um zu Nocturn herüber zu sehen, der ihn verwirrt, aber auch ein klein wenig besorgt ansah. Youma... war auf einen Gedanken gekommen... er wollte etwas versuchen. Einen kleinen Test, bei dem er vielleicht Gewissheit erhalten könnte... aber was war, wenn der Test ihm das zeigen würde, was er fürchtete? Und es war schon ziemlich peinlich, das... das überhaupt zu fragen, aber er konnte es ja nicht tun, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten.

„Youma?“ Seine Stimme klang nun ernsthaft besorgt und dann passierte es; ohne dass Youma es verhindern konnte, purzelten die Worte schon aus seinem Mund:

„Darf ich dein Gesicht kurz berühren?“

 

Oh Gott, er hatte es gesagt. Oh Gott, was hatte er sich nur dabei gedacht?!

 

Was für ein schrecklicher Moment das war, in welchem sie sich befanden! Youma wollte am liebsten wegsehen, nein, noch viel lieber wollte er wegrennen, aber stattdessen hielt er seinen Blick tapfer aufrecht, sah Nocturn in die Augen, mit immer stärker werdendem Herzklopfen. Nocturn wurde nicht rot; er stutzte einfach über die Frage. Er würde ihn jetzt sicherlich noch einmal fragen, was in ihn gefahren war; das... das war wahrscheinlich auch das Beste, denn dann würde Youma die Chance erhalten, das Ganze einfach abzubrechen. Mit einem Lachen. Einfach ein glatter Abbruch dieser Szene und dann würde Youma sich mit Absicht schlagen lassen, damit er all diese Gedanken aus dem Kopf bekam.

„Ich weiß nicht, warum du das willst, aber... von mir aus?“ Jetzt grinste er sogar – er fand das Ganze lustig, sah überhaupt nicht, dass da Tieferes hintersteckte. Musste er auch nicht, denn es steckte nichts „Tieferes“ dahinter und diese Berührung würde es beweisen.

Eine simple, nichtssagende Berührung.  

 

Es war wieder Youmas linke Hand, die sich nach Nocturn ausstreckte; sie zögerte dieses Mal nicht, Youma zwang sie dazu, es nicht zu tun; er wollte kein Zögern, er wollte es hinter sich bringen wie eine lästige Aufgabe. Sie mussten sich wichtigeren Dingen zuwenden als Youmas Gefühlsleben!

Als würde Youmas Hand ihn näher an Nocturn heranziehen wollen, ging Youma einen Schritt näher an ihn heran, womit sie nun genau nebeneinander standen. Seine Hand lag nun an Nocturns Wange; sein Grinsen war verschwunden, aufmerksam blickte er Youma an, beobachtete ihn bei seinem kleinen Experiment, obwohl er nicht wusste, dass es eines war.

 

Man konnte es nicht schönreden; Nocturn war nicht ansehnlich.

Hatte er seine Kontaktlinsen nicht in seinen Augen, war es kein Genuss, in diese zu blicken; diese Augen, die denen eines Raubtieres glichen. Seine Haut war nicht weich, sondern recht rau und jetzt wo er ihn so direkt berührte, er seine Hand gänzlich an seine Wange gelegt hatte und ihn nicht mehr nur mit den Fingerspitzen berührte, bemerkte Youma auch wieder, wie dünn er war; er spürte seinen Wangenknochen deutlich an seiner Hand.

 

Es war alles wirklich nicht... hübsch, weder hübsch anzusehen noch zu berühren... aber warum konnte Youma ihn dann nicht einfach loslassen? Er hatte das Gefühl für die Zeit verloren, achtete nicht einmal mehr auf sein eigenes Herzklopfen, obwohl das der Grund für all das hier war.

Er sah nur noch Nocturn, von dem eine magnetische, magische Anziehungskraft auszugehen schien, die ihn derart in den Bann zog, dass er auch seine Füße nicht bemerkte, die ihn noch einen Ticken näher an Nocturn gebracht hatten. Seine rechte Hand hatte sich ihm unbemerkt förmlich an den Baum festgekrallt, um dem Impuls nicht nachzugeben, sich ebenfalls nach Nocturn auszustrecken.

 

...Woran dachte er wohl? Dachte er genau wie Youma... dass dieser Moment, in dem man den herabtropfenden Regen vergaß... dass dieser Moment... angenehm war? Nur noch ein kleines bisschen. Nur noch ein kleines bisschen wollte er so mit ihm verweilen, eingeschlossen in diesem Vakuum, das nur ihnen...   

 

Und dann durchzuckte ein so heftiger Blitz den dunklen Himmel, dass die beiden förmlich auseinandersprangen, als wäre der Blitz in sie eingeschlagen.

 

Youmas Herz schlug ihm bis zum Hals; er konnte nicht beurteilen, ob es aus Schreck oder Scham war; jedenfalls war sein erster Impuls, sich von Nocturn abzuwenden:

„Wir müssen wieder trainieren!“, rief er ihm mit Nachdruck zu, der sich vor lauter Schreck am Baum festhielt.

„Wir werden den Angriff aus dem Hinterhalt üben; du fängst an! Gib mir drei Minuten Vorsprung!“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, stürzte Youma sich ins nasse Dickicht des Waldes.

 

„Im Ernst, wäre der Blitz nicht eingeschlagen, dann hätte ich etwas getan!“ Youma hörte die aufgebrachte Stimme seines Gönners gar nicht, die ihn nun durch die Bäume begleitete und obwohl er natürlich spürte, dass Youma deutlich abgelenkt war, sprach er trotzdem weiter:

„Weißt du, wie lange ihr euch da angeschmachtet habt?! Sieben Minuten! Sieben! Was ging in deinem Kopf vor, als du diesen wahrlich grandiosen Einfall hattest, Youma-kun?!“

„Ich... ich...“ Youma hatte alle Stärke seiner Stimme aufbringen müssen, um Nocturn gegenüber normal zu klingen; jetzt klang seine Stimme selbst in seinen eigenen Ohren fremd; sie hatte all ihre Stärke verloren, sie zitterte förmlich:

„... ich wollte testen, wie ich reagiere, wenn die Aktion von mir ausgeht. Als Sie mich... gestern Abend berührt haben, da habe ich keine Reaktion gespürt.“

„Weißt du, dass du mir gerade das Herz brichst?“

„...aber jetzt... jetzt hatte ich eine...genau dieselbe noch einmal... und das bedeutet...“ Youma schlug sich die Hand vor den Mund. Er konnte es nicht aussprechen. Aber jetzt wusste er es. Unweigerlich.

 

Er hatte sich in Nocturn verliebt.

 

„Sag mal, Youma, dir ist schon klar, dass du nicht nur unter Geschmacksverwirrung leidest, sondern auch sehr viele Zeichen dafür sprechen, dass Nocturn nach White verlangt, nicht wahr?“  

           

La Ténèbres et la Nuit - Opus II

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„Sag mal, Youma-kun, dir ist schon klar, dass du nicht nur unter Geschmacksverwirrung leidest, sondern auch, dass sehr viele Zeichen dafür sprechen, dass Nocturn nach White verlangt, nicht wahr?“     

 

Youma kam abrupt zum Stillstand, aber anstatt ihn zu fragen, was er damit meinte, verengte er skeptisch die Augen, sich natürlich bewusst, dass sein Gesprächspartner ihn sehen konnte, auch wenn das andersherum nicht der Fall war.

„Wie kommt es eigentlich, dass Sie sich aktuell so für meine Gedanken und mein Tun zu interessieren scheinen?“

„Aber, Youma-kun, ich interessiere mich immer für alles, was du machst!“

„Die letzten Tage waren Sie ziemlich schweigsam und jetzt scheinen Sie alles, was ich denke und tue, zu kommentieren.“

„Das liegt daran, dass du vor wenigen Tagen noch nicht in dein Verderben gerannt bist.“  

„Ob ich in mein Verderben renne oder nicht, ist immer noch meine Angelegenheit.“

„Das wird jetzt wehtun.“

„Wa-“ Aber da traf ihn schon Nocturns Faustschlag mit aller Wucht; die Gewalt des Faustschlags war so groß, dass es ihn gegen einen Baum warf. Youmas Kopf und Rücken dröhnten, aber seine Stimme fand er dennoch schnell wieder:

„Was sollte das denn?!“

„Was das war? Ein Hinterhalt, würde ich meinen! Oder was verstehst du unter „Hinterhalt“? Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde... Ich habe eigentlich mit einem Ausweichen deinerseits gerechnet. Dass ich dich so einfach treffen konnte, wird Raria aber nicht gefallen.“ Ein spöttischer Kommentar des Namenlosen pflichtete dieser Aussage Nocturns bei, was dieser natürlich nicht hören konnte und Youma wählte es zu ignorieren, denn es war alles andere als schmeichelhaft. Die Lust, das Geschehene zu kommentieren, schien ihm auch zu vergehen, als er sah, wie Nocturn grinsend auf Youma zu ging, um ihm aufzuhelfen – und sein Gesicht verzog sich regelrecht, als er mitansehen musste, wie Youma die Hand Nocturns annahm. Nicht mit einem Lächeln, sondern mit einem erröteten Schmollen – was das Ganze noch schlimmer machte. Und dann drückte er seine Hand auch noch fester als es not tat. 

Wo sollte das nur hinführen!?  

 

Der namenlose Dämonenherrscher begutachtete die darauffolgenden Stunden des Trainings mit einem sehr skeptischen Blick, aber als hätte der Schlag Nocturns Youma erst einmal unbarmherzig zurück in die Realität geschlagen, so bemerkte er nicht irgendetwas, das... besorgniserregend war. Youma war vorerst zu seinem seriösen, praktisch denkenden Selbst zurückgekehrt – und der namenlose Dämonenherrscher würde auch dafür sorgen, dass es so blieb.

„Frag ihn“, befahl er Youma mittels Gedankenübertragung, während Nocturn und Youma erschöpft vom Training im Dämmerlicht des schwindenden Tages auf dem Weg zurück waren.

„Frag ihn, warum er White treffen wollte. Los, frag ihn, ich weiß ganz genau, dass es dich interessiert!“ Youma versuchte ganz offensichtlich, die ihn anherrschende Stimme zu ignorieren, aber sein Gönner ließ sich nicht ignorieren:

„Ich werde dich die gesamte Nacht wachhalten, wenn du ihn nicht jetzt fragst – und wenn ich es in deinem Zimmer regnen lassen muss! Also – frag ihn!“ Er würde nicht aufhören, ihn zu plagen; das wussten sie beide, weshalb Youma sich dazu gezwungen sah, aufzugeben; und ja, es interessierte ihn ja auch, das konnte er nicht leugnen...

„Nocturn, ehm...“ Der ehemalige Dämonenherrscher himmelte genervt mit den Augen; jetzt stotterte er schon wieder!

„Ja?“, antwortete Nocturn, mit der Hand bereits am Gartentor, sich nun zu Youma herum wendend.

„Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen... Warum wolltest du White eigentlich treffen?“ Nocturn sah ihn verwundert an, das Gartentor loslassend

„Warum interessiert dich das jetzt? Das Thema ist doch gar nicht mehr relevant?“ Gute Frage, das musste Youma zugeben und wüsste er, wo genau er finster hinschielen müsste, um seinem Gönner einen Vorwurf für dieses Gespräch zu machen, dann würde er es tun.

„Wie gesagt, es hat mich schon die ganze Zeit interessiert und ich mag keine ungeklärten Dinge.“ Youma wollte sich für diese souveräne Antwort stolz auf die Schulter klopfen, beließ es aber bei einem ruhigen Lächeln – was schnell zusammenschmolz, als er sah, wie Nocturn sich nervös zum Haus umblickte.

„Das soll Raria besser nicht hören... lass uns uns zum Trainingsplatz am Meer teleportieren, einverstanden?“ Dem hatte Youma nichts entgegenzubringen und schon teleportierten sie sich an das kleine, steinige Stück Strand, wo Nocturn sich auf einen großen Stein setzte – Youma begnügte sich damit, sich an den Stein zu lehnen; vorerst jedenfalls. Es schien eine längere Geschichte zu werden.

 

„Ich kenne White. Ich habe sie schon einmal getroffen.“ Youma hörte ein triumphierendes Lachen in seinem Kopf, wahrscheinlich weniger wegen Nocturns Worten an sich, sondern wegen der Art, wie er sie aussprach; seine Stimme hatte wieder den verträumten Klang angenommen.  

„Als ich zehn Jahre alt war, traf ich sie. Ich war verletzt, ich hatte sehr viel Blut verloren... ich hatte mich in die Menschenwelt geflüchtet. Es hatte geschneit. Das kannte ich nicht und... das klingt jetzt sicherlich albern, aber die Schneeflocken verwirrten mich nicht nur, sondern machten mir auch Angst. Ich suchte daher, verzweifelt und verletzt wie ich war, Unterschlupf in einer alten Kirchenruine.“ Nocturn machte ein sachtes Kopfnicken nach oben, wo auch das Haus lag:

„Die Kirchenruine liegt nicht weit weg von unserem Haus.“

„Was für ein Zufall...“

„Ich bevorzuge es, es Schicksal zu nennen.“ Er lächelte und fuhr fort:

„Dieser Tag änderte mein Leben und alles... fing mit White an. Ich bin ohnmächtig geworden; vielleicht wäre ich verblutet, aber... das Schicksal brachte White zu mir.“ Youma verstand wirklich nicht, warum sein Gönner wollte, dass er das erfuhr, denn das zu hören bestätigte seine... beginnende Verliebtheit für... Nocturn doch nur noch. Würde dieser Tonfall ihn sonst so schmerzen?

„Sie erweckte mich zu neuem Leben. Ihr Gesicht war das erste, was ich sah, als ich die Augen wieder aufschlug; es war erleuchtet von dem Glasfenster hinter ihr... ihr weißes Antlitz, es strahlte förmlich. Sie sah mich an mit ihren großen weißen Augen, sie fragte mich, ob es mir gut ginge, fragte mich nach meinem Namen, mich... der doch zehn Jahre lang namenlos gewesen war.“ Youma verstand nicht, was er damit meinte, aber Nocturn ließ ihm nicht die Möglichkeit ihn zu fragen, denn er fuhr bereits fort:

„Als White erkannte, dass ich ein Dämon war, eskalierte es und es kam zum Kampf zwischen uns. Seitdem... habe ich sie nicht mehr gesehen. Danach begann mein Leben bei Raria und auch wenn meine Tante immer versucht hat, mir alle Gedanken um White auszureden, vergessen konnte ich sie nie. Raria hat mir vieles gegeben und ich bin ihr aus tiefstem Herzen dankbar für alles, was sie für mich getan hat... aber meine Sehnsucht nach White konnte sie nie stillen.“ Nocturn hob den Kopf und sah mit einem sehnsüchtigen Blick in den Himmel:

„In dem Moment, als ich die Augen damals in der Kirche aufschlug, von dem Moment an, als ich den ersten Atemzug in meinem neuen Leben nahm... seitdem liebe ich sie.“ Dieses Mal hörte Youma kein Lachen in seinem Kopf; vielleicht drang es aber auch einfach nicht zu ihm vor.

„Es war immer mein sehnlichster Wunsch, White wiederzusehen. Ich wollte mich für meine Rettung bedanken, ich wollte mich ihr jetzt richtig vorstellen, ihr sagen, dass ich nicht mehr namenlos bin und dass sie mich mit „Nocturn“ ansprechen könne... ich wollte so gerne, dass sie mal zu einem Konzert von mir kommt, dass sie meine Musik hört. Ich habe ihr viele Stücke gewidmet, in der Hoffnung, meine Hengdi wäre in der Lage, ihr meinen sehnlichsten Wunsch zu übermitteln. Aber kein Klang der Welt... sei er noch so gut gespielt... kann in den Himmel empor schweben.“

 

Sie schwiegen daraufhin sehr lange; Nocturn hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah immer noch in den grauen, überaus fern wirkenden Himmel empor, als könne er die fliegenden Inseln der Wächter plötzlich mit dem bloßen Auge wahrnehmen. Youma wollte das Gespräch eigentlich beenden, aber stattdessen sorgte er dafür, dass es fortgesetzt wurde:

„Und als du mich im Publikum sahst...“ Nocturn deutete ein leichtes Nicken an:

„Ja, da sah ich meine Chance. Raria hat immer verhindert, dass ich mit magischen Wesen in Kontakt komme; genauso vehement, wie sie versuchte, mir jeden Gedanken an White auszutreiben. Sie war der Meinung, dass der Gedanke an White mir schaden würde... richtig verstanden habe ich es nie, aber...“ Youma sah, wie Nocturns Finger sich zu Fäusten ballten.

„... mittlerweile verstehe ich es. Nur dass ich nicht nur mir, sondern auch Raria Schaden zugefügt habe.“    

 

 

Eine 24-Stunden-Verliebtheit also.

Nicht einmal, wenn Youma genauer darüber nachdachte. Ha, so schnell musste er also seine gerade erst entdeckten Gefühle aufgeben. Aber wahrscheinlich hatte sein Gönner recht; es war alles ziemlich unsinnig und passte so gar nicht zu Youma. Zum Glück hatte er das Gespräch provoziert, bevor noch mehr peinliche Dinge geschehen waren! Jetzt musste er diese Gefühle nur so schnell wie möglich wieder abschütteln; er musste Nocturn gegenüber normal sein. Kein lästiges Erröten mehr, kein Gestotter. Keine Hand, die sich nach ihm ausstrecken wollte. Nichts dergleichen. Sie waren Trainingspartner und... ja, Youma glaubte schon, dass er das behaupten konnte: Freunde. Und war das nicht... gut? Er hatte fünf Jahre lang keine andere Gesprächsperson gehabt außer seinen zynischen Gönner; niemanden, dem er sich in irgendeiner Form hätte öffnen können – warum sollte er das jetzt aufs Spiel setzen? Nur wegen einer Hand, die nicht wusste, wo sie hingehörte und ein wenig Herzklopfen?

Nein, das war doch alles albern. Und abgehakt.

 

Als Youma am nächsten Tag – wieder erst am Nachmittag – in der Menschenwelt ankam, spürte er auch schnell, dass ihm das Ablenken von seinen Gefühlen leicht gemacht wurde: er war in einen Streit hineingeraten.

Natürlich konnte er nicht verstehen, was sie sagten – nein, viel eher, was sie einander an den Kopf warfen – aber er hörte deutlich, dass sie sich sehr aufgebracht stritten und der Tonfall war ein anderer als damals, als der Teller zerbrochen war... er war verzweifelter, ernster... die lauten Stimmen der beiden beunruhigten Youma so sehr, dass er sich nicht traute, weiter ins Haus hinein zu gehen. Er blieb an der Tür stehen, als hielte ihn ein magischer Bannkreis davon ab, weiter zu gehen. Die beiden stritten sich so sehr, dass sie nicht einmal bemerkt hatten, dass er gekommen war.

Gegen seinen Willen spitzte Youma die Ohren, um irgendein Wort herauszuhören... irgendeinen Anhaltspunkt... es war Nocturn, der verzweifelt klang... er war es auch, der am meisten sprach, er schrie nun förmlich – Raria antwortete, ebenfalls in einem lauten Tonfall, aber ruhiger als er; ob sie ihn beruhigen wollte? Es war schwer zu beurteilen, aber wirken tat es nicht: Nocturns Stimme wurde noch lauter und dann –

Assez, Nocturn, assez !“

 

Nocturn kam aus der Stube gerannt; er bemerkte Youma nicht, er sah sich nur noch einmal nach Raria um – wie verletzt und traurig er aussah – ehe er die Tür zum Auditorium öffnete und sie mit einem Donnergrollen hinter sich zuschlug.

Kurz darauf folgte auch Raria; sie allerdings bemerkte Youma und warf ihm einen ernsten Blick zu, sich natürlich bewusst, dass er schon eine Weile dort stand. Sie schlug die Augen nieder und erwiderte auf Youmas verwirrten und auch besorgten Gesichtsausdruck:

„Du kannst wieder zurückkehren. Heute wird er nicht mehr herauskommen.“ Sie warf einen düsteren Blick über die Schulter und seufzte aufgebend:

„Ich habe viel zu viele kindische Seiten an ihm zugelassen...“

„Was ist passiert? Weshalb ist er so...“

„Eine Familienangelegenheit.“ Genauso gut hätte sie sagen können „Misch dich nicht ein“. Youma und sie blickten sich ernst an; er wusste, dass er kein Recht darauf hatte nachzubohren, denn wenn sie sagte, dass es eine interne Familienangelegenheit war, dann war es wahrscheinlich wirklich nicht für seine Ohren bestimmt. Aber dennoch...

„Er wirkte sehr traurig.“

„Ja, das ist er wahrscheinlich auch. Daher ist es auch am besten, wenn er jetzt in Frieden gelassen wird, damit er einfach spielen kann, denn so kompensiert er seine Gefühle am besten.“ Youma konnte nichts dagegen tun, dass sich zweifelnd seine Augenbrauen hoben; das Problem hatte nicht danach geklungen, dass es sich mittels ein bisschen Musizieren lösen ließ. Aber Youma gab nach – jedenfalls tat er so als ob.  

Statt sich aber in die Dämonenwelt zurück zu teleportieren, teleportierte er sich auf die andere Seite des Hauses. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass Raria sicherlich bemerkt hatte, dass seine Aura sich nach wie vor auf ihrem Grundstück befand, aber er musste es einfach versuchen; er musste darauf hoffen, dass sie nicht sofort handelte. Er konnte jetzt nicht einfach verschwinden.

 

Da das Auditorium direkt an der Klippe lag, gab es nur einen sehr kleinen Vorsprung, auf dem Youma nicht hätte entlangbalancieren können; aber zum Glück konnte er ja fliegen. Er ging also so weit er konnte und legte den letzten Rest schwebend zurück; ein ganz schöner Aufstand, nur um wahrscheinlich gleich unter großem Geschrei herausgeworfen zu werden.

Aber als er Nocturn hinter den Glasscheiben des Auditoriums entdeckte, wusste er, dass es den Aufstand wert war. In sich gekauert hockte dieser an dem großen Flügel, welcher sich in der Mitte des Zimmers befand und starrte auf die Tasten. Es sah wirklich nicht danach aus, als würde er irgendwie musizieren wollen. Er hatte sogar Youma nicht bemerkt; er musste an der Fensterscheibe klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Erst da hob er ruckartig den Kopf und seine geröteten Augen trafen seine. Er sah kurz verbissen weg, doch dann durchquerte er entschlossen den Raum, sich dabei die Augen trocken wischend.

 

Als er Youma das Fenster öffnete, zwang er sich sogar zu einem Grinsen:

„Was machst du denn am Fenster? Das Auditorium hat zwei Doppeltüren, die sind eigentlich vom Gang nicht zu übersehen?“

„Deine Tante hat mich vor die Tür befördert.“

„Oh, dann sollte ich dich eigentlich nicht hereinlassen...“

„Ich nehme die Verantwortung und ihre Wut auf mich.“

„Sehr gewagt.“  

 

Er versuchte also, alles normal klingen zu lassen, aber sein Lächeln war gezwungen; das erkannte Youma überraschend leicht, weshalb er auch nicht willig war, sich auf Nocturns Theaterspielen einzulassen.

„Was ist passiert? Weshalb habt ihr euch gestritten?“ Nocturn hatte sich wieder auf die kleine Bank vor dem Flügel gesetzt und antwortete Youma mit einem galanten Lächeln, dass es eben ab und zu mal vorkäme, dass sie sich stritten. Der Angesprochene fiel darauf natürlich nicht herein und setzte sich ohne um Erlaubnis zu fragen zu ihm auf die Bank. Darauf, dass die Bank eigentlich nicht für zwei Personen geeignet war, achtete Youma im Moment nicht; auch darauf nicht, dass sich ihre Oberschenkel nun zwangsweise berührten.

„Ihr habt euch wegen etwas anderem gestritten und zwar wegen demselben, weshalb du immer mal wieder so traurig aussiehst; dem gleichen Grund, weshalb du bei ihrem Spiel so niedergeschlagen warst! Verkauf mich doch nicht für blöd, ich merke doch, dass hier was nicht stimmt?!“ Wie deutlich es in Nocturns Augen abzulesen war, dass ihn das, was Youma gerade gesagt hatte, überrascht hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm sein Verhalten aufgefallen war; er hatte geglaubt, dass er perfekt gespielt hatte. Und die Frage, was er falsch gemacht hatte, stand plötzlich deutlich in sein schockiertes Gesicht geschrieben.

„Nocturn, wenn du es mir nicht sagen kannst...“ Er wandte seinen Blick ab, sah wieder wie versteinert auf die weißen Tasten, auf seine darauf liegende Hand.

„... dann sag mir wenigstens, was das Wort „roi“ bedeutet.“ Als dieses Wort plötzlich im Raum ertönte, folgte auch ein lauter, heller Ton des Flügels; Nocturn war mit der Hand weggerutscht. Youma beobachtete ihn genau, er sog jedes noch so kleine Detail seiner Körpersprache in sich auf; wenn er es schon nicht mit Worten sagen konnte, dann vielleicht anders.

Youma war auf der richtigen Spur, er spürte es förmlich. Wenn das Wort, was so oft in ihrem Streitgespräch gefallen war, das bedeutete, was er glaubte, dann...

„Es bedeutet nicht zufällig „König“?“

Youma hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen: Nocturn war erstarrt, hatte dann langsam den Kopf gehoben, mit einem verwirrten, überraschten Gesichtsausdruck, den Youma aber nicht lange sah, denn er war schon aufgestanden.

Aber nicht ohne vorher noch einmal fest Nocturns Schulter zu drücken. Das durfte er doch als Freund, oder? Das war doch noch im Rahmen des.... Annehmbaren?

„Was hast du vor?!“, rief Nocturn ihm hinterher, auf der kleinen Bank zu ihm herumwirbelnd.

„Ich werde gegen die Löwin antreten.“

 

Sie erwartete ihn bereits mit gefletschten Zähnen.

Mit den Armen vor der Brust verschränkt stand Raria auf ihn wartend vor der Tür zum Auditorium. Natürlich hatte sie gespürt, dass er sich nicht in die Dämonenwelt aufgemacht hatte; umso größer war Youmas Verwunderung, dass sie ihn nicht davon abgehalten hatte, mit Nocturn zu sprechen, denn sie war scheinbar alles andere als glücklich darüber, dass Youma nun mehr wusste, als sie es geplant hatte – denn auch das wusste sie, er sah es in ihren Augen, in ihrer Wut.

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und bedeutete ihm tonlos, ihr in die Stube zu folgen, wo sie auch ohne Umschweife begann:

„Wie hast du es aus Nocturn herausbekommen?“

„Er hat mir nichts gesagt. Ich habe es an seiner Körpersprache erkannt.“

„Lüg nicht!“, warf sie ihm wutentbrannt entgegen und Youma spürte, wie er tatsächlich das Gefühl hatte, kleiner zu werden, aber er hielt seine ernste Miene aufrecht, nicht gewillt sich einschüchtern zu lassen; oder jedenfalls sich anmerken zu lassen, dass er es war.

„Nocturn würde niemals zulassen, dass irgendetwas an seiner Körpersprache abzulesen wäre! Wenn er eine Rolle spielt, dann spielt er sie auch perfekt...“ Raria unterbrach sich selbst; ihr war ein Gedanke gekommen; ein Gedanke, der ihr nicht zu gefallen schien. Kurz schwieg sie, gänzlich mit diesem einen Gedanken beschäftigt, dann warf sie Youma plötzlich einen so wutentbrannten und düsteren Blick zu, dass er das Gefühl bekam, ein Speer hätte ihn durchbohrt.

 

Aber diese überaus finsteren Gedanken, die sie für Youma auf einmal zu nähren schien, schien sie nicht in Worten ausdrücken zu wollen – stattdessen wandte sie sich ab, erschöpft, wie es Youma schien, denn sie seufzte tief und überaus verärgert. Eine Gelegenheit, die Youma nutzte, um das Thema anzureißen, über das er eigentlich sprechen wollte; auch wenn ihre Reaktion recht furchteinflößend war, er benötigte Klarheit:

„Raria-san, ich bitte Sie darum, mir zu erklären, was genau Sie mit Nocturn und mir vorhaben und worauf das Training hinausläuft. Was bezwecken Sie mit dem Ganzen?“ Da sie nicht antwortete und es auch nicht zu wollen schien, fuhr Youma fort, denn er hatte sich natürlich schon so seine Gedanken gemacht:

„Was genau Sie bezwecken ist mir nicht klar, aber es ist offensichtlich, dass Nocturn eine entscheidende Rolle in Ihren Plänen einnimmt, ansonsten würden Sie ihn nicht extra hart kritisieren. Aber was auch immer Sie mit ihm vorhaben, so scheint er ganz offensichtlich gegen Ihre Pläne zu sein. Wäre er sonst so oft bedrückt? Es muss etwas sehr Entscheidendes, Unwiderrufliches sein, ansonsten würde er sich nicht mit Ihnen, die er so sehr verehrt, streiten! Was ist es?!“

„Denkst du wirklich, dass dich das was angeht?“ Youma war nicht gewillt, sich von so einer Antwort abspeisen zu lassen:

„Ja! Ja, das denke ich in der-“ Raria unterbrach ihn, nicht länger wütend, wie es Youma vorkam, sondern sehr ernst:

„Dir muss bewusst sein, Junge, dass sich deine Rolle in diesem Stück dann entscheidend verändert. Bis jetzt warst du ein Zuschauer, der über ein wenig mehr Wissen als andere Zuschauer verfügte, aber wenn du mehr erfährst, wirst du zu einem Mitspieler. Ist es das, was du willst? Überlege es dir gut, denn es gibt dann kein Zurück mehr.“ Als ob er diesen Punkt nicht schon längst überschritten hätte – und gerade deshalb war seine Antwort auch von felsenfester Härte: 

„Ich habe mich schon längst entschieden. Also sprechen Sie!“ Raria, die sich seitlich von Youma abgewandt hatte, drehte sich nun wieder zu ihm herum, legte den Kopf in den Nacken und gab Youma die langersehnte Aufklärung:

 

 

„Ich bilde Nocturn dazu aus, Kasra töten zu können.“

 

 

Youma sah Raria genauso schockiert an wie Nocturn es getan hatte, als Raria es ihm erzählt hatte.  

Ich? Den... Dämonenkönig töten?“ Ein eigenartig gezwungenes Lächeln tauchte auf Nocturns Gesicht auf, was Raria nicht erweichte. Sie stand vor ihm, die Hand auf seiner Schulter, mit einem Blick, der von nichts erweichbar schien. Ihr war daher ganz und gar nicht nach Spaßen zumute. Nocturn glaubte auch nicht, dass sie Spaß machte – und das machte das Ganze umso schlimmer; noch unglaublicher.

„Ich kann ja nicht einmal seine Gedanken lesen... Ich bin nicht stark genug, um gegen ihn anzukommen! Er ist doch nicht umsonst der Herrscher der Dämonen; wie könnte ich, der gar kein Leben als Dämon führt, ihn mit klarem Verstand herausfordern und wie könnte ich... überhaupt darauf hoffen, zu gewinnen?“

„Du brauchst ihn nicht herauszufordern. Er wird sowieso irgendwann versuchen, dich umzubringen. Deswegen musst du vorbereitet sein und ihm zuvorkommen. Dieser Weg ist der einzige, der uns übrig bleibt zu gehen.“ Wahrscheinlich sollte Nocturn darüber überrascht sein, dass der Dämonenkönig, mit dem er kaum ein Wort gewechselt, den er bis jetzt nur einmal gesehen hatte und der sogar von ihm angetan zu sein schien, ihn irgendwann umbringen wollte, aber das war er nicht. Er hatte zwar seine Gedanken nicht lesen können, aber die Boshaftigkeit, die er gespürt hatte, als er es versucht hatte, war zu allumfassend, als dass Nocturn es anzweifeln würde.

 

„Warum soll das die einzige Möglichkeit sein?“, fragte nicht Nocturn, sondern Youma, als Raria das Gespräch wiedergab. Nocturn hatte die Antwort auf diese Frage nicht interessiert; wenn Raria sagte, dass es die einzige Möglichkeit war, dann war es auch die einzige. Aber Youma vertraute ihrem Urteil nicht; jetzt erst recht nicht, nachdem er von ihrem Vorhaben erfahren hatte. Nocturn war ein guter Kämpfer, ganz ohne Zweifel, aber man musste mehr als „ein guter Kämpfer“ sein, um sich einbilden zu können, gegen Kasra anzukommen; gar ihn umbringen zu können. Nocturn hatte recht; Kasra war nicht umsonst der Herrscher der Dämonen. Er war es, weil er der stärkste und mächtigste Dämon war! Was war nur in Raria gefahren?!

„Weil Kasra Nocturn umbringen wird, daher muss er getötet werden, ehe er dies tun kann.“ Ein hohles, Youmas Wut kaum zurückhaltendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus:

„Ha, wohl doch noch sehr dämonisch veranlagt? Das ist jedenfalls ein sehr dämonisches Herangehen…“ Aber Raria war selbst gereizt, weshalb sie genauso wenig ein Blatt vor den Mund nahm wie umgekehrt:

„Oh, die Meinung eines Wächters würde mich sehr interessieren – was wäre denn dein Vorschlag?“ Youma, der nicht davon ausgegangen war, dass sein Wächterblut so auffällig war, da er recht gut gelernt hatte, es zu verbergen, war überrascht über diese Aussage und seine Wut wich der Überraschung:

„Woher…“

„Als ob das so schwer zu bemerken wäre! Ich habe an den Kriegen teilgenommen! Ich habe gegen Wächter gekämpft, ich habe Wächter getötet – ich erkenne Wächter, wenn ich vor ihnen stehe!“ Fiel sie ihm ins Wort und fuhr weiter aus:

„Das ist jetzt auch gänzlich nebensächlich; ich möchte deine Vorschläge hören, Youma! Erzähl mir, was du getan hättest, damit ich dämonisches Wesen etwas dazulernen kann!“

 

Es gab keinen Weg daran vorbei: auch wenn Youma Rarias Entschluss und ihre Vorgehensweise anzweifelte, so war sie dennoch überaus einschüchternd. Dennoch riss er sich zusammen:

„Der König ist sehr angetan von Nocturn. Natürlich, es gibt bei Kasra keine Überlebensgarantie, aber solange er sich in seiner Horde gut bewährt, sollte die Gefahr, dass er stirbt, nicht allzu hoch sein – und wenn Nocturn seine Arbeit gut macht, dann hat Kasra sicherlich auch kein größeres Interesse an Ihnen und während Nocturn am Krieg teilnimmt, können Sie hier weiterhin Ihr gemütliches Leben führen. Ich denke, das wäre durchaus möglich und eine realistischere Alternative als Nocturn in die Höhle des Löwen zu schicken! Sie schicken ihn in den sicheren Tod!“

„Du auch!“ Mit entschlossenen Schritten verringerte Raria den Abstand zwischen ihnen, sich weiterhin mit verschränkten Armen direkt vor ihn stellend. Ein zutiefst ernster Blick lag auf ihm, durchbohrte ihn. Ihre Augen zeigten Ruhe und zugleich tiefste Wut; nur war ihre Wut nicht zügellos, wie es bei den meisten der Fall war; sie war kontrolliert und genau aus diesem Grund war sie in der Lage, ihre Argumente überaus treffend zu formulieren:

„Ich weiß, dass Kasra glaubt, dass Nocturn das Kind von ihm und Menuét ist und ich weiß auch, dass das der Grund ist, weshalb du ihn überhaupt gesucht und schlussendlich gefunden hast.“ Youma sah verwirrt aus:

„Ja, das ist wahr, aber was hat das damit zu tun?“

„Was glaubst du, was passiert, wenn Kasra herausfindet, dass Nocturn nicht mit ihm verwandt ist?“ Youmas Verwirrung nahm zu, was Raria beinahe mit grimmiger Genugtuung beobachtete, denn er verstand plötzlich, worauf sie hinauswollte:

„Dann… dann würde Kasra Nocturn unweigerlich töten. Aber… das kann nicht sein, Karou hat bestätigt, dass Nocturn der Sohn des Königs ist – natürlich wollte Kasra auf Nummer sicher gehen und Karou meinte, es gäbe keinen Zweifel!?“

„Natürlich behauptet Karou das!“, rief sie:

„Aber das ist gelogen. Nocturn ist Menuéts Sohn. Aber nicht Kasras.“ Geschockt über diese Neuigkeit starrte Youma sie an, langsam begreifend, dass es, so wie die Dinge verlaufen waren, tatsächlich darauf hinauslaufen würde, dass Nocturn Kasra unweigerlich gegenüber... oh Gott.  

 

„Verstehst du jetzt, warum es keine Alternative gibt? Vielleicht wäre es gut gegangen; vielleicht sogar ein paar Jahre, aber Kasra ist ein misstrauischer und intelligenter Dämon – ein Funken Skepsis hätte genügt und Karous Worte wären nichtig gewesen!“ Youma, der das Bild eines gegen Kasra kämpfenden und sterbenden Nocturns nicht aus dem Kopf bekam, antwortete mit leiser Stimme:

„Aber selbst wenn Nocturn stark genug sein sollte, um Kasra zu besiegen… Das Gesetz der Dämonenwelt schreibt vor, dass er dann der nächste König werden würde.“ Raria antwortete nicht. Sie musterte ihn schweigend, erwiderte seinen Blick immer noch ernst und undurchdringbar – dann wandte sie ihm den Rücken zu und entfernte sich von ihm, ganz so, als wäre das Thema beendet, aber das war es nicht für Youma:

„Das ist es doch nicht, was er will! Er will kein Leben als Dämon, er will hier bei Ihnen leben, mit seiner Musik, in dieser Welt!“

„Das ist der Preis, den er für seine Dummheit zahlen muss.“

Was?!“

„Er hätte dich nicht ansprechen dürfen. Er hätte ein gut erzogenes Kind sein sollen und sich hierher zurückbegeben sollen, genauso wie ich es ihm eingebläut habe zu tun, sobald er Dämonen spürt. Dann wäre all das nicht passiert. Aber nein, er musste sich unbedingt an Traumgebilde klammern und einer Wächterin hinterher rennen, die sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an ihn erinnert, obwohl ich ihm auch das verboten habe.“

 

„Weil er sie liebt!“ Raria sah über die Schulter hinweg und zurück zu ihm, mit einem undefinierbaren Blick:

„Er liebt sie! Ich habe keine Ahnung warum, aber er tut es! Natürlich ergreift er jede Möglichkeit, sie wiederzusehen! 14 Jahre hat er nun schon gewartet, sie vermisst! Wissen Sie überhaupt, wie sehr er sich nach einem Treffen mit ihr sehnt?! Natürlich war es naiv von ihm, aber es war ein Wunsch, der seinem verliebten Herzen entsprungen ist! Er hat keine Untat begangen, nur weil er ein Treffen mit ihr möglich machen wollte – Sie hätten es von Anfang an nicht unterbinden dürfen!“

„Was ich unterbinde und was nicht, das liegt ganz alleine in meinem eigenen Ermessen.“ Sie drehte sich nun zu ihm herum und zeigte mit einem eiskalten Blick auf die Tür:

„Und jetzt verlässt du mein Haus. Morgen erscheinst du pünktlich und weniger frech zum Training, verstanden?!“

 

Zorn stand in Youmas Gesicht geschrieben; der Regen trommelte auf seine Schultern, durchnässte seine Haare, seine Kleidung – aber er war zu wütend, um darauf Acht zu geben.

Er wusste, was zu tun war. Er wusste, wo er hinmusste.

Sein Gönner wusste es auch; er war dagegen, aber er spürte, dass es keinen Sinn machte, Youma davon abhalten zu wollen.

Es war ohne Zweifel dumm. Aber aus Liebe tat man nun einmal oft Dinge, die rational gesehen nicht erklärbar waren.   

 

La Ténèbres et la Nuit - Opus III

Youma kehrte erst spät in dieser Nacht zurück in das Schloss seines Gebieters und obwohl mehrere Stunden seit dem Gespräch mit Raria vergangen waren, so spürte er immer noch die Wut in sich. Er ging zu emotional an die Sache heran, dessen war er sich bewusst, doch auch objektiv betrachtet war Rarias Vorhaben doch nichts anderes als hirnrissig! Umso länger er darüber nachdachte, umso wütender wurde er. Aber nicht nur auf sie, sondern auch auf sich selbst: warum hatte er nur nicht schon früher das Gespräch gesucht? Vielleicht hätte es denn noch eine Möglichkeit gegeben, das Unvermeidliche zu verhindern… aber jetzt sah er keinen anderen Weg als den, den Raria geplant hatte, nur dass ihr Vorhaben scheitern würde.

Es war zu spät, es aufzuhalten.

Nicht mehr lange und Kasra würde Ergebnisse sehen wollen und Raria hatte recht; wie lange würde er brauchen, um zu bemerken, dass Nocturn nicht sein Sohn war? Ob Raria darauf warten würde, bis er es herausfand, oder würde sie Nocturn vorher angreifen lassen?

Wie abstrus das Ganze in seinen Ohren klang.

Nocturn hatte doch keine Chance gegen Kasra.

Sie schickte ihn in den sicheren Tod.

 

Youma verlangsamte seine Schritte. Er war stehen geblieben, als ihn die Erkenntnis plötzlich mit voller Wucht traf und herunterzuziehen drohte.

Nocturn würde sterben.

Kasra würde mit ihm dasselbe Spiel spielen wie mit all den anderen, die er umgebracht hatte.

 

Youma zwang sich dazu weiter zu gehen, nicht an die Morde zu denken, bei denen auch er dabeigewesen war, diese Bilder zu unterdrücken, die sich ihm aufdrängten. Denk nach, beschwor er sich, denk nach – es musste eine andere Möglichkeit geben. Es musste. Er musste sich von seiner Wut befreien und das Ganze rational betrachten. Raria war eine intelligente Frau – und sie liebte Nocturn. Auf ihre ganz eigene Art; sie war zwar streng und der Gedanke, dass Nocturn „selbst schuld sei“… nein, den konnte Youma einfach nicht akzeptieren.

Aber würde sie Nocturn einer solchen Gefahr aussetzen, wenn sie nicht davon überzeugt wäre, dass er den Kampf gewinnen würde? Und was war seine Rolle in diesem großen Ganzen? War er wirklich einfach nur ein Teil des Publikums? Einfach nur Nocturns Trainingspartner? Aber bereits einmal hatte Raria bewiesen, dass sie vorausdachte; sie hatte darauf vertraut, dass er nichts über deren Trainingsort und ihre Existenz erzählen würde… vielleicht plante sie wieder voraus, immerhin hatte sie ihn nur vor die Tür gesetzt mit der Aufforderung, dass er am nächsten Morgen wieder zum Training auftauchen müsse.

Mehr und mehr bekam Youma das Gefühl, dass er nur einen Teil von ihrem Plan erfahren hatte. Es steckte mehr dahinter.

Aber was?

 

„Geht es meinem Kleinen gut?“

 

Youma hatte eben die massive Flügeltür geöffnet, die ihn zum Schacht bringen würde, der alle Etagen miteinander verband; doch als diese kleine, helle, hohe Stimme ertönte, da ließ er sie wieder los und mit einem Donnern fiel sie zurück ins Schloss.

 

Wachsam drehte er sich herum und war überrascht, die Person, die ihm gerade diese Frage gestellt hatte, weit entfernt von ihm stehen zu sehen; ihre Stimme hatte geklungen, als würde sie direkt hinter ihm sein…?

„Nathiel-san; guten Abend.“ Youma bemerkte es selbst; seine Stimme klang ein wenig nervös.  Aber weshalb? Es war vielleicht nicht unbedingt Nathiel als Person, die die Nervosität in ihm schürte, sondern der Eindruck, den sie hinterließ. Wie sie da stand; im Schatten der hohen Säulen, mitten auf dem roten Teppich, ihn nicht ansehend, sondern etwas an der Wand anstarrend… hing dort nicht das Gemälde Menuéts? Youma konnte es nicht genau sagen, da die Säulen ihm die Sicht versperrten, aber er war sich recht sicher… dieses riesige, nicht unbedingt hübsche Steingemälde, das Kasra für seine verstorbene „Frau“ hatte machen lassen und für das so viele hatten sterben müssen, weil Kasra einfach nicht zufrieden sein wollte… das jedenfalls hatte Youma gehört, denn er selbst hatte Menuét nicht kennengelernt und war zum Zeitpunkt des Entstehens des Kunstwerkes noch nicht in der Dämonenwelt gewesen. Aber die Erzählungen, die er vom Personal aufgeschnappt hatte, klangen sehr… eigenartig. Kasra sollte zu dieser Zeit sehr aufgebracht gewesen sein und die, die er wegen dem Gemälde umgebracht hatte, hatte er angeblich aus Wut getötet; nicht aus Spaß oder Vergnügen, wie er es sonst tat.

Youma wusste nicht, was furchteinflößender war.  

 

Nathiel bewegte sich nicht; auch nicht, als Youma sich neben sie gestellt hatte. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust, mit ihr zu sprechen – sie war ihm schon immer komisch vorgekommen – aber es erschien ihm sehr unhöflich, sie einfach stehen zu lassen, wo sie ihn doch angesprochen hatte.

Doch sie begann nicht sofort ein Gespräch. Mit einem… undefinierbaren Blick betrachtete sie das Gemälde vor ihr und sagte dann erst nach einer Weile:

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Youma-san.“ Das hatte Youma in der Tat nicht; er musste zugeben, dass er die Frage vergessen hatte:

„Von wem sprechen Sie denn? Etwa von Nocturn?“ Ein Zucken verzerrte für einen kurzen Moment ihr Gesicht – aber warum? Weil er seinen Namen genannt hatte?

„Geht es ihm gut?“, bohrte sie weiterhin nach, was Youmas Skepsis mehr und mehr steigerte.

„Ja, es geht ihm gut. Sie kennen ihn?“

„“Kennen“?“ Ihre kleinen, roten Augen huschten zu ihm herüber, zum ersten Mal, seitdem sie das Gespräch begonnen hatte. Ein Schauer lief Youma den Rücken herab; aber warum?

„… kennen ist nicht das richtige Wort.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern… nein, eher ein Zischen. Wie das einer giftigen Schlange.

„Wir sind mehr als… Bekannte… mehr als was Sie begreifen können. Wir sind durch mehr verbunden… als dass irgendwelche Worte es beschreiben könnten. Hat Raria mich denn nie erwähnt?“

„Nein“, antwortete Youma sofort und fügte auch noch mit Nachdruck hinzu:

„Nein, das hat sie nicht.“ Er wollte das Gespräch beenden; hier und jetzt und zwar sofort. Er wusste nicht warum, aber er spürte auf einmal eine unergründliche Gefahr von ihr ausgehen; eine Gefahr, die in ihm große Unruhe weckte.

 

Er wollte sich auch schon von ihr entfernen, als ihm plötzlich etwas auffiel; etwas, worüber er schon längst hätte stutzen müssen – Nathiel sprach von Raria. Nathiel hatte Raria schon einmal erwähnt gehabt; er hatte es nur vergessen, am Anfang – noch ehe er selbst Raria überhaupt getroffen hatte.

„Woher kennen Sie Raria?“ Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf Nathiels Gesicht aus:

„Wieder dieses Wort. Und wieder passt es nicht. Aber ich möchte auch nicht über sie sprechen. Was denken Sie über meinen Kleinen? Mögen Sie ihn?“ Aber Youma fiel ihr ins Wort, ohne ihre Frage wirklich gehört zu haben:

„Wissen Sie etwa etwas darüber, was zwischen Kasra und Raria vorgefallen ist und warum sie sich in der Menschenwelt versteckt hält?“ Sie verzog das Gesicht wie ein Kind, das seinen Lebertran nehmen musste:

„Darüber will ich nicht sprechen. Ich will gar nicht über Raria sprechen. Raria ist uninteressant! Erzählen Sie mir etwas von…“ Aber Youma war nicht länger gewillt, ihr die Zügel des Gespräches zu überlassen; er war auch nicht länger gewillt, sich von ihr verängstigen zu lassen. Was war sie schon? Eine kleine, schwache Dämonin, deren Aura nicht sonderlich stark war – es gab definitiv nichts an ihr, was irgendwie beängstigend sein sollte.

 

„Sie wissen es, nicht wahr?! Sie haben mich schon vor Raria gewarnt, ehe ich überhaupt mit ihr in Kontakt gekommen bin! Was steckt hinter dem Ganzen?!“ Nathiel schüttelte zurückweichend den Kopf; jetzt war sie es, die vor Youma zurückschreckte, aber er ließ sie nicht gehen. Seine Hand schnellte hervor und packte ihren Oberarm:

„Keine Geheimnisse mehr! Ich will die…“

„Lassen Sie sie sofort los.“

 

Youma folgte dieser Aufforderung nicht sofort; mit skeptischem Blick sah er über die Schulter und in Karous Gesicht, seine Augen – was für ein finsterer Blick! Youma war kurz überrascht; er hätte nicht gedacht, dass der sonst immer so gefühllos wirkende Dämon überhaupt zu so einem Blick fähig wäre.  

„Der König erwartet Sie.“ Seine Augen entspannten sich sofort, kehrten zu seiner monotonen Maske zurück, als er sah, wie Youma Nathiels Arm losließ und sie sich von dem Halbdämon zurückzog. Karou warf ihr auch kurz einen Blick zu, den Youma allerdings nicht zu deuten vermochte; Nathiel aber scheinbar schon, denn sie verschwand.

„Er ist ungehalten“, fuhr Karou fort als wäre nichts geschehen:

„Sie sind zu spät.“

 

War das eine Warnung oder eine Drohung?

 

Es war womöglich eine Mischung aus beidem, aber als Youma den Thronsaal betrat, bemerkte er nicht nur Kasras Wut – sondern auch etwas anderes, was er allerdings sofort wählte, nicht zu kommentieren; er spürte Lichtmagie im Raum. Und da Kasra der einzige Dämon im Saal war, bedeutete das, dass er es war, der Lichtintus hatte.

Kein Wunder, dass er wütend war – Lichtintus war eine schmerzhafte, überaus unangenehme Erfahrung. Das Licht der Hikari war wahrlich furchteinflößend; war es doch die einzige Magie, die direkt in den Körper der Dämonen eindrang und sie von innen zersetzte. Das einzige, was einen davor retten konnte, war das so genannte „Anti-Licht“; ein zu injizierendes Serum, sehr wertvoll, da es teuer war in der Herstellung. Natürlich besaß der König genug Anti-Licht, weswegen sein Leben nicht ernsthaft in Gefahr war, aber das Anti-Licht rettete einem nur das Leben; es ersparte einem nicht die Schmerzen.

 

Kasra ließ sich auch nichts anmerken und hätte Youma nicht so ein außerordentlich gutes Gespür für Lichtmagie, dann hätte er es wahrscheinlich auch nicht bemerkt. Sein König hatte wahrscheinlich bereits eine Behandlung mit Anti-Licht hinter sich, aber dennoch waren Reste der Lichtmagie noch in seinem Körper. Die Anti-Licht-Methode war nun einmal nicht perfekt.

 

Am liebsten wollte Youma an der Tür stehen bleiben – womit er immerhin mehr als 100 Meter Abstand hätte zu Kasra – aber das war natürlich nicht möglich. Er legte also den Abstand hinter sich und vollführte das obligatorische Verneigen seines Kopfes, sobald er bei Kasra angekommen war – dieses Mal sogar ein wenig tiefer als normal, sich Kasras Wut und der Schwierigkeit des Themas bewusst. Nocturn und Raria waren beide gute Schauspieler, aber Youma konnte nicht gerade behaupten, eine künstlerische Ader zu besitzen.

 

Kasra schien heute entweder ungeduldig zu sein oder schlichtweg keine Zeit zu haben, denn er kam sofort zum Punkt und wartete auch nicht darauf, dass Youma den Kopf wieder gehoben hatte:

„Da du wieder einmal so lange weg gewesen bist, gehe ich davon aus, dass das Training meines Sohnes gute Fortschritte macht.“ Eilends hob Youma den Kopf wieder, denn es war nie gut, Kasra nicht zu sehen. Wie viele hatten schon den Fehler begangen und einfach auf den Boden gestarrt in der Hoffnung, der Schrecken würde dann einfach vorbeiziehen? Aber das tat er nicht und es war besser, darauf vorbereitet zu sein; man gab Kasra viel zu viel Angriffsfläche, wenn man ihn nicht im Visier hatte.

 

Anstatt ihm allerdings direkt zu antworten, deutete Youma nur ein Nicken an, welches den eben noch genervt umher gehenden König zum Stillstand brachte. Er musterte ihn kurz genauso eindringlich wie umgekehrt und antwortete dann:

„Warum so ruhig heute, Youma?“

„Ihr erscheint mir schlechte Laune zu haben, Majestät. Ich möchte dieser Laune nicht noch mehr Nährboden geben.“ Das hätte eine gefährliche Antwort sein können, aber genau deswegen wusste Youma, dass es keine war: er hatte bereits geahnt, dass dieser Tollkühn Kasra eher belustigen würde als das Gegenteil. Und tatsächlich: Kasra hob grinsend die Augenbraue und schien sich ein wenig zu entspannen. Er lachte sogar kurz:

„Wie nett, dass du dir solche Gedanken um mein Gemüt machst – ist meine Laune so offensichtlich?“ Wieder deutete Youma ein sachtes Nicken an.

„Ach, Youma! Du könntest doch gar kein Grund sein für meine schlechte Laune…“

 

Wieder einmal tat Kasra es. Wieder einmal schaffte er es. Youma hatte sich innerlich auf alles vorbereitet – auf weitere gebrochene Knochen, auf Demütigung, auf Schmerzen – aber nicht auf das. In dem Moment, in welchem Youma für einen kurzen Augenblick die Augen niedergeschlagen hatte, hatte Kasra plötzlich seine linke Hand erhoben und als Youma die Augen wieder öffnete, hatte der König seine Hand an dessen Wange gelegt.

 

„…dafür amüsierst du mich doch viel zu sehr.“

 

Youmas gesamter Körper erstarrte zu Eis; er wollte am liebsten rückwärts zurückweichen, tat es aber nicht – ja, aus Furcht. Was tat Kasra da? Warum tat er das? Was lag hinter dieser… merkwürdigen Geste, diesem zutiefst zufriedenen und überaus unheilschwangeren Lächeln, welches Youma nicht loszulassen schien? Natürlich – es war Youmas Schock, seine aufgerissenen Augen und die Furcht, die Kasra darin lesen konnte, die all seine schlechte Laune vertrieben hatte, aber da war… mehr. Und gerade dieses „mehr“ und diese Hand an seiner Wange machten Youma unglaublich nervös.

 

Er sollte ihn lieber schlagen, anstatt… so was zu machen – aber Kasra tat es nicht. Er löste seine Hand ganz langsam, ja, fast sogar sanft, von Youmas Wange, seine Haare fielen wieder auf ihren Platz zurück, aber das war das einzige an Youma, das sich bewegte.

 

„Eine Woche“, begann Kasra, sich wieder von ihm entfernend, ihn aber dennoch genau beobachtend, keine Geste, keine Regung Youmas verpassen wollend:

„Das sollte genügen, oder, Youma? Ich bin so ungeduldig und gespannt – ich möchte endlich Ergebnisse sehen!“  

 

Youma hörte, wie er es bejahte, wie er seinem König so souverän wie möglich versicherte, dass eine Woche mehr als ausreichend sei, dass sie große Fortschritte machten… dass er einfach irgendetwas sagte, um endlich diesen Raum zu verlassen. Um sein Herz zu beruhigen, um sich wieder sammeln zu können, aber selbst als er endlich im Bett lag, fand er keine Ruhe. Was sollte das nur? Was hatte er damit aussagen wollen? Wollte er überhaupt etwas aussagen oder war das nur eine seiner kranken Ideen gewesen?

Nein, nein – irgendetwas sagte Youma, dass es mehr als das war. Er sah es nur noch nicht. Es lag vor ihm, aber er sah es nicht.

 

Dieser Gedanke und der, dass sie nur noch eine Woche hatten, hielt ihn vom Schlaf ab: er schlief sowieso nie besonders gut, seitdem er in der Dämonenwelt lebte; die Angst, plötzlich aus dem Schlaf gerissen zu werden, war einfach zu groß – und leider keine unberechtigte Angst.

Youma hatte erst um zwölf bei Raria und Nocturn sein müssen – und er war sich bewusst, dass Raria ihm nicht umsonst gedroht hatte, dass er pünktlich sein solle und dass sechs Stunden zu früh definitiv alles andere als pünktlich war, aber sie würde ihm sicherlich verzeihen, wenn er ihr berichtete, dass sie nur noch eine Woche Zeit hätten und sich daher beeilen müssten. Jetzt würde sie es sicherlich gestatten, dass sie endlich andere Dinge trainierten als… dieses elendige Basistraining.

 

 

Wegen der frühen Uhrzeit betrat Youma das Haus vorsichtig, aber seine Rücksichtnahme schien nicht von Nöten zu sein, denn die Bewohner des Hauses waren schon wach – jedenfalls Nocturn, denn sein Spiel auf der Flöte erfüllte das Haus. Die sachten Klänge seiner Flöte beruhigten sein Gemüt; etwas zu sehr sogar, denn er fühlte sich plötzlich von einer starken Melancholie erfüllt, die nicht nur sein Gemüt erschwerte, sondern seinen gesamten Körper. Jede Bewegung schien ihm zu schwer zu sein.

Wo sollte das nur alles hinführen?

 

Nocturn setzte die Flöte ab, als er bemerkte, dass Youma das Auditorium betrat. Es war wirklich noch sehr früh: Nocturn hatte sich noch nicht für den Tag umgekleidet und war noch in einen schwarzen Pyjama gekleidet, darüber einen Morgenmantel tragend. Auch seine Haare waren zottelig. Aber anstatt darüber pikiert zu sein, dass Youma schon so früh gekommen war und dass dieser ihn nun in diesem doch sehr privaten Aufzug sah, grinste er Youma neckisch an, während er die lange Flöte zurück in ihre Halterung am Fenster gleiten ließ. Youma hatte aufgeschnappt, dass Nocturn sein treues Instrument am liebsten überall mit hin nehmen wollte, sie stets auf dem Rücken tragen wollte, doch dass Raria es ihm verboten hatte – das wäre albern – und dass Nocturn sich immer wieder ärgerte, die Flöte zurückstellen zu müssen. Aber er war gut erzogen; und dies war nur wieder ein weiterer Beweis dafür.

„Wie ich sehe, hast du das Duell mit der Löwin überlebt?“

Zuerst wusste Youma gar nicht, was Nocturn meinte; aber dann breitete sich, fast per Automatik, ein erwiderndes Grinsen auf Youmas Gesicht aus:

„Sieht ganz danach aus.“

„Und deinen Kopf hast du auch noch!“

„Ich denke, ich sollte mich glücklich schätzen. Wo ist Raria-san überhaupt?“, fragte Youma, denn ihm war nun zwischenzeitlich aufgefallen, dass er ihre Aura nirgends spüren konnte.

 

Nocturn ging genau im richtigen Moment an Youma vorbei, so dass dieser das Steifwerden seines Grinsens nicht sah.

„Sie ist in Paris.“ Youma wusste natürlich nicht, dass es sicherlich kaum Dinge gab, die man um sechs Uhr morgens in Paris zu erledigen hatte, aber er durchschaute die Lüge dennoch. Er hörte sie regelrecht.

„Nocturn“, begann er, ihm hinaus auf den Gang folgend:

„Raria hat mir von ihren Plänen erzählt. Ich weiß jetzt, was ihr vorhabt…“ Youma zögerte, denn er wusste auf einmal nicht, was er eigentlich sagen wollte. Nocturn steuerte währenddessen ungebremst auf die Küche zu, während Youma kurz stehen blieb, ehe er sich wieder sammelte:

„Der König hat befohlen, dass wir in einer Woche Ergebnisse vorzeigen sollen. Unter diesen Umständen ist es doch wirklich sehr unrealistisch, dass du Kasra in einem Kampf töten könntest.“ Nocturn schien nur den ersten Teil von Youmas Worte gehört zu haben, denn während er einen Kaffee zubereitete, antwortete er:

„Das passt doch gut; Raria hat nicht mit mehr Zeit gerechnet. Das ist dann genau nach meinem letzten Konzert.“ Das war wieder eine Antwort, mit der Youma weder gerechnet hatte noch eine, die ihm besonders gefiel:

„Sie hat damit gerechnet?! Raria hat nur so wenig Zeit eingeplant und glaubt, du würdest in dieser kurzen Zeitspanne so gut werden, dass du Kasra bezwingen könntest?!“ Youma konnte es nicht fassen; weder die nackten, eben gesagten Tatsachen, noch, dass Nocturn sehr ruhig zu sein schien angesichts dessen, dass er gegen den König kämpfen sollte und höchstwahrscheinlich sterben würde – und dass es obendrein seine geliebte Tante war, die ihn in den Tod schickte… und wofür?  

 

„Nocturn…“ Youmas Tonfall wurde ein wenig inständiger; es war für ihn einfach nicht verständlich, dass sein Gegenüber so ruhig sein konnte. Was war nur in ihn gefahren?! Er stellte ihm einfach seelenruhig die Tasse mit dem dampfenden, gut riechenden Kaffee hin und lehnte sich selbst an die Küchentheke, den Kaffee ein wenig kalt pustend.

„… du kannst doch nicht wirklich glauben, dass du eine Chance hättest? Du hast doch Kasras Aura gespürt. Du hast ihn doch gesehen. Du kannst doch nicht wirklich auf einen Kampf gegen ihn aus sein?!“ Nocturn nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah schweigend in die Flüssigkeit.

„Ich bin auf gar keinen Kampf aus, aber es bleibt mir keine andere Wahl.“

Natürlich hast du eine Wahl! Du hast doch keine Aura, du kannst dich überall verstecken und neu anfangen!“ Aber da fiel Nocturn ihm ins Wort, plötzlich nicht länger ruhig, sondern aufgebracht:

„Habe ich die wirklich?! Noch war keiner von Kasras Schergen hier, aber natürlich weiß er, wo du dich die letzten zwei Wochen aufgehalten hast und somit weiß er auch, wo Raria ist. Wenn ich einfach verschwinde, obwohl der König nach mir verlangt – was glaubst du würde passieren? Es benötigt nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass er Raria dann töten würde!“

„Ihr könntet doch zusammen…“

„Könnten wir? Wenn sie dich geortet haben, dann haben sie auch Rarias Aura hier aufspüren können und können sie weiter verfolgen. Raria ist nicht mehr sicher; sie ist wegen mir nicht mehr sicher! Es bleibt mir also keine andere Möglichkeit, wenn ich Rarias Leben schützen will – und natürlich will ich das. Sie ist meine Familie. Natürlich lasse ich sie nicht im Stich – das würdest du doch auch nicht tun?“ Aus Respekt vor Nocturn und seiner Liebe für Raria antwortete er nicht, aber der Gedanke, dass Raria Nocturn opferte, um weiterhin ihr angenehmes Leben führen zu können, bekam er nicht aus den Kopf. Er hatte selbst Schuld – das waren ihre Worte. Er hatte… selbst Schuld.

 

„Aber du willst doch gar nicht König werden.“ Nocturn sah weg, seine Wut schien verraucht. Youma fuhr fort:

„Raria hat dir ja wohl hoffentlich erzählt, dass du dann der nächste König werden würdest? Der König der Dämonenwelt? Du müsstest dein Leben hier aufgeben, deine menschliche Identität...“

„Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass wir nicht vor unserem Blut davonlaufen können. Ich habe lange diesen Luxus genießen können und wenn wir es genau nehmen, ist es ja auch meine eigene Schuld, dass ich dieses Leben…“

„Ist es nicht!“, war es nun Youma, der ihm ins Wort fiel, wütender und auch verzweifelter als er es sich selbst eingestehen wollte, was auch Nocturn dazu brachte, ihn verwundert anzusehen.

„Du wolltest einfach nur White sehen – dafür kann dir niemand einen Vorwurf machen! So ein unschuldiger Wunsch rechtfertigt doch nicht so eine schreckliche Strafe!“

 

„Danke.“

Nachdem Nocturn ihn für einen kurzen Moment nur verwundert mit seinen großen, fast kindlichen Augen angesehen hatte, hatte er gelächelt. Ruhig, ein wenig traurig und herzzerreißend.

 

Youma sagte nichts mehr, das Thema war beendet. Es ging ihn ja auch... tatsächlich nichts an. Nocturn hatte es nicht so direkt gesagt, wie Raria es getan hatte, aber seine Verwunderung zeigte dasselbe – warum war Youma so aufgebracht, wo es doch Nocturn war, der gegen Kasra antreten sollte und nicht Youma? Wenn er vorgab, nichts von dem Ganzen gewusst zu haben, dann würde er wahrscheinlich mit einer Strafe – einer sehr harten – davonkommen. Dasselbe hatte sein namenloser Gönner ihm auch schon gesagt... er solle aufpassen, sich nicht zu sehr einzumischen, er wisse schon zu viel – und es war doch deren Sache...

 

 

Die beiden beschlossen, dass sie auch ohne Rarias Anwesenheit weiter trainieren wollten, was sie, natürlich nachdem Nocturn sich umgezogen hatte, auch taten. Nocturn war tatsächlich genau wie immer… jedenfalls bemerkte Youma keine Veränderung. Aber anders herum war es leider absolut nicht der Fall. Es fiel Youma sehr schwer, sich zu konzentrieren; gerade jetzt, wo es doch so essentiell war, dass er Nocturn ein guter Trainingspartner war. Aber es ging einfach nicht: immer wieder schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der grinsende Dämon vor ihm, der eine so kindliche Freude an den Tag legte, wenn er einen Treffer gelandet oder besonders gut ausgewichen war, zum Tode verdammt war.

Er konnte einfach nicht glauben, dass Nocturn einen Kampf gegen ihn gewinnen konnte. Ganz egal, wie viel Vertrauen Raria in ihn steckte und egal, wie sehr Nocturn dadurch bestärkt ward. Sie hatten Kasra nicht erlebt. Sie hatten nicht Tag für Tag unter seiner Schreckensherrschaft leben müssen. Natürlich hatte Nocturn recht; wenn er einfach verschwinden würde, dann würde Kasra sich ohne Zweifel auf Raria stürzen. Nicht nur aus Rache; sondern einfach, weil er es konnte. Weil er darauf Lust hatte.

Immer wieder fragte Youma sich, wie der Dämonenkönig reagieren würde, wenn Nocturn vor ihm stand und ihn herausforderte. Es würde ihm wahrscheinlich gefallen. Wahrscheinlich würde es ihm sogar sehr gefallen… er hätte Spaß daran. Spaß daran, Nocturn zu töten; Nocturn, der eigentlich gar kein Dämon war, der hierhin gehörte, hier, wo die braunen Bäume rote Äpfel trugen, hier, wo er den Herbst feiern konnte und wo er… einfach er selbst sein konnte.

 

Genau diese Äpfel waren es, die ihm nun auf den Kopf fielen, denn Nocturn hatte ihn mit einem gezielten Tritt gegen einen Apfelbaum geschleudert. Grummelnd und sich beschwerend rieb Youma sich den Kopf, dort, wo die Äpfel auf sein Haupt gefallen waren und wollte sich gerade beschweren, als er bemerkte, wie Nocturn sich plötzlich neben ihn hernieder kniete und sich zu ihm an den Baum setzte.

„Offensichtlich ist das wohl die Aufforderung für eine Pause!“, verkündete Nocturn mit einem Grinsen, einen der Äpfel aufsammelnd, die neben Youma auf den Boden gefallen waren. Youma war nicht der Meinung, dass sie sich eine Pause gönnen konnten, ganz gleich, ob sie schon wieder drei Stunden trainiert hatten oder nicht. Sie hatten keine Zeit… sie hatten einfach keine Zeit---

 

Aber als Nocturn ihm mit einer entschlossenen Geste den roten Apfel in die Hand drückte, verschwand der Gedanke kurz und zusammen die ganzen anderen beklemmenden Gefühle, Gedanken, Schreckensbilder vor dem inneren Auge. Plötzlich waren da nur sie beide unter dem herbstgefärbten Apfelbaum – und dass das das Ganze noch schrecklicher machte, darüber dachte Youma in diesem Moment nicht nach.

 

Er sah einfach nur dieses sorglose Grinsen Nocturns, das ihm davon erzählte, wie er und Raria die Äpfel immer pflückten und das ihm vorschwärmte, wie gut die Äpfel schmecken würden, auf deren Geschmack er sich gar nicht konzentrieren konnte, denn er war zu sehr damit beschäftigt, dem eigentümlichen Lächeln auf seinem Gesicht auf den Grund zu gehen, zusammen mit der Frage, warum die unmittelbare Nähe Nocturns Hand neben seiner ihn nicht nur beruhigte, sondern fast schon in ein glückliches, von sämtlichen Sorgen befreites Vakuum einschloss.

 

Aber natürlich kehrten die Gedanken zurück: das Vakuum war nicht stark genug, um sie beide lange vor der Bedrohung abzuschirmen. Aber zusammen mit diesen kristallisierte sich plötzlich in all seiner Klarheit ein Bewusstsein in Youma.

 

Ich lasse dich nicht sterben. 

La Ténèbres et la Nuit - Opus IV

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Auch Raria war nach dem Gespräch mit Youma wütend, aber anders als diesem gelang es ihr, mittels einiger tiefer Atemzüge wieder zu ihrer Ruhe zurückzufinden. Jedenfalls verdrängte sie die Wut und beschloss, dass Nocturn sich nun lange genug im Auditorium eingesperrt hatte.

Als sie die Doppeltür öffnete, bemerkte sie auch, dass ihr Ziehsohn ebenfalls nicht länger aufgebracht war – er spielte nicht, aber da er sie nicht sofort bemerkte war ihr klar, dass auch ihn irgendetwas beschäftigte. Er sah erst auf, als Raria sich zu ihm an den Flügel gesellte. Raria wunderte sich darüber, dass er nicht gespielt hatte und fragte sich auch sofort, was es war, worüber er nachgedacht hatte, als er mit seinen spitzen Fingern seine rechte Wange berührt hatte.

 

Wie üblich sahen sie sich nur kurz an, wechselten nur Blicke, keine Worte – die Musik sprach für sie, die ertönte, sobald Raria sich zu ihm gesetzt hatte und sie beide, als hätten sie es abgesprochen, zu spielen begannen. Nocturn lächelte, als er nach den ersten herunter gedrückten Tasten bemerkte, welches Stück sie einleitete; sie begannen, eines der Stücke zu spielen, die Namensvetter für Nocturns Namen gewesen waren, genauer gesagt eine seiner Lieblingsnocturnen; Chopins Nocturne Nr. 1 Opus 9.

 

Wie immer spürte Nocturn, wie die Last von seinen Schultern genommen wurde, wie das kribbelige Gefühl von Glück und schlichtem Wohlbefinden sich von seinen spielenden Fingern bis in die kleinste Ecke seines Körpers ausbreitete, während ihre zwanzig Finger über die Tasten des Flügels tanzten, gemeinsam, nicht gegeneinander, nicht versuchend, einander irgendwie zu übertrumpfen, sondern im absoluten Einklang; ohne überhaupt in Gefahr zu geraten, gegeneinander zu stoßen, huschten ihre Finger über die Tasten und erfüllten den Raum mit einer traurigen, aber friedlichen Melodie.

 

Das gemeinsame Spielen mit Raria war – ganz egal, welches Instrument es war – immer Nocturns größtes Glück gewesen. Natürlich wusste Raria das, weswegen sie auch kurz stutzte, als Nocturn auf einmal zu sprechen anfing, gerade als sie von Chopin zu Beethoven wechselten und das Liebeslied an Elise begannen.  

„Warst du schon einmal verliebt?“ Nach dem kurzen Stutzen spielte Raria weiter, ihn allerdings aus den Augenwinkeln beobachtend, was Nocturn nicht unbemerkt blieb, obwohl er so tat, als würde er sich gänzlich auf seinen Part konzentrieren.

„Warum fragst du?“

„Ich wollte nur wissen... wie es sich anfühlt“, antwortete Nocturn und spürte eigentümlicherweise, wie ihm warm wurde. Aber so warm war es doch gar nicht im Raum?

„Ich wundere mich über so eine Frage“, begann Raria, weiterhin spielend:

„Du hast dieser Wächterin doch so viele Liebeslieder gewidmet, geschweige denn die ganzen nicht verschickten Liebesbriefe an sie... solltest du dir daher nicht einen Begriff über die Liebe machen können?“ An jene Werke, wenn man sie denn so nennen wollte, hatte Nocturn auch schon gedacht, ja, er hatte sie sogar wieder aus seinem Schrank herausgeholt, hatte sich auf sein Bett gesetzt und jede einzelne dieser Liebesbekundungen wieder gelesen; die Lieder wieder gespielt... aber...

„Ich habe das Gefühl, als... als würde etwas fehlen. Daher frage ich. Warst du wirklich nie verliebt?“

„Nein. Liebe ist ein destruktives Gefühl...“ Nocturns spielende Finger zuckten, sie kamen ins Stocken, sein Spiel wurde holprig, was Raria nicht unbemerkt blieb, denn sie sendete ihm einen tadelnden Blick:

„...weshalb ich mich davon ferngehalten habe.“ Er antwortete nicht sofort, konzentrierte sich wieder auf die Klänge des Liebesliedes. Erst fast am Ende des Stückes angelangt sprach er wieder:

„Aber dieses Lied klingt nicht... destruktiv oder in irgendeiner Form gefährlich. Es vermittelt...“ Nocturn kam ins Stocken, genau wie seine Hände es wieder taten. Er sah auf eben diese, völlig verblüfft über den Gedanken, den er plötzlich gehabt hatte. Völlig verblüfft darüber, dass er selbst die Antwort auf seine drängenden Fragen gefunden hatte:

„... dieses Stück vermittelt Wärme.“

 

„Fragst du all dies wegen Youma?“ Jetzt schoss die Wärme in sein Gesicht; Nocturn spürte, wie seine Wangen sich erwärmten, wie ihm regelrecht heiß wurde und er berührte ganz automatisch, fast in Trance, wieder seine rechte Wange.

Nocturn....“ Raria hatte sich nun prüfend und überaus skeptisch zu ihm herum gewandt; als sie allerdings bemerkte, dass sie seine Aufmerksamkeit nicht hatte, schlug sie mit der einen Hand hart in die Tasten, womit ein langer, donnernder Ton ertönte, der selbst Tote hätte wecken können.

Verwirrt und auch ziemlich überrascht und immer noch mit roten Wangen, wirbelte Nocturn zu ihr herum und sofort schoss Raria los:

„...du hast dir das denkbar schlechteste Timing ausgesucht für... sowas. Ich denke, das ist dir klar? Es stört dich nur bei der Ausführung deiner Rolle.“ Das fasste Nocturn als Beleidigung auf und er protestierte auch sofort:

„Das tut es nicht. Ich beherrsche mein Handwerk-“

„Ohja, wie gut du das tust, habe ich gesehen“, erwiderte Raria schnippisch und mit verengten Augen:

„Du musst dich auf das besinnen, was jetzt wirklich wichtig ist. Gedanken an Liebeslieder sind nur Störfaktoren, die du dir im Moment nicht leisten kannst. Außerdem seid ihr beide Männer: Männer verlieben sich normalerweise nicht ineinander. Verwechsle Gefühle der Liebe nicht mit Gefühlen der Freundschaft.“ Nocturn schien den kompletten ersten Teil samt Kritik komplett zu überhören; sein Gesicht hellte plötzlich auf:

„Freundschaft!“, wiederholte er vor lauter freudiger Überraschung:

„Freundschaft habe ich gar nicht in Betracht gezogen! Ich habe so wenig über Freundschaft gelesen oder selbst verspürt... das würde so einiges erklären, auch warum es sich so anders anfühlt...“ Voller Tatendrang wandte Nocturn sich wieder dem Flügel zu, seine Finger kaum noch unter Kontrolle halten könnend:

„Ich weiß! Ich werde Youma ein Lied widmen! Ein Lied an meinen ersten Freund!“

 

 

Raria hatte ihn aufhalten wollen mit dem Argument, dass das jetzt doch völlige Zeitverschwendung wäre; aber da sie selbst Künstler war, war es ihr unmöglich, das Strahlen in Nocturns Augen zu ignorieren; er war zu inspiriert. Es gab keine Möglichkeit, ihn davon abzubringen und eigentlich wollte sie es auch nicht. Es war lange her, dass Nocturn eigene Stücke komponiert hatte und in den ruhigen Momenten, in welchen es kein Training gab, wo sie alleine zu Hause waren, da erwischte sie sich dabei, wie ihr ab und zu ein Lächeln über das Gesicht huschte, wenn sie die ersten Töne des entstehenden Werkes hörte.

Ja, es war vielleicht eine Zeitverschwendung. Aber... war es nicht genau die richtige Zeitverschwendung? Genau die richtige Art, um... abzuschließen?

 

Nocturn interessierte sich im Moment gar nicht dafür, ob es Zeitverschwendung war oder nicht. Alles, war für ihn momentan von Belang war, war sein neues Werk – und Youma. Er war immerhin die Inspiration für dieses Werk. Aber er würde ihm nichts davon sagen; Nocturn wollte ihn nicht nur überraschen, er wollte die Natürlichkeit ihres Zusammenseins auch nicht stören, sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Daher befahl er sich während dem Training, nein, während dem gesamten Zusammensein mit Youma, nicht an seine Musik zu denken. Er verbannte diese Gedanken regelrecht, denn er war überzeugt davon, dass er nur so eine Melodie erschaffen könnte, die ihre Freundschaft einzufangen vermochte. Wie anders könnte er ein Werk über diese erschaffen, wenn er sie nicht voll auskostete, mit seinen Gedanken woanders war?

 

Alles wollte er einfangen in diesem Stück. Alle Facetten, alle Momente. Vom Anfang bis... zum jetzigen Punkt. Es war schwierig, etwas mit Tönen wiederzugeben, was vorher mit Taten und Worten ausgeführt worden war; viel schwerer als etwas einzufangen, was man nie gehabt hatte, was man sich erwünschte... die Sehnsucht nach White war ihm nie schwer gefallen, mittels seiner Flöte wiederzugeben. Aber wie gab er das Fallen der Äpfel wieder, die Youma auf den Kopf bekommen hatte, nachdem er beim Training so unachtsam gewesen war? Wie sollte er das Gefühl vermitteln, das er gehabt hatte, als sie nebeneinander saßen, dort unter dem Baum? Es war so... alltäglich, so ordinär gewesen, einfach dort zu sitzen und die ersten reifen Äpfel des Herbstes zu essen. Aber als Nocturn an demselben Abend im Auditorium saß und das Ende seiner Hengdi sachte und nachdenklich gegen sein Kinn pochte, da bemerkte er, dass ihm gerade das Einfangen dieses einen Momentes sehr, sehr wichtig war. Warum?  

 

Der Moment war angenehm gewesen... dieses Schweigen. Dieses Schweigen... ja, da spürte er es wieder, wenn er daran dachte – diese ihm unbekannte Wärme und während die Flöte zum Stillstand kam, berührte er wieder seine Wange, als müsste er überprüfen, ob sie sich wirklich erwärmt hatte, während er an diesen Moment dachte.

Diese Wärme musste er auch unbedingt einfangen. Er musste sie seinen Zuhörern übermitteln können. Er musste es teilen.

 

Am nächsten Tag hatte Raria ihnen wirklich erlaubt, ihre Magie zu trainieren – ein Tag, der nicht nur für ihren Trainingsfortschritt wichtig war, sondern auch für Nocturns Werk. Denn ohne groß nachzudenken, war ihm an diesem Tag klar geworden, wie er sein Werk nennen wollte, weshalb er hastig sein Abendessen herunter geschlungen hatte – und sich natürlich dafür Kritik von Raria eingeheimst hatte – um dann schon in heller Aufregung ins Auditorium zu stürzen, Feder und Tinte schnappend, um dann, sich selbst zur Ruhe befehligend, denn er wollte sich ja nicht verschreiben, mit geschwungener Schönschrift den Titel auf das Deckblatt zu schreiben.

 

Stolz, ein wenig feierlich sogar, besah er sich die geschwungenen Buchstaben; noch nie war er sich beim Titel eines Werkes so sicher gewesen wie in diesem Fall. Youma selbst hatte die Inspiration dafür gegeben; sein Umgang mit der Magie, seiner Magie. Ganz ohne Zweifel war er talentiert in deren Umgang, aber das war es nicht, was Nocturn fasziniert hatte – seine Magie fühlte sich anders an. Sie war genauso dunkel wie die, die Nocturn auf seinen Händen entstehen lassen konnte, aber... anders. Als wäre es dieselbe Farbe, aber aus einem anderen Material geschaffen... sie war schmerzlich und gefährlich, wie Nocturn festgestellt hatte, als er getroffen worden war – oh! Das musste er unbedingt auch mit einbringen... den Moment, als Youma ihn das erste Mal getroffen hatte, als Nocturn zu Boden ging... wie er seinen Namen gerufen hatte. Nein, geschrien passte besser. Es war ein Schrei gewesen, kein Ruf.

 

Warum hatte er geschrien? Sie sollten sich doch treffen? Er hatte so besorgt geklungen... im Nachhinein wunderte er sich darüber, obwohl Nocturn in dem Moment, wo es passiert war, stolz auf sich gewesen war, denn er hatte gewusst, es für einen Gegenangriff auszunutzen, womit er sich Lob von Raria verdient hatte, während Youma für seine „emotionale Unachtsamkeit“ und „das Unterschätzen des Gegners“ Kritik bekommen hatte. Ob Nocturn das auch einbringen sollte? Youmas verbohrter Blick, der so typisch für ihn war... den sollte er versuchen auszudrücken, ja. Aber es war wichtig zu bemerken, dass eben dieser Blick auch auflockern konnte, wie er es in diesem Augenblick getan hatte, als die beiden sich angesehen hatten und Nocturn ihn angegrinst hatte. Er hatte ihn necken wollen – warum hatte Youma ihn stattdessen angelächelt?

 

Raria schwieg lange, als Nocturn ihr einen Tag vor dem letzten Konzert das fertig geschriebene Werk in die Hand drückte und sie den Titel sah. Nocturn aber achtete gar nicht darauf; aufgeregt stand er auf seinen Hacken und kippelte vor und zurück, etwas, was Raria ihm sicherlich verboten hätte, wenn sie nicht zu sehr mit dem Titel beschäftigt gewesen wäre.

„Es ist allerdings noch nicht ganz fertig, muss ich dazu sagen! Eine letzte Sache fehlt noch, der passende Abschluss sozusagen – und ich weiß dank Youma jetzt auch genau, wie ich das Stück enden lassen werde.“ Raria antwortete nicht; stattdessen löste sie das rote Band, welches die Seiten zusammenhielt und besah sich die geschriebenen Noten genauer. Nocturn sprach währenddessen weiter:

„Ist dir aufgefallen, wie bedrückt Youma heute Abend wirkte? Er wirkte richtig... traurig. So einen Blick habe ich noch nie von ihm gesehen. Er hat mich so lange angesehen und dieses Mal hat er mein Lächeln nicht erwidert. Er blieb traurig, es schien sogar so, als wäre er noch trauriger geworden, als ich ihn anlächelte. Ich denke, ich habe da für einen kurzen Moment eine Seite an ihm gesehen, die er nur sehr selten zeigt! Deswegen muss ich das unbedingt...“

„Dieses Stück wird schwer zu spielen sein“, kommentierte Raria, während sie das Band wieder zusammenband und Nocturn die Notenblätter zurückgab.

„Fühlst du dich dazu imstande? Besonders wenn du nur so wenig Zeit hast, um es zu üben? Es ist immerhin keine Nocturne.“

Diese Aussage brachte Nocturn zu einem Lächeln, was Raria verwunderte. Aber anstatt sie anzusehen, glitten seine roten Augen wieder über die von ihm geschriebenen Buchstaben, lasen wieder und wieder den Titel...

„Doch. Doch, das ist es. Es ist womöglich die reinste Form einer Nachtmusik, die jemals auf der Hengdi gespielt werden wird.“

  

 

La Ténèbres et la Nuit - Opus V

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Die letzte Stunde vor dem Auftritt war immer die aufregendste.

Aber keine „letzte Stunde“ sollte so aufregend sein, wie die vor diesem letzten Konzert.

 

Nocturns dämonisches Gehör vernahm von Weitem, wie mehr und mehr Menschen le grand escalier betraten und die Treppen hinauf gingen, wie sie sich trafen, wie sie miteinander sprachen und warteten, bis das große Auditorium sich öffnen würde, kurz vor Beginn des Konzertes. Er lauschte all dem mit zufriedener Entzückung, während er die Instruktionen seiner Managerin bejahte und Raria ihm die Haare zurechtmachte. Natürlich hätte er dafür Personal haben können – die Opéra Garnier kümmerte sich gewöhnlicherweise auch darum – aber Raria bestand darauf, dass diese Arbeit niemandem sonst überlassen wurde. Es war auch ihr Wort, das im Endeffekt das Entscheidende war und es war sie, die bis zur letzten Sekunde bei ihm blieb, ohne dabei auch nur eine Sekunde lang ihren prüfenden Blick von ihm zu lassen, denn sie fand immer etwas, was sie noch ändern wollte. Sie wollte es natürlich nicht zugeben – und sie würde es auch niemals – aber Nocturn wusste, dass sie damit nur übertünchen wollte, dass sie nervöser war als er selbst. Bei seinem allerersten Konzert hatte sie ihn umarmt und so fest an sich gedrückt, als würde sie glauben, er würde in den Krieg ziehen.

 

Nocturn war nie nervös gewesen. Das war seine Welt; das war seine Komfortzone. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Auch heute gab es den nicht, dachte Nocturn, und ließ seine Augen nach links wandern, wo unter den Notenblättern für das festgeschriebene Programm die mit einem roten Band zusammengebundenen Notenblätter seines neuesten Werkes lagen. Nein; das, was er spürte, war eine gewisse Vorfreude, keine Nervosität. Vorfreude, es endlich in seiner vollen Länge zu spielen.

Und genau passend zu diesen Gedanken breitete sich plötzlich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er, genau wie Raria, endlich Youmas Aura spürte.

„Ich hab dir doch gesagt, dass er kommen wird.“

„Also war er es, der mir drei Karten geklaut hat, die eigentlich für unsere Nachbarn waren...“

„Ich habe es dir doch gesagt!“, erwiderte Nocturn freudig grinsend, dabei das Spiegelbild Rarias ansehend, die allerdings eher grimmig aussah.

„Das erklärt aber keineswegs, warum er als Einzelperson drei Karten benötigt.“

„Ihm war garantiert nicht bewusst, dass er nur eine braucht, um reinzukommen...“ Nocturn lachte immer noch, auch als Raria verkündete, dass sie ihn holen würde und somit Nocturn alleine mit seiner Managerin zurückließ, die nun bereits zum dritten Mal den Ablauf des Abends mit ihm durchgehen wollte.

 

Bereits von Weitem las Raria dasselbe auf Youmas Gesicht ab, was sie eine lange Zeit in der Menschenwelt empfunden hatte; ein genervtes Gemüt angesichts der vielen Menschen. Aber wenn man eine Weile in der Menschenwelt verbracht hatte und mindestens einmal in der Woche in Paris war und dort die Metros nahm... gewöhnte man sich daran.

„Guten Abend... Dieb“, grüßte sie den Halbdämon, sobald sie gegenüber voneinander standen, ein wenig abseits von den anderen Menschen, auf dem hintersten Balkon des linken Flügels.

„Guten Abend, Raria-san“, erwiderte Youma höflich, nicht auf ihre Betitelung achtend oder sonderlich darauf eingehend, was sie aber natürlich nicht durchgehen ließ:

„Was fällt dir eigentlich ein, einfach die Tickets vom Tisch zu stehlen? Sie waren nicht für dich und deine unsichtbaren Begleiter vorgesehen.“ Sie sollte ernster, vor allen Dingen wütender klingen, aber sie war eher belustigt, wenn sie sich vorstellte, wie Youma mit den drei Eintrittskarten am Schalter gestanden hatte, mit seiner ernsten Miene und nicht in der Lage, auch nur ein Wort Französisch zu sprechen... es war sicherlich ein Bild für die Götter gewesen.

„Nocturn hat mich selbst eingeladen“, verteidigte Youma sich, der sich offensichtlich Mühe gab, sich nichts von seiner peinlichen Misere anmerken zu lassen; er warf immer wieder einen Blick über die Menge, die sich auf den goldenen Treppen tummelte und in gepflegter Manier Champagner trank, wie es bei solchen Veranstaltungen üblich war.

„Und soweit ich informiert bin, hattest du abgelehnt. Warum hast du deine Meinung geändert?“

 

Er antwortete nicht, sah weiterhin über die Menschenmenge hinweg, als würde er jemanden suchen... Raria wollte schon nachbohren, als ein markerschütterndes Gefühl ihren Körper zum Beben brachte und ihr schlagartig jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Geschockt, aber schon mit nahender Wut wirbelte Raria in die Richtung, in die Youma bereits die ganze Zeit geblickt hatte und sah die Frau, vor der sie ihr dämonisches Gespür bereits gewarnt hatte, eben le grand escalier betreten. White.

„Du Bastard!“, fauchte Raria jede gute Erziehung vergessend, Youma böse anfunkelnd.

„Wie kannst du es wagen, dich über meine Gebote hinwegzusetzen?!“ Aber Youma blieb ruhig; angesichts dessen, dass er sie so geschockt hatte und dass seine Pläne aufgegangen waren, sollte er wahrscheinlich lächeln, aber ihm war nicht nach einem Lächeln zumute, weshalb er nur ernst antwortete:

„Sie sind eben nicht die einzige Person, die in der Lage ist, Pläne zu schmieden.“ Raria wollte ihm gerade etwas weitaus Uncharmanteres um die Ohren werfen als „Bastard“, als Nocturn aufgeregt zu ihnen rannte. Zwar wandte Youma sich ihm zu, doch er musste zugeben, dass es ihm schwerfiel. Er wollte sich lieber abwenden... er wollte dieses glückliche Gesicht nicht sehen, das natürlich ebenfalls Whites Aura gespürt hatte; dieses aufgeregte, strahlende Gesicht, das gar nicht wusste, wo es hin sollte mit seiner plötzlichen Flutwelle an Gefühlen.

 

Youma zwang sich zu einem Lächeln. Um dieses Gesicht zu sehen, hatte er es immerhin getan. Hatte sich in das Reich der Wächter gestohlen, um dort die Eintrittskarten so zu platzieren, dass sie nicht unbemerkt bleiben konnten… Natürlich hatte die Möglichkeit bestanden, dass White diese „Einladung“ nicht annehmen würde. Aber es hatte eben auch die Möglichkeit gegeben, dass sie es tat.  

 

Nocturn stürzte förmlich an die Brüstung des Balkons, um das zu sehen, was sein Gespür ihm bereits verraten hatte. Wie deutlich Nocturn seine Gefühle in diesem Moment offenbarte, als er White sah! Die Freude nahm zu, verwandelte sich in Euphorie und ließ seine Augen mit einem Schlag glasig werden. Völlig aufgelöst drehte er sich zu Youma herum, denn ihm war wohl klar, dass White natürlich nicht zufällig bei seinem letzten Konzert anwesend war und dass die einzige Person, die ihm zu diesem Glück hatte verhelfen können, Youma war.

 

Der Flötenspieler hatte sich gerade im richtigen Moment herum gedreht. Er sah es somit nicht; das, was Youma und Raria beide erblickten, der eine geschockt, die andere mit grimmiger Genugtuung und bösen Vorahnungen, die jede Genugtuung im Keim erstickten.

 

White war nicht alleine gekommen. Ein anderer Wächter befand sich in ihrer Begleitung, dessen Aura keiner der drei Dämonen gespürt hatte, da ihre Sinne alle auf Whites kolossale Aura fixiert gewesen waren. Youma hatte damit gerechnet, dass White nicht alleine kommen konnte – daher ja auch die zweite Karte – denn natürlich ließ man eine Hikari nicht alleine in die Menschenwelt gehen... aber er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Wächter, ein schwarzhaariger, sympathisch aussehender Mann, Whites Hand nahm und die verliebten Blicke, die sie einander zuwarfen, die... die hatte er auch nicht mit eingeplant.

Und jetzt, wo sie sich ein wenig von den Menschen lösten, man freie Sicht auf das Liebespaar hatte, bemerkte Youma auch die auffällige Rundung von Whites Bauch, auf den der Wächter gerade zärtlich seine Hand legte. Sie war schwanger.  

 

Nocturn war allerdings zu aufgeregt, um diese Gefühlsveränderung in Youma zu bemerken; sein ganzes Gesicht strahlte, als er die Hände seines verdatterten Trainingspartners packte und sie fest in seinen hielt.

„Danke, Youma! Danke... das habe ich dir zu verdanken, oder? Oh, dieses Glück! Dass ich sie noch einmal sehen durfte... dass ich ihr endlich unser Lied vorspielen darf! Oh danke, danke!“ Youma antwortete nur mit einem gezwungenen Lächeln, welches angesichts dieser neuen Umstände überaus schwer aufrechtzuerhalten war. Zum Glück für ihn ertönte in diesem Moment eine helle Glocke zusammen mit einer französischen Stimme, die den Beginn des Konzertes ankündigte.  

In heller Vorfreude sprang Nocturn wie vom Blitz getroffen auf und unter weiteren Dankesbekundungen begraben ließ er Youma alleine – alleine mit Raria, die sich, kaum dass Nocturn eilends verschwunden war, wie ein Raubtier auf Youma stürzte:

„Ist dir eigentlich klar, was du angerichtet hast?!“ Er wusste, es hatte nicht viel Sinn, sich zu verteidigen, aber er tat es dennoch:

„Das war nicht meine Absicht. Ich hatte nicht gedacht, dass sie...“

„Du hast nicht gedacht, dass eine 24-Jährige Hikari – obendrein White – verheiratet ist und natürlich schon längst ein Kind mit ihrem Mann hat?! Das ist ihr zweites Kind, Youma. Sehr gut im Planen bist du, sehr gut.“ Raria hatte recht, das konnte er nicht verneinen – das hätte er wissen müssen... er hätte sich vorher informieren sollen. Aber in seinem Kopf hatte sich nach Nocturns verliebten Erzählungen einfach der Gedanke einzementiert, dass er und sie füreinander bestimmt waren. Dass sie nur vom Schicksal, von Raria, getrennt worden waren... er hatte sie wieder zusammenführen wollen... hatte selbst Schicksal spielen wollen... er hatte Nocturns Herzenswunsch erfüllen wollen, jetzt wo er noch die Chance hatte. Er hatte ihn... glücklich machen wollen.

„Das hast du wirklich großartig gemacht, Youma! Wirklich, großartig! Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast?! Wenn Nocturn das sieht, wird es ihm das Herz brechen! All seine Träume werden platzen, sobald er dieses Liebespaar erblickt!“

„Wenn Sie den Kontakt zu White von Anfang an nicht unterbunden hätten, dann wäre es gar nicht so weit gekommen! Vielleicht wäre er jetzt der Vater dieser Kinder!“

„Und du hast dir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, warum ich das getan habe?!“ Er sollte sich wahrscheinlich beherrschen, aber er konnte es nicht. Die Worte polterten aus ihm heraus, ohne dass er sie aufhalten konnte:

„Oh, doch, das habe ich! Sie wollten Nocturn einfach für sich alleine haben!“

„Du dummer Junge!“

Diesem wütenden Ausruf folgte eine Hand; eine Hand, die pfeilschnell auf ihn zu schoss, die auf seine Wange zielte – und der Youma im letzten Moment noch rücklings auswich.

 

Schweigend, mit Zorn im Blick, starrten die beiden Dämonen sich in die Augen; die Augen, die Youma zum ersten Mal rot sah. Es war so deutlich, so aufdringlich, dass ihre braunen Kontaktlinsen darin versagten, es zu unterdrücken.

„Na, wenigstens etwas hast du gelernt!“

 

Dann drehte sie sich schwungvoll herum, richtete ihre Haare und warf ihm beim Weggehen noch letzte Worte zu:

„Es ist zu spät, um es jetzt noch abzubrechen, daher genieße das Schauspiel, das du selbst inszeniert hast. Du wirst einen guten Platz haben, um es überblicken zu können! Siehe, welchen Horror du über uns, über ihn, gebracht hast!“

 

 

Youma hatte tatsächlich einen guten Platz, aber zum Glück nicht in der unmittelbaren Nähe von White; wenn er in ihrer Nähe gesessen hätte, dann hätte der Abend wahrscheinlich ein sehr schnelles Ende gefunden... obwohl, wenn er Rarias Worten Glauben schenken sollte, dann war das vielleicht gar nicht so schlecht. Aber was meinte sie mit... Horror? War „Horror“ nicht vielleicht das falsche Wort? Übertrieb sie nicht etwas, indem sie ein solches Wort wählte? Es würde ganz ohne Zweifel ein... schmerzhafter Abend für Nocturn werden und natürlich bereute Youma seine Taten, denn das hatte er nicht gewollt. Nein... das hatte er garantiert nicht gewollt.

Er wollte nicht sehen, wie Nocturns seliges Lächeln bröckelte, wie die Freude sich in Nichts auflöste... er wollte nicht sehen, wie sehr er litt. Aber leider saß er zu gut; in der Mitte der Menge. Er saß zentral, mit direkter Sicht auf Nocturn. White saß schräg einige Reihen hinter ihm, was ihm sein Gefühl sagte; er benötigte keinen Blick über die Schulter. Ihre Aura war zu deutlich spürbar.

Es würde gleich beginnen.

 

Es würde gleich beginnen; das sagte ihm nicht nur seine Managerin, sondern auch Nocturns konstanter Blick auf die Uhr, auf die sich bewegenden Zeiger. Nocturn drückte seine Hengdi fest an sich, drehte die lange Holzflöte in seinen Fingern und musste zugeben, dass er zum ersten Mal nervös war. Oder war er einfach nur aufgeregt? Er wusste es nicht. Es war ja auch eigentlich egal, wie man dieses Zittern nennen wollte.

White war da... White würde sein Spiel hören... endlich!

„Nocturn.“ Der Angesprochene wandte sich zu Raria herum, die ihn genauso ernst wie immer ansah, allerdings... allerdings war da auch etwas anderes, aber dafür hatte Nocturn im Moment keinen Blick.

„Viel Glück.“ Nocturn grinste:

„Ich brauche doch kein Glück, das weißt du doch...“ Sein Grinsen brachte auch Raria dazu, ein wenig zu lächeln: ein letztes Mal noch richtete sie seine Haare, strich ihm eine falsch sitzende Strähne aus dem Gesicht und ließ ihre Hand kurz an seiner Wange verweilen – dann ging sie zusammen mit seiner Managerin und ließ Nocturn hinter dem roten Vorhang alleine.

Nocturn atmete tief durch und wartete wie immer darauf, dass der Vorhang sich heben würde.

Er löste einen Finger nach dem anderen von seiner Hengdi, um sie dann langsam zu senken, wie er es immer tat, im Takt mit dem sich beiseite schiebenden Vorhang...

 

Normalerweise verneigte Nocturn sich eigentlich immer zuerst, sobald der Vorhang sich beiseite geschoben hatte, aber an diesem Abend ließ er seinen Blick erst einmal über die Menge schweifen. Natürlich, er wollte White sehen, dachte Youma und bereitete sich seelisch darauf vor... ja,  und da war der Moment.

 

Nocturn hatte White entdeckt; sein ruhiges Lächeln erstarrte, genau wie Youma es vorhergesehen hatte, denn natürlich sah auch er Whites schwangeren Bauch.

Youma spürte regelrecht, wie er den Atem anhielt, wie er das Atmen vergaß, wie er alles um sich herum vergaß... Was würde jetzt passieren, in dieser schrecklichen Sekunde der Stille?

 

Youma hatte ganz recht mit seiner Vermutung; Nocturn hatte Whites runden Bauch entdeckt; er hatte den Wächter neben ihr bemerkt, sammelte sich, las die Gedanken des schwarzhaarigen Wächters, als wäre das Ganze noch nicht klar genug.

 

Raria beobachtete ihn vom Bühnenrand; genau wie Youma las auch sie Nocturns Gefühle in seinem Gesicht ab und sie bereitete sich bereits darauf vor, mehr zu sehen... Dinge zu sehen, die sie nie sehen wollte...

 

Aber es geschah nicht.

Das Publikum hatte bereits zu tuscheln angefangen, die Managerin schwitzte nervös – bis Nocturn sich galant wie immer tief verbeugte.

 

Seinem gesamten Publikum unbemerkt lächelte Nocturn, während er den Kopf gesenkt hielt. Er lächelte, weil er es endlich verstand.

 

Youma und Raria atmeten beide erleichtert auf, als Nocturn zu spielen begann; Youma hatte zwar nicht direkt gewusst, was Raria eigentlich befürchtet hatte, konnte sich auch überhaupt kein Bild davon machen, aber die Angst vor etwas Unbekanntem hatte sich, ohne dass er es hätte verhindern können, auf ihn übertragen, weshalb er jetzt mehr als erleichtert in seinem Sitzplatz zusammensackte, während die Menschen um ihn herum erfreut Nocturns Flötenspiel lauschten. Es war ein fröhliches, munteres erstes Lied, welches auch Youma schnell ablenkte. Hach, es war so munter, dass man fast Lust hatte, sich dazu zu bewegen, die Finger im Takt von Nocturns lebhafter Melodie zu bewegen... ihn überkam fast das Verlangen danach zu tanzen, so einladend war die Melodie.

Sämtliche Anspannung war von ihm gefallen: er hatte sich wieder ordentlich hingesetzt und folgte Nocturns Aufführung mit den Händen im Schoß gefaltet. Es war unglaublich, wie viele verschiedene Gefühle Nocturn so einem doch recht simplen Instrument entlocken konnte; von Melodien, die zum Tanzen einluden, übergangslos zu Liedern, die einen bedrückten, fast traurig stimmten, bis die nächste Melodie einem wieder aus dem schwarzen Loch empor half.

Youma musste zugeben, dass er es mehr genoss, als er angenommen hatte.

Nach einer Weile bemerkte er sogar, dass er selbst bei den wehmütigen Melodien lächelte... Nocturn so in seinem Flötenspiel aufgehen zu sehen... war das der Grund, weshalb er einfach nicht aufhören konnte zu lächeln? Er schien so glücklich zu sein, so ausgelassen... eins mit seiner Musik, eins mit seiner Flöte. Absolut in seinem Element.

Was für eine Freude es war, ihm zuzuhören, ihn so zu sehen...

 

Trotzdem wollte Youma sich kurz abwenden, denn die Neugierde hatte ihn gepackt. Wie reagierte White auf das Spiel? Er wollte sich kurz zu ihr herum drehen, wollte sehen, ob Nocturn auch sie verzauberte, auch sie in den Bann zog. Der Halbdämon hatte gerade den Kopf seitlich gedreht, wollte kurz über die Schulter blicken, um Whites Reaktion abzulesen, als er plötzlich das Gefühl hatte... aber nein, das konnte nicht sein, seine Sinne spielten ihm einen Streich... aber obwohl sein Gehirn ihm sagte, dass das nicht möglich war, hatte er das Gefühl, als würde eine Hand sich an sein Gesicht legen und ihn sanft dazu bringen, den Kopf wieder zu drehen. Nein, es war nicht irgendeine Hand – es war Nocturns Hand, die ihn sanft um seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit bat.

Aber wie war das möglich? Wie schaffte Nocturn es nur mit seiner Flöte, ohne Augenkontakt, nur mittels Tönen?

 

Er schaffte es genauso, wie er es jetzt schaffte, Bilder vor Youmas innerem Auge zu malen; die Flöte malte Bilder... rief Erinnerungen hoch... die Äpfel, die auf Youmas Kopf gefallen waren, Nocturns lachendes Grinsen, diese ansteckende Mimik, wie er es immer schaffte, selbst die dunkelsten Momente zu erhellen... ihre Hände, die sich fast berührten...

 

Genau wie der Rest des Publikums war auch die Managerin ganz ergriffen von dem Spiel Nocturns; sie lehnte sich zu Raria, flüsterte ihr zu, dass das tatsächlich Nocturns größte Leistung war, die er bis jetzt erbracht hatte... und war das nicht ein neues Stück? Wie war der Name? Sie vergaß sogar, darüber pikiert zu sein, dass Nocturn ohne es ihr zu sagen noch ein Stück eingebaut hatte.

Aber Raria hörte ihre Worte gar nicht; auch sie hörte nur die Töne, die Nocturns Hengdi entströmten, die Melodie, die sie bis zum jetzigen Abend nur in kleinen Bruchteilen gehört hatte. Sie hätte wirklich nicht an ihm zweifeln sollen... er spielte sie perfekt, zu perfekt.

Ihre Hand wanderte zu ihrem Mund und zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit – sie wusste gar nicht, wie lange es her war – spürte sie, wie Tränen in ihr hochkamen.

Genau wie Nocturn verstand auch sie es jetzt. Und sie wusste auch, dass sie es nicht mehr aufhalten konnte... und wollte. Diese schiere Reinheit seiner Gefühle, denen er hier Form und Ton gab,  war von nichts mehr zu unterdrücken. Ob Youma es verstand? Spürte er es? Spürte er, dass jeder Ton dieses Lied nur ihm gewidmet war? Wusste Youma, was Nocturn ihm damit sagen wollte?  

 

Es hatte als eine Ode an die Freundschaft begonnen... und jetzt verwandelte Nocturn es in ein...

 

Aus einem ihn unerklärlichen Grund spürte Youma, wie sein Gesicht sich erwärmte.

Was geschah mit ihm, warum hatte er sich in seinem Sitz vorgebeugt, warum überkam ihn das Bedürfnis, seine Hände auszustrecken, sie nach Nocturn auszustrecken, ihn zu umarmen, ihn zu halten, aber ohne ihn von seinem Spiel zu unterbrechen? Es war, weil Nocturn ihm das Gefühl gab, als würde er ihm eine Hand reichen, als würde er wollen, ihn dazu einladen, ihm näher zu kommen, ihm ganz nah zu sein... jetzt, weil sie nicht mehr viel Zeit hatten. Jetzt, die Zeit rennt uns davon!

 

Der Zauber fiel abrupt von Youma, als es plötzlich ganz still im Raum wurde – mit einem hellen Ton hatte Nocturn das Lied beendet und verdattert, atemlos starrte Youma ihn an, beobachtete völlig erstarrt, wie Nocturn die Augen bedächtig wieder öffnete, als um ihn herum der Applaus ertönte. Kam es Youma wegen dem Scheinwerferlicht nur so vor, oder war Nocturn auch rot geworden?  

Wieder schoss Youma in den Sinn, dass sie keine Zeit hatten und entschlossen, als würde eine unsichtbare Macht ihn genau wie die Menschen um ihn herum auf die Beine ziehen, richtete er sich auf. Die unsichtbare Macht schubste ihn weiter, weg von seinen sich natürlich nun beschwerenden Sitznachbarn, zu einem im Schatten gelegenen Punkt, von wo aus er sich unbemerkt zu Raria teleportierte, denn er war sich bewusst, dass sie natürlich in Nocturns Nähe war und sie sicherlich die erste Person sein würde, an die er sich nach dem Empfangen des Applauses und der weißen Rosen wenden würde.

Natürlich achtete er dabei nicht sonderlich auf Diskretion und auch darauf nicht, dass Nocturns Managerin beinahe vor Schreck in Ohnmacht fiel, als Youma so plötzlich neben ihr auftauchte. Sie herrschte ihn mit ihrem Französisch an, aber Youma könnte es nicht weniger interessieren in diesem Moment – er wechselte auch nur einen kurzen Blick mit Raria, ehe seine Augen, als wären sie magnetisch angezogen von Nocturn, zu ihm huschten, der sich gerade noch ein weiteres Mal verbeugt hatte und sich für die Rosen bedankte.

 

Dann endlich drehte er sich herum und ging auf sie zu – ehe er allerdings die Bühne verließ, drehte er ein letztes Mal den Kopf zu White herum. Sie wirkte erfreut, der Abend hatte ihr wohl gefallen.... Der Wächter beugte sich zu ihr herunter, flüstere ihr etwas ins Ohr und sie nickte eifrig, aber auf eine zurückhaltende Art.

Sie war wirklich schön... das Licht.

Aber sein Schicksal war nicht das Licht.

Nocturn drehte sich lächelnd herum, sah den immer noch sehr verwirrt, ja, fast aufgelöst aussehenden Youma an und spürte wieder, wie sein Körper sich erwärmte.

Sein Schicksal war ein anderes.

 

„Nocturn... es... es tut mir leid, ich wusste nicht, dass... dass White...“ Nocturn lächelte immer noch, ohne etwas zu sagen – und ebenso schweigend stellte er sich genau vor Youma, dem das ganze Blut in den Kopf schoss, weil er Nocturns sanftes Lächeln nicht platzieren konnte. Genauso wenig verstand er, warum Nocturn Raria seine Hengdi reichte oder den stummen Blick, den die beiden austauschten, ehe Nocturn wieder Youma ansah – und seine Hand nahm.  

La Ténèbres et la Nuit - Opus VI

Ohne Youma vorzuwarnen, hatte Nocturn sie an einen anderen Ort teleportiert – einen Ort, den sein Begleiter nicht platzieren konnte, weshalb er sich verwirrt umsah, nachdem Nocturn ihn wieder losgelassen hatte. Sie waren in einer... Wohnung, wie es Youma vorkam; einer Wohnung, die in hellen, schlichten Farbtönen gehalten war, ohne viel Privates zu beinhalten. Eine Wohnung, die auf das Nötigste beschränkt war, ohne dabei ungemütlich zu wirken. Nur... nicht viel benutzt.

„Wo hast du uns hingebracht?“, fragte Youma, einen neugierigen Blick in die kaum benutzt aussehende Küche werfend, die an das Wohnzimmer anschloss, während Nocturn den weißen Rosenstrauß auf dem niedrigen Stubentisch ablegte.

„In mein Appartement. Ich brauchte einen eigenen Wohnsitz, den ich angeben konnte. Ich kann ja schlecht Rarias Haus als meinen Wohnsitz angeben, ansonsten hätte man uns ja schnell gefunden.“ Youma deutete ein Nicken an:

„Ja, das verstehe ich...“ Er geriet ins Stocken, als Nocturn sich wieder zu ihm herum wandte und er bemerkte, dass er immer noch lächelte – nicht grundlos, nicht wegen irgendetwas, wie es Youma schien, sondern... wegen ihm. Er lächelte ihn an, er lächelte so, weil Youma ihn dazu brachte, genauso wie er wiederum Youma dazu brachte, zu erröten, ihm die Sprache verschlug.

Was war nur...

 

Youma war völlig unvorbereitet für das, was plötzlich geschah. Nocturn hatte den Abstand zwischen ihnen verringert, nein, er hatte ihn völlig zunichte gemacht, hatte dafür gesorgt, dass es keinen Abstand mehr zwischen ihnen gab, der sie voneinander trennen konnte, als er seine Hände auf Youmas Brust legte und sie beide für einen kurzen Momente vereinte, als er seine Lippen auf Youmas legte.

 

Zu überrascht und überrumpelt um etwas zu tun, blieben Youmas Arme in der Luft hängen, unfähig zu begreifen, was gerade geschah, unfähig zu begreifen, dass Nocturn... dass Nocturn ihn küsste. Unbeholfen, mit kindlicher Unerfahrenheit und Unschuld.

 

Nocturn lächelte nicht mehr, als er die Vereinigung wieder auflöste, indem er den Kopf ein wenig zurückzog. Er blickte Youma abwartend, beobachtend, mit erröteten Wangen in die Augen, welcher nun langsam spürte, wie ihm die Erkenntnis das Blut in den Kopf rauschen ließ. Nocturn hatte ihn geküsst... Nocturn hatte...

„Verzeih...“, flüsterte Nocturn und Youma spürte, wie dessen dürre Hände sich auf seiner Brust ein wenig verkrampften.

„... ich hätte dich nicht überrumpeln dürfen. Ich hätte dich um Erlaubni-“ Da schnitt Youma Nocturn das Wort ab, indem er die Initiative ergriff; ohne, dass er es kontrollieren konnte, ohne, dass er überhaupt versucht hatte, es zu kontrollieren oder gar zu unterdrücken, schlang er die Arme in neugewonnener Zuversicht um Nocturns skelettartigen Körper, drückte ihn an sich, tat endlich das, was er schon die ganze Zeit hatte tun wollen, endlich--- und die Freude darüber, die ihn kurz zu einem lachenden Grinsen brachte, übermannte ihn, ehe es nun er war, der den ziemlich verblüfften Nocturn küsste; vielleicht ein wenig zu stürmisch, vielleicht ein wenig zu leidenschaftlich.

Aber obwohl Nocturns Augen sich zuerst erschrocken weiteten, ließ er sich anstecken, schloss die Augen, schlang ebenfalls die Arme um ihn, gab sich ganz dem warmen Gefühl hin, welches er so verzweifelt versucht hatte, in seiner Musik einzufangen, es zu beschreiben und was sich jetzt so sehr intensivierte, dass Nocturn klar wurde, dass er es niemals in dieser Form hätte einfangen können. Es war so überwältigend, dass er das Gefühl hatte, dass seine Beine einsacken würden; dass er in sich zusammenfallen würde – aber das machte nichts, war nicht schlimm, denn Youma war da, um ihn zu halten. Sie hielten sich gegenseitig.

 

„Ich dachte die ganze Zeit...“, flüsterte Nocturn wieder, als wäre Flüstern die momentan einzig erlaubte Form zu sprechen; die einzige Art, die angebracht war, wenn man Youma so tief in die Augen blicken konnte wie in diesem Moment, als ihre Nasenspitzen sich berührten.

 

Seine schwarzen Augen leuchteten wieder... dabei gab es jetzt doch gar keine Sterne, die sich darin hätten spiegeln können. Wie kam das? Was brachte sie jetzt so zum Leuchten? Nocturn vergaß ganz, dass er etwas sagen wollte, als er sich so in Youmas Nachtaugen verlor, die sich nun wieder halb schlossen, als er Nocturn ein weiteres Mal zärtlich die Lippen küsste.

 

„Die ganze Zeit...“, begann Nocturn von Neuem, nachdem die beiden sich eine ganze Weile nur in den Augen des jeweils anderen verloren hatten:

„...dachte ich, ich sei in White verliebt. Wegen dir weiß ich nun, dass ich es nicht bin, niemals war... ich habe mich nach etwas gesehnt...“ Etwas zögerlich hob Nocturn die Hand und legte sie an Youmas Wange, ohne den Augenkontakt abzubrechen:

„... von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert und mir nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wie sich... dieses Gefühl anfühlt. White war für mich immer eine Verbildlichung dieser unergründlichen Sehnsucht... sie wurde zu dieser Sehnsucht. Aber sie war nicht das, wonach ich mich gesehnt habe. Das habe ich heute verstanden, als ich sie wieder sah. Sie und diesen Windwächter zusammen zu sehen... das hätte die Eifersucht in mir schüren müssen, aber das hat es nicht. Ich habe nichts in mir gespürt. Nur Überraschung, aber nicht mehr. Das war alles. Kein starkes Gefühl, kein mitreißendes Gefühl von Eifersucht, Wut oder Trauer... nicht einmal Bedauern.“ Es war wahrscheinlich nicht angebracht, aber diese Worte brachten Youma zu einem erleichterten Lächeln, welches sich auch auf Nocturns Gesicht ausbreitete, als er dessen Gesicht nun mit beiden Händen sanft umschloss.

„Und umso länger ich dich anschaue, umso mehr Zeit ich mit dir verbringe, umso mehr Seiten ich an dir entdecke... umso mehr verstehe ich warum, Youma.“

Als einzige logische Antwort auf diese Worte, die Youma rührten, wie ihn schon lange nichts mehr gerührt hatte, näherte er sich wieder Nocturns Lippen, die er dieses Mal jedoch sehr langsam küsste, als müsse er jede Sekunde genießen… während Nocturn seinen Beinen nun erlaubte einzuknicken und die beiden Dämonen eng umschlungen auf die Knie gingen.      

 

 

Keiner von ihnen sagte es, sie sprachen es nicht aus. Es war unnötig. In diesem Moment wussten sie, spürten sie im Einklang ihrer gleich pochenden Herzen, dass sie sich liebten.

 

 

Als sie sich wieder voneinander lösten, ließ Nocturn sich auf den Boden sinken, als wäre er erschlagen von den vielen Gefühlen und der Mächtigkeit dieser und als Youma ihn unter sich liegen sah, die Haare auf dem Boden ausgebreitet, die roten Wangen vom erleuchteten Eiffelturm erhellt, da kam Youma zum ersten Mal der Gedanke, dass er trotz all seiner hässlichen Charakteristika auch Momente hatte, in denen Youma es genoss, ihn anzusehen. Magisch von ihm angezogen konnte Youma nicht anders als sich zu ihm herunter zu beugen, dabei fast automatisch die Haare hinter sein Ohr schiebend. Der Wunsch Nocturn nah zu sein überspülte ihn, als er wieder die Augen schloss, um ihn zu küssen, Nocturn sich ihm sogar entgegenstreckte, als könne er nicht warten, bis dieser bei ihm angekommen sei – nein, es war nicht nur der Wunsch, ihm nah zu sein... es war der Wunsch, alles von ihm zu kennen, alles zu wissen, gänzlich ihm zu gehören, wie er wollte, dass Nocturn sein war.

 

Aber da war etwas. Er hörte es in seinem Tonfall, als Nocturn seinen Namen sagte, atemlos den Kuss unterbrach:

„Youma... ich... ich weiß, was du willst.“ Wieder waren sie Nasenspitze an Nasenspitze, weshalb Youma tief in Nocturns Augen sehen konnte, aber auch ohne diesen intensiven Blickkontakt spürte der Halbdämon, dass da etwas war. War es, weil es Nocturn zu schnell ging...? Natürlich wollte Youma ihn nicht überrumpeln und es war ihm peinlich, dass Nocturn es so schnell bemerkt hatte, aber irgendetwas sagte ihm, dass das nicht der Grund war, weshalb Nocturns Tonlage sich verändert hatte. Er sah ihn nun auch nicht mehr an, sah weg. Seine Augen hatten das Strahlen verloren.

„...du willst mit mir...“ Youma fiel ihm ins Wort: er wollte auf einmal nicht, dass es ausgesprochen wurde, er wollte nicht, dass darüber weiter gesprochen wurde, wenn das dafür sorgte, dass Nocturns Augen nicht länger strahlten:

„Nein... nein, das möchte ich nicht. Du hast recht, es geht zu schnell...“

„Darum geht es nicht.“

 

Nocturn zog seine Beine unter Youmas hervor und richtete sich auf, verschränkte die Arme über der Brust, nein, schlang sie eher um sich und ging auf das große Fenster zu, das die gesamte Stubenwand einnahm und von wo aus man einen fantastischen Blick auf den Eiffelturm und Paris bei Nacht hatte.

Youma hatte sich auch aufgerichtet, blieb aber auf Abstand. Er wollte nachfragen, was plötzlich mit ihm los war, aber auf einmal traute er sich nicht. Das gelbe Licht der Turmbeleuchtung ließ Nocturns Gesicht nun fahl und blass erscheinen und seine Stimme war ruhig, aber ernst, als er ihm plötzlich eine Frage stellte:

„Du magst es, oder?“ Seine Frage klang ein wenig wie ein Vorwurf – aber auch so, als hätte er Angst. Wovor hatte er Angst?

„Ja, ich... finde es sehr schön. Aber warum fragst du mich das? Das ist doch jetzt völlig unwichtig...“ Er wollte ihn trösten; er wusste nicht, warum er plötzlich ängstlich war, aber er wusste, dass er ihn so nicht sehen wollte. Youma ging daher auf ihn zu, aber gerade als er fast bei ihm angekommen war, drehte sich Nocturn plötzlich zu ihm herum und der Blick, mit dem er ihn bedachte, zerriss Youma förmlich das Herz. So viel Schmerz, so viel Trauer, so viel Bedauern... so viel schiere Verzweiflung hatte er selten auf dem Gesicht einer Person gesehen.

Sofort wollte er ihn in die Arme schließen, irgendetwas sagen, irgendetwas tun, damit es ihm besser ging – was auch immer er tun musste, er würde es tun.

Aber Nocturn kam ihm zuvor:

„Youma... ich bitte dich um einen Gefallen.“ Der Angesprochene nickte sofort bestätigend.

 

„Bitte, wenn du dich gleich vor mir ekelst...“ Nocturn atmete tief ein, seine Stimme war brüchig:

„... dann versuch, es zu unterdrücken.“

 

Youma wollte ihn sofort vom Gegenteil überzeugen, aber stattdessen ließ er Nocturn gewähren, sah schweigend, beinahe hypnotisiert dabei zu, wie Nocturn seinen Kragen lockerte, wie er seine dünne, rote Schleife öffnete und sie langsam auf den Boden gleiten ließ. Seine Hände wurden immer langsamer, immer zögerlicher, als er die Knöpfe seines Jacketts öffnete. Er geriet ins Stocken; Youma wollte ihn unterbrechen, aber er bekam keinen Ton heraus... da öffnete Nocturn auch schon die kleinen weißen Knöpfe seines Hemds, allerdings nur zwei – dann kniff er die Augen zusammen, wandte sein Gesicht ab, packte seine halbgeöffnete Kleidung mit seinen langen Fingern und riss sie herunter, womit seine nackte Schulter, sein Arm und ein Teil seines Brustkorbes freigelegt wurde.

 

In diesem Moment kam die kalte Erkenntnis in Youma hoch; in dem Moment, als er Nocturns Haut sah – eine Haut, die von Narben völlig entstellt war. Wächter und Dämonen setzten sich bei ihren Kämpfen sehr zu; es erschien Youma nicht abwegig, dass beide Seiten Narben als Andenken daran behielten. Vielleicht war das sogar normal. Aber das, was er da vor sich sah, war nicht normal. Nocturns Körper war übersät von Narben; Narben, die systematisch platziert zu sein schienen, so nach Schema in seine Haut eingeritzt, dass kein einziger Zentimeter frei blieb. Und das obwohl er noch nie am Krieg teilgenommen hatte.  

„Siehst du?!“, rief Nocturn plötzlich, Youma aus seiner geschockten Starre weckend:

„Siehst du das?! Willst du wirklich mit so jemandem wie mir, der so hässlich ist, das Bett teilen?!“

Nocturn hatte jedes Gebot des Schweigens vergessen; er schrie diese Worte voller Verzweiflung, voller Selbsthass, die Augen immer noch zusammengekniffen, die Hand in den Stoff seiner Kleidung gekrallt:

„Ich habe sie überall, überall, an jedem Zentimeter meines Körpers; das willst du einfach nicht sehen, das willst du nicht... und ich will es auch nicht; ich will den Ekel nicht in deinen Augen sehen!“

 

Da riss Nocturn seine Augen plötzlich auf. In seiner Verzweiflung hatte er nicht bemerkt, wie Youma ihm näher gekommen war. Ansonsten hätte er es verhindert, ansonsten hätte er es verhindern müssen, denn niemand konnte das, was Youma gerade tat, freiwillig tun. Nocturn hätte jedem das ersparen wollen, dennoch war er unfähig, Youma davon abzuhalten; sich aus seinem Griff zu befreien, denn er war zu schockiert über das, was Youma tat: er berührte Nocturns spitze Schulter mit seinen Lippen; er küsste seine Narben, ihn dabei mit sanfter Stärke fest im Arm haltend.

„Youma... hör auf...“, flehte Nocturn mit Tränen in den Augen, obwohl er nicht wusste, woher sie kamen:

„Hör auf, das ist eklig, ich bin doch ekeler-...“

„Nein“, antwortete Youma mit fester Stimme, nachdem er Nocturns vernarbtes, deutlich hervortretendes Schlüsselbein küsste:

Du bist nicht ekelerregend. Die Person, die dir das angetan hat, ist es.“ Denn in diesem Moment, als Youma Nocturn fest an sich drückte, seinen Geruch in sich aufnahm und diese Narben sah, da verstand er plötzlich, weshalb Nocturn ihn bereits einmal so ängstlich angesehen hatte, damals beim Training. Es kam ihm bereits so vor, als wäre es lange her, dabei war es nur eine Woche her gewesen, dass Nocturn zufällig unter ihm gelegen hatte. Youma war abgelenkt gewesen, aber jetzt erinnerte er sich plötzlich daran, dass er kurz einen Funken Angst in seinen Augen gesehen hatte. Irgendjemand hatte ihn misshandelt… daher die Narben… die Angst in seinen Augen… die Albträume, von denen Raria ihm erzählt hatte.

 

Youma löste sich ein wenig von Nocturn, um seine Augen sehen zu können; Augen, die ihm in diesem Moment all seinen Schmerz offenbarten, die ihm zeigten, wie sehr er gelitten hatte – Schmerz, den er lindern wollte, mehr als alles andere in der Welt.

„Ich könnte mich nie vor dir ekeln, Nocturn. Niemals. Ich weiß, du glaubst mir nicht, ich kann es in deinen Augen sehen, aber ich werde es dir beweisen und wenn ich jede einzelne deiner Narben küssen muss, um dich zu überzeugen.“

 

Diese Worte bewegten etwas in Nocturn; nein, sie lösten etwas in ihm. Etwas, was schon lange darauf gewartet hatte, gelöst zu werden – und es fühlte sich gut an, dieses Gefühl des... Auflösens. Er wollte sich in Youmas Armen auflösen, in viele kleine Einzelteile, Funken, Sterne, was auch immer – und nur Youma konnte und durfte ihn wieder zusammensetzen. Nur er hatte den Schlüssel.

 

„Du bist dir sicher, dass du es mit mir... machen willst?“

„Nocturn, ich habe dir doch schon gesagt, dass es...“

„Es gibt nur noch heute Abend. Übermorgen könnte alles vorbei sein.“

„Ich dachte, du vertraust dir?“

 

Nocturn grinste mit geschlossenen Augen; fast so, als würde er in sich hinein lachen. Als er die Augen dann wieder öffnete, spürte Youma, wie das Pochen seines Herzens sich beschleunigte und es schlug ihm fast bis zum Hals, als Nocturn bedächtig, aber doch bestimmt, seine Arme um seinen Nacken schlang und ihn zu sich nach unten zog, abermals küssend. Als Nocturn den Kuss wieder löste und unter ihm auf dem Teppichboden lag, hatte er sein Grinsen wieder gefunden: 

„Viel wichtiger ist doch, dass ich dir vertraue.“ Während seine Augen immer noch auf Youma gerichtet waren, als ob sie in seine Seele hinein tauchen wollten, löste er seine Arme von seinem Nacken; allerdings nicht, um sie zurück zu ziehen, sondern um seine linke Hand durch Youmas schwarzes Seidenhaar gleiten zu lassen. Zuerst sehr zurückhaltend, nur eine Strähne mit den Fingern berührend, ehe er dann, als Youma nichts tat, um ihn davon abzuhalten, seine Hand in seinem Haar vergrub.

 

„Ich glaube nur... also ich befürchte es, dass ich dir kein guter Partner in diesem Bereich sein kann.“ Kurz machte er eine Pause, aber ohne dass seine Finger zum Stillstand kamen.

„Raria hat es einmal provoziert... naja, sie wollte, dass ich meine eigenen Erfahrungen mache. Sie meinte, nur so würde ich… darüber hinweg kommen, aber...“ Zum ersten Mal wandte Nocturn seine Augen ab:

„Das hier... ist eigentlich schon ein Problem für mich. Ich merke, dass mein Körper es nicht mag, unter einem anderen zu liegen.“

„Ich weiß, das ist mir aufgefallen...“ Youma wollte sich daher auch aufrichten, aber Nocturn hielt ihn fest; sowohl mit seiner Hand, als auch mit seinem Blick, aber er sagte nichts, fuhr fort, als hätte er Youmas Reaktion nicht bemerkt:

„Nach einem langen Streit habe ich mich ihrem Willen gebeugt und habe zugestimmt, dass sie eine Frau für mich aussucht. Es war mir egal, ich war bockig und wollte es hinter mir haben.“ Nocturn lachte hohl, Youmas Haare bedächtig und vorsichtig durch seine Finger zwirbelnd:

„Ich wünschte, ich könnte meine eigenen Erinnerungen löschen, aber ich konnte leider nur ihre löschen. Danach habe ich mich tagelang in meinem Zimmer eingesperrt und mich geweigert, zu musizieren oder zu essen. Das war das einzige Mal, dass ich eine Entschuldigung von Raria bekommen habe.“

„Was ist passiert?“Nocturn rührte sich unruhig, seine Gesichtsfarbe nahm eine Mischung aus rot und weiß an:

„...Ich habe versucht, es so gut wie möglich zu verdrängen. Es war... sehr peinlich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich verstand nicht, was sie von mir erwartete... aber ich verstand, dass mein Körper nicht so reagierte... wie er es normal tun sollte.“ Nocturn wählte es lieber zu schweigen und es ihm nicht zu erzählen, dass er danach wieder einem neuen Sturm von Albträumen ausgesetzt gewesen war, dass er gar keine Ruhe mehr bekommen hatte, sich vor sich selbst geekelt hatte, immer wieder duschen und baden gegangen war, obwohl eigentlich nichts weiter passiert war... weil nichts passieren konnte. Weil er immer wieder... weil er immer wieder...

 

Aber auch obwohl Nocturn es nicht sagte, spürte Youma es – er spürte seine Unruhe.

„... ich verstehe dann nicht, warum du...“ Der Blick Nocturns festigte sich wieder, er drehte sich zu ihm und lächelte abermals dieses... ja, jetzt wusste Youma, was es für ein Lächeln war: es war ein verliebtes Lächeln.

„Weil du nicht „irgendwer“ bist.“ Wieder hob er die Hand, ließ es durch Youmas Haar gleiten, der ihn genauso anlächelte wie umgekehrt, ehe seine Augen sich in Überraschung weiteten:        

„Du bist so schön...“ Seine Stimme war wieder nicht mehr als ein Flüstern; ein verzaubertes Flüstern, denn das war er: verzaubert von dieser greifbaren Dunkelheit, von der Wärme, die er in sich spüren konnte, wenn Youma ihn berührte, die von ihm selbst ausging... Nocturn hatte Dunkelheit nie als etwas Schlechtes angesehen, sie nie gefürchtet, sie immer als ein Teil von sich selbst, von seinem Leben, seiner Welt gesehen. Die Dunkelheit, die kam, wenn die Nacht hereinbrach... die Zeit des Tages, wo die Inspiration am größten war, die Zeit der Geheimnisse, die Zeit der Verzauberung, der Magie.

Der Gefühle. Der... Liebe.

 

Youma hatte sich zu Nocturn herunter gebeugt, seine Haare streiften seine Wange, Nocturn hatte bereits seine Augen geschlossen, bereit den Sprung zu wagen... als er Youmas Flüstern noch einmal hörte:

„Nocturn... das Lied, was du heute Abend als Letztes gespielt hast... wie hieß das?“ Neckend breitete sich ein Grinsen auf Nocturns Gesicht aus und verspielt öffnete er das rechte Auge:

Ténèbres et la Nuit. Kannst du dir denken, was das bedeutet?“

„Ja“, antwortete Youma ebenfalls lächelnd, ehe sie beide ihr Lächeln vereinten.

„Die Dunkelheit und die Nacht.“

 

Zum ersten Mal wagte Youma sich weiter vor und spürte sofort, dass das etwas war, was Nocturn nicht kannte; sein Körper versteifte sich kurz abwehrend. Youma wollte den Kuss schon abbrechen, doch Nocturn beruhigte sich, entspannte sich wieder, schien es sogar zu genießen, denn er zog Youma näher zu sich heran, womit sie nun eng umschlungen auf dem Boden lagen – und da bemerkte Youma auch, was Nocturn gemeint hatte; was er ihm mit seiner Erzählung hatte sagen wollen: anders als Youmas Körper reagierte Nocturns Körper nicht.

 

Nocturn sah ihn widerwillig an, als Youma den Kuss abbrach, aber er brauchte Gewissheit „Bist du dir wirklich sicher, Nocturn?“ Als Antwort himmelte er mit den Augen, zog ihn wieder zu sich und als müsste er seine Entschlossenheit irgendwie unter Beweis stellen, nestelte er an Youmas Kragen und an den Knöpfen seines Hemdes – Youmas Krawatte zerschnitt er doch tatsächlich sang- und klanglos mit seinen Fingernägeln.

„Ich hoffe, das wolltest du so nicht wieder anziehen“, grinste Nocturn, nachdem Youma ihn ziemlich perplex angesehen hatte – aber nicht unbedingt negativ, sondern eher positiv überrascht.

„Ich glaube, ich ziehe meine Kleidung lieber selbst aus, wenn du auf Zerstörung aus bist!“

„Nein.“ Nocturn stemmte sich hoch und beugte sich zu Youma vor, der ihn angesichts seiner festen Stimme erstaunt ansah:

„Ich werde das machen. Das ist doch... normal, oder? Man zieht sich doch gegenseitig aus?“ Ein aufgeregtes Kribbeln jagte durch Youmas Körper, als Nocturn die Initiative ergriff und es diesmal er war, der ihn leidenschaftlich küsste. Völlig überrascht über die plötzliche Wendung fiel es Youma zuerst schwer, sich fallen zu lassen, die Berührungen Nocturns zu genießen.

Aber dann... aber dann...

 

„Du musst mir sagen, wenn ich etwas falsch mache.“ Wie konnte er so etwas jetzt sagen? War er denn blind für die Röte in seinem Gesicht? Wie sehr er seine Stimme unterdrücken musste, das angenehme Zittern, das seinen Körper zum Erbeben brachte, als die Anzugsjacke auf den Boden glitt und Nocturn, weil er schnell lernte, indem er Youma nachmachte, mit seinen Lippen Youmas Hals berührte, während er wiederum seine Hände in Nocturns Haaren vergrub?

 

Aber das angenehme Stöhnen, das Youma nicht unterdrücken konnte, als Nocturn seine Haut berührt hatte – das bemerkte er und verwundert hob er den Kopf:                                                                                                                                                                                                                                                         

„Oh, entschuldige, ich hätte dich vorher fragen sollen...“ Halb knurrend, halb grinsend erwiderte Youma mit hochrotem Kopf:

„Du musst dich... für überhaupt gar nichts entschuldigen oder... um... Erlaubnis bitten.“

„Deine Stimme hört sich komisch an... und du atmest so komisch...“

„Das... ist normal. Das ist das... Zeichen dafür, dass du... alles richtig machst...“ Nocturn sah nicht sonderlich überzeugt aus; sondern eher besorgt, weshalb Youma fand, dass es an der Zeit war, dass er wieder die Führung übernahm. Nocturn hatte sich schon erstaunlich weit vorgewagt.  

 

Aber zuerst tat Youma etwas anderes und er sah, wie Nocturn ihn erstaunt dabei beobachtete; er entfernte das Letzte, was seine Haut noch bedeckte – den Verband seiner linken Hand.

„Warum tust du das? Ist sie schon verheilt?“ Youma antwortete nicht sofort, sondern konzentrierte sich kurz auf seine Finger, die er einen nach dem anderen in mehrere Richtungen bewegte; dann widmete er sich wieder Nocturn, seine Hand mit der linken nehmend:

„Weil ich dich berühren will. Gänzlich berühren. Ich möchte, dass das erste, was ich mit meiner linken Hand berühre, du bist.“ 

 

Vorsichtig wechselte Youma die Position, achtete darauf, Nocturn nicht irgendwie... zu verängstigen oder zu verunsichern, aber trotz aller Vorsicht war das vorübergehende Selbstbewusstsein Nocturns wieder verschwunden, als Youma ihn auf seinen Schoß zog. Um ihn zu beruhigen, legte er seine linke Hand an Nocturns Wange und küsste ihn sanft auf die Stirn… seine Wangen… seine Lippen, während es nun seine Hand war, die Nocturns Rücken sanft streichelte, wobei ihm die Furchen seiner Narben nicht unbemerkt blieben. Das gleiche dachte Nocturn wohl auch, denn er brach den Kuss ab:

„Reicht es nicht, wenn ich nur die Hose ausziehe und das Hemd anbehalte?“

„Nein“, erwiderte Youma mit Nachdruck, die letzten Knöpfe von Nocturns Hemd öffnend, dabei versuchend, seinen verunsicherten Blick nicht zu beachten und ihn stattdessen aufmunternd anzulächeln:

„Wie soll ich denn so deine Narben küssen?“ Diese Worte brachten Nocturn zu einem Lächeln; eines was immer noch recht verunsichert wirkte, besonders in Anbetracht dessen, dass das Hemd, samt Jacke, nun langsam von seiner Schulter rutschte. Aber er zwang sich zu einem Grinsen:

„Dann hast du aber viel vor...“  

„Keine Sorge, die Nacht gehört uns“, erwiderte Youma lächelnd und schloss Nocturn in die Arme, womit die beiden sehr ungleichen, unbekleideten Körper sich nun berührten. Nocturn war immer noch sehr steif und in sich verkrampft, wollte sich am liebsten auflösen, sich vor sich selbst und seinem Körper verstecken, als er bemerkte, dass es... so unglaublich es ihm auch vorkam... aber es schien Youma zu gefallen. Er spürte, wie er ihn enger an sich drückte, spürte seinen Atem an seiner Haut, konnte sein Lächeln fast an dieser spüren... und langsam lockerte er auf, die Arme nun auch um Youma legend.

„Nein, Youma...“, erwiderte Nocturn erleichtert lächelnd, als hätte er eine Mutprobe bestanden, Youmas Haare küssend:

„Sie gehört ganz dir.“

 

 

„Unter diesen... Umständen werde ich... dir wahrscheinlich wehtun.“ Youma sah den grinsenden Nocturn unter sich liegen; er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er war nervös. Er drückte Youmas Finger, die sich mit seinen verflochten hatten, fest; zu fest, es tat ein wenig weh, aber Youma beklagte sich nicht. Er wollte nicht, dass Nocturn wusste, dass er seine Nervosität bemerkt hatte.

„Ich bin nicht aus Glas. Alles... gut.“

„Nocturn... ich meine es ernst... ich habe so gut wie keine... ach, was rede ich; ich habe keine Erfahrung in diesem Bereich... ich möchte dir nicht wehtun... wenn du Schmerzen hast... wenn es dir unangenehm ist... dann möchte ich, dass du das sagst... dann höre ich sofort auf.“

 

 

 

„Du hast nicht „Stopp“ gesagt! Du hättest es sagen müssen!“ Nocturn lachte herzhaft, als er Youmas Beschwerde hörte und rieb sich das Shampoo in die Haare, das heiße Wasser auf seiner Haut genießend, während Youma vor der Dusche mit verschränkten Armen an der Badezimmerwand lehnte – er hatte sich bereits wieder angezogen. Er hatte mit Nocturn zusammen duschen wollen, aber das hatte er vehement abgelehnt; er hatte genug von seiner Haut gesehen und es war eine Sache, sie im Dunkeln zu sehen, als im hellen Badezimmerlicht...  auf das Argument, dass sie Dämonen seien und dass Youma ausgezeichnet im Dunkeln sehen konnte, hatte Nocturn nur entschuldigend gegrinst und war unter die Dusche verschwunden, wo er sich nun das Shampoo aus den Haaren wusch.

„Deine Stimme klingt ja wieder klar!“

„Das ist normal“, antwortete Youma hüstelnd, dabei wieder errötend und sich weiterhin beschwerend:

„Du hättest es wirklich sagen müssen. Ich hätte aufgehört.“

„Ich weiß.“ Nocturn drehte das Wasser aus und Youma sah, wie er nach dem Bademantel griff, den er sich vorher zurechtgelegt hatte – und tatsächlich, erst als er sich diesen umgelegt hatte und sich sicher war, dass die Schleife absolut fest gezogen war, kam er heraus, sich die Haare mit einem extra Handtuch abrubbelnd.

„Sowieso...“, begann Nocturn lachend, Youma spaßeshalber ein wenig nassspritzend, was dieser mit gespielter Empörung quittierte.

„...es ist nach null Uhr. In ein paar Stunden muss ich weitaus schlimmere Schmerzen durchstehen als die, die du mir mit so was hättest zufügen können.“ Das eben noch belustigte Grinsen Youmas verschwand; sein Gesicht wurde wieder ernst und sofort bereute Nocturn seine unüberlegten Worte. Natürlich hatte Youma das nicht hören wollen.

 

Sie schwiegen kurz beide – und auch als Youma sich von den weißen Fliesen abfederte und Nocturn tonlos die Haare trocken rieb, sagte keiner von ihnen etwas. Erst als er fertig war und das Handtuch auf Nocturns Schultern rutschte, sahen sie sich an, Nocturn leicht besorgt, weil Youma plötzlich sehr ernst aussah.

„Wir, Nocturn, wir. Ich lasse dich nicht alleine in den Kampf ziehen.“ 

Fatalitè Déplorable - Opus I

Wie ungewohnt diese Luft war; so bleiern, so schwer, so erdrückend und von ihr verhasst.

Mit Gesichtszügen, die die Ernsthaftigkeit dieses Augenblicks, ihrer Entschlossenheit, unterstrichen, blickte Raria auch mit einer Spur alter Melancholie hinauf in den roten Himmel der Dämonenwelt. Wie lange war es her, dass sie sich unter jenem roten Himmel befunden hatte? Ohne Zweifel war es lange gewesen, denn ihre Augen taten sich zunächst schwer, sich an das ewige Dämmerlicht dieser Welt zu gewöhnen, weigerten sich, sich dieser Welt anzupassen, genau wie Rarias Innerstes sich immer danach gesträubt hatte, hierhin zurückzukehren. Auch jetzt spürte sie das dringende Bedürfnis, sich wieder nach Frankreich zurück zu teleportieren; diese alte, zu einem alten Leben gehörende Uniform von ihrem Leib zu reißen – nein, verbrennen wollte sie sie. Raria hätte es schon damals tun sollen… aber sie hatte immer die Vorahnung gehabt, dass sie sie womöglich noch brauchen würde.

 

Und leider hatte sie sich nicht geirrt.

 

Aber dass es gerade so kommen würde… dass sie ihre alte Heimat gerade aus einem solchen Grund wieder besuchen würde – das hatte sie nicht geahnt. Aber sie war nicht nervös; Nervosität war nicht der Grund, weshalb Rarias lange Finger die olivfarbene Flasche in ihrer Hand fester drückten, als es not tat. Nein, es war Entschlossenheit.

 

Diese Entschlossenheit lag auch in ihren Schritten, die sie zielsicher über eine eigentlich recht hübsch dekorierte Holzbrücke führten, deren rote Lampions unwirkliche Schatten auf die Bretter warfen – aber die Ausstattung beeindruckte Raria nicht; sie hatte noch nie ein Faible für die japanische Kultur gehabt.

Die hier lebenden Dämonen hatten sie bis jetzt unbehelligt passieren lassen, aber als Raria am Ende der Brücke angelangt war, stellte sich ein ihr bekannter, kräftiger Dämon mit einer zotteligen Kurzhaarfrisur in den Weg; der oberste Kommandeur Ri-Ils, Darius.

Als sie Darius mit einem leicht irritierten Blick musterte, ärgerte sie sich über die doch ziemlich dämonischen Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen; Gedanken, von denen sie froh war, dass sie sie nicht in der Menschenwelt zu plagen brauchten: dass er trotz des ständigen Krieges immer noch am Leben war, dass er scheinbar gut in Form, sogar recht gesund wirkte und auch noch alle Glieder besaß. Genau solche Gedanken waren es gewesen, die sie aus dieser Welt vertrieben hatten; der ständige Kampf ums Überleben, der Krieg, der Sein und Denken einnahm und die Person Stück für Stück veränderte. Sie hatte all das nicht mehr gewollt; jetzt befand sie sich wieder mittendrin.

 

Aber nicht mehr lange.

 

Darius und sie kannten sich von früher; weshalb er sie genauso skeptisch musterte wie umgekehrt, immer wachsam, immer bereit anzugreifen.

So ein entsetzliches Dasein.

Aber damals war sie ein Teil davon gewesen; damals, als sie beide Lehrmeister gewesen waren, nur zu gegnerischen Horden hatten sie gehört. Nein – das war eigentlich nicht ganz richtig. Für eine kurze Zeit – damals hatte Raria die Zeit noch nicht berechnet – waren sie sogar auf derselben Seite gewesen, da ihre beiden Fürsten sich kurzweilig zusammengetan hatten, bis dieses Bündnis für Ri-Il nicht mehr lukrativ genug gewesen war. Raria hatte Ri-Il den Verrat nie verübelt. Warum sollte sie auch? Nein, sie hatte seinen scharfsinnigen Spürsinn bewundert und hätte sie nicht zur gleichen Zeit der Dämonenwelt den Rücken zugekehrt, hätte sie sein Angebot, Teil seiner Horde zu werden, geehrt angenommen.

 

Aber gerade wegen diesem Scharfsinn war sie sich bewusst, dass sie Acht geben musste. Viel hing von dem Erfolg dieses Vorhabens ab; nein – alles.

 

„Ich brauche keine Eskorte“, grüße Raria Darius kühl, als sie sich dazu entschlossen hatte, dass sie sich lange genug gemustert hatten.

„Ich habe eine Verabredung mit deinem Fürsten. Er weiß, dass ich komme und dass ich nicht hier bin, um seinem Gebiet Schaden zuzufügen.“ Darius schien das lieber selbst beurteilen zu wollen; jedenfalls wenn sie seine gerunzelte Stirn richtig deutete.

„Ich weiß von eurer Verabredung.“ Stolz war aus seiner Stimme zu vernehmen; wahrscheinlich darüber, dass er eingeweiht war in solche Dinge. Aber obwohl er wusste, dass Ri-Il und Raria eine Verabredung hatten, konnte er sich einer gewissen Skepsis wohl nicht erwehren; wahrscheinlich weil er Ri-Ils damaligen Verrat nicht vergessen hatte und fürchtete, dass in Raria irgendwelche Rachegelüste schlummerten, die sie gegen Ri-Il und das ihm unterstellte Gebiet richten könnte. Er könnte nicht falscher liegen.

 

Auch wenn Raria es wurmte, dass Darius sie nicht alleine gehen lassen würde, ließ sie es nun ohne weiteres Kommentar geschehen – sie hatte keine Zeit, sich an Darius aufzuhalten und wenn er gerne den Wachhund spielen wollte, dann ließ sie ihm den Spaß.

Er war wirklich ein sehr pflichterfüllender Wachhund; er führte sie nicht nur auf dem schnellsten Wege zu Ri-Ils Büro, er scannte obendrein auch noch jeden ihrer Blicke, als wären ihre Augen an sich eine Gefahr.

 

Ri-Il dagegen strahlte eine ganz andere Aura aus, die im starken Kontrast zu seiner eigentlichen, überaus mächtigen Aura stand. Als Darius die Schiebetür geöffnet hatte, erhob der eigenartig aussehende Dämon sich gelassen von seiner Papierarbeit – nahm sich obendrein Zeit, seinen Tintenfüller sorgfältig zuzudrehen und seine Papiere geordnet auf die linke Seite seines Schreibtisches zu legen – und schlenderte auf Raria und Darius zu, die eben vor der Schiebetür stehen geblieben waren. Auch wenn Raria großen Respekt vor Ri-Il hatte; seine undurchschaubare Heiterkeit, sein mysteriöses, alles zu wissendes Grinsen… all das mochte sie nicht. Es machte sie nicht nervös oder unsicher; es übte eine ungeheure Anspannung auf sie aus. Ja, seine mächtige Aura war beklemmend, aber Raria fand viel eher, dass sein Auftreten, seine Art, seine Ausstrahlung das waren, was die Gefahr begründete, die sie jetzt in seinem Beisein spürte – und auch damals schon verspürt hatte.

 

„Guten Abend, Raria-san.“ Er verneigte sich vor der Dämonin und seine Zöpfe wackelten dabei ein wenig – seine Höflichkeit war etwas, was sie allerdings sehr schätzte. Trotz aller Anspannung, die er bei seinem Gesprächspartner auslöste, so war er doch wenigstens ein Dämon, mit dem man reden konnte – und Geschäfte machen konnte.

 

Seine Horde war scheinbar immer noch gut erzogen, denn Darius zog sich ohne ein Wort von Ri-Il zurück; jedoch nicht, ohne Raria noch einen skeptischen Blick zugeworfen zu haben.

„Guten Abend“, erwiderte Raria und folgte seiner galanten Aufforderung zu einer Ansammlung von Sitzkissen rund um einen niedrigen Holztisch. Schon wieder diese japanische Kultur; warum fand er nur so Gefallen an ihr?

Aber Raria ließ sich ihren Widerwillen, sich auf die Knie zu setzen, nicht anmerken und nahm auf dem Sitzkissen Platz, welches er ihr angeboten hatte. Ri-Il selbst blieb allerdings stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

 

„Kann ich Ihnen Tee anbieten?“

„Nein, danke“, antwortete Raria und übergab ihm auch sofort die Weinflasche, um zu verdeutlichen, dass sie wegen anderen Dingen hier war als der Gemütlichkeit wegen.

„Sie haben einen exklusiven Geschmack, wenn ich das anmerken darf. Ich musste ein wenig länger nach diesem Jahrgang suchen.“

„Oh“, entfuhr es Ri-Il, nachdem er kurz die Augen einen Spalt breit geöffnet hatte, um die Flasche in Augenschein zu nehmen, sich nun ebenfalls setzend, was Raria um einiges lieber mochte:

„Das bedauere ich natürlich; ich wollte Ihnen keine Umstände machen, Raria-san, weshalb ich mir Wein als Gastgeschenk ausgesucht hatte, wo Sie doch im Land des Weines leben.“ Dieser verdammte Fuchs, schoss es Raria abermals durch den Kopf. Nicht nur, dass er ihr nun schon zum zweiten Mal förmlich unter die Nase rieb, dass er wusste, wo sie lebte – und er würde ihr wahrscheinlich wie beim ersten Treffen nicht sagen, woher er das wusste –  nein, er hatte auch noch einen Wein für mehr als 300 Francs bekommen; als „Gastgeschenk“, das er sicherlich gut in irgendeinem anderen Tauschhandel einsetzen können würde, denn er trank keinen Wein. Er trank Sake, wie sie wusste. Aber obwohl sie beide von deren Geschäft profitieren würden, hatte Ri-Il natürlich die Chance genutzt, um noch ein wenig… extra abzugreifen. Eigentlich hatte sie ablehnen wollen, als er sie bei ihrem letzten Treffen, freundlich und höflich natürlich, darum gebeten hatte, ihm diesen Wein „mitzunehmen“ – „sie kenne sich doch sicherlich aus“. Ja, sie hätte wirklich ablehnen sollen, aber stattdessen spielte sie mit.

 

Es stand zu viel auf dem Spiel.     

 

 

Kurz atmete Raria tief durch, als sie sich wieder in ihrem geliebten Frankreich, in ihrer geliebten Menschenwelt befand, auf der Veranda ihres Anwesens; völlig in Gedanken versunken legte sie den Kopf in den Nacken und als hätte der Wind sie gehört, erfasste er genau in diesem Moment ihre schwarzen Haare und tief, mit einem leichten, traurigen Lächeln, atmete Raria die Luft des Meeres ein. Die Luft war schon sehr kühl; der Winter würde bald kommen. Er lag in der Luft.

 

„Ihre Entscheidung ist sehr bedauernswert, Raria-san. Aber ich zolle Ihnen für diese Entscheidung meinen Respekt. Bedauernswert bleibt es allerdings dennoch…“ 

 

Raria seufzte, als diese letzten Worte Ri-Ils ihr noch einmal durch den Kopf huschten – und zwang sich dann, an etwas anderes zu denken. Sie hatten viel zu tun: das Training, Nocturns letztes Konzert… und deshalb wollte Raria sich gerade ins Haus zurückziehen, um sich schnell umzuziehen, um dann das Training von Nocturn und Youma zu überwachen, als sie bemerkte, dass die beiden gar nicht trainierten. Hatte Nocturn Youma etwa nicht mitgeteilt, dass sie auch ohne sie trainieren sollten?!

 

Raria wollte gerade wütend auf sie zu stampfen, um die beiden zurechtzustutzen; die beiden herum albernden Dämonen, die sie noch gar nicht bemerkt hatten, die doch tatsächlich ihre wertvolle Zeit damit verschwendeten, über Äpfel zu lachen, dicht nebeneinander unter dem Apfelbaum saßen… gänzlich von jedem Unglück isoliert.

 

Rarias Wut flaute ab; sie verschwand und hinterließ nur Trauer.

 

„Wie bedauernswert…“

 

 

Nocturn schreckte auf, als er spürte, wie Youma seine Hand nahm. Er war weit weg mit seinen Gedanken gewesen; aber jetzt war er wieder zurückgekehrt, war wieder in Paris, auf der Brücke Pont de Bir-Hakeim, die der Metro Linie 6 als Überführung diente und nun, hell erleuchtet von ihren herunter hängenden Lampen, die Szenerie von Youmas und Nocturns nächtlichem Spaziergang war.  

Youma hatte Nocturns verwirrten Gesichtsausdruck falsch gedeutet und ließ die Hand los, die er eben noch so beherzt genommen hatte.

„Entschuldige“, begann er, rot werdend, wie Nocturn im gelben Licht der Lampen und des Eiffelturmes deutlich erkennen konnte.

„Ich dachte nur… nun… also, da wir…“ Youma suchte nach den richtigen Worten, schien sie aber nicht zu finden, was ihm peinlich zu sein schien und verärgert über sich selbst wollte er sich wegdrehen, den Weg über die Viadukt-ähnliche Brücke fortsetzen, aber da verstummte er, hielt inne, als er einen Augenblick lang auf Nocturns Hand sah, die seine gerade genommen hatte. Diese kleine Verbindung zwischen ihnen brachte sie beide kurz zum Schweigen und sie trauten sich nicht einander anzusehen, als ob sie einander nicht zeigen wollten, wie rot sie geworden waren.

 

Wie albern diese Situation doch war! Immerhin hatten sie vor knapp einer Stunde weitaus deutlichere Zeichen der Liebe ausgetauscht und nun scheuten sie sich davor zuzugeben, dass sie sich über dieses kleine Zeichen der Verbundenheit freuten.

„Mach ich es… richtig?“, fragte Nocturn nach einigen peinlichen Minuten.

„Was könntest du denn daran falsch machen?“

„Das weiß ich nicht; den Händedruck… vielleicht? Die Platzierung der Finger?“ Youma schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, eben diesen auch wieder zu heben, obwohl  der Gedanke, dass Nocturn seine Hand tatsächlich vor einer Stunde sehr fest gedrückt hatte, ihm noch heißer werden ließ als ohnehin schon.

„Es ist so eigenartig…“ Nocturn sah immer noch nach unten, wie Youma bemerkte – sah er auf deren ineinander verschlungene Hände?

„… ich weiß gar nicht, was ich hier mache… ich habe eine solche Rolle noch nie gespielt…“ Youma stutzte ein wenig über sich selbst, musste sich beinahe selbst beschmunzeln, weil er sich gar nicht wie sonst über Nocturns eigentümliche Wortwahl pikierte, als wäre es plötzlich einfach etwas, was er akzeptierte, weil er… oh Gott, er konnte es plötzlich gar nicht fassen.

Er hatte sich in ihn verliebt – in einen so kuriosen Dämon, für den er sogar sein Leben riskierte.

 

Als könnte Nocturn plötzlich doch seine Gedanken lesen, riss er auch genau dieses Thema an, welches, seitdem Youma es im Badezimmer verkündet hatte, nicht mehr zur Sprache gekommen war. Jetzt, in diesem Moment, als Nocturn seinen Blick wieder von deren Händen löste und Youma ansah, wieder ernst geworden war, kam es wieder an die Oberfläche.

„Du bist dir sicher?“

„Natürlich“, antwortete Youma und die beiden begannen wieder, die Brücke hinunter zu gehen; jetzt allerdings Hand in Hand.

„Ich habe dir gesagt, dass wir zusammen gegen Kasra kämpfen werden und das habe ich auch so gemeint. Ich lasse dich nicht alleine gehen. Wir werden, genau wie wir jetzt diese Brücke entlang gehen, zusammen kämpfen.“ Ein kurzes, gerührtes Lächeln huschte Nocturn über das Gesicht und er drückte Youmas Hand ein wenig fester – dann lachte er in die kühle Nachtluft hinein, Youmas Schulter mit seiner berührend, ihn angrinsend:

Na! Ich hoffe doch, dass du Kasra nicht mit ein bisschen Schlendern besiegen willst! Ein wenig hat der Herr in den letzten Tagen ja wohl doch gelernt, oder?“   

 

Und dann neckten sie sich wieder, trietzten den jeweils anderen, doch ohne einander loszulassen. Es war geschehen. Das Band war geschmiedet.

 

 

Es war wirklich ein bedauernswertes Schicksal.   

Fatalitè Déplorable - Opus II

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Nocturn und Youma hatten das Zurück-Teleportieren zu Raria hinausgezögert. Nicht weil sie ihre Reaktion fürchteten – Nocturn hatte Youma versichert, dass sie schon früher von deren Gefühle füreinander gewusst hatte als sie selbst – sondern weil sie spürten, dass sie dann dem Ende unweigerlich näher kommen würden; teleportierten sie sich zurück und kehrten Paris somit den Rücken zu, ließen sie auch das Privileg zurück, kurzzeitig von all dem, was sie bedrückte, zu fliehen.

 

Aber es musste sein. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.

 

Hand in Hand teleportierten sie sich zurück und schon sahen sie das große Haus vor ihnen in der Dunkelheit; nur in der Stube brannte noch Licht. Schweigend blickten sie beide zum Haus empor, doch obwohl sie sich beide bewusst waren, dass sie es eilig hatten, drückten sie die Hand des jeweils anderen fester, statt sie loszulassen.

Nocturn wollte sich gerade, im Versuch die Stimmung ein wenig aufzulockern, neckend zu Youma herumdrehen, als das bereits aufflackernde Grinsen verschwand. Aufgeregt und mit einem intensiven Leuchten huschten Nocturns Augen in die Dunkelheit des Waldes hinein, durchdrangen sie; seine Gedankenlesefertigkeiten schossen wie ein Pfeil durch den Wald – aber Youma unterbrach sein Vorhaben.

 

Er hatte die plötzliche Veränderung in Nocturn nicht bemerkt; er war zu sehr in Gedanken vertieft gewesen – traurigen Gedanken, die ihn dazu gebracht hatten, Nocturns Hand gehen zu lassen, um ihn stattdessen zu sich zu ziehen. Nocturn wollte ihn davon abhalten, wollte ihn warnen, aber der Kuss und die verzweifelte Leidenschaft Youmas überrumpelten ihn.

Als Youma seine Lippen wieder von Nocturns löste, hatte Nocturn sich dazu entschlossen, ihm nichts zu sagen – aber auch wenn er das Schweigen gewählt hatte; seine Augen schwiegen nicht und Youma verstand ihre Sprache. Aber er missinterpretierte den entschuldigenden Blick Nocturns. Er glaubte, er war genauso traurig wie er, weshalb er ihn auch noch einmal hatte küssen wollen und weshalb er nun auch seine Hand an Nocturns Wange gelegt hatte – ja, das war er wahrscheinlich auch, aber aus einem anderen Grund.

 

„Lass uns hineingehen. Nach… naja, du weißt schon… unserem nächtlichen Erlebnis solltest du auch nochmal duschen, ehe wir in die Dämonenwelt aufbrechen“, unterbrach Nocturn die Stille mit einem leichten, erröteten Grinsen, woraufhin die beiden sich herumdrehten und Seite an Seite zum Haus gingen.

 

Doch ehe sie die Tür hinter sich schlossen, warf Nocturn noch einen Blick über die Schulter. Skepsis und Argwohn lagen in seinem Blick, aber da war niemand, der diese Gefühle in Empfang nehmen konnte. Hatte er sich geirrt?

 

Genau wie Nocturn es versichert hatte, war Raria sich deren Gefühlen natürlich schon längst bewusst – dennoch kam Youma nicht drum herum, trotz der ernsten Situation rot zu werden, sobald die beiden das Haus betreten hatten und Raria vor ihnen stand. Sie sagte nichts; sie musterte die beiden nicht einmal besonders eindringlich, als wäre das reine Zeitverschwendung. Es tat immerhin nicht Not; wenn es vor diesem Abend noch irgendwelche Zweifel gegeben hatte, dann hatte Nocturns Nocturne alle Zweifel beseitigt. Dennoch schien Youma etwas sagen zu wollen und belustigt sah Nocturn dabei zu, wie er nach den richtigen Worten zu suchen schien, immer röter wurde, auffällig Luft holte – nur um dann schlussendlich zu verkünden, dass er gerne duschen wollte, aber natürlich nur, wenn Raria nichts dagegen hatte. Erst als er diese Frage stellte, verengten sich ihre Augen und kurz schien sie zu überlegen, ob sie ihm diese Bitte tatsächlich verweigern sollte; denn nur weil im Endeffekt alles gut gelaufen war, bedeutete das nicht, dass Raria Youmas Unverfrorenheit ihr gegenüber vergessen hatte.

Aber sie ließ sich erweichen; allerdings weniger wegen Youma, sondern mehr um mit Nocturn noch einen kurzen Augenblick alleine zu sein.

 

Skeptisch wie immer wartete sie allerdings, bis sie das Rauschen des Wassers hören konnte, ehe sie Nocturn bedeutete, in die von einer einzigen entzündeten Lampe spärlich erhellte Stube zu gehen. Sie folgte ihm sofort und schloss sogar die eigentlich immer geöffnete Flügeltür hinter sich – dann begann Raria allerdings sofort ohne Umschweife mit der Frage, die ihn auch schon beschäftigt hatte:

„Hast du etwas gespürt?“

„Gespürt nicht.“ Nocturn richtete seine glühenden Augen wieder auf den Wald:

„Jedenfalls habe ich keine Aura vernommen.“

„Hast du womöglich Gedanken gehört, die hier nicht hingehören?“ Nocturn schüttelte den Kopf und spürte sofort, wie das schlechte Gewissen in ihm hochkam, immerhin… war das nicht die ganze Wahrheit. Es stimmte; er hatte keine Aura vernommen, aber genau wie Raria hatte er die Augen einer Person auf sich liegen gespürt… einer Person, die nicht an diesen Ort gehörte, weshalb er sofort hatte ihre Gedanken lesen wollen. Aber genau in dem Moment, als er gespürt hatte, dass er Verbindung mit der feindlichen Person gehabt hatte; kurz davor gewesen war, in deren Gedanken einzudringen, da… Nocturn wurde ein wenig rot und war froh, dass er im Schatten stand, womit seine Gesichtsfärbung wohl nicht sichtbar war. Es war ihm unangenehm und auch ein wenig peinlich, weswegen er nicht zugeben wollte, dass der Kuss Youmas ihn nicht nur in seinem Vorhaben unterbrochen, sondern ihn auch gänzlich abgelenkt hatte. Als er ihn geküsst hatte, da… da hatte er für einen kurzen Moment alles vergessen. Für einen kurzen Moment waren sie eins gewesen; sie hatten dieselben Gefühle geteilt und Youmas Trauer und die Furcht vor dem, was kommen würde, war für diesen allumfassenden Augenblick seine gewesen.

 

Es war nicht so, dass Nocturn sich für dieses Gefühl schämte und Raria nichts davon erzählen wollte – aber er schämte sich dafür, dass er sich von der Gewalt dieses Gefühlstrudels hatte mitreißen lassen und dabei nicht die unbekannten Gedanken hatte lesen können. Auch jetzt gelang es ihm nicht… aber das war wahrscheinlich, weil dieser Jemand nicht mehr da war.

 

„Aber es kann doch kein Dämon sein?“, fragte Nocturn Raria, um sich selbst zu beruhigen; um sich selbst zu vergewissern, dass er sie nicht noch einmal in Gefahr gebracht hatte. Aber Raria schwieg, nachdenklich aus dem Fenster sehend.

„Ich habe jedenfalls keine Aura gespürt – und alle Dämonen haben doch eine Aura?“, bohrte Nocturn nach und war erleichtert, als Raria zustimmend nickte.  

„Es stimmt, dass alle Dämonen – bis auf dich – eine Aura besitzen und ja, ich habe ebenfalls keine gespürt… Es ist mein Instinkt, der mich vor einem Augenpaar warnt, das mich beobachtet und es gefällt mir nicht, dass du es auch gespürt hast, kaum dass du das Grundstück betreten hast.“ 

„Aber jetzt spüre ich nichts mehr.“ Raria nickte zwar, aber ihr düsterer Gesichtsausdruck verriet ihm, dass das für sie nichts Positives war. 

„Hat Youma darauf reagiert?“, fragte Raria und wieder spürte Nocturn, dass er rot wurde, aber er zwang sich, ernst zu bleiben – anscheinend nicht ernst genug:

„Nocturn, ich gönne dir diese Erfahrung. Aber du musst dich konzentrieren. Du darfst dich nicht abbringen lassen – und wenn ich diese Röte sehen kann, dann können andere das auch. Also reiß dich zusammen! Ganz egal, was passiert ist und was passieren wird – du musst bei deiner Rolle bleiben!“ Schuldbewusst senkte Nocturn den Kopf, was Raria ungewöhnlicherweise erweichte:

„Ich gönne es dir wirklich, Nocturn, es ist nur…“ 

 

Nocturn mochte das nicht hören.

Diesen Tonfall.

Diese Worte.

Sie passten nicht zu ihr.

So war sie nicht; so war sie nie gewesen – warum war sie jetzt so? Sie entschuldigte sich nicht; sie brauchte keine Ausreden suchen… dieser reumütige Tonfall – nein, er passte nicht zu ihr! 

 

„Schon gut“, unterbrach Nocturn Raria eilends, ehe sie sich noch weiter von sich selbst entfernen konnte und hörte deutlich, dass sein eigener Tonfall anders war als sonst. Entschiedener. Aber gleichzeitig auch… aufgeregter, fahriger. 

Er trat vor sie und zum allerersten Mal in all den Jahren, die sie nun schon zusammen gelebt hatten, bemerkte er, dass er größer war als sie. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Er war natürlich nicht plötzlich über Nacht größer geworden; aber vorher… hatte er den Größenunterschied nie bemerkt. 

„Die Gefühle, die ich für Youma hege, sind mit meiner Rolle vereinbar. Ich werde sie spielen; du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe es dir versprochen… genau wie ich dir damals versprochen habe, dass ich alle deine Wünsche erfüllen werde. Egal, was du von mir verlangst – ich werde es tun.“ 

„Ich weiß, was ich dir aufbürde.“ Raria hatte wohl bemerkt, wie sehr ihr entschuldigender Tonfall Nocturns Innerstes in Aufruhr gebracht hatte, denn sie hatte ihn jetzt wieder aus ihrer Stimme getilgt, war wieder ernst geworden, wirkte wieder größer als er, besonders als sie sich herumdrehte, um ihm einen zusammengefalteten Haufen schwarzer Kleidung zu reichen. Verwundert blinzelte Nocturn, als sie ihm die Kleidung überreichte, weshalb Raria sich gezwungen sah, sich zu erklären:

„Na, Nocturn, dir wird doch selbst bewusst sein, dass ein Anzug nicht gerade zur besagten Rolle passt, nicht wahr? Ich habe dir eine Uniform machen lassen, die dir hoffentlich…“ 
 

Was übte diese Nacht nur für eine ungewöhnliche Magie auf die Gefühle aller Beteiligten aus? Nocturn wusste es nicht; es war ihm, als würde der falsche Ton gespielt werden, ein Ton, der nicht passte, nicht richtig war, dem er sich aber dennoch nicht entziehen konnte – und Raria scheinbar auch nicht, denn als Nocturn sich plötzlich erstickt weinend in ihre Arme warf, tat seine Tante nichts, um ihn anzuherrschen, sich doch gefälligst zusammenzureißen. Nein, stattdessen legte sie ihren Kopf auf seinen und legte die Arme, die eigentlich immer so stählern gewesen und die eigentlich nicht für solche Zärtlichkeiten vorgesehen waren, um Nocturns bebende Schultern. 
 

Und in dieser Vereinigung blieben sie, bis Youma sie fand.
 

Der Vorhang war dabei, sich zu heben. 
 


 

Youma befahl sich, ruhig zu bleiben; sich an Nocturn ein Beispiel nehmend, der bis zum letzten Moment überaus souverän seine Rolle gespielt hatte. Er hatte noch gut eine halbe Stunde Zeit – eine halbe Stunde, die ihn verrückt machen würde, wenn er nicht ruhig blieb.

 

Um die gewünschte Ruhe zu erreichen, wollte er alles noch einmal Revue geschehen lassen, aber seine so oft angewandte Technik erwies sich als wirkungslos, denn immer wieder schob sich Kasras selbstgefälliges Grinsen vor sein inneres Auge… es hatte ihm etwas sagen sollen. Aber Youma wusste nicht, was – und das machte ihn noch nervöser. 
 

Raria hatte alles so gut durchdacht und bis jetzt war alles auch genau so gelaufen, wie sie es vorausgesehen hatte. Ihr Plan sah wie folgt aus: sie würden Kasra den versprochenen Kampf liefern – Nocturn gegen Youma – genau wie die offizielle Planung aussah. Wer von ihnen eigentlich der bessere Kämpfer war, war in diesem Fall gleichgültig, hatte Raria erklärt, denn es wäre von Nöten, dass Nocturn gewinnen solle und es läge an Youma, es glaubhaft aussehen zu lassen, damit Nocturn tatsächlich den versprochenen Posten in Kasras Horde erhalten würde. War der Kampf erst einmal hinter ihnen und Kasra überzeugt davon, dass es sich lohnte, seinem Volk Nocturn als seinen Sohn vorzustellen, dann gewannen sie dadurch viel Zeit: Kasra würde nämlich erst einmal abgelenkt sein und Nocturn würde sich somit in Kasras Nähe befinden, was es einfacher machen würde, einen Moment zu finden, in dem er ihn angreifen und es somit unweigerlich zum Kampf kommen würde, denn keiner der Beteiligten glaubte daran, dass ein einfacher Überraschungsangriff genügen würde, um den König der Dämonen zu besiegen. 
 

Das Wichtigste bei all dem war, dass Youma und Nocturn sich nichts von ihren Gefühlen für den jeweils anderen anmerken lassen durften. Wie oft hatte sie das nicht betont? Es wäre das gefundene Fressen für ihn, auf das er sich erbarmungslos stürzen würde. Sogar vor dem kleinsten Anzeichen von Freundschaft warnte Raria sie.
 

Natürlich mussten sie auch auf Kasras kranken Erfindungsgeist gefasst sein, was auch Youma ausdrücklich betont hatte. Kasra könnte all ihre Pläne zerstören; sie mussten daher darauf gefasst sein, dass alles anders kommen konnte. In diesem Fall mussten sie bereit sein, sofort gegen ihn in den Kampf zu ziehen – wenn möglich sollte das aber vermieden werden. Das Überraschungsmoment war ein Vorteil, den sie brauchten und umso mehr Zeit sie gewannen, umso besser würden sie werden; besonders Nocturn, der, sollten ihre Pläne mit Erfolg gekrönt sein, immerhin Teil von Kasras Horde werden würde und so genug Gelegenheit hatte, an seinen Techniken zu feilen, um besser zu werden. Im Endeffekt mussten sie gemeinsam gegen ihn antreten. Das war ihr größter Vorteil ihm gegenüber. Aber auch deren Schwäche, wie Raria ernst beschwor. 
 

Der Abschied von Raria und Nocturn war eigenartig gewesen, dachte Youma vor dem einzigen hohen Fenster des ovalen Raumes, in dem er darauf warten musste, dass der Kampf begann, zum Stillstand kommend – der Abschied… er war so… ruhig gewesen. So vorbereitet. Waren die beiden etwa so gute Schauspieler? War das möglich? Sie hatten einfach nur voreinander gestanden; sich tief in die Augen sehend und ohne ein Wort zu sagen, hatte Raria Nocturn seine Hengdi gereicht. Kein „Pass auf dich auf“, kein „Viel Glück“ – kein einziges Wort der Erbauung oder Ermunterung. Youma spürte, wie ihn das Mitleid für Nocturn regelrecht übermannte – das war alles, was sie ihm gab? Kein einziges Wort, wo sie sich doch wahrscheinlich nicht wieder sehen würden, denn der Plan beinhaltete keine Lücke, die ihnen Zeit geben würde, nach Frankreich zurückzukehren? Würde sie etwa mitkommen? Sie hatte nichts Derartiges gesagt oder angedeutet… aber Youma glaubte nicht, dass sie ihren geliebten Nocturn alleine gehen lassen würde. Das konnte er sich einfach nicht…
 

Ein Schaudern ging durch Youmas Glieder, als er – gut 15 Minuten zu früh – hörte, wie die Tür sich hinter ihm öffnete; aber… er hatte gar keine Aura gespürt und spürte sie auch jetzt nicht, als er sich herumwandte und Kasra vor sich stehen sah. Aber… wie war das möglich?! Seine Aura war doch sonst immer so deutlich zu vernehmen; man konnte sie schon von Weitem spüren – und jetzt spürte er sie nicht einmal, wo er doch vor ihm stand? Das konnte nicht möglich sein; seine Sinne mussten ihm einen Streich spielen… vorhin, als Kasra Nocturn und Youma zusammen mit Karou begrüßt hatte, da hatte er eindeutig eine Aura gehabt, wie… 
 

Die Tür fiel hinter Kasra ins Schloss, womit die beiden alleine an diesem Ort waren - und kaum, dass die Tür sie vor der Außenwelt abgeschottet hatte, konnte Kasra ein zufriedenes, erheitertes Lachen nicht unterdrücken angesichts von Youmas offensichtlicher Verwunderung, nein, dem Schock darüber, dass er keine Aura spüren konnte. Er wollte es verbergen; wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, aber es gelang ihm nicht. 

„Na, Youma –  überrascht?“ Der Angesprochene sagte sich selbst, dass er sich zusammenreißen müsste: natürlich, es war ein Unding der Natur, an einem magischen Wesen keine Aura spüren zu können, aber er kannte es immerhin von Nocturn, doch… irgendwie war das etwas anderes. Nocturns Auralosigkeit war ungewohnt, aber nicht beunruhigend – Kasras Auralosigkeit verstörte Youma regelrecht und mit einem Mal wusste er auch, warum: er hatte Nocturn nie ernsthaft gefürchtet; wer sich aber vor Kasra nicht fürchtete, war dumm – und nun war es diesem mächtigen Dämon, der Überraschungen mit einer sadistischen Freude liebte, auch noch möglich, seine Opfer aus dem Hinterhalt anzugreifen, ohne dass sie sich darauf vorbereiten konnten.

 

Wie lange konnte er das schon? Wie viel „Spaß“ hatte er damit schon gehabt? 
 

„Beeindruckend, Eure Hoheit…“ Youma zwang sich zu einem Lächeln:

„…eine wirklich sehr nützliche Fähigkeit, möchte ich anmerken. Besonders im Kampf gegen die Wächter ist das natürlich ein großer Vorteil.“ 

„Oh, das ist gar nicht so sehr für die Wächter, muss ich zugeben…“ Er begann, um ihn herum zu schlendern. Oh, wie Youma das nicht gefiel; wie ihm das absolut gar nicht gefiel. Wenn er hinter ihm stand, wusste er nicht, was er tat, er konnte ihn nicht mehr spüren, das… war eine enorme Gefahrenquelle. Auch wenn er damit deutlich seine Furcht vor ihm zur Schau stellte, sah Youma sich dazu gezwungen, sich mit ihm herumzudrehen, so dass kein toter Winkel entstand. Und wie Kasra das freute; sein Lächeln verriet es. Breit, triumphierend und voller Hohn. 
 

„… das ist eher eine kleine…Spielerei meinerseits, an der ich und Karou momentan ein wenig herumwerkeln. Aber praktisch, nicht wahr? Ich habe unsere Aura immer als etwas überaus Irritierendes empfunden. Es macht das Ganze doch so… langweilig.“ Am Fenster blieb er stehen, die Arme hinter dem Rücken, unter seinem golden verzierten Umhang verborgen, der nun, wo er stehen geblieben war, auf seinen Platz zurückfiel. 

„Ich muss sagen, ich bin sehr gespannt auf den Kampf von euch beiden...“ 

„Ich hoffe, Eure Hoheit, dass wir Euch nicht enttäuschen werden.“

„Keine Sorge, Youma, das glaube ich nicht.“ Er grinste immer noch – dasselbe Grinsen, das er schon die ganze Zeit auf dem Gesicht gehabt hatte; schon seitdem er Nocturn und Youma gesehen hatte – ja, das war es. Youma fiel es plötzlich ein; dieses Grinsen war entstanden, als er sie beide zusammen gesehen hatte, aber… 
 

„Im Gegenteil sogar!“ Er ging auf ihn zu und obwohl Youmas Körper das Bedürfnis hatte zurückzuweichen, widerstand er diesem Drang.

„Ich bin davon überzeugt, dass ihr eine großartige Unterhaltung sein werdet. Ihr habt doch so viel trainiert und immerhin war ja schon der letzte Kampf auf seine eigene Art sehr spannend und auf jeden Fall unterhaltsam! Also! Warum sich Sorgen machen, whahaha!“

„Training, Majestät?“

 

Oh nein, oh nein, zitterte seine Stimme da etwa? Ja, sie tat es, er konnte seine Nervosität nicht gut unterdrücken; sie wurde zu groß - jetzt wuchs sie noch mehr, als ihm bewusst wurde, dass Kasra die ganze Zeit gewusst hatte, dass er trainierte; dass er etwas getan hatte, was Kasra nicht erlaubt hatte...

„Ja, Training - ich gehe doch einfach mal davon aus, dass du meinen Sohn bei seinem Training unterstützt hast?“ Zusammenreißen, befahl Youma sich - er musste sich zusammenreißen, seine Stimme festigen und ihm in die Augen sehen.

„Ja, das erschien zweckmäßig.“ Er festigte seine Stimme, seine Augen, ohne sich von Kasras dünnem, zufriedenen Lächeln aus der Ruhe bringen zu lassen - oder jedenfalls versuchte er es.

„Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass Training für einen Botschafter, wie ich es bin, nicht notwendig ist.“ Kasras Mundwinkel zuckten: es schien ihm zu gefallen, dass Youma so bereitwillig zugab, dass er sich einem Befehl...

„Warum so reumütig, Youma? Ich habe dir nie verboten, Training zu erhalten; du hättest den Wunsch nur äußern müssen - wenn du mich auf die richtige Art gebeten hättest, hätte ich es dir auch erlaubt.“ Auf die richtige Art? Was war denn die "richtige Art"? Auf den Knien darum betteln?!

 

Bei diesem Gedanken alleine blitzte kurz Zorn auf in den Augen Youmas, doch er befahl sich ruhig zu bleiben, denn im gleichen Moment, wo er den Zorn kurz in sich gespürt hatte, hatte etwas... Gefährliches in Kasras Augen aufgeleuchtet.

„Ganz im Gegenteil, Youma...“ Kasras Stimme klang aber ruhig, stand im Gegensatz zu seinen Augen, als er auf ihn zu ging:

„Ich bin ganz erpicht darauf zu sehen, was so in dir schlummert.“

 

Väterlich, aber mit etwas zu viel Kraft, schlug Kasra Youma auf die Schulter und als sie beide den Gong hörten, der den kommenden Kampf einläutete, wollte er sich gerade von ihm entfernen, als  seine linke Hand plötzlich noch einmal herunter wanderte und Youmas Schulter packte. Obwohl sein Griff überaus fest war, klang seine Stimme recht heiter, wie er seinen linken Zeigefinger plötzlich in die Luft erhob, wie um zu unterstreichen, dass er etwas vergessen hatte.

„Haha, ich rede zu viel! Ich hätte doch fast vergessen, weshalb ich eigentlich zu dir gekommen bin!“ Youma bereitete sowohl seine Seele als auch seinen Körper auf alles vor –  würde er wieder seine Hand brechen? Oder war der feste Griff Kasras der Vorbote für eine ausgekugelte Schulter? Aber nein, es kam anders; ganz anders, als er es befürchtet hatte. 

 

Eigentlich hätte Youma darauf vorbereitet sein müssen.

Eigentlich hätte er es gar nicht so weit kommen lassen dürfen.

 

Er hätte es stoppen sollen, ehe es sie zu Fall brachte.

 

„Wie ist es so, mit meinem Sohn zu schlafen? Hat es dir Spaß gemacht? War der Sex mit so einem dürren Klappergestell gut?“

 

Jetzt war es zu spät.

 

Lachend löste Kasra sich von dem komplett zu Eis erstarrten Youma, der nichts anderes tun konnte, als fassungslos geradeaus zu starren, während sein Herrscher sich von ihm entfernte, rückwärts, um selbst die kleinste Gesichtsregung Youmas nicht zu verpassen, um jede einzelne Sekunde vollends auszukosten.

„Nach dem Kampf musst du mir unbedingt mehr davon erzählen, Youma! Ich habe nicht so viele Erfahrungen mit Männern; ich ziehe Frauen vor, die schreien doch besser! Aber ich bin neugierig, das weißt du ja; ich hoffe, du wirst dich nicht zurückhalten. Aber erst einmal will ich einen spannenden Kampf sehen, ohja!“ Spöttisch lachend verließ er den Raum. Youma hätte es auch nicht länger ausgehalten; seine Beine ergaben sich, knickten ein und er sank auf den steinernen Boden.

Das war eine Drohung gewesen; deutlicher hätte sie gar nicht sein können. Youma hatte Kasra das perfekte Werkzeug förmlich in die Hände gelegt; das perfekte Werkzeug, um ihn zu quälen. Er hätte auf seinen Gönner hören sollen; jetzt war es zu spät. Zu spät, zu spät---

 

Jetzt sah er noch Nocturns lächelndes Gesicht vor sich; er erinnerte sich jetzt noch deutlich daran; es lag ja auch nur wenige Stunden zurück. Bis jetzt war er sich sicher gewesen, dass er diese Erinnerung immer in sich tragen würde. Nocturns Gesicht, liegend im Halbdunkel, ein wenig erleuchtet vom Licht der Fenster, sorgenlos lächelnd, neben ihm, den Kopf zu ihm gewandt.

Youma hatte sich gewünscht, dass er dieses Bild noch einmal würde sehen können. Noch einmal – und noch einmal. Das war doch auch der Grund, dass er sich dazu entschieden hatte, Nocturn in diesem Kampf zu unterstützen, ganz gleich wie unrealistisch die Aussicht auf einen Sieg war; um dieses Bild zur Normalität zu machen. Er wollte es noch einmal sehen. Er wollte es nicht nur in sich speichern; er wollte es wieder und wieder sehen. Wieder, wieder sehen und wieder und wieder spüren.

 

Jetzt wusste er, dass das nur Wunschträume waren. Dieses Bild, das er so gerne in sich gespeichert hätte… dieses Bild würde bald verschwinden. Dieses Lächeln. Diese Ruhe. Diese Sorglosigkeit. Die Zärtlichkeit.

Es würde alles bald verbrennen. Er würde alles verbrennen. Ihm alles nehmen; diesen kleinen Funken Licht, der ihm in dieser Hölle vergönnt gewesen war… Youma würde dieses Bild nicht wieder sehen; er würde es nicht einmal mal mehr aufrufen können, geschweige denn dass er es noch einmal erleben würde. Kasra würde es unmöglich machen. Er würde das Bild auslöschen.

 

Die Zärtlichkeit würde verschwinden.

Es würden nur noch Gräuel übrig bleiben.

 

 

Karou hatte nicht gefragt, warum Kasra ihn als einzigen Zuschauer des Kampfes „eingeladen“ hatte; er hatte auch nicht gefragt, warum sein König so erpicht darauf gewesen war, dass der Kampf dieses Mal absolut nicht von anderen Dämonen gesehen werden durfte. Warum sollte er auch fragen? Er wusste es. Kasra zeigte wieder einmal, wie vorsichtig er war: er hatte es nicht nur vor der Öffentlichkeit verschwiegen – vorneweg vor den Hohen – sondern auch noch kurzfristig den Termin verlegt und auch das Stadium war ein anderes: ein unter der Erde liegendes, direkt im Keller des Schlosses, wo sich wohl kaum ein anderer Dämon hinverirren würde… besonders Ri-Il nicht. Auch dass Karou anwesend war, war eine Sicherheitsmaßnahme; er sollte alle Daten des Kampfes aufnehmen und sie noch vor Ort verwerten: und Kasra wollte dabei sein. Er ließ keine Lücken zu. Es stand auch für ihn zu viel auf dem Spiel und vertrauen tat er sowieso niemandem – und er tat gut daran.

 

„Ich muss dir danken“, begann Kasra, auf seinem Thron Platz nehmend, hinter den sich Karou gestellt hatte:

„Deine kleine Erfindung ist Gold wert! Ich bin ihr schon absolut verfallen.“

„Sie ist noch nicht ausgereift“, erwiderte Karou nüchtern, Youma und Nocturn dabei beobachtend, wie sie über den Platz schritten. Nocturn wirkte ziemlich selbstbewusst; ja, wüsste Karou es nicht besser als alle Anwesenden, so könnte man anhand seines Lächelns tatsächlich glauben, er wäre Kasras Sohn. Youma dagegen wirkte sehr blass – oder bildete Karou sich das nur ein? Seine gesundheitlichen Werte waren gut; die Hand, die seine Sense führte, war verheilt.

„Oh, ich bin ganz zufrieden mit ihr.“ Kasra lachte in sich hinein und es schien Karou, als hätte er an diesem Tag ganz besonders gute Laune: die Augen, die unablässig auf Youma lagen, schienen förmlich zu glühen. Warum lagen sie nur auf Youma? War nicht Nocturn das Ziel des Ganzen?

 

Dank seiner Position als Kasras Leibarzt war Karou einer der wenigen, die dasselbe wussten, was Ri-Il vor kurzem herausgefunden hatte und was er just in diesem Moment Lycram berichtete. Nicht in Lerenien-Sei. Nicht in einem ihrer Gebiete, denn auch Ri-Il war auf dem Höhepunkt seiner Skepsis: Er hatte Lycram zu einem Alkoholtesten in der Menschenwelt eingeladen, was zum einen seiner eigenen Erheiterung diente und natürlich auch dem unauffälligen Informationsaustausch in absoluter Diskretion, sich bewusst, dass Kasra seine Augen auf ihn gerichtet hatte. Natürlich wusste Ri-Il, wie absolut wertvoll die Information war, an die er gelangt war.

 

Die Information, welcher Rasse Kasra angehörte.

Eine Rasse, deren Lebenszeit durchschnittlich gesehen kürzer war als die anderer Dämonen.

Das Wissen, dass es etwas gab, was Kasra fürchten musste: keinen Anschlag, keine Schlacht, keine Vergiftung – sondern sein eigenes Alter, das begann, gegen ihn zu spielen.

 

Karou und Ri-Il vermuteten beide, dass er daher so ein großes Interesse an Nocturn hatte. Kasra wollte nicht, dass der Thron, den er so lange verteidigt und geprägt hatte, an „irgendwen“ überging. Er wollte selbst bestimmen, wer als nächstes die Krone tragen würde – er wollte, dass sein Fleisch und Blut die Krone trug. Mit anderen Worten wollte er etwas einrichten, das es seit Tausenden von Jahren nicht mehr in der Dämonenwelt gegeben hatte: eine Erbfolge.

 

Aber langsam begann Karou, noch etwas Anderes zu vermuten.

Hatten Karou und Ri-Il etwa Nocturn zu viel Beachtung geschenkt?

 

Karous gelbe Augen verengten sich skeptisch, Kasra weiterhin beobachtend, sich nicht bewusst, dass auch er beobachtet wurde.

Karou verließ sich nicht auf Vermutungen und Bauchgefühl. Er verließ sich eigentlich auch nicht auf Eindrücke – aber dennoch konnte er den Gedanken einfach nicht von sich schütteln, dass Kasras Blick und besonders seine Augen ihn an einen Dämon erinnerten, der sich gänzlich seinem Verlangen hingab… und dass Youma die Quelle dieses Verlangens war.

 

Ein Verlangen, welches beiden Kehrseiten beinhaltete; das An-sich-ketten-Wollen. Das Zerstören-Wollen.

 

Der unsichtbare Beobachter lächelte. Karou war wegen seiner Nüchternheit und seinen kaum vorhandenen Gefühlen eine Schachfigur, die er missachtete – aber ganz ohne Zweifel war er eine seiner interessanteren Figuren. 

Fatalitè Déplorable - Opus III

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Nie hätte Youma geglaubt, dass so etwas Simples, so etwas Einfaches wie das Gehen ihm schwerfallen würde – aber diese Schritte, dieses auf Nocturn Zugehen, schien ihm ein wahrer Kraftakt zu sein. Zwar hatte er sich nach Kasras unheilschwangerer Botschaft wieder aufrichten können, aber jeder Schritt, der ihn unweigerlich dem Schrecken näher brachte, fühlte sich an, als wären Steine an seine Füße gekettet. Was würde ihn am Ende des Weges erwarten? Wo würde ihn das hinbringen? Wo würde er, Kasra, sie hinführen?

 

Genau wie Karou schoss auch Youma durch den Kopf, wie ähnlich sich Kasra und Nocturn in diesem Moment sahen; er hatte sich diese überhebliche Art zu grinsen wohl abgeguckt, um Kasra effektiv vorspielen zu können, dass sie verwandt waren; dabei wirkte er doch ohnehin schon befremdlich auf Youma mit der neuen, von Raria besorgten Uniform. Eine in schwarz gehaltene, nicht enganliegende Uniform, in der Nocturn nicht fürchten musste, dass seine Dürrheit zur Schau gestellt wurde. Er fühle sich wohl in ihr, hatte er Raria versichert, als er die neue Uniform angezogen hatte; sie fühle sich eigenartig an, aber dennoch gut. Er mochte es, dass das Gewand ganz in seinen Farben gehalten war: rot und schwarz.  

 

Ja, gekleidet in seine neue Uniform und mit diesem gut kopierten Grinsen wirkte Nocturn wirklich sehr selbstbewusst. Er war ein guter Schauspieler. Ganz anders als Youma, der sich nicht nur dazu zwingen musste, nicht stehen zu bleiben und zu verzweifeln, sondern auch nicht sofort sämtliche Maskerade fallen zu lassen, um Nocturn zu warnen; ihn zu warnen, dass sie aufgeflogen waren, dass Kasra von ihren Gefühlen füreinander wusste, dass er es ausnutzen würde… Youma konnte es nicht verhindern, dass seine Augen nach links huschten, womit er einen kurzen, unheilvollen Blick auf Kasra warf, der seinen Blick überaus zufrieden lächelnd erwiderte.

Noch nie hatte Youma ihn so sehr gefürchtet wie in diesem Augenblick.

Fünf Jahre lang hatte er seinem Terror standgehalten; jetzt erlag er ihm und Youma wusste, dass Kasra sich darüber im Klaren war. Fünf Jahre lang war er nie in die Knie gegangen, aber jetzt tat er es – weil er jetzt nicht mehr nur um seine eigene Sicherheit bangen musste, sondern um deren Sicherheit.  

 

Aber würde er Nocturn etwas antun? Er glaubte doch, dass Nocturn sein Sohn war; oder hatte er auch noch herausgefunden, dass er es nicht wahr?

 

Warum fragte sich Youma das überhaupt? Wusste er nicht selbst gut genug, dass das überhaupt keine Rolle spielte? Kasra machte vor niemandem halt, das wusste er, aber dennoch klammerte er sich an irgendeine Hoffnung, suchte sie verzweifelt… er wollte nicht, dass Nocturn etwas zustieß. Er hatte doch eigentlich mit all dem nichts zu tun!

Aber vor allen Dingen wollte Youma eines nicht: er wollte nicht bereuen, ihn kennengelernt zu haben. Er wollte nicht, dass der Augenblick kam, wo er denken musste „hätte ich mich doch nur nicht in ihn verliebt“.

Aber leider war Youma zu realistisch.

 

Sie standen jetzt gegenüber voneinander. Nocturn völlig ahnungslos; Youma voller unheilschwangerer Vorstellungen. Wenn Nocturn Youmas Blick verstand, dann ließ er es sich nicht anmerken.

 

Theatralisch tuend erhob sich Kasra selbstgefällig von seinem Thron, gefolgt von den Augen Karous und des ehemaligen Dämonenherrschers und als gäbe es ein großes Publikum, stellte er sich an die Brüstung des Zuschauerbalkons und setzte zu einer kleinen Rede an:

„Willkommen, willkommen!“ Seine Stimme klang überaus heiter; Youma spürte, wie ihm die Übelkeit hochkroch. Konnte es nicht einfach schon vorbei sein? Musste er das Unvermeidliche noch hinauszögern mit so etwas Albernem?

„Mehr als eine Woche habe ich diesem Kampf entgegen gesehnt! Meine Erwartungen sind hoch, aber ihr werdet mich garantiert nicht enttäuschen, nicht wahr?“ Nocturn deutete eine galante Verbeugung an, Youma rührte sich nicht.

„Alle Anwesenden sind sich des Einsatzes bewusst, denke ich! Aber die von uns so verhassten Regeln – ja, die denke ich, werde ich erwähnen müssen…“ Er lachte; ihm gefiel ganz offensichtlich – um Nocturns und Rarias Wortwahl zu benutzen – seine Rolle.

„… Tötet euch nicht! Ansonsten ist in diesem Kampf alles zugelassen! Beendet wird der Kampf nur durch mein Wort, bis dahin…“ Er lachte ein letztes Mal, dann breitete sich ein widerliches Grinsen auf seinem Gesicht aus:

„… viel Spaß.“

 

 

„Spaß“ war nicht das, was Youma und Nocturn in der nächsten Zeit bevorstand, obwohl sie es eigentlich mittlerweile genossen, gegeneinander zu kämpfen; durch ihre Trainingssessions waren sie schon zu einem eingespielten Team geworden und keiner der beiden hatte auch nur einen Moment daran gedacht, dass ihre erwachten Gefühle für den anderen daran etwas ändern würden. Aber auch wenn Nocturn Youmas unheilschwangere Gedanken nicht teilte, so war auch er sich bewusst, dass dieser Kampf alles andere als „Spaß“ sein würde.

 

Ri-Il dagegen hatte Spaß.

Er hatte sogar mehr Spaß, als er es für möglich gehalten hatte.

Es hatte schon mit dem simplen „Hinsetzen“ angefangen, denn sie befanden sich in einem eher traditionell japanischen Etablissement, wo die Tische niedrig waren und das Sitzen auf den schön verzierten Kissen natürlich ein Muss – was eine Herausforderung darstellte für einen so großen und gut gebauten Dämon wie Lycram. Die richtige Sitzposition zu finden war ein offensichtliches Problem für ihn und Ri-Il – der sich in geübter Manier auf die Knie setzte – spielte schon mit dem Gedanken, ob Lycrams Frustrationspegel bereits nach nur zwei Minuten so hoch angestiegen war, dass das Restaurant in Gefahr war. Was überaus bedauerlich wäre, denn Ri-Il hatte großen Gefallen daran gefunden.

„Ich werde einen Krampf kriegen von diesem Scheiß!“, beschwerte Lycram sich lauthals und wenn ihr Aussehen nicht schon für genug Aufsehen gesorgt hatte, dann doch auf jeden Fall Lycrams frustrierter Aufschrei – da nützte es auch nichts, dass Ri-Il einen Platz in der hintersten Ecke des Restaurants bestellt hatte. Zum Glück befand sich das Restaurant in Akihabara; ansonsten hätten Lycrams Hörner und seine Uniform – denn natürlich hatte er sich geweigert, etwas anderes anzuziehen und gar der Gedanke, er müsste seine Hörner unter einer Kapuze oder Ähnlichem verstecken… nein! Niemals! – für weitaus mehr Aufsehen gesorgt, als es bereits jetzt der Fall war.

 

Lycram scherte sich darum natürlich nicht. Immer noch fluchte er über die Sitzposition; was war das überhaupt für eine bekloppte Art zu sitzen, so konnte man den Alkohol doch gar nicht genießen, da schliefen einem doch die Füße ein!  

Tatsächlich gab Lycram es auf, Ri-Ils Sitzposition nachzuahmen; stattdessen winkelte er seine Beine nun an und schmiss seine Faust entschlossen auf den Tisch, was die Keramikschälchen zum Klirren brachte.

„Lyci, Lyci, bitte lass den Tisch in einem Stück! Er ist eine Antiquität, für die ich ungerne zahlen möchte!“  

„“Antiquität“! Als ob ich darauf nicht…“ Dann schwieg er fassungslos, etwas, was nicht oft vorkam, weshalb man solche Momente wertschätzen sollte, was Ri-Il auch tat, indem er Lycrams Reaktion mit einem heiteren Grinsen quittierte. Ein Grinsen, das nur immer größer wurde, während er beobachtete, wie Lycrams Augen seine orangenen Zöpfe fokussierten, die gerade sichtbar geworden waren, nachdem Ri-Il seinen Zylinder abgesetzt hatte.

Die Frage, was denn mit seinen Zöpfen los war, stand Lycram deutlich ins Gesicht geschrieben, aber er fragte nicht, auch wenn es ihn brennend zu interessieren schien, wie es möglich war, dass Ri-Ils sonst immer fliegende Zöpfe plötzlich an seinem Kopf… fest zu sein schien. Mit anderen Worten löste die Tatsache, dass Ri-Ils Haare zur Abwechslung „normal“ an seinem Kopf hingen, fast schon Bestürzung in Lycram aus.

 

Aber natürlich gab Lycram sich nicht die Blöße zu fragen, was es damit auf sich hatte; stattdessen beschwerte er sich darüber, dass der Alkohol noch nicht da war und leerte kurzerhand die Schale mit den Erdnüssen, sich größte Mühe gebend, nicht dauernd zu Ri-Ils Haaren zu starren.

Es war eine gute Entscheidung gewesen, hierher zu kommen ♥

 

Aber dieses kleine Rendezvous hatte leider auch noch eine Kehrseite, die absolut nichts mit Erheiterung zu tun hatte; sondern leider mit der harten Wirklichkeit, mit der Ri-Il Lycram konfrontierte, nachdem sie einigen Spaß hatten, die verschiedenen Alkoholsorten zu probieren. Doch obwohl alle Sorten sehr sorgfältig ausgesucht gewesen waren und sie beide überrascht waren über die Qualität und den Geschmack einiger Sorten – was Lycram, da es sich um Alkohol handelte, sogar zugeben konnte – war der größte Genuss für Ri-Il, Lycram dabei zuzusehen, wie er sich den Kopf darüber zerbrach, was ihm am besten gefallen hatte. Eigentlich war Lycram vom Typ her jemand, der sich schnell und aus dem Bauch heraus entschied und sich daher nie lange mit Entscheidungen aufhielt, aber jetzt fiel es ihm eindeutig schwer: es hatte zu viele gute Sorten gegeben, was Ri-Il als ein Kompliment an seine Abendplanung ansah.

 

 

Als Ri-Il Lycram das berichtet hatte, was er dank seiner Frauen herausgefunden hatte, wurde auch er ernst und vergaß sogar, sich darüber zu beschweren, dass die Schale, in der nun der ausgesuchte Sake schwamm, für seinen Geschmack viel zu klein war.

Aber wie schon so oft vermochte Lycram es, Ri-Il zu überraschen.

 

 

Natürlich konzentrierte Karou sich und seine Computer auf den Kampf der beiden Dämonen, genau wie Kasra es ihm befohlen hatte. Dennoch ließ er immer wieder seine aufmerksamen Augen zu seinem König wandern, was dieser nicht bemerkte; er steigerte sich zu sehr in den Kampf hinein, auf eine ruhige, kalkulierende Art. Begeistert, aber abwartend, wie es Karou schien. Mittlerweile hatte sich sein Interesse verlagert, gleichmäßig auf beide verteilt und es schien Karou, als würde Kasra gefallen, was er sah… oder stammte seine gute Laune von etwas anderem?

 

Auch Nocturn wirkte ganz so, als hätte er Spaß; er wirkte tatsächlich so, als hätte er ganz vergessen, wo sie sich befanden, als wären sie in Frankreich, in dem Wald, den sie mittlerweile so gut kannten. Aber ganz schien er nicht zu vergessen, wo er war, denn obwohl er konstant grinste und lachte, vermied er es, ein Wort mit Youma zu wechseln, was sonst eigentlich typisch für sie war.

Unter normalen Umständen hätte Youma sich womöglich mitreißen lassen, aber die Umstände waren nicht normal. Immer wieder zuckten seine Augen nervös in die Richtung Kasras, als müsse er sich vergewissern, dass er immer noch da saß und nicht plötzlich hinter Nocturn oder Youma auftauchte. Entweder Nocturn bemerkte diese Blicke nicht, oder er war gut darin, sich nicht von ihnen ablenken zu lassen – oder er deutete sie falsch.

Aber ein Blick konnte wahrscheinlich auch nicht vermitteln, in welch misslicher Lage sie sich befanden.

 

Obwohl Youma sich tatsächlich mehr auf seine Umgebung – Kasra – konzentrierte, bemerkte auch er einen deutlichen Unterschied von dem Kampf, der das Ganze begonnen hatte und diesem. Das Training hatte sich ausgezahlt, denn obwohl der Kampf schon mehr als eine halbe Stunde andauerte und Nocturn ihm garantiert keine Zeit gab, aufzuatmen, war Youma nicht aus der Puste. Das Ausweichen fiel ihm leichter und sein Blick für Lücken, die er für einen Gegenangriff nutzen konnte, war ausgeprägter – aber auch wenn er einige Lücken erkannte, nutzte er sie nicht. Immerhin sollte er diesen Kampf verlieren… wenn man denn jetzt noch von Verlierer und Gewinner spre-

 

Und da geschah es.

Ohne Vorwarnung, ohne irgendwelche Anzeichen.

 

Vor zwei Sekunden noch hatte Youma wieder nach oben geschaut, sich vergewissert, dass Kasra dem Kampfgeschehen immer noch folgte, kurz gesehen, wie Karou ihm etwas mitteilte, ehe er hatte ausweichen müssen. Aber Youma war nicht schnell genug ausgewichen, war ein wenig zu abgelenkt gewesen und der Angriff Nocturns hatte ihn getroffen, ihn rückwärts geworfen. Er spürte, wie Blut sich in seinem Mund sammelte und ein dünnes, rotes Rinnsal lief über sein Kinn und ließ einen Tropfen Blut auf den Boden fallen – aber das war bei Weitem sein geringstes Problem.

Denn er war aufgefangen worden – zwei starke Hände hatten seine Schulter gepackt und sofort überspülte ihn die kalte und mächtige Aura Kasras, welcher plötzlich hinter ihm aufgetaucht war. Da er direkt hinter ihm stand und ihn festhielt, konnte Youma seinen Blick nicht sehen, aber er war sich sicher, dass dasselbe Grinsen auf seinem Gesicht aufgetaucht war wie das, das Youma vor knapp einer Stunde bereits das Fürchten gelehrt hatte. Das Grinsen, das anders aussah… von größerer Boshaftigkeit… von größerer…

 

Nocturn bremste mitten in seinem nächsten Angriff, den er natürlich hatte ausführen wollen, egal ob Youma verletzt war oder nicht, denn Raria hatte ihm mehr als drei Mal gesagt, dass er niemals zögern solle und auch Youma hatte ihm eingebläut, dass er ihn ohne zu zögern angreifen müsse und dass er in der Lage war, einiges auszuhalten: er musste nicht zimperlich mit ihm umgehen. Sein Grinsen schwand, als er Kasra ansah; kurz war er überrascht, genau wie Karou es war, der den Sinneswandel seines Königs ebenfalls nicht hatte kommen sehen, obwohl er neben ihm gestanden hatte.

 

Youma blieb still stehen, ignorierend, wie sehr sein Körper danach verlangte, sich aus Kasras Griff zu befreien. Er wollte ihm nicht noch mehr Angriffsfläche geben, weshalb er all seine Willenskraft zusammennahm, um sich ruhig zu zeigen – es war immerhin nicht das erste Mal, dass Kasra ihn gepackt, dass er seine Hand auf seiner Schulter gespürt hatte… aber irgendetwas sagte ihm, dass es dieses Mal etwas ganz anderes war, was er vorhatte und die Tatsache, dass Youmas Sense dank Nocturns Attacke am anderen Ende des Stadiums lag, machte das Ganze nicht gerade vorteilhafter. Natürlich…  er wäre in der Lage, sie zu sich zu beschwören, aber damit eröffnete er unweigerlich den Kampf; den Kampf gegen Kasra.

Und das tat er, egal auf welche Art er sich wehrte.

Aber der Zeitpunkt war nicht der richtige! Raria hatte recht: ganz egal, was Kasra über ihre Beziehung zueinander herausgefunden hatte, so war es unbedingt von Nöten, dass sie Zeit schindeten – und dass die Überraschung zur Abwechslung auf ihrer Seite war. Youma durfte es jetzt nicht vermasseln; er musste ruhig bleiben, ruhig bleiben.

Das Spiel musste weitergehen.

 

Die Frage war nur… wer spielte eigentlich mit wem?

 

Nocturns Überraschung wich, sein Grinsen kehrte zurück, auch wenn es ein wenig fragend war:

„Majestät, dürfte ich fragen, was Ihr tut? Ist der Kampf etwa schon vorbei? Das würde ich bedauerlich finden…“ Youma spürte das Beben von Kasras Brustkorb gegen seinen Rücken, als er lachte und seine schneidende Stimme drang tiefer denn je in ihn hinein:

„Oh ja, das würde ich auch bedauernswert finden, mein Junge! Aber der Kampf ist noch nicht vorbei, er geht nur in die zweite Runde.“ Zweite Runde? Doch ein Handicap? Wollte er testen, ob Nocturn sich dieses Mal wieder gegen ihn sträuben würde, indem er einen Kampf gegen einen behinderten Youma verweigern würde? Das würde zu ihm passen…

 

Aber Youma lag falsch – sein göttlicher Gönner wusste es bereits und unbemerkt, immer noch auf dem Balkon, eins mit den Schatten der Welt, die er geschaffen hatte, ballte er die Hände zu Fäusten und fletschte die Zähne; wütender als er es jemals in diesem von ihm selbst gewählten „Leben“ gewesen war. Wenn Kasra es wagen sollte, das zu tun… dann würde er erfahren, was geschah, wenn man sich mit Göttern anlegte!

 

In diesem Moment bewunderte Youma Nocturn dafür, dass er trotz der Situation immer noch ruhig blieb und tatsächlich noch eine Antwort fand; jedenfalls glaubte Youma, dass er eine Antwort gefunden hatte, denn er hatte den Mund schon geöffnet, als Kasra ihm zuvorkam –  sowohl mit Taten, als auch mit Worten.

„Sag mir, mein Sohn - hast du schon Erfahrung mit Tortur gemacht?“

 

Als dieses Wort fiel, war es Nocturn nicht länger möglich, seine einstudierte Maske aufrechtzuhalten: geschockt weiteten sich seine Augen, aber darauf achtete Youma nicht – für einen kurzen Moment achtete er auch nicht auf Kasra; auf nichts achtete er mehr, sondern nur auf sein Glöckchen, das sich nicht länger um seinen Hals befand – sondern fest von Kasras Finger umklammert ward.

 

Das Glöckchen, dem die Seele des Trägers innewohnte.

       

 

Fatalitè Déplorable - Opus IV

Das Bett, in dem sie lagen, war zum ersten Mal so durchwühlt worden, wie in der letzten Stunde – oder den letzten zwei, vielleicht drei. War die Zeit nicht auch egal? War es nicht auch gleichgültig, wie deutlich spürbar es war, dass noch nie jemand in diesem Bett gelegen hatte? Der Bettbezug wirkte noch steif, unbenutzt – in diesem schlichten Doppelbett hatte tatsächlich noch nie vorher jemand geschlafen. Auch jetzt schlief niemand in ihm.

 

Youma lag auf dem Rücken; sein Atem hatte sich wieder normalisiert; er blickte Richtung Decke, beobachtete das fern wirkende Lichtspiel, obwohl er spürte, dass Nocturn ihn von der Seite her ansah. Er war eben erst wieder ins Bett gehuscht, nachdem er einen viel zu lang wirkenden Rollkragenpullover aus dem Schrank geholt hatte und ihn sich hastig übergezogen hatte. Es würde wohl noch viel Zeit vergehen, ehe Nocturn seine Haut länger als nötig zeigen würde. Er hatte Youma sogar beschworen, dass er die Augen schließen solle, während er aufstand, um sich das Kleidungsstück zu holen und das obwohl Youma die „Drohung“, er würde jede seiner Narben küssen, während der letzten Stunde – oder Stunden, er wusste es nicht, er hatte nicht auf die Uhr gesehen, wusste nicht, wie spät es war – wahr gemacht hatte.

Aber Youma hatte sich darüber nicht geärgert; er hatte darüber gelächelt, brav seine Augen geschlossen und erst wieder geöffnet, als er merkte, wie Nocturn sich wieder neben ihn legte.

„Ich wollte dich vorhin schon was fragen, aber ich hielt es wegen der Situation nicht für… angebracht.“ Youma grinste über diese Worte, wandte seinen Blick von der Decke ab und sah zu Nocturn:

„Was ist das für eine Frage, die du nicht stellen wolltest, wo du doch so viele andere Fragen trotz der „Situation“ gestellt hast?“ Und noch Utnmengen anderer Dinge gesagt hatte… Youma hatte nicht für möglich gehalten, dass man so viele Fragen und Dinge „währenddessen“ besprechen konnte! Nocturns Gesprächigkeit fand wirklich kei-

„Warum trägst du ein ähnliches Glöckchen wie White?“

 

Diese Frage überraschte Youma; aber eigentlich sollte sie ihn nicht überraschen, denn natürlich war es Nocturn „währenddessen“ aufgefallen und er hatte sich auch darüber gewundert, dass er die Kette nicht abgelegt hatte. Aber ein Gefühl hatte ihm gesagt, dass das tatsächlich eine Frage war, die er für später aufbewahren sollte.

Youma antwortete ihm nicht sofort. Er hatte den Blick von ihm gewandt und überlegte, was er sagen sollte, wie er es jemandem erklären sollte, der so wenig Ahnung von der Welt außerhalb Frankreichs hatte, der sich eigentlich gar keinen Begriff machen konnte vom Krieg, von der Welt der Dämonen und schon gar nicht von der Welt und den Geschicken der Wächter.

„Du weißt, dass ich zur Hälfte ein Wächter bin?“ Nocturn nickte:

„Das hat Raria mir erzählt, aber ich habe es schon vorher gespürt.“ Youma huschte ein Lächeln übers Gesicht. Wenn Raria es ihm erzählt hatte, dann wusste er es schon mehrere Tage und er hatte es kein einziges Mal angesprochen oder angedeutet. Es war unglaublich, wie wenig die Fragen um Rasse für ihn eine Rolle spielten.

„Über dein Element wunderte sie sich allerdings. Raria wollte mir nicht glauben, als ich ihr beteuerte, dass dein Element das der Dunkelheit ist.“ Jetzt wandte Youma seinen Kopf wieder zu ihm und das Gewicht der Glöckchen auf seiner Brust wurde auf einmal leichter, nachdem es ihm plötzlich unnatürlich schwer vorgekommen war.

 

Dieses Lächeln. So kompromisslos. Dieses Lächeln war es, das Youma nicht vergessen wollte.

 

„Ich habe doch recht, oder, Youma?“ Youma erwiderte sein Lächeln und deutete nur ein kleines Nicken an, plötzlich zu gerührt, um antworten zu können.

 

Er hatte schon selbst nicht mehr daran geglaubt, dass einmal der Tag kommen würde, an dem es eine lebende, atmende Person in seiner Welt geben würde, der er sich anvertrauen konnte –  eine Person, der er sagen konnte, dass er nicht nur ein Halbwächter war, sondern auch zu welchem Element er gehörte… der es sogar selbst bemerkte, ohne, dass Youma es ihm erklären musste. War endlich der Moment gekommen… an dem er nicht mehr alleine war?

  

„…wir Yami, so nennt man uns Wächter der Dunkelheit, tragen dieselben Glöckchen wie die Hikari. Es ist eine Art… Artefakt. Ein sehr wichtiges Artefakt. Wir tragen alle eins.“ Aber natürlich konnte Nocturn zählen – und auch er sah, dass das einzige Glöckchen, welches weiße Flügel hatte, zerbrochen war.

Als Youma sich auf diese Frage vorbereitete, musste sich sein Gesichtsausdruck verändert haben, denn Nocturn schloss den Mund wieder, obwohl er die Frage eben stellen wollte. Er schwieg lange, sah auf Youmas Hand, die plötzlich den kleinen Rest von Lights Glöckchen umklammerte und… sagte nichts.

 

Mit einem flüchtigen Lächeln drehte Nocturn sich nun komplett zu ihm herum, wodurch er Youma von seinen finsteren Gedanken weckte.

D’accord…“ Youma wusste mittlerweile, dass das so viel wie „in Ordnung“ bedeutete:

„…du musst es mir nicht jetzt erzählen. Es müssen nicht alle Geheimnisse sofort aufgeklärt werden.“ Keine Spur der Ärgernis oder eines Vorwurfes zeigte sich in Nocturns Gesicht; im Gegenteil. Sein Lächeln schien Youma aufheitern zu wollen.

„Erzähl es mir irgendwann, ja?“

 

Er hätte es ihm in diesem Moment erzählen sollen.

Stattdessen aber hatte er Nocturn, ergriffen von dessen Aufrichtigkeit, fest umarmt und ihm mit erstickter Stimme, da er sein Gesicht in Nocturns Haare vergrub, versprochen, dass er es ihm eines Tages erzählen würde. Dass es eines Tages keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen geben würde. Kein einziges.

 

Aber er hätte es bereits in diesem Moment erzählen sollen.

 

 

Youma besaß drei Glöckchen. Nur eins von ihnen war seins. Alle drei Glöckchen hingen an einer langen, goldenen Kette, die er um den Hals trug und stets unter seiner Kleidung verbarg. Er war sehr vorsichtig mit ihnen; vielleicht auch übervorsichtig, aber das waren wohl alle Glöckchenträger. Denn sie waren mit ihnen verbunden… sie gehörten zu ihnen, waren ihr Herz, ihre Seele.

 

Aber obwohl er sich diesem Band natürlich bewusst war, hatte er erst in der Dämonenwelt erfahren, dass man Hikari – natürlich die einzigen Glöckchenträger, die bekannt waren – mit dem Glöckchen foltern konnte. Das hatte er nicht gewusst und der Schock über diese Nachricht – die er nicht anzweifelte, immerhin machte es ihn schon nervös, wenn andere sein Glöckchen nur ansahen – hatte deutlich in seinem Gesicht geschrieben gestanden, als Kasra ihm vor ein paar Jahren davon erzählt hatte, dass Lycram den ehemaligen Regimeführer Shaginai mit dem Glöckchen gefoltert und zum Tode verdammt hatte.

 

Youma hatte niemandem erzählt, dass er auch ein Glöckchen besaß; er hatte es niemanden sehen lassen, weshalb er sich damals Kasras beobachtende Augen, die ihn während seiner gesamten Erzählung zu durchbohren schienen, nicht hatte erklären können. Damals hatte er geglaubt, dass Kasra ihn einfach nur so eindringlich beobachtet hatte, weil er sehen wollte, ob Youma Mitleid für die Wächter andeutete – aber jetzt, auf dem Boden des Stadiums liegend, nachdem Kasra ihn gehässig lachend von sich gestoßen hatte, wurde ihm plötzlich klar, dass Kasra schon lange wusste, dass Youma das perfekte Folterinstrument um den Hals trug. Woher – das wusste er nicht, es war auch egal.

 

Das viel größere Problem war, dass Nocturn unwissend war. Denn da Youma es ihm nicht erzählt hatte, wusste Nocturn nicht, was Kasra mit dem Ganzen bezweckte – er konnte sich absolut keinen Begriff davon machen, was das für eine Tortur sein sollte.   

 

Als er das Wort „Tortur“ gehört hatte, war er unwillkürlich zusammengezuckt und sofort sträubte sich alles in ihm dagegen. Aber ihm waren sowohl Youmas als auch Rarias Worte in den Sinn gekommen, dass er stets mitspielen sollte, dass er sich nicht davor scheuen durfte, Youma zu verletzen, um keinen Verdacht zu erregen und auch um sein Dasein als Dämon zu untermauern. Raria und Youma waren sich einig gewesen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kasra Youma töten würde, gering war, solange er nichts von ihren Plänen wusste und beide hatten Nocturn versichert, dass Youma Erfahrungen mit Schmerzen gemacht hatte und dass sie schnell verheilen würden. Nocturn hatte schwören müssen, dass er sich daran hielt. Dass ihn nichts von seiner Rolle abbringen würde.

 

Aber als Nocturn jetzt die schiere Angst, nein – die Panik in Youmas Augen sah, als Youma sich, nachdem Kasra ihn zu Boden geworfen hatte, sofort herumdrehte, wieder aufstehen wollte – offensichtlich, um die Glöckchen zurück zu bekommen – da geriet er ins Stocken. Kasra allerdings nicht.

 

„Ich werde dir den Spaß überlassen, mein Sohn!“ Youmas Proteste schien er gar nicht zu beachten; eher beiläufig, Nocturn ohne zu blinzeln anstarrend, riss er sein rechtes Bein weit empor und schmetterte es auf Youmas Brustkorb. Ein lautes Knacken einer oder mehrerer Rippen erschallte, Blut spritzte zusammen mit einem schmerzverzerrten Schrei aus Youmas Mund empor, während Kasras Stiefel auf dessen Oberkörper verweilte, ihn genüsslich zu Boden drückend.

    

Nocturn wusste genau, warum Kasra ihn so unablässig anstarrte – er wartete darauf, dass der Schrecken über das, was er Youma antat, sich in seinem Gesicht wiederspiegelte. Aber das tat es nicht. Es zerriss sein Innerstes, aber Nocturn war gut vorbereitet. Seit dem Moment, als er versucht hatte, in Kasras Gedankenwelt einzudringen… seit er diese abgrundtiefe und schiere Boshaftigkeit gesehen hatte… seit diesem Moment war er auf alles vorbereitet gewesen.

 

„Deine Art zu kämpfen hat mir wirklich sehr gefallen. Du hast viel dazu gelernt – sehr erfreulich! Aber kämpfen können ist nicht alles. Um ein Dämon zu sein, der sich in meiner Horde einen Platz verdient hat, gehört mehr als das – und erst recht, um mein Sohn zu sein. Also! Zeig mir, dass du beide Positionen wert bist!“ Nocturn senkte ergeben den Kopf, um eine Verbeugung auszuführen, die Kasra zufrieden belächelte; Nocturn aber blieb kurz in dieser Position, da er es nicht mehr ausgehalten hatte – nicht wegen Kasra, sondern wegen Youma. Ihn so am Boden zu sehen, mit schmerzverzerrtem, blutigen Gesicht, sämtlichen Stolz und sämtliche Würde verloren; die flehenden Augen auf das Glöckchen gerichtet – das hatte Nocturn für einen kurzen Moment nicht ausgehalten.

 

„Majestät.“

 

Kasra sah auf, als er Nocturn, der sich nun wieder aufgerichtet hatte, das sagen hörte; widerwillig, wie ihm schien, denn natürlich wollte er sich darin laben, dass Youmas Körper zu sehr von seiner Angst um das Glöckchen gelähmt war, was die Schwäche seiner Hände begründete, die absolut hoffnungslos versuchten, Kasras felsenfesten Fuß von seinem Brustkorb zu schieben. Endlich hatte er Youma dort, wo er ihn von Anfang an hatte haben wollen – unter ihm. Unter ihm, weil er der König war, er! Und Youma sein Spielzeug, mit dem er alles machen konnte, was er wollte; alles---

„Majestät“, sprach Nocturn ein weiteres Mal, als wäre es eine Beschwörung:

„Ich möchte Euch natürlich beweisen, dass ich Euren Erwartungen würdig bin. Nur leider verstehe ich nicht, was das Glöckchen mit einer Tortur zu tun hat. Es gibt doch weitaus effektivere Methoden, jemanden zu foltern, als seine Wertgegenstände zu zerstören, ganz gleich von welchem sentimentalen Wert sie sind.“ Eigentlich ein guter Punkt, denn zwar hatte Nocturn verstanden, dass Youma unbedingt sein Glöckchen wiederbekommen musste und dass er auf jeden Fall dafür sorgen musste, dass dem nichts geschah, aber er konnte sich kein Bild davon machen, dass eben das Glöckchen die effektivste Art war, einen Glöckchenträger zu foltern und dass das nichts mit persönlichem Besitztum zu tun hatte. Youmas Wissen nach war es noch nie an einem Yami probiert worden, aber die Angst in ihm löschte jeden Zweifel aus, dass es bei ihm nicht genauso funktionierte wie bei den Hikari.

 

Die größten Schmerzen, die ein Körper aushalten konnte. Schmerzen, die ihn an das Äußerste bringen würden. Die ihn für immer brandmarken würden. Ein Mahl, das die Verbindung, die Nocturn so deutlich gespürt hatte, zu seinem Element stören oder gar… zerstören würde.

 

Kasra wusste all das. Er selbst hatte bereits Hikari auf diese Weise gefoltert, ihnen dabei zugesehen, wie sie sich selbst in ihrer Verzweiflung vergaßen, wie ihr Selbst in Auflösung ging. Diese Art der Folterung war fast schon zu einfach, aber es gab ja zum Glück viele mögliche Variationen… Seitdem er von Youmas Glöckchen wusste, hatte er sich auf diesen Tag gefreut.

 

Ihn herbei gesehnt.

 

Sich ausgemalt, wie er es bei ihm tun würde – denn er war sich sicher gewesen, dass es bei seinem geliebten Youma genauso einbahnfrei funktionieren würde wie bei den Hikari. Das wusste er, seitdem er gesehen hatte, wie Youma das eine Glöckchen der drei an seine Brust gedrückt hatte – auf dieselbe Art, wie es die Hikari getan hatten, als er ihnen kurz ihr Glöckchen wiedergegeben hatte, um es ihnen dann wieder zu entreißen, gerade als sich die ersten Freudentränen gezeigt hatten. Diese letzte, sterbende Hoffnung in ihren hässlichen, weißen Augen zu sehen, war das Beste an der ganzen Sache!

 

Er freute sich bereits darauf, wie Youmas Gesicht, seine Augen, aussehen würden, wenn er anfangen würde… Er würde seinen König nicht enttäuschen. Er würde ihm gute Dienste leisten.

 

„Ah, natürlich, ich vergaß.“ Kasra lächelte Nocturn mitfühlend, ja, väterlich an – wie ein Vater, der seinem Sohn beibrachte, zu laufen. Nur dass Nocturn nicht glaubte, dass er in diesem Fall lernen wollte, zu laufen.

„Du weißt das natürlich nicht, aber – wie könntest du auch! So ein abgeschottetes Leben, wie du geführt hast… du hast viel verpasst, mein Sohn.“ Weiterhin Youmas hoffnungslose Proteste genießend, aber auch ignorierend, widmete Kasra sich nun ganz seinem vermeintlichen Sohn, welcher sich eigentlich dazu zwingen wollte, sein Lächeln nachzumachen; aber dann würde ihm von ihm selbst schlecht werden.

„Aber ich habe eine Idee…“ Einladend streckte er die Hand aus, die nicht das Glöckchen hielt:

„Was hältst du davon, wenn wir ihn zusammen foltern? Ich werde es dir zeigen – und dann kannst du übernehmen! Ich denke, das wird eine lehrreiche Lektion für dich sein; lehrreich und amüsant! Denn dieses kleine Teil hier…“ Das goldene Glöckchen mit den schwarzen Flügeln glänzte im Licht der tanzenden Flammen auf, während die anderen beiden herunter baumelten, an denen er hoffentlich kein Interesse zeigen würde, wie es Youma plötzlich durch den bereits vor Panik vernebelten Kopf schoss. Was würde passieren, wenn er auch das Glöckchen von Silence zerstören würde?! Er musste es zurückbekommen… zurückbekommen… es musste aufgehalten werden… aufhören… aufhören… nicht auch noch Silence!

„… ist das Wunderbarste, was die Hikari besitzen. Für dich ist das wahrscheinlich schwer vorstellbar, aber in diesem Ding steckt die Seele des Besitzers! Oder die Kraft der Seele, oder was auch immer, das ist auch nebensächlich! Denn – wichtig ist, dass dieses Teil einfach das perfekte Folterinstrument ist. Ein paar Risse reichen aus und ein wahres Höllenfeuer wird in ihnen entfacht. Glaub mir, mein Sohn, die Höllenfeuer-Techniken sind gar nichts dagegen! Langweilig sind sie im Vergleich! Ich meine, guck dir Youma mal an!“ Voller sadistischer Freude zeigte er auf Youma und als müsste er Youmas Leid noch deutlicher zeigen, legte er noch mehr Gewicht auf das Bein, welches den Halbdämon auf den Boden drückte. Er presste die Zähne zusammen, doch konnte nicht verhindern, dass dennoch Blut heraus floss.

 

Nocturn spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte – er musste ruhig bleiben, ruhig bleiben…

 

„Siehst du, wie sehr es ihm zusetzt, wo ich doch noch gar nicht begonnen habe?! Ich halte es nur in meiner Hand und schon ist er, der doch ach so stolz ist, kurz davor mich anzuflehen! Nichts kann er gegen mich tun, absolut wehrlos ist unser geliebter, jetzt unheimlich kleiner Youma!“

 

Er wird mich erniedrigen – hörte Nocturn Youma einige Stunden früher sagen. Er liebt es. Das ist sein krankes Spiel. Du darfst dich nicht provozieren lassen, Nocturn!

 

„Weißt du, du solltest dich geehrt fühlen, dass ich das hier überhaupt mit dir teile, mein Sohn! Schon lange bin ich gespannt auf diesen Augenblick; sieh es als eine Bestätigung, als ein Zeichen meiner Anerkennung…“  

 

„… nicht…“

 

„Oh! Hör mal, mein Sohn, jetzt spricht er schon in der Sprache der Wächter! Zu schade, dass wir ihn nicht verstehen können…“ Nocturn war zusammengezuckt; nicht wegen diesem absolut kläglichen Tonfall Youmas, sondern weil er es verstanden hatte.

„Youma! Wenn du uns anflehen willst, dann musst du das aber in unserer Sprache machen, das weißt du doch! Und wenn du flehen willst, ist jetzt der letzte Augenblick gekommen, denn gleich wird man dich nicht mehr verstehen können, ganz egal in welcher Sprache du schreien wirst!“ Kasras Kopf wirbelte wieder zu Nocturn herum, er streckte ihm das Glöckchen entgegen, seine vor Erwartung brennenden Augen schienen das Glöckchen und Nocturn gleichzeitig zu fixieren.

„Schau gut hin, Junge! Und vor allen Dingen: hör gut hin! Du magst doch Musik, oder?! Ich werde dir jetzt die schönste Musik zeigen, die du je gehört hast!“

 

Ein letztes Mal sah Kasra Youma an. Youmas weit aufgerissene Augen, der Tränenschleier, der ihm die Sicht erschwerte, die Finger, die sich verzweifelt in den unnachgiebigen Stiefel krallten.

„Wie lange habe ich darauf gewartet…“, hörte Youma Kasras verliebtes Flüstern; das einzige, was er dann hörte und das einzige, was er sah und spürte, waren seine Finger, die das Glöckchen zu umklammern begannen---

 

--- dann atmete Youma mit einem Stoß auf. Sämtlicher Druck verschwand; er spürte, dass sein Glöckchen zusammen mit den anderen heruntergefallen war und er interessierte sich nicht dafür, wieso das so war. Instinktiv drehte er sich zur Seite und sein Körper beruhigte sich augenblicklich, als seine zitternde Hand das blanke Material seines Glöckchens berührte.

Er wusste nicht mehr, was danach geschah, denn er verlor fast auf Knopfdruck das Bewusstsein.

 

Nocturn hatte Kasra mit einer gezielten Faust mitten ins Gesicht geschlagen.

Doch der König der Dämonen fing sich wieder und landete einige Meter von Nocturn entfernt – das Glöckchen hatte er aber losgelassen, wie Nocturn erleichtert festgestellt hatte.

 

„Schreie…“, begann Nocturn mit vor Zorn zitternder Stimme:

„… sind keine Musik!“

 

Ein boshaftes Lachen erfüllte den Raum, prallte von den Wänden ab, drang in die Ohren Karous, der alles mit äußerster Spannung beobachtet hatte, und Nocturns, die beide selten ein so boshaftes Lachen gehört hatten. Nein, Nocturn war sich sogar sicher, dass er noch nie eine so deutliche Manifestation der Boshaftigkeit gehört hatte wie in diesem Moment.

 

Und dann formte sich die Boshaftigkeit zu Worten:

„Du bist so dumm, Junge!“ Er konnte das Lachen kaum zurückhalten, was ihm das Wortebilden erschwerte:

„So dumm! Du hättest einfach nur warten müssen, bis ich dir das Glöckchen gebe! Ich habe dir sogar gesagt, dass ich es dir geben würde! Aber nein, das hättest du wahrscheinlich nicht ausgehalten, was?! Wären ein paar Schreie etwa zu viel für dein armes Herz gewesen?! Hättest du es nicht ertragen können?!“ Hohn und Spott vermischten sich mit seinem heiteren Lachen der Boshaftigkeit:

„Aber wieso!? Es sind nicht deine Schmerzen, also warum hättest du nicht einfach nur warten können?! Ah, ich weiß, was du antworten willst – weil er dir nicht egal ist, ja, weil du ihn „liebst“, eine Bindung mit ihm eingegangen bist! Ihr seid alle so dumm, so bemitleidenswert! Seid ihr denn keine Dämonen?!“ Nun sah er nicht nur Nocturn an, sondern einen kurzen Augenblick auch Karou:

„Sogar Karou, der ja angeblich gefühllos ist, geht innerlich förmlich an die Decke, wenn ich seine Nutte beleidige! Wieso frage ich mich! Ich habe doch nicht euch beleidigt, ich füge doch euch keine Schmerzen zu, also warum die Aufregung!? Ihr alle, die „andere“ in eurem Leben habt, die Bindungen mit diesen „anderen“ eingegangen seid! Ihr habt alle nicht verstanden, was das eigentlich bedeutet – es bedeutet nichts anderes, als sich selbst schwach zu machen, sich Schwächen aufzubürden! Und weil ihr das alle nicht verstanden habt, niemals verstehen werdet, bin ich der einzige, der sich ein Dämon nennen kann! Ich bin der wahre, der einzige Dämon und damit der Einzige, der euch Schwächlinge regieren kann!“

 

„Wage es nie wieder, ein Wort in den Mund zu nehmen, das du nicht verstehst.“

 

Nocturn und Karou hörten diese eiskalte Stimme nicht. Sie sahen nur die Reaktion auf diese; aber beide verstanden nicht, warum das geschah. Kasras Lachen verstummte auf einmal; es verstummte nicht nur, es verschwand, als wäre es von einem schwarzen Loch aufgesogen worden, zusammen mit dem Grinsen, zusammen mit aller Überheblichkeit. Blanker Horror war plötzlich auf seinem Gesicht zu sehen – was sah er? Er sah zu Nocturn, aber Nocturn tat nichts, sah ihn nur überrascht über die plötzliche Wendung an, blieb ansonsten stumm.

 

Weder Karou mit all seinem technischen Know-How noch Nocturn konnten es sich erklären, denn sie sahen nicht das, was Kasra in diesem Moment sah, was der Gott der Dämonen ihn sehen ließ und was Kasra dazu brachte, mit Angstschweiß zurückzuweichen.

 

„… nein, nicht du… du bist doch tot, geh weg, du verdammte Schlampe, dein Blick kann mich nicht mehr…“

 

Nocturn entschied sich dazu, dass Kasra alleine Schwachsinn stammeln konnte. Er sprang vor, packte Youmas Handgelenk und teleportierte sie nach Paris.

 

Kasra bemerkte deren Verschwinden erst nach verstrichenen Minuten; immer noch starrte er auf den Punkt, wo er sich absolut sicher war, dass er diese verhassten Augen gesehen hatte. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich – er selbst hatte gesehen, wie sie sich in Funken aufgelöst hatte. Ja… er hatte es gesehen, wie oft hatte er diesen Moment nicht gesehen!

„Karou!“, bellte Kasra aufgebracht, mit vor Wut bebenden Schultern und Karou machte nicht den Fehler, nicht sofort neben ihm aufzutauchen.

„J-Ja, meine Hoheit?“ Dass Kasra zum ersten Mal ein leichtes Zittern in Karous Stimme hören konnte, beruhigte ihn und seine Schultern senkten sich langsam wieder.

„Sag den Fürsten sofort Bescheid!“  

„Aber der Zeitplan…“ Kasras Blick sagte ihm deutlich, dass im Moment nichts so egal war wie irgendein Zeitplan und sofort verneigte der Forscher sich.

„Wie… Ihr wünscht, meine Hoheit.“ Wie um sich noch weiter zu beruhigen, raffte Kasra seinen dunkelblauen Umhang und leckte sich beiläufig das Blut von den Lippen, das durch Nocturns Faustschlag hervorgetreten war. Dann wandte er sich von Karou ab und verließ mit großen Schritten sein privates Stadium. Aber wegen einem anderen Thema, als dem, mit dem Karou sich nun beschäftigen musste. Nein, erst einmal würde er sich anderen Späßen widmen.

 

Und was war spaßiger, als alte „Freunde“ zu besuchen?

 

 

Die kühle Abendluft Paris‘ ließ Youma aus seiner Ohnmacht erwachen, doch sein Sein arbeitete immer noch langsam, als würde ein Nebel es umhüllen und einnehmen. Immer noch klammerte er sein Glöckchen an seine Brust, langsam einen pochenden Schmerz in dieser realisierend. Er saß auf einer Parkbank… jemand hielt seine Schultern fest… jemand sprach mit ihm… und als Youma zögerlich den Kopf hob, um zu sehen, dass dieser Jemand Nocturn war, der lächelnd auf ihn einsprach, ohne sich darum zu kümmern, dass Youma ihm nicht antworten konnte… spürte Youma, dass der Schmerz erträglicher wurde.

 

Noch verstand er nicht, was geschehen war; er wusste nur, dass sein Glöckchen und er in Sicherheit waren und dass er das Nocturn zu verdanken hatte.

„…danke…“ Zwei kleine Tränenspuren fanden ihren Weg seine Wangen entlang; eigentlich wollte er Nocturn umarmen, sich an ihn klammern, aber seine Finger waren nicht in der Lage, das Glöckchen gehen zu lassen, weshalb nur Youmas Stirn gegen Nocturns Brust sank, der ihn stattdessen zögerlich umarmte – jetzt ohne etwas zu sagen.

Diese Nähe, die Wärme Nocturns, beruhigte Youma langsam; trotzdem blieben sie mehr als fünfzehn Minuten in dieser Pose. Nocturn gab ihm all die Zeit, die er brauchte, um wieder zu sich selbst zu finden, um sein Selbst wieder zu stabilisieren – erst als er spürte, dass dies langsam einzutreten schien, begann er wieder zu sprechen:

„Du musst aufpassen, Youma. Dieser Bastard hat dir mindestens eine Rippe gebrochen – du darfst deinen Brustkorb daher nicht verbiegen, ansonsten könnte sie sich in deine Lunge bohren.“ Youma nickte, er hätte in diesem Moment allem ohne Bedenken zugestimmt; er wunderte sich nicht einmal darüber, woher Nocturn ein solches Wissen hatte. Er konzentrierte sich immer noch ganz auf sein Glöckchen; nun allerdings, um es langsam loszulassen, einen Finger nach dem anderen.

 

Dies nahm sehr viel Zeit in Anspruch, aber Nocturn drängte ihn nicht. Er sah, ohne dass sein Blick ungeduldig wirkte, nur stillschweigend dabei zu, wie Youma die drei Glöckchen wieder über seinen Hals gleiten ließ, sie wieder auf seinem Oberkörper bettete und sorgfältig, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen, seinen Kragen schloss. Aber obwohl die Glöckchen nun wieder an ihrem Platz hingen, hatte Youma nicht länger das Gefühl, dass sie sicher waren. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie jedem förmlich entgegenstrahlten, durch seine Kleidung hindurch und dass sie somit jeden einluden, sie zu nehmen.

Ein alberner Gedanke, aber es fiel ihm trotzdem schwer, seine Hände gänzlich von seiner Brust zu entfernen – mit solch albernen Gedanken sollte er sich nicht beschäftigen, es gab doch wichtigere Dinge…

„Soll ich dir vielleicht etwas zu trinken holen?“

 

Und in diesem Moment kehrte sein Sein vollends zurück:

„Raria!“ Er hatte Nocturn angesehen, während er ihren Namen ausgerufen hatte – aber nicht lange, denn der Angesprochene wandte sich ab, worauf Youma kurzzeitig nicht achtete:

„Wir müssen zu ihr, Nocturn, schnell…“ Youma versuchte sich aufzurichten, aber er war noch zu schwach, weshalb Nocturns Hände sofort hervorschnellten, um ihn zu stützen.

„… wenn Kasra von unseren Gefühlen weiß, dann weiß er auch, wo Raria ist und… sie ist in Gefahr! In Lebensgefahr! Wir müssen uns beeilen! Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren wegen mir---wie lange war ich ohnmächtig?!“ Youma realisierte kaum, wie sich Nocturns Hände bedächtig von ihm lösten; er dachte nur an Raria und die Gefahr, in der sie schwebte.

„Youma, du musst mir versprechen, dass du wirklich auf deinen Oberkörper achtgibst.“ Youma verstand nicht, wovon er redete – er verstand das traurige Lächeln auf seinem Gesicht nicht, als er plötzlich einen Abstand zwischen ihnen aufbaute. Verstand er denn nicht, was wahrscheinlich schon im Begriff war zu…

 

„Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.“ 

Fatalitè Déplorable - Opus V

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Von einer allumfassenden Ruhe erfüllt schlug Raria die Augen nieder, atmete tief durch, konzentrierte sich nur auf diesen einen Atemzug, darauf wie er ihren Körper ausfüllte, und es war ihr, als hätte sie spüren können wie, dieser eine Atemzug sogar bis in ihre Fingerspitzen reichte.

 

Dann öffnete sie die Tür, nahm eine Kerze, entzündete diese und schloss die Tür hinter sich, erreichte mit drei Schritten die Treppe und ging diese herunter. Nicht eilig, denn nein, dafür gab es keinen Grund. Raria begrüßte den König der Dämonen, wie sie jeden anderen begrüßt hätte.

„Ein Anklopfen wäre angebracht gewesen, Majestät.“

 

Kasra wirkte überaus deplatziert in diesem von Menschen erbauten Haus, nicht nur wegen seines dämonischen Äußeren, sondern besonders wegen seiner beträchtlichen Höhe. Scheinbar fand er den Ort, den er nun endlich von innen sah, sehr interessant, denn als Raria herunter kam, unterbrach sie ihn darin, sich umzusehen – wie ein wissbegieriges Kind, das zum ersten Mal ein spannendes Museum besuchte, das ihm Einblick gewährte in eine fremde Welt. Besonders interessant schien er die eingerahmten Fotos zu finden, die auf der Kommode standen – Raria überraschte es kein bisschen, immerhin kannte sie ihn gut und wusste, dass diese eingefangenen Erinnerungen ein gefundenes Fressen für ihn waren. Sie war froh, dem Gedankenlesen nicht mächtig zu sein, denn sie wollte gar nicht wissen, was für Ideen diese lachenden Kinderfotos von Nocturn ihm gaben.

 

„Immer noch das gleiche lose Mundwerk wie damals…“, erwiderte Kasra, eines der eingerahmten Fotos achtlos auf die Kommode zurückstellend und sie daraufhin mit seinen roten Augen durchbohrend:

„… Raria. Und so wie ich dich kenne, weißt du, warum ich hier bin?“ Raria nickte, denn natürlich wusste sie es. Aber anstatt dass Kasra das umsetzte, weswegen er gekommen war, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und schlenderte auf die eben unten angekommene Raria zu.

„Ich komme direkt von einem sehr aufregenden Kampf. Meine Hochachtung an dich, Raria! Du hast deinen Neffen gut trainiert und die Fortschritte, die Youma gemacht hat, sind auch beachtlich.“

„Vielen Dank für das Kompliment.“

„Wusstest du eigentlich, dass die beiden Sex hatten?“

„Wenn wir über solch triviale Dinge sprechen wollen, Hoheit, dann sollten wir dazu vielleicht einen Kaffee trinken“, erwiderte Raria mit einem absolut ernsten Blick, der ganz gewiss nicht zu einem gemütlichen Kaffeetrinken passen wollte. Kasra nahm das als erheiternden Witz auf und sein bellendes Lachen schien die Wände zum Beben zu bringen.

„Ach, Raria, es ist eine Schande, dass du meine Welt verlassen hast, du bist ein wahres Vergnügen!“ Raria antwortete darauf nicht, sondern blieb unbeeindruckt an der Treppe stehen. Nur die kleine Flamme ihrer Kerze flackerte ein wenig.

  

„Aber einen Kaffee muss ich ablehnen. Ich bin kein Kaffeetrinker, weißt du? Aber danke für die Einladung.“ Er setzte wieder dazu an, auf sie zuzugehen:

„Und was sagst du dazu, dass dein Neffe mir ins Gesicht geschlagen hat?“

„Ich sage dazu, dass ich hoffe, dass es wehgetan hat.“  Wieder erschallte sein Lachen; es schüttelte ihn sogar so sehr, dass er seinen Kopf mit der rechten Hand festhalten musste:

„Ohja, das hat es tatsächlich! Das liegt wohl daran, dass er trotz seiner Hässlichkeit und Unbrauchbarkeit mein Sohn ist, whahaha!“ Da Kasra sich immer noch in seinem eigenen Lachen verlor, bemerkte er nicht, wie sich Rarias Augen kurz verengten: das wusste er also nicht.

 

Gut.

 

„Obwohl…“ Kasra wandte sich wieder den Fotos zu, ohne auf Raria zu achten, die ihn ganz genau dabei beobachtete.

„Mit den richtigen Mitteln…“ Er hob das Foto hoch, das er eben noch hingestellt hatte und seine roten Augen schienen das Bild förmlich in sich aufzusaugen:

„… ist er vielleicht doch noch zu etwas zu gebrauchen. Er mag dich, du magst ihn… und dann ist da ja auch noch Youma. Er hat sich hier sicherlich wohl gefühlt, oder? Gibt es auch von ihm Fotos? Von ihm und meinem Sohn? Nein? Schade. Wo ihr drei doch für eine kurze Zeit so viel Spaß gehabt habt... du kennst ihn jetzt sicherlich auch gut und kannst mir ja noch ein wenig erzählen? Ich möchte mehr über deren Band erfahren…“ Das Glas des Bilderrahmes brach, als Kasras Finger sich in Nocturns lachendes Gesicht gruben; Kasra schien den Atem anzuhalten, als wolle er das Klirren des Glases auskosten und deswegen nicht durch sein Sprechen untergraben. Er wartete sogar, bis die Scherben auf den Boden gefallen waren, ehe er fortfuhr: 

„… ihr habt so viele Bindungen… so viele Möglichkeiten, um Spaß zu haben. Da weiß man ja gar nicht, mit was man anfangen soll!“ Er drehte sich wieder zu Raria herum und genau wie Youma spürte auch sie, wie die Abscheu empor kroch, als sie dieses Grinsen sah – und diese wurde noch stärker:

„Also lass uns gehen, Raria! Ich bin ein König und kann nicht nur an meine eigene Erheiterung denken; ich habe Verpflichtungen, wie du verstehen musst. Ich habe Aufräumarbeiten in meinen eigenen Reihen auf dem Tagesplan. Youma und mein Sohn kommen sicherlich bald nach, sobald sie mitbekommen, dass du nicht mehr hier bist… oh, ich freue mich schon auf das Gesicht meines Sohnes, wenn er dich sehen wird. Es war sehr unartig von ihm, mir ins Gesicht zu schlagen, aber ein Vater weiß, wie er seine Kinder zu erziehen hat!“

Raria unterbrach ihn. Sie ging auf ihn zu, richtete ihre unergründlichen Augen auf ihn und sagte dann klar und deutlich, während sie die Kerze in einem ruhigen Gestus an die Wand hielt:

„Nocturn ist nicht dein Sohn.“

 

Und mit diesem simplen Satz besiegelte sie unwiderruflich ihr Schicksal.

 

 

Lycram musste ein zufriedenes Grinsen unterdrücken, als Ri-Il kurz seine Augen öffnete und damit deutlich zeigte, dass Lycram ihn mit diesen Neuigkeiten überrascht hatte – ja, dass Lycram etwas gefunden hatte, worüber Ri-Il noch nicht nachgedacht hatte. Solche Momente waren überaus selten; umso mehr genoss Lycram sie, genau wie er es jetzt genoss, dass Ri-Il sich das Buch noch ein zweites Mal ansah.

„Azza-Aniki dachte, es wäre ein Märchenbuch für Kinder und hat es bei seinem letzten Raubzug mitgenommen. Natürlich kann er die Sprache der Wächter genauso wenig verstehen wie wir beide…“ Obwohl es gerade tatsächlich so wirkte, als würde Ri-Il die komischen Zeichen, die die Seiten prägten, lesen – würde er Lycram jetzt verkünden, dass er in der Lage war, die Sprache der Wächter zu verstehen?! Bei ihm wunderte ihn nichts, absolut gar nichts. Aber noch schwieg Ri-Il; seine gelben Augen studierten die leicht braun angelaufenen Seiten des alten Buches und er nickte Lycram zu, als Aufforderung, dass er fortfahren solle, was er dann auch tat:

„… Azza-Aniki nimmt die Bücher der Wächter immer mit wegen den Bildern. Er erfindet irgendwelche Geschichten zu denen – ach, ist ja auch egal, du weißt schon, worauf ich hinauswill?!“ Ri-Il deutete ein nachdenkliches Nicken an, das dicke Buch nun durchblätternd; besonders die erste Hälfte des Buches schien ihn zu interessieren:

„Dein Bruder hat sich aber geirrt. Dieses Buch ist kein Buch für Wächterkinder, sondern ein Geschichtsbuch und ja, ich sehe, worauf du hinauswillst…“ Ri-Il schlug wieder die Seite auf, die Lycram ihm als erstes gezeigt hatte; die rechte Seite wurde von Text gefüllt, die andere Seite jedoch zeigte eines der wenigen Bilder des Buches: ein recht dunkles Bild, auf dem ein junger Mann mit langen, schwarzen Haaren abgebildet war. Seine gänzlich in lila gehaltene Kleidung war von Blut getränkt, genau wie seine überaus große Sense – um ihn herum lagen konturlose Leichen, denen der Künstler des Bildes keine Beachtung geschenkt hatte. Umso mehr Mühe steckte in den Augen des Sensenmannes: rot leuchteten sie dem Leser entgegen, als wäre er das nächste Opfer.

 

„Die Ähnlichkeit mit Youma ist verblüffend.“

„Ach komm!“ Lycrams Hand schoss quer über den Tisch und schmetterte förmlich hernieder, auf die Sense zeigend:

„Das ist genau dieselbe Sense wie die, die der benutzt! Das ist nie und nimmer ein Zufall!“

„Ich gebe dir da absolut recht, Lycilein…“

„Lycram!“

„… aber wir müssten den Text erst einmal übersetzen, um herauszufinden, ob das tatsächlich brauchbare Informationen sind. Erst dann können wir beurteilen, ob du recht hast und Kasras Interesse mehr Youma gilt als Nocturn.“

 

Ri-Il hatte eigentlich geglaubt, dass Lycram eingeschnappt oder beleidigt sein würde, weil Ri-Il seine Theorie nicht so ohne Weiteres hinnehmen wollte, aber stattdessen breitete sich ein überaus triumphierendes Lächeln auf Lycrams Gesicht aus, das Ri-Il sofort stutzig machte.

„Ich wusste, dass du das sagen würdest, Ri-Il! Und ich habe vorgesorgt, also pass gut auf und staune!“

 

Mit einem breiten Grinsen holte Lycram ein Dokument aus der Tasche, aus der er eben das Buch herausgezogen hatte, das nun in Ri-Ils Händen lag und hielt es triumphierend in die Höhe, als wäre es eine Trophäe.

„Du weißt ja genauso gut wie ich, dass Karou die Sprache der Wächter übersetzen kann. Mit dem wollte ich natürlich nicht kooperieren, aber ich dachte mir, ich könne ja mal seinen Rivalen und Kumpel fragen, ob er ebenfalls die Wächtersprache übersetzen kann – und siehe da, er konnte es!“

„Wie hast du es geschafft, Merrlius dazu zu bringen, etwas für dich zu übersetzen?“ Die beiden verstanden sich nämlich nicht gerade gut; tatsächlich waren sie schon mehrere Male knapp an einem Krieg vorbeigeschlittert.

„Oh, das ist ganz einfach!“ Lycram versuchte tatsächlich, cool zu wirken, indem er sein Kinn auf seinem Handrücken abstützte und sein Gegenüber schelmisch anlächelte; aber eigentlich war er für solche Gebärden viel zu aufgeregt. Wäre die Situation nicht so ernst, dann hätte Ri-Il Lycrams Freude, zur Abwechslung mal etwas zu wissen, was er nicht wusste, richtig niedlich gefunden.

 

„Du weißt doch, dass Kasra Merrlius erst vor wenigen Tagen mit aufs Schlachtfeld geschleift hat, um dessen Horde als Kanonenfutter zu gebrauchen.“

„Ja, das ist mir nicht entgangen.“

„Tja, und ich habe ihm klargemacht, dass sein nördlicher Nachbar – alias ich – ja auf die Idee kommen könnte, ihn anzugreifen, sein Gebiet zu erobern… aber dass es da einen kleinen Gefallen gäbe, den er mir tun könnte, um das Ende seines Gebietes noch ein wenig hinauszuzögern! Haha – was sagst du nun, Ri-Il!? Du bist nicht der einzige Dämon, der verhandeln und Informationen sammeln kann, haha!“ Trotz der Situation konnte Ri-Il ein Lachen nicht unterdrücken:

„Und ich bin stolz auf dich, Lycilein! Das hast du wirklich gut gemacht!“ Der nicht gerade beeindruckte, sondern eher heitere Tonfall Ri-Ils brachte Lycrams Grinsen zum Schmelzen und kurz schien er es sich noch einmal überlegen zu wollen, ob er Ri-Il das Dokument mit der Übersetzung reichen sollte oder nicht. Er fühlte sich mal wieder beleidigt, in seinem Stolz verletzt und dachte, Ri-Il würde ihn belächeln. Aber eigentlich freute dieser sich darüber, dass Lycram gar nicht auf den Gedanken kam, etwas von ihm dafür zu verlangen, dass er das Dokument lesen durfte. Was für eine Mühe Lycram sich gemacht hatte, nur um Ri-Il zu beeindrucken!

 

„Wenn du verdammter Hurensohn nicht sofort aufhörst, so zu grinsen, überlege ich es mir noch mal mit dem Dokument!“ Eine sinnlose Drohung, denn Lycram hatte Ri-Il das besagte Dokument bereits überreicht und Ri-Il zweifelte stark an, dass Lycram es ihm aus der Hand reißen würde, wo er sich doch so viel Mühe gemacht hatte, es zu beschaffen und so erpicht auf Ri-Ils Reaktion gewesen war.

„Ou, keine Sorge, Lyci, ich bin ganz stolz auf dich und wirklich und aufrichtig überrascht und beeindruckt!“

„Fick dich und lies endlich das verdammte Dokument!“

„Sofort, Lyci, sofort, nur noch ein Schluck – oh, ich sehe schon, das ist eine ganz miserable Übersetzung…“

„Willst du dich etwa auch noch beschweren?!“

 

Ri-Il war kurz davor, erschrocken die Schale mit dem Sake fallen zu lassen.

Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, gerade als er ansetzen wollte, den ersten Satz zu lesen; nicht sein Gedanke, sondern der Gedanke Mekares. Nein, kein Gedanke.

Ein Hilfeschrei.

 

„RI-IL!“        

 

Sie wusste nichts von seinen Gedankenlesefähigkeiten; dieser Gedanke, dieser Hilfeschrei, war ihrer Panik entsprungen, einer Panik, die Ri-Il förmlich spüren konnte, eine Panik, die ihn um Hilfe rief, nicht weil sie damit rechnete, dass er es hören konnte, sondern weil sie gar nicht anders konnte, als seinen Namen zu schreien.

 

„Ri-Il? Was zur Hölle ist los? So schockierend ist das doch auch wieder nicht…“ Ri-Il hörte Lycrams erstaunte Worte nicht; zu sehr nahmen ihn seine Gedankenlesefertigkeiten ein, die sich plötzlich auf viele Personen gleichzeitig richten mussten – zu viele Dinge. Viel zu viele Dinge.

Und zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren spürte Ri-Il etwas, von dem er geglaubt hatte, dass er es nie wieder spüren würde – Angstschweiß.

 

„Ri-Il, was zur Hölle ist mit dir los?!“

 

Diese klaren, lauten Worte Lycrams weckten Ri-Il.

 

Er sah ihn kurz an, konzentrierte sich auf Lycrams Gedanken, hörte die Sorge um Ri-Il in ihnen, die Lycram aber sofort selbst beiseiteschob und als würden diese Gedanken beruhigend auf ihn wirken, schloss Ri-Il plötzlich wieder seine Augen, was Lycrams Stirn in Falten legte.

 

Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wusste er nicht, was geschehen würde – umso deutlicher, umso klarer, wusste er, was er jetzt zu tun hatte.

 

„Lycram, dieses Dokument ist tatsächlich von unglaublicher Wichtigkeit.“ Er hatte dessen Inhalt natürlich schon längst in Lycrams Gedanken gelesen:

„Hast du dafür gesorgt, dass Merrlius auf keinen Fall weitererzählt, was darin steht?“ Lycram wurde ein wenig rot, denn das hatte er tatsächlich nicht bedacht und das wusste Ri-Il natürlich:

„Weißt du, was ich jetzt tun würde? Ich möchte dich natürlich nicht belehren und wenn du möchtest, tue ich es auch selber…“ Das Knurren seines Gegenübers war genug Antwort:

„… aber die beste Idee wäre jetzt, die Erinnerungen von Merrlius zu löschen. Ich denke, du beherrscht die fünfte Technik der verbotenen Künste?“

„Verkaufst du mich gerade für blöd?! Natürlich kann ich die, wer kann die denn bitte nicht?!“

„Oh, das klingt sehr gut – brauchst du meine Hilfe? Er ist zwar nicht so stark, aber doch immer noch ein Fürst…“

„Nein, ich brauche verdammt nochmal keine Hilfe von so jemandem wie dir, besten Dank! Pah! Wo kommen wir denn da hin, was ich angefangen habe, bringe ich auch selbst zu Ende!“

 

Und dann verschwand er.

Ri-Il sah kurz noch lächelnd auf den Punkt, wo Lycram gerade noch gesessen hatte.

Ein wenig traurig.

Dann legte er die Bezahlung auf den Tisch und verschwand ebenfalls.

 

Um von einem überaus erfreut lachenden Kasra auf den Boden seines Büros geschmettert zu werden.

 

 

Das Wort Abschied hallte förmlich nach in Youmas Kopf. Abschied? Abschied?! Warum sah Nocturn ihn so bedauernd an? Warum war sein Lächeln so traurig? Was ging hier eigentlich vor sich und warum hatten sich Youmas Finger automatisch ausgestreckt, um Nocturns Arm zu packen, ihn festzuhalten, ihn daran zu hindern, das zu tun, was Youma fürchtete – was auch immer es war?!  

„Nocturn, was redest du da?! Wir müssen zu Raria, schnell! Wir müssen nach La Roche, bevor es zu spät ist!“ Warum lächelte er denn noch? Dieses Lächeln passte doch gar nicht zur Situation – oder… oder verkannte Youma die Situation und das Lächeln passte sehr wohl?!

 

„Ich werde nie wieder nach La Roche zurückkehren.“ Was… was…?!

„Aber ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen werden…“ Nocturn legte sanft seine Hände auf Youmas verkrampfte Hand; es würde ein Leichtes für ihn sein, Youmas Hände von sich zu lösen, so schwach, wie er gerade war; geschwächt durch den gerade erst überlebten Glöckchenentzug, gelähmt von dem empor kriechenden Schockzustand.

„… es war eigentlich vorgesehen, dass ich niemals wieder einen Dämon zu Gesicht bekommen sollte, aber ich habe Raria davon überzeugen können, dass ich ohne dich nicht glücklich sein kann.“ Sein Griff wurde nun fester, er begann, seine Finger von sich zu lösen – wenn er Youmas Finger komplett von sich entfernt hatte, dann würde er sich weg teleportieren und dann würde Youma ihn nicht mehr finden, das wusste er plötzlich.

 

„Was… was redest du für einen Schwachsinn…?!“ Nur noch zwei Finger…

„Es dauert nur eine Weile. Wir müssen geduldig sein… und du musst auf dich aufpassen, versprich es mir, Youma, ja?“ … einer…

 

Dann verstand Youma es plötzlich.

Die ganze Wahrheit und warum er die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte, dass er nur die Hälfte wusste. Die Bedrückung, die immer im Haus geschwebt hatte… Nocturn, den er oft so traurig vorgefunden hatte… der Grund, weshalb sie sich gestritten hatten… weshalb Raria ihn umarmt hatte… ihn mit ihrer Musik zum Weinen gebracht hatte… ihr Abschied voneinander.

 

Raria hatte Nocturn wie ihr eigenes Kind behandelt und sie liebte ihn wie ihr eigenes; das hatte Youma sofort gespürt, ihre schroffe Härte hatte das nicht verschleiern können. Er war eifersüchtig gewesen, weil Nocturn das hatte, was er sich zurückwünschte… daher war es ihm die ganze Zeit unverständlich gewesen, dass Raria, die Nocturn doch so sehr liebte, ihn in einen Kampf schickte, wo die Aussicht auf einen Sieg minimal war.

Light hätte das nicht getan.

 

Und Raria tat es auch nicht.

Sie hatte es von Anfang an nicht vorgehabt.

 

„Raria opfert sich für dich… damit du fliehen kannst.“

 

Der letzte Finger löste sich von Nocturns Uniform, aber er verschwand nicht. Diese Worte hatten ihn versteinern lassen; das Lächeln war verschwunden, die Maske gefallen. Nocturns Gesichtszüge waren völlig versteinert und seine Stimme klang bleiern, als er den Mund öffnete:

„So kurz… vorm Ende… durchschaust du meine Rolle… so kurz vorm Ende scheitere ich also daran, ihren Wunsch zu erfüllen…“

„Ihren… Wunsch?“ Aber Nocturn reagierte nicht; er schien in einen Trance-ähnlichen Zustand zu fallen, weshalb Youma seine Arme packte, um ihn daran zu hindern, diesem zu verfallen; aber er reagierte nicht.

„Nocturn, hör mir zu! Wir können es noch schaffen, sie zu retten!“ Nocturn schüttelte den Kopf, aber Youma ignorierte es:

„Reiß dich zusammen! Zusammen könnte es uns gelingen, wenn wir uns beeilen und uns in euer Dorf teleportieren!“

„Nein… ich habe ihr versprochen, dass ich nie wieder nach La Roche zurückkehre… ganz egal, was passiert… ganz egal… Ich habe ihr geschworen immer alle ihre Wünsche zu erfüllen, ich habe es geschworen!“

„Nocturn, Kasra wird sie als Geisel nehmen, verstehst du das nicht?!“

„… das habe ich Raria auch gesagt, aber sie versprach mir, dass er es nicht tun würde, dass sie wisse, wie sie das verhindern würde… dass sie kein Druckmittel werden würde…“ Jetzt spürte Youma, wie Nocturn zu zittern begann, auch seine Stimme bebte:

„… ich soll mich… weg teleportieren… in Sicherheit bringen… nie wieder einem magischen Wesen in die Nähe kommen…“ Wie gut Nocturn gespielt hatte die ganze Zeit – Youma übermannte plötzlich der Schmerz; wahrscheinlich hätte er auch wütend sein können, dass er auch ihm etwas vorgespielt hatte, aber als er realisierte… dass Nocturn die ganze Zeit gewusst hatte, dass Raria sich für ihn opfern würde, da vergaß er förmlich sich selbst.

 

Die ganze Zeit war Nocturn stark geblieben, hatte weiter gespielt, sogar als Youma ihm direkt gesagt hatte, dass er sich verstecken könne, weil er keine Aura hatte – mit anderen Worten genau das, was von Anfang an geplant gewesen war. Aber dass… dass Raria sterben würde… dass sie Nocturn dieses schwere Wissen auferlegte… das schwere Wissen, dass sie für ihn in den Tod ging… und dass er die ganze Zeit hatte weiter spielen müssen, obwohl er wusste, dass sie sterben würde!

 

„… ich solle glücklich werden, sagte Raria… das sei ihr Wunsch, ihr einziger Wunsch, den ich ihr versprechen müsse… aber… aber…!“ Mit schmerzendem Herzen sah Youma, wie Nocturn die Tränen herunter rannen:

„…Wie soll ich glücklich werden, wenn ich Raria sterben lasse?!“

 

Youma ignorierte seinen eigenen Körper; ignorierte wie sehr er schmerzte, als er sich aufrichtete und Nocturns Hände nahm. Überrascht, mit Tränen in den Augen, sah Nocturn Youma an, sah in seine felsenfesten Augen und spürte, wie Youma den Griff um seine zitternden Finger verstärkte.

 

Raria hatte recht gehabt; sie hatte die ganze Zeit recht gehabt – Youma ließ Nocturn seine Grenzen erkennen. Er konnte ihn nicht belügen – und noch weniger konnte er sich selbst belügen.

 

Und gemeinsam teleportierten sie sich nach La Roche.

 

 

 

                                                               

 

       

  

 

 

 

       

 

Fatalitè Déplorable - Opus VI

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Youma und Raria waren beide in der Küche; beide tranken sie einen Kaffee, besprachen dabei die Ergebnisse des heutigen Trainingstages, des ersten Tages, an dem Youma und Nocturn hatten Magie einsetzen dürfen. Nocturn war direkt nach dem Training förmlich ins Musikzimmer gestürzt und noch ehe der Kaffee fertig war, drangen einige Melodien-Bruchstücke zu ihnen, da die Wände des Musikzimmers sie nicht ersticken konnten. Raria hatte sich im Sprechen kurz unterbrochen, lauschte kurz der Melodie und seufzte dann aufgebend, wie Youma es vorkam, aber mit einem kleinen Lächeln; dann ließ sie sich nicht mehr von Nocturns Musizieren ablenken.

 

Zwei Tassen und viele Worte später bemerkte Raria, dass sie den zeitlichen Bogen überspannt hatten; es war bereits kurz vor neun und Youma stimmte zu, dass er sich auf den Rückweg machen sollte. Er bedankte sich für den Kaffee und die beiden gingen hinaus auf den Gang. Nocturns Spielen war nicht länger zu hören und während Youma sich seinen Umhang überwarf, bemerkte Raria mit einem Blick in die Stube auch wieso, in welche sie sich nun auch begab, gerade als Youma sich verabschieden wollte.

 

Nocturn war auf dem wolligen Teppich vor dem entzündeten Kamin eingeschlafen. Youma, der Raria in die Stube gefolgt war, wunderte sich darüber, wie man so einfach plötzlich auf dem Boden einschlafen konnte; war das Training etwa so erschöpfend gewesen?

„Nein“, begann Raria, sich zu Nocturn herunter kniend:

„Nocturn hat in der letzten Nacht nicht gut geschlafen. Er hatte wieder Albträume.“ Mit anderen Worten er hatte wieder bei ihr geschlafen, dachte Youma – was waren das für Albträume, die ihn aus seinem eigenen Zimmer flüchten ließen, um bei Raria Trost zu finden? Youma würde zu gerne fragen, aber das war wahrscheinlich ein viel zu großer Eingriff in die Privatsphäre der beiden.

 

Youma hatte sogar das Gefühl, dass das, was er jetzt sah, ihre Privatsphäre verletzte und er überlegte kurz, ob er sich einfach herumdrehen sollte um zu gehen, aber das Bild der beiden auf dem Teppich liegenden Dämonen, im Licht des langsam schwächer werdenden Feuers… ein so warmes, vertrautes Bild, das ihn an sein Zuhause denken ließ… dieses Bild fesselte ihn und zwang ihn regelrecht dazu, dort stehen zu bleiben. Als könne er nur durchs bloße „Sehen“ daran teilhaben; als wäre es ihm dadurch möglich, ebenfalls wieder so etwas wie Geborgenheit zu verspüren.

 

Raria hatte sich ruhig und darauf achtend, Nocturn nicht zu wecken, zu ihm auf den Teppich gelegt, den Kopf zu ihm gedreht; nur neben ihm liegend, ihn nicht berührend. Ihren Blick konnte Youma nicht sehen, da er hinter den beiden Familienmitgliedern stand, aber auch ohne ihr Gesicht sehen zu können, hatte Youma das Gefühl, als würde Traurigkeit in der Luft hängen.

 

Er sollte gehen. Er hatte hier nichts mehr zu suchen. Er hatte kein Recht, an dieser familiären Szene teilzunehmen.

 

Aber gerade als Youma sich zum Gehen herumwandte, hielt Rarias Stimme ihn von seinem Vorhaben ab:

„Wie würdest du Nocturns Albträumen handhaben?“ Zuerst verstand Youma die leise, fast geflüsterte Frage Rarias nicht, dann antwortete er:

„Ich würde versuchen, ihnen auf den Grund zu gehen.“

„Und wenn der Grund unergründlich ist und du es nicht herausfinden würdest?“

„Dann würde ich versuchen, ihm Trost zu spenden.“

 

Da Raria sich nicht bewegt hatte, konnte Youma ihr Gesicht natürlich immer noch nicht sehen. Trotzdem wusste er mit absoluter Sicherheit, dass sie lächelte.

 

„Eine gute Antwort.“

 

Und das letzte Stück Holz war mit einem leichten Knacken herunter gebrannt.

 

 

Als Youma und Nocturn in La Roche ankamen, vergaß Nocturn alle Gedanken um irgendeine Rolle, die er zu spielen oder zu spielen gehabt hatte. Einen kurzen Augenblick hatte er sich auf Youma konzentriert, hatte ihn besorgt angesehen und ihn wieder ermahnt, dass er auf seine Lunge Acht geben musste und dass er vielleicht alleine gehen solle…

Nocturn hatte mit dem Rücken zum Haus gestanden; aber als er Youmas erschrockenen Gesichtsausdruck sah, drehte er sich herum, seine Hände entglitten ihm – und schon rannte Nocturn los, dem brennenden Haus entgegen.

 

„Nocturn!“

 

Aber Nocturn hörte den verzweifelten Ruf nicht; er stürzte aus dem Wald, hinaus auf die Lichtung, wo das Haus stand, in dem er sein Glück gefunden hatte, wo sie ihn geheilt hatte – das Haus, was nun in Flammen stand.

 

Einen Augenblick lang lähmte Nocturn dieser Anblick gänzlich; er starrte die in den Himmel empor züngelnden Flammen an, das Gesicht zu einer fassungslosen Maske verzerrt. Nur die Flammen sah er; nur das Schreien des Hauses hörte er. Die Menschen um ihn herum, die Nachbarn des nun sterbenden Hauses, riefen ihm etwas zu, eine Hand wurde auf seine Schulter gelegt – aber er hörte keines ihrer Worte.

 

Auch Youmas Rufen seines Namens vernahm er nicht; aber als wäre es das Kommando für ihn, um sich wieder zu bewegen, entriss er sich der Fürsorglichkeit des Menschen und stürzte auf das Haus zu:

„RARIA!“

 

Völlig am Ende seiner Kräfte, zwang Youmas Körper ihn in die Knie; die Menschen um ihn herum schrien etwas, sie versuchten sogar, Nocturn aufzuhalten, weil sie wussten, dass es keinen Sinn hatte. Das Feuer war zu mächtig. Das Feuer war zu zerstörend.

 

Hatte Youma das Richtige getan, als er Nocturn davon überzeugt hatte, hierher zu kommen?

War es nicht genau das, was Raria hatte verhindern wollen?

Dass ihr geliebtes Kind so einen Schmerz erdulden sollte?

 

Youma rappelte sich auf; er durfte sich jetzt nicht von seinem Körper behindern lassen – er musste zu Nocturn.

 

 

Die sengende Hitze schlug auf Nocturn hernieder; schlug ihm förmlich ins Gesicht und die grellen Flammen, die umherpeitschende Glut blockierte ihm kurzzeitig die Sicht, brachte ihn dazu, sich den Arm vor die Augen zu halten, die anfingen zu tränen.

„Raria! Raria!“, rief er weiterhin, sich von den alles zerstörenden Flammen nicht aufhalten lassend, weiter rennend, vorbei an der Stube, vorbei an der bereits vollkommen verbrannten Küche, die auf dem Boden liegenden, zerbrochenen Erinnerungen nicht sehend, genauso wenig wie er das Blut sah, welches auf dem Teppich… auf der Treppe… und an der Wand klebte und bereits von dem Feuer gefressen wurde.

 

Geradewegs als wisse er es genau, durchquerte Nocturn mit weinenden Augen, mit angstvoll bebendem Herzen, mit Adrenalin durchflutetem Körper und immer noch nach Raria rufendem Mund den Gang, rannte durch die Flammen, auf die geöffnete Tür des Musikzimmers zu.

Die Hand ausgestreckt, die Finger gespreizt.

 

 

Rarias Finger kamen nicht zum Stillstand, als sie das kleine Kind an der Tür bemerkte. Sie verlangsamte ihr Spiel nur ein wenig, warf einen Blick über die Schulter und staunte, als das Kind sich erschrocken hinter der Tür verbarg. Es hatte nicht erwischt werden wollen beim Lauschen. Wahrscheinlich wollte der kleine Junge, den sie mit nur einem einzigen Blick verschreckt hatte, wegrennen, aber er blieb hinter der Tür stehen. Seine Aura konnte sie zwar nicht spüren, aber zwei kleinen Finger waren an der Tür sichtbar geblieben.

„Willst du auch mal spielen?“ Die großen, roten Augen des Kindes wurden wieder sichtbar, er blieb aber hinter der Tür stehen; Raria, die ihm noch völlig fremd war, mit diesen zum ersten Mal geweiteten Augen ansehend. Er sagte nichts; er war ein schweigsames Kind.

 

Seine Augen lösten sich von Rarias Gesicht, wanderten ihren Arm herunter und beobachteten ihre Finger mit leuchtender Faszination in den Augen. Er schien zu verstehen, dass es ihre Finger waren, die diese Töne schafften – und dieses Verständnis zog ihn in den Bann, brachte ihn dazu, seine Abwehr und seinen sicheren Platz hinter der Tür aufzugeben und sich behutsam dem Flügel zu nähern.

 

Raria hatte aufgehört zu spielen; sie sah ihm dabei zu, wie er die Hand ausstreckte…    

 

… genau wie er es jetzt tat…

 

…. Nocturn erschrak über den hellen, klaren Ton, den das Drücken der weißen Taste ausgelöst hatte; er war rückwärts gestolpert; aber Raria hatte ihn hochgehoben… ihn zu sich gesetzt… den gänzlich versteiften Nocturn angelächelt und wieder zu spielen angefangen…

 

Es durfte nicht für immer verstummt sein… es durfte nicht… das würde er nicht aushalten… Rarias Spiel… ihre Melodie… nie wieder sollte es erklingen, der Flügel… ihr Lied… ihr seltenes Lächeln… es durfte nicht verschwunden sein, es durfte nicht… Raria… Raria!

 

Die Flammen hatten den Musikraum bis jetzt verschont gelassen. Es war fast so, als wäre der mit Ruß und Tränen befleckte Nocturn geradewegs in eine andere Welt gerannt und der Raum, der eigentlich immer durch die hier entstandene Musik zu atmen pflegte, begrüßte ihn mit einer Totenstille.

Genau vor Nocturn stand der Flügel. Der Flügel, auf dem sie so viel gespielt hatten, auf dem sie so viele Gespräche geführt hatten.

Genau wie damals, als er gerade erst zu ihr gekommen war, ging er auch nun zögerlich auf den Flügel zu, als würde ihn eine Hand dazu einladen. Nocturn war blind für das Blut, das, so frisch wie es war, noch stetig von den Tasten herunter tropfte.

 

Nocturn sah das Piano schweigend an, hörte nicht das Schreien der Flammen, das auch bald diesen Raum erreichen würde. Die Tränen rannen ihm vom Gesicht herunter, als er sich abwandte, an dem großen Instrument vorbei ging, die Hand dabei über es gleiten lassend, auf die noch intakten Fenster zu…

 

„… der König hat sie auseinandergerissen.“

 

Diese Stimme drang zu ihm. Diese Stimme konnte durch alles dringen. Nocturn versteinerte; er vergaß zu atmen, sein Körper vergaß zu arbeiten. Diese Stimme – er hatte sie so viele Jahre nicht mehr gehört und doch erkannte er sie, er würde sie immer, immer und überall, unter tausenden Stimmen wiedererkennen---

 

„… Rari-nee hat sich nicht aufgelöst… warum hat sie sich nicht aufgelöst… sie müsste sich doch auflösen… sie ist doch kein Mensch geworden, oder, mein Junge…?“

 

Nocturn rührte sich nicht, drehte sich nicht zum Ursprung der Stimme herum.

 

„… es hat ihn sehr… verwirrt… dass sie sich nicht aufgelöst hat… deswegen sieht sie so aus, mein Junge… ich konnte ihren Körper nicht mehr… zusammensetzen. Ich habe es versucht.“

 

Mit einem Stoß begann Nocturn, wieder zu atmen; zu schnell, zu schnell, Panik wallte in ihm empor, Panik, die ihn dazu brachte, sich herumzu----

 

Youmas Hände packten seine Schulter, ehe Nocturn es tun konnte – mit aller Macht, die letzte Kraft zusammensammelnd, die seinem verletzten Körper noch innewohnte, verhinderte er, dass Nocturn Nathiel erblickte, die die zerstückelte Leiche ihres Zwillings in ihrem Schoss gebettet hatte.

 

Das Fenster zerbrach, als die beiden Dämonen es durchbrachen. Sie stürzten dem schwarzen Wasser entgegen und durchbrachen dessen Oberfläche.  

 

Dann wurde alles schwarz.          

 

 

 

      

 

 

Faire de Funambule - Opus I

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…. im Falle eines plötzlichen und unerwarteten Todes… und dem damit verbundenen Wegfall des Dämonenherrschers… ernannte dieser einen seiner sieben Untergebenen zu seinem Nachfolger…  Dieser eine, dem die größte Gunst seines Herrschers zustand, war Luzifer…
 

 
 

Da Luzifer starb, bevor ihm die Ehre der Krone zuteilwerden konnte, wählte der Dämonenherrscher den Sohn Luzifers zum nächsten Erbe der Krone. Somit wurde der rechtmäßige Thronfolger ein Wesen, dessen Blut geteilt war.
 

Ein Wesen mit dem Blut einer Göttin und dem Blut eines Teufels.
 

 
 

Sein Name war Youma.
 

 

 

 

 

 

Kasra hatte es vom ersten Moment an gespürt. Eine Unruhe. Eine vorausahnende Unruhe.

 

In dem Moment, als es geschah, hatte er am Fenster gestanden und unwillkürlich in die richtige Richtung geblickt, in die er tonlos starrte, während zwei junge Frauen mit einem neuen Umhang für ihn beschäftigt waren, da der letzte auf dem Schlachtfeld im Kampf gegen die Wächter einige Risse bekommen hatte und Kasra sich deswegen kurzerhand für einen ganz neuen entschieden hatte.

Die beiden Dämoninnen bemerkten das Erstarren ihres Herrschers und blickten neugierig – aber gewagt – in dieselbe Himmelsrichtung. Diese ihm dargebotene Angriffsfläche weckte Kasra aus seiner angespannten Trance und er wollte diese gerade auszunutzen, um sich von seiner plötzlich aufkommenden Anspannung zu befreien, als Karou plötzlich hereinkam.

 

Sofort himmelte Kasra mit den Augen und begnügte sich damit, die Dämonin, die ihm am nächsten war, beiläufig ins Schienbein zu treten, um sie wieder zum Arbeiten zu bewegen.

Ihr schmerzverzerrtes Gesicht und besonders das Zurückhalten eines Schreis stellte ihn zufrieden – mal wieder eine Widerstandsfähige; wie erfreulich, das bedeutete mehr Spaß für ihn.

 

Unbeeindruckt von diesem kleinen Spielchen seiner Majestät verneigte Karou sich und berichtete ihm, dass er gerade eine überaus eigenartige Magie lokalisiert hatte; eine Magie, die er auch mithilfe seines Computers nicht hatte analysieren können. Eine gänzlich fremdartige, aber sehr starke Magie.

„Ich werde mich darum kümmern. Du kannst gehen.“  

 

Karou wunderte sich darüber, dass Kasra nicht gefragt hatte, wo er die besagte Magie lokalisiert hatte, aber aussprechen tat er diese Bedenken natürlich nicht. Er verneigte sich ein weiteres Mal, wobei ihm kurz auffiel, dass Kasra wieder aus dem Fenster sah – und tatsächlich genau in die Richtung, wo sich die Magie befand.

 

Karou und Kasra waren nicht die einzigen Dämonen, die dieses magische, ungewöhnliche Spektakel bemerkt hatten; auch andere Dämonen hatten das Auftauchen der unbekannten Magie gespürt, aber keiner dieser Dämonen traute sich näher an die Quelle heran; sie hielten Abstand und noch niemand hatte gesehen, was die eigentliche Ursache war. Aus irgendeinem Grund gefiel diese Menge an Dämonen Kasra überhaupt gar nicht und obwohl er eigentlich wie immer selbstbewusst lächeln wollte, zeigte sein Gesicht eher eine grimmige Visage, die auch nicht von den Mitgliedern seines Volkes erweicht werden konnte, die sofort Abstand von ihm nahmen, sobald der König zu ihnen gestoßen war. Sie waren immerhin Bürger von Lerenien-Sei; sie hatten die Vorzüge eines Sicherheitsabstandes zu Kasra schätzen gelernt.

 

Aber anstatt sie dazu zu bewegen zu verschwinden, ignorierte er die neugierige Ansammlung Dämonen, durchschritt sie und ließ ohne zu zögern die Felsformation hinter sich, die auf natürliche Art dafür gesorgt hatte, dass das, was auch immer es war, von den Blicken der Dämonen abgeschirmt war.

 

Genau wie Karous Computer vernahmen auch Kasras feinfühlige Sinne eine eigenartige Magie, die stärker wurde, umso näher er der Quelle kam. Sie brachte die Luft förmlich zum Vibrieren, die ihm schwerer vorkam als anderswo in seinem Reich. Kein Wunder, dass die Schwachmaten sich nicht getraut hatten, näher heranzukommen – aber einen König konnte diese Magie natürlich nicht abhalten. Er bahnte sich furchtlos seinen Weg durch die Felsformation, die ihre Form langsam änderten, umso weiter er vordrang: zuerst bemerkte Kasra nur eine leichte lilane Verfärbung der Felsen, aber dann verloren sie sogar ihre Form, ihre Konsistenz – die Felsen waren zu lila leuchtenden Kristallen geworden, kristallisiert von der immer stärker werdenden Magie, vor der ihn seine Sinne nun auch zu warnen begannen. Was war nur…

 

Kasra war so ziemlich auf alles vorbereitet.

Aber auf das, was seine roten Augen dazu brachte, sich zu weiten, das… das hatte er nicht kommen sehen.

 

Nachdem er die letzten, pulsierenden Kristalle hinter sich gelassen hatte, gelangte er zum Zentrum dieser fremdartigen Magie – das Zentrum, das eine Person war. In diesem Moment wusste Kasra nicht, ob er einen Wächter oder einen Dämon vor sich hatte; er konnte die Rasse nicht zuordnen, die Aura der auf dem Boden kauernden Person war zu verschwommen, um von Kasra platziert zu werden.

 

Irgendetwas hinderte Kasra daran zu agieren, obwohl er bemerkte, dass dieses Wesen ein Glöckchen mit seinen Händen umschlossen hielt.

Irgendetwas hypnotisierte ihn.

 

Der junge Mann hockte auf dem Boden; seine langen, schwarzen Haare blockierten Kasra die Sicht; nur das golden aufleuchtende Glöckchen sah er, welches der Unbekannte an sich drückte… genau wie die Hikari es taten, wenn Kasra sein Lieblingsspiel mit ihnen spielte.

Trotzdem wusste der Herrscher der Dämonen, dass dieses Wesen kein Hikari war; er spürte es und er verließ sich grundsätzlich mehr auf sein Gefühl als auf irgendwelche Geräte. Aber auch Karou würde später nicht herausfinden, was dieses Wesen für eine Rasse besaß und er konnte sich auch mithilfe seiner Computer nicht erklären, warum er mit einem Glöckchen ausgestattet war.

 

Dieses Wesen, dessen Ankommen Kasra schon von Weitem gespürt hatte, schien ihn bemerkt zu haben. Aber anstatt zurückzuweichen, sich irgendwie verteidigen zu wollen, senkte er langsam die Hände, die das Glöckchen umklammert hatten und erhob sich.

Von irgendetwas war er geschwächt; seine Bewegungen waren langsam, aber obwohl man ihm seine körperliche Schwäche ansah, wurde diese förmlich überschattet; überschattet von einer schier königlichen Eleganz und Erhabenheit, mit der er sich nun auch zu Kasra herumwandte.

 

Sein Gesicht war tränennass, seine hohlen Augen wechselten von rot zu schwarz, als er Kasras Blick traf und trotzdem… trotz all dieser offensichtlichen Anzeichen der Schwäche, paralysierte Kasra dieser erste Anblick von Youma.

 

Kasra benötigte keine Dokumente mit holprigen Übersetzungen; in diesem Moment wusste er, dass er nicht der einzige war, der zum König geboren worden war. Die goldene Krone auf seinem Kopf wurde ihm plötzlich schwer; es war ihm, als würde der Unbekannte die Hand danach ausstrecken, obwohl dieser ihn eigentlich nur ansah, ohne dass eine Botschaft in seinen leeren, traurigen Augen lag. Augen, die irgendetwas beweint hatten.

 

Kasra hätte ihn wahrscheinlich einfach töten sollen.

Stattdessen fing er Youma auf, als dieser plötzlich bewusstlos wurde. 

 

 

Youma konnte sich an dieses erste Treffen der beiden nicht erinnern. Der Zeitbann, aus dem er erwacht war, war zu mächtig gewesen; das Aufwachen zu plötzlich und wahrscheinlich vom namenlosen Dämonenherrscher provoziert, obwohl Youma nie herausfand, ob das tatsächlich so war. Noch lange war Youma in einer ihm unerklärlichen Zwischensphäre gefangen… Eine Zwischensphäre, die auf andere so wirkte, als wäre Youma in einer Art Trance-Zustand. Seine Augen waren geöffnet, er konnte sich bewegen, wenn auch nur langsam. Er realisierte alles um sich herum, aber zur gleichen Zeit tat er es doch nicht. Er war zwischen zwei Welten, zwei Zeiten gefangen, die beide versuchten, ihn zu sich zu ziehen.

Sein Körper war 1984 angekommen; seine Seele aber zog es in die goldene Zeit Aeterniems.

 

Seine Seele war der Grund für seinen Trance-ähnlichen Zustand; sie weigerte sich vehement, die neue Zeit zu akzeptieren und nur langsam gelang ihr dies. Youma wusste daher im Nachhinein nichts von den vielen Tests und Versuchen, die Kasra an ihm hatte machen lassen; er wusste nichts davon, wie gründlich er durchleuchtet worden war – wie viel Kasra eigentlich von ihm wusste.

 

Nur ab und zu bemerkte er die beobachtenden Blicke Kasras, wenn dieser ihn manchmal stundenlang durch die verglaste Wand betrachtete, als wäre er ein Gemälde. Ein Unwohlsein stieg dann in ihm auf… aber das Unwohlsein siegte dahin, löste sich auf in Youmas endlosem, ihn lähmenden Heimweh.

 

 „Meine Hoheit, ich werde Euch die Ergebnisse bringen, sobald ich fertig bin. Es wird mehrere Stunden dauern, bis die Untersuchung abgeschlossen ist. Ihr müsst nicht…“ Kasra ignorierte Karous Worte; er reagierte nicht einmal auf sie, sondern sah nur mit einem abwartenden, aber ernsten Gesicht auf das in grüner Flüssigkeit schwimmende Mischwesen.

Karou glaubte, dass Kasra zu skeptisch war, um Karou mit der Arbeit an Youma alleine zu lassen, immerhin war der erste Befehl Kasras gewesen, keine, absolut gar keine Information über Youma außerhalb des unteren Zirkels des Schlosses zu tragen. Auch Nathiel wurde ausgesperrt und wie Karou erfahren hatte, war Kasras erste Tat nach dem Fund Youmas gewesen, alle schaulustigen Dämonen ausfindig zu machen und sie zu töten.

Im Grunde genommen wunderte Karou sich über all das nicht; auch nicht darüber, dass Kasra bei allen Untersuchungen, die Karou an Youma durchführte, selbst anwesend sein wollte; dass sich Karou Youma nicht einmal nähern durfte, ohne dass er selbst dabei war. Karou kannte Kasras Skepsis und seine Vorsichtsmaßnahmen, denen er mit Freuden nachging… die kannte er auch. Aber ab und zu wurde er doch stutzig – denn warum schien es Kasra zu faszinieren, auf den Bildschirmen immer nur Fragezeichen zu sehen? Warum kam es Karou so vor, dass sein König sich darüber freute, dass die Untersuchungen meistens ergebnislos waren – ja, dass sie nicht einmal so etwas Simples wie Youmas Element herausfinden konnten? Als wissensdurstiger Forscher frustrierte diese Mangelhaftigkeit Karou – aber Kasra? Kasra schien… Gefallen an diesen vielen Fragezeichen zu finden…?

 

Wirklich skeptisch hoben sich Karous Augenbrauen allerdings erst, als er Kasra, fast einen Monat nach Youmas Auftauchen, vor dessen verglaster Zelle stehen sah. Die Untersuchungen waren schon seit mehreren Stunden abgeschlossen gewesen… eigentlich waren sie im Allgemeinen abgeschlossen: es gab nichts mehr, was sie momentan über ihn herausfinden konnten… warum also war Kasra dort?

 

Zuerst waren es nur kurze Besuche.

Sie wurden zur Gewohnheit, Kontrollgänge.

Kontrollierend, ob der damals noch Namenlose – denn Youma hatte noch nicht gesprochen – immer noch einfach nur da saß und nichts tat.

 

Zuerst wurden die Besuche länger und die Blicke, mit denen Kasra ihn beobachtete, immer intensiver, durchdringender.

 

Warum? Warum?

 

Er saß nur da und tat nichts. Was war es nur, was Kasra immer wieder zu ihm lockte? Was war es, das ihn nicht schlafen ließ? Warum sah er dieses Wesen sogar in seinen Träumen, aus denen er aufgeregt erwachte und erst wieder zur Ruhe fand, wenn er hier unten vor seiner verglasten Zelle stand und ihn sah? 

 

War es diese Merkwürdigkeit, dass er, obwohl er sich nicht rührte und eigentlich schwach wirken musste, immer noch… von dieser Erhabenheit umgeben war? Diese schwarzen Haare und Augen; er wollte seine Haare berühren, wollte herausfinden, ob sie sich genauso anders anfühlten wie seine Augen wirkten – so anders, so gänzlich anders als alles, was Kasra zuvor gesehen hatte. Er hatte einen filigranen, fast weiblich wirkenden Körper, dem doch Stärke innewohnte und feingliedrige Finger, die kraftvoll das einzige umschlossen hatten, mit dem er in diese Welt gekommen war; eine Sense, die momentan in Karous Obhut war.

 

Jedes Detail sog Kasra in sich auf, jedes Detail dieses fremdartigen, so faszinierenden Wesens. Jedes Detail regte seine Fantasie an. Immer deutlicher, immer formreicher wurden seine Träume, die er aber dennoch nicht platzieren konnte… Warum schwieg das Wesen immer in seinen Träumen? Warum? Warum sah er immer nur, wie sich dessen Mund bewegte, diese…  

 

Kasra verlangte danach, seine Stimme zu hören.

Ja, das wollte er ganz besonders. Vielleicht kam er deswegen so oft, weil er den Moment nicht verpassen wollte, wenn er zum ersten Mal den Mund öffnete, um zu sprechen? Karou hatte irgendetwas davon gesagt, dass er anzweifelte, dass sich irgendetwas an seinem Zustand verändern würde… aber Kasra hörte ihm nicht zu. Es war egal, was Karou sagte; er wusste, dass Youma erwachen würde. Gänzlich erwachen würde.

 

Und er sehnte diesen Tag herbei.

 

Am Tag bevor es geschah war Kasra nicht vor dem Glas seiner Zelle verblieben. Er hatte sich hinein teleportiert, war direkt vor Youma getreten, der den Kopf langsam hob.

 

Der König und der zum König Berufene sahen sich an. 

 

Wie sehr sehnte Kasra sich Youmas Erwachen herbei – es war kaum auszuhalten.

Alles kreiste darum, alles. Seine Stimme hören. Er wollte seine Stimme hören. War sie---

 

Kasra wollte endlich nicht nur seinen Körper besitzen, sondern auch seine Seele.

Er wollte diese Seele erforschen. Aushüllen. Aushöhlen. Jeden einzelnen Winkel, jeden Höhepunkt, jede Tiefe.

 

Kasra streckte die Hände aus. Seine Hände zitterten vor Erregung, als er Youmas Gesicht mit seinen Händen umschloss, doch das Objekt seiner Träume sah und bemerkte es nicht.

 

Er wollte hören, wie er schrie.

Er wollte sehen, wie er fiel.

 

Wach auf, damit wir endlich anfangen können.

 

„Ihr seid der König dieser Welt, nehme ich an?“, sprach der Mund, dessen feine Lippen diese Worte mit einer melodischen, aber ernsten Stimme geformt hatten. Dieselben Lippen, die Kasra in der Nacht zuvor noch geküsst hatte.

Er hatte ihn also wachgeküsst.

Endlich.

 

„Mein Name ist Youma. Es wäre mir eine Ehre, Majestät, wenn ich Teil Eures Stabs werden könnte.“

 

 

Das Spiel hatte begonnen.

 

 

Faire de Funambule - Opus II

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Nur kurz war Ri-Il in die Gedanken seiner Hordenmitglieder und Frauen gehuscht, nur kurz; und sofort hatte sich ihm der Ernst der Lage offenbart und natürlich die unmittelbare Bedrohung. Aber das wahre Ausmaß wurde ihm erst bewusst, nachdem er sich in sein Büro teleportiert hatte.

 

Zu diesem Zeitpunkt wusste er bereits, was ihn erwartete. Er wusste, dass Kasra dort auf ihn wartete; er wusste, dass er sich dessen Kommunikationssystem bemächtigt hatte, nachdem er sein Büro verwüstet hatte. Ri-Il hatte es in den aufgewühlten und angewiderten Gedanken Darius’ gelesen, der aber unfähig gewesen war, Kasra aufzuhalten; er hatte es versucht, hatte nicht zulassen wollen, dass Kasra das Büro seines Fürsten überhaupt betrat. Dafür hatte der König ihm lachend den rechten Arm herausgerissen. Aber auch wenn das sein dominanter Arm war, hatte Darius weiterkämpfen wollen, doch das, was auf den magisch auftauchenden Bildschirmen hinter Kasra plötzlich zu sehen war, brachte Darius‘ zornige Magie zum Verpuffen. Das wahre Ausmaß.

 

Ohne Zweifel mit der Hilfe von Karous technischem Knowhow war es Kasra gelungen, Zugriff auf Ri-Ils Computersystem zu erhalten. Es ging ihm dabei nicht um irgendwelche Daten – Ri-Il speicherte nichts auf technischen Geräten, dafür war Karous Wissen auf dem Gebiet zu groß und das wussten sowohl Karou als auch Kasra. Nein, es ging ihm nur um die Kommunikation. Es ging ihm nur ums Zeigen.

 

Die kurzerhand magisch erschienenen zwanzig Bildschirme präsentierten ein Bild des Schmerzes und der Entmachtung; alle Bildschirme zeigten Videoübertragungen. Jede Videoübertragung war einer Frau gewidmet und alle Übertragungen gleichten sich; Ri-Ils Frauen, festgehalten, geschlagen, auf dem Boden, weinend und blutend.

 

Und es waren nicht nur zwanzig. Die Bilder wechselten. Es waren weitaus mehr als das; das hatte Ri-Il noch in Japan erspüren können, als ihm die angstvollen Gedanken seiner Untergebenen zugepeitscht waren. Aber erst als Ri-Il mit dem Rücken zuerst auf den Boden seines Büros geschlagen wurde, das triumphierende Lachen Kasras ihn umhüllte, der natürlich darauf geachtet hatte, dass Ri-Il aus seiner schmerzenden Position heraus immer noch einen guten Blick auf die Übertragungen hatte… erst in diesem Moment offenbarte sich ihm das wahre Ausmaß.

Es waren 100.  

 

100 Frauen, die im Begriff waren, zu Tode gefoltert zu werden.

Ri-Il wusste genau, wo sie alle waren. Die abgesegneten Dokumente, mit krakeliger Unterschrift der Freier, lagen im Zimmer verstreut auf dem Boden. Ri-Il hatte sie vor seinem abendlichen Treffen mit Lycram noch geordnet und auf den Tisch gelegt. Natürlich hatte er seine Arbeit vor dem Vergnügen abgehakt; hatte noch ein, zwei Worte mit Darius gewechselt, ehe dieser Mekare zu ihrem Freier gebracht hatte. Ri-Il hätte es selbst tun sollen; dann hätte er die Gedanken des Fürsten lesen können und ihm wäre klar gewesen, in welche Gefahr er Mekare und die anderen Frauen brachte. Aber das hatte er nicht getan; er war nicht vorsichtig genug gewesen. Er hatte ein ungutes Gefühl gehabt, aber dieses Gefühl hatte ihn schon lange geplagt… jetzt wusste er warum, denn eine solche Aktion musste Kasra lange vorher geplant haben. Aber das vorahnende Gefühl war nicht stark genug gewesen, um Ri-Il seine Arbeit nicht machen zu lassen. Vielleicht hätte Ri-Il bei der Zahl stutzig werden müssen, aber in diesen Zeiten war ein solcher Andrang nicht ungewöhnlich: er hatte schon Nächte gehabt, da war sein Anwesen fast komplett leer gewesen; in diesen dunklen Zeiten mit Kasra als Herrscher und einem Schlachtfeld, auf dem White den Spaß blockierte, hatten die gehobenen Herrschaften der Dämonenwelt viel Zerstreuung gebraucht. Man konnte sagen, dass Ri-Il gewissermaßen davon profitiert hatte. Auch heute Abend hatte er die Bezahlung bereits im Voraus erhalten; es war alles wie immer verlaufen. Nichts Ungewöhnliches. Nichts hatte angedeutet, in welche Falle Ri-Il seine Frauen laufen ließ und welche sich um ihn selbst schloss.

 

„RI-IL!“

 

Der Schrei von Darius und Mekare, als sie beide Ri-Il zu Boden schmettern sahen, durch seinen eigenen Schreibtisch hindurch und diesen damit in Stücke brach, verriet die Unfassbarkeit dieser Situation. Nie hatten sie gesehen, wie Ri-Il zu Boden ging; nie hatten sie gesehen, wie die Hand, die jemand gegen Ri-Il richtete, ins Ziel traf.

Und nie hatten sie gesehen, wie jemand es wagte, einen unterwerfenden Fuß auf Ri-Ils Brustkorb zu platzieren – und dass der Angreifer damit auch noch durchkam, hätten sie sich nie vorstellen können. Beide hielten sie die Luft an; beide absolut davon überzeugt, dass Ri-Il einen seiner typischen Zaubertricks durchführen würde… dass er am anderen Ende des Zimmers auftauchen und grinsend verkünden würde, dass er alle Frauen befreit hatte und dass er Kasra jetzt vor die Tür setzen würde; wahrscheinlich noch mit einem lustigen Kommentar und morgen war alles vergessen. Morgen ging die Arbeit wieder los, die Routine von nichts zerstört.

 

Aber es geschah nicht.

 

Ri-Il blieb auf dem Boden, unter Kasras enormem Stiefel begraben. Die Zähne nicht zusammenbeißend, um damit ein Grinsen zu formen, sondern um den Schmerz zurückzuhalten.  

 

Das dünne Rinnsal Blut, das an Ri-Ils Mundwinkeln herunterlief, brachte Mekare zu einem erstickten Aufweinen, das allerdings schnell verstummte, als sie von dem Fürsten, an den Ri-Il sie selbst verkauft hatte, einen Faustschlag bekam, der die nackte Frau mit blutendem Gesicht zu Boden warf.

 

„Um dich zu Fall zu bringen, musste ich wirklich große Geschütze auffahren, Ri-Il!“, begann Kasra, sich zufrieden zurücklehnend, womit die Hacke seines Stiefels sich in den Brustkorb Ri-Ils bohrte, worauf dieser allerdings nicht sichtlich reagierte. Seine durchbohrenden, gelben Augen blieben starr und mit ruhiger Wut auf Kasra gerichtet, der diesen Anblick genießend in sich aufnahm. Er teilte nicht die Angst vieler, was Ri-Ils eigenartige Augen anging; nein, er freute sich darüber, diese nun zu sehen – dass Ri-Il endlich das Grinsen vergangen war und dass er ihn anblickte, wie ein Gegner seinen Widersacher anzublicken hatte.

„Nicht nur, dass das meine bis jetzt größte Geiselnahme ist… es ist auch mein größter Anti-Teleportationsbannkreis. Ich weiß nicht, ob du es schon bemerkt hast… denn für feige halte ich dich eigentlich nicht… aber es ist nicht länger möglich, dieses Gebiet mittels Teleportation zu verlassen – und auf anderen Wegen ebenfalls nicht, denn meine Horde und die von Akai haben das Gebiet umstellt. Um es mit anderen Worten zu sagen: dein Gebiet ist absolut abgeriegelt – oder sollte ich eher mein Gebiet sagen, immerhin bin ich der König dieser Welt und somit gehört mir auch dieses Gebiet, nicht wahr?“ Ri-Ils Augen schienen Funken zu sprühen, was Kasras Lächeln dazu brachte, noch breiter zu werden:

„Und da du noch gar nicht versucht hast, dich zu wehren, nehme ich an, dass du bereits weißt, was passiert, wenn du es tust…“ Mit einem belustigten Zeigefinger deutete er auf die schmerzvollen Videoübertragungen:

„… dann werden all diese hübschen Puppen herausfinden, wie es sich anfühlt, im Höllenfeuer zu schmoren und darin in Flammen aufgehen. Und nur um dir noch weiter zu beweisen, wie gut ich mich für dich vorbereitet habe – all deren, haha, Aufpasser sind in der Lage, die dritte Stufe dieser wunderschönen, verbotenen Kunst anzuwenden.“ Wie ein Künstler gönnte er sich eine theatralische Pause, ehe er sich wieder vorlehnte, sich sogar zu dem wütenden Ri-Il herunterbeugte und fortfuhr:

„Aber es ist gar nicht so, dass ich nicht will, dass du dich wehrst – nein, ich lade dich sogar herzlich dazu ein. Ich möchte nur das richtige… Ambiente schaffen. Und was könnte eine bessere Hintergrundmusik sein als die Schreie von 100 Frauen, deiner 100 Frauen, die ihrem Tode entgegen schreien?“ Seine Augen verengten sich genüsslich, als könnte er dieselben Gedanken hören, die Ri-Il gerade von Mekare vernahm – die Angst. Die schiere Angst.

„Ich und du, wir haben beide keine Bindungen zu anderen, wir wissen, dass solche Bindungen nur Schwäche bedeuten – aber dennoch war mir immer klar, wo ich einen so profitgeilen Dämon wie dich treffen könnte; bei deinem wunderbaren Etablissement. Denn natürlich reicht es mir nicht, dich nur zu bekämpfen und zu töten, Ri-Il! Wie könnte es auch!“ Kasra richtete sich mit einem verspielten Lachen wieder auf und zeigte auf den Bildschirm Mekares, dem größten der vielen Bildschirme; der einzige, auf dem das Bild nicht wechselte und wo die Kamera deutlich Mekares Trauer und Schmerz – und obendrein mehr als zwei Füße – zeigte.

„Übrigens, falls du es noch nicht bemerkt hast; für Mekare-chan habe ich eine Zweiweg-Kamera installieren lassen. Sie kann uns also auch hören und sehen. Die anderen nicht… die anderen wissen nicht einmal, dass du sie sehen kannst. Sie klammern sich einfach an ihre elendige Hoffnung und warten auf ihr Ende!“

 

Kasra verschränkte die Arme, was Darius als bodenlose Beleidigung auffasste – eine so entspannte und selbstsichere Haltung untermauerte nur noch weiter seine Überlegenheit und wie wenig er mit einem Gegenangriff von Ri-Il rechnete. Als Ri-Il dann aber endlich seine Stimme erhob, war diese sofort in der Lage, Darius zu beruhigen. Er lag auf dem Boden, entwürdigt und entehrt in seinem eigenen Gebiet, in seinem eigenen Büro, unter dem Fuß seines Gegners begraben… und dennoch klang seine Stimme höflich, ruhig und ernst, ohne jegliche Verunsicherung. Die tiefe Bewunderung, die Darius für seinen Fürsten empfand, ließ ihn das klaffende Loch an seiner Schulter vergessen. Auch Mekare am anderen Ende der Dämonenwelt horchte auf, als wäre alleine Ri-Ils Stimme ein Rettungsseil.

 

„Majestät, wenn Ihr mir die Frage erlauben würdet – wie ist es Euch gelungen, 100 meiner Kunden von einem solchen Akt zu überzeugen?“ Natürlich kannte Ri-Il die Antwort: nicht weil er die Antwort bereits in Kasras Gedanken gelesen hatte – anders als Nocturn konnte er dessen Gedanken zwar lesen, aber es benötigte große Anstrengung und Konzentration, die er gerade nicht hatte – sondern weil seine Erfahrung, seine Lebenserfahrung, ihm diese Frage beantwortete. Aber er hatte die Frage dennoch gestellt, weil er wusste, wie sehr die, die ihn in diesem Moment hören konnten, seine Stimme brauchten. Nicht nur Darius und Mekare, sondern auch die komplett verängstigten Dämonen des Dienstpersonals vor und um Ri-Ils Büro herum.

Er musste seine Stärke bewahren. Sie alle würden ansonsten mit ihm fallen.

 

Kasra amüsierte diese Frage offensichtlich, auch wenn kurz ein wütendes Zucken über sein Gesicht huschte, als er hörte, dass Ri-Il immer noch diese verhasste Höflichkeit an den Tag legte – angesichts eines Angreifers, der ihn zu Boden genagelt hatte; angesichts der Tatsache, dass er sich in einer Position befand, in der er eigentlich nicht einmal mehr sprechen sollte.

„Nun, Ri-Il, du weißt es selbst genauso gut wie ich. Wer mächtig ist, hat immer Feinde! Das ist doch das Tolle daran! Zu wissen, dass man Feinde hat - aber dass sie sich nicht trauen, dich anzugreifen, dass sie sich vor einem fürchten! Aber es gibt auch die, die es dennoch tun und die sich lange vorbereiten…“ Der Tonfall seiner Stimme verriet, dass er damit sich selbst meinte und ziemlich stolz auf seine Leistung war:

„… und andere springen mit ins Boot, wenn sich die Gelegenheit bietet. 600 Jahre lang lebst du nun schon und mehr als die Hälfte dieser Lebenszeit bist du Fürst gewesen – du weißt genauso gut wie ich, dass du Feinde hast! Unter deinen Kunden, den anderen Mitgliedern meiner persönlichen Speichellecker – sie sind überall! Und jetzt haben sie eine Seite gewählt! So lange hattest du das größte Gebiet, so lange bist du den Königen vor mir auf der Nase herumgetanzt wie ein dauernder, quälender Schatten – aber nie hat dich ernsthaft jemand versucht anzugreifen. Bis jetzt! Und diese Gelegenheit haben die besagten 100 dann auch gleich genutzt, um sich auf meine Seite zu schlagen…“ Er legte mehr Kraft in seinen Fuß…

„… überzeugt davon, dass ich der Mächtigere bin von uns beiden und dass ich derjenige sein werde, der dich nach 600 Jahren endlich tötet!“ Ri-Il spürte den Druck auf seinen Rippen…

„Du bist mächtig, Ri-Il, das will dir niemand streitig machen. Nein, im Gegenteil sogar – ich sehe dich als meinen einzigen Gegner an; ich erkenne deine Macht. Genau wie ich es tue, verlässt auch du dich nur auf dich selbst, weißt wie ich, dass die Bindung zu anderen Schwäche bedeutet. Aber du hast einen Fehler begangen, der dir heute zum Verhängnis geworden ist! Du hast deine Macht nicht stetig erneuert, sie nicht stetig durch Schrecken genährt – man hat nicht mehr genug Angst vor dir, Ri-Il, ansonsten hätten 100 hochrangige Dämonen sich nicht auf meine Seite geschlagen!“

 

„Ri-Il-samas Macht beruht nicht auf Angst!“

 

Die Augen Ri-Ils weiteten sich entgeistert, genau wie die von Kasra, als die Stimme des blutenden Darius‘ ihn unterbrach.

„Wir fürchten ihn nicht!“ Auch die mit dem Gesicht auf den Boden gepresste Mekare öffnete die Augen, als sie die unbeirrte Stimme des Kommandeurs hörte.

„Wir alle dienen Ri-Il-sama, weil wir ihn respektieren und ihn als unseren Fürsten anerkennen! Wir sind stolz, seinem Gebiet anzugehören und stolz würden wir für ihn in den Tod gehen!“ Tränen rannen aus den schwarzen Augen Mekares; es waren nicht nur Tränen des Schmerzes, sondern auch Tränen der Zustimmung.

„Aber nicht, weil wir ihn fürchten, sondern weil wir ihn ehren – wir empfinden tiefe Ehrfurcht vor ihm---“   

 

„Du hast deine Schweine wirklich gut dressiert, Ri-Il. Meine Hochachtung!“

 

Ein schwarzer, wie aus dem Nichts auftauchender Strahl, erfasste den bereits so verletzten Kommandeur, warf ihn zuerst, als hätte eine Schlange ihn erfasst, gegen die Decke und schleuderte ihn dann durch die Papierwand, womit er rücklinks die Treppe herunterstürzte, dabei einen anderen Dämon mitreißend, der sich beim Sturz das Genick brach und augenblicklich nichts anderes als Funken war.

Kasras spezielle Fähigkeit war mal wieder zum Einsatz gekommen; das Verbiegen und Krümmen der dämonischen Magie, die ihm auch den nicht gerade schmeichelhaften Namen „die Schlange“ eingebracht hatte, der allerdings nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Er mochte es nicht, mit einem Kriechtier verglichen zu werden - ganz egal, wie tödlich es sein konnte.

 

Für einen kurzen Augenblick hatte Mekare die Augen zugekniffen, weswegen sie nicht sah, wie Kasra Ri-Il plötzlich am Kragen emporzog, als dieser sich nach Darius umgedreht hatte, als er plötzlich seine Gedanken nicht mehr gehört hatte. Aber Mekare öffnete sie genau in dem Moment, als Kasra seine gespreizten Finger dort hinwarf, wo er eben noch seinen Fuß platziert hatte – und ein schwarzer Magiestrahl durchdrang Ri-Ils Brustkorb.

 

Zum ersten Mal hörten Mekare und der fast bewusstlose Darius Ri-Ils Schmerzensschrei.

 

 

„Huh?“

Bei Ankunft in dem Gebiet von Merrlius hatte Lycram eine kleine, nette, begrüßende Schneise der Verwüstung hinterlassen. Er war wütend gewesen; immerhin hatte er sich so viel Mühe gegeben, Ri-Il irgendeine Form der Bewunderung zu entlocken, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht der Einzige war, der Pläne schmieden konnte – und dann hatte Lycram so ein Randdetail – ja, er nannte das Randdetail! – vergessen. Alles zum Kotzen.

 

Und Merrlius und er vertrugen sich sowieso nicht gut. Da fielen wohl ein paar tote Hordenmitglieder kaum ins Gewicht; und wenn, dann war es ihm auch egal, sollte er doch kommen mit seiner ach so giftigen Horde. Giftig!? Pah! Schmierig waren die! Das war alles!

 

Nachdem seine blau-leuchtenden Fäden durch die warme Luft gesaust waren, wieder in Lycrams Fingerspitzen verschwanden und mit ihnen drei Dämonen, deren funkende Überreste an Lycram vorbeitänzelten und sich dann auflösten, drehte der Blauhaarige sich plötzlich verwundert herum. Er war noch am Rand des Gebietes, nicht sonderlich weit vorgedrungen. Natürlich hätte er sich direkt zu Merrlius teleportieren können, wie er es auch beim ersten Mal getan hatte, um es dann einfach schnell vom Tisch zu bekommen, aber er war zu wütend gewesen und wollte sich abreagieren.

Jetzt verschwand die Wut plötzlich, als Lycrams orangene Augen Richtung Westen wanderten.

Er hatte etwas gespürt. Nein.

Lycram runzelte die Stirn; nein, gespürt war falsch. Er hatte eher etwas… gehört.

Aber die kahle, steppenähnliche Landschaft lag öde vor und hinter ihm. Er hatte die mickrige Anzahl Wachdämonen ausgelöscht und war alleine. Die nächsten Dämonen würden sicherlich bald antanzen, aber sie waren noch weit weg – das war nicht das, was er gehört hatte.

 

Was war das gewesen?

 

Lycram mochte es nicht, aber als er sich wieder daran erinnerte, wie Ri-Il ihn förmlich damit aufgezogen hatte, dass Lycram so etwas Wichtiges – nein, Randdetail! – vergessen hatte, wandte er sich wieder herum, sich überlegend, ob er sich vielleicht doch lieber teleportieren sollte. Immerhin war Merrlius‘ Gebiet nicht gerade klein; es sollte wirklich dringend verkleinert werden… und zwar von ihm, ohja!

 

Aber dann blieb er plötzlich stehen. Denn als Lycram wieder an das letzte Gespräch mit Ri-Il zurückdachte, fiel ihm plötzlich etwas wie Schuppen von den Augen.

Er hatte ihn „Lycram“ genannt.

 

Mit förmlich peitschendem Zopf wirbelte Lycram herum und schrie wütend in den roten Himmel hinein:

„Dieser verdammte Bastard!“

 

 

Nur einen kurzen Moment hatte Kasra verwundert ausgesehen, als seine Attacke zwar durch Ri-Ils Oberkörper geschossen war, aber nicht das von ihm herbeigesehnte Loch hinterlassen hatte. Es schien so, als hätte die Attacke Ri-Il „nur“ durchsiebt, seinen Körper aber an sich heil gelassen - doch dann verschwand die Verwunderung, als er Ri-Ils Kopf mit seiner großen Faust packte und ihn mit aller Macht auf den Boden presste.

„Ist das irgendeine Spezialfähigkeit von dir, Ri-Il?!“, lachte Kasra voller boshafter Vorfreude, Ri-Ils Kopf nun förmlich in den Boden hineindrückend.

„Ich wusste, dass du mich gut unterhalten würdest! Und du enttäuscht meine Erwartungen nicht! Was für eine interessante Fähigkeit! Ich freue mich darauf, sie zu erforschen, sie auszukosten! Wir werden eine ganze Menge Spaß haben! Oho! Ist das Blut!? Haha, also bluten kann der große Ri-Il schon und das genauso gut wie andere!“ Laut erschallte sein Lachen. Es erfüllte nicht nur den fast völlig zerstörten Raum, sondern breitete sich auch auf das gesamte Anwesen aus, jagte den Schrecken in die Knochen der übriggebliebenen Frauen, Mädchen und Jungen und der ohnmächtigen Hordenmitglieder – es schien sogar bis an die Grenzen des Gebietes zu dringen – und darüber hinaus bebte es in Mekares Herzen wider, die wünschte, sie könnte so bewusstlos sein wie Darius es war, um dieses traurige Grauen nicht mitansehen und mitanhören zu müssen. Doch als sie abwendend die Augen geschlossen hatte, hatte der Fürst ihr Gesicht gepackt und sie zur Kamera gezerrt, um sie dazu zu zwingen, es mitanzusehen. Sehen wie Ri-Il auf dem Boden lag, die Hände nun mittels Kasras Magie aneinander gefesselt, mit immer mehr Blut, das sich unter seinem Oberkörper ausbreitete und die hellen Tatami-Matten rot färbte.

 

Ri-Il könnte sich wehren, dessen war sie sich sicher.

Aber er tat es nicht. Er befreite sich nicht.

Aus dem gleichen Grund, weshalb er sich nie wirklich zur Ruhe begab und sich immer nur an das nun zerstörte Fenster lehnte, um nicht zu schlafen, sondern nur kurz zu ruhen, während er trotzdem über sein Gebiet und dessen Einwohner wachte. Er war ein strenger Herrscher, mit festen Regeln, der auch bereit war, Opfer einzugehen für die Gesamtheit. Aber das tat er nicht für sich selbst; nicht aus Egoismus oder weil er es genoss, Macht zu haben.

Ri-Il tat es, weil er für sie verantwortlich war.

Deswegen ertrug er diese Schmerzen, diese Demütigung.

Für sie. Für sie alle. Für sein Gebiet.

 

Als Kasras Lachen endlich verklang, begann das wahre Grauen.

 

Immer noch spielte ein Lachen in seiner Stimme; er war zu freudig erregt, um das Lachen gänzlich zurückzuhalten:

„So, Ri-Il, spitz deine Ohren…“ Wieder beugte Kasra sich herunter, den Druck seiner Ri-Il packenden Hand immer weiter verstärkend, das Knie nun auf seinem Rücken, in dessen Wirbelsäule quetschend – aber Ri-Il stöhnte nicht, ließ sich keinen Schmerz anmerken, obwohl sich immer mehr Blut unter ihm sammelte. Die Zähne blieben aber fest zusammen gebissen. Er würde nicht schreien; er würde kein Leid offenbaren, obwohl er so lange keinen Schmerz mehr gespürt hatte und fast vergessen hatte, wie sich ein solcher Schmerz anfühlte. Nein, dieser eine Schmerzensschrei war bereits genug gewesen – mehr würde Kasra nicht aus ihm herausbekommen! Mehr würde er denen, die ihn hören konnten, nicht antun. Kasra konnte ihn foltern und demütigen, so viel er wollte - er würde seinen Schmerzen nicht nachgeben.

 

Wut, bodenlose Wut war daher das alles dominierende Gefühl, das in Ri-Ils Augen zu sehen war. Kein Schmerz. Keine Angst. Nur eine Wut, die sich ganz und vollkommen gegen die Person richtete, die sich so genießend zu ihm heruntergebeugt hatte.

 

„… ich werde dich mit in meine Stadt nehmen. Dort werde ich dich hinrichten, genau wie meine anderen Feinde vor dir. Ich werde dich nicht anders behandeln – ich werde allen Dämonen, die damit aufgewachsen sind, dass du immer da warst, beweisen, dass du nichts besonders bist. Ich werde ihnen und auch dir beweisen, dass du genauso blutest und schreist wie alle anderen – und genauso sterben wirst. Ganz egal, wie lange ich dafür brauchen werde! Im Gegenteil sogar! Ich hoffe, du wirst lange aushalten – und das wirst du, ich weiß es! Lange wirst du mich unterhalten können; mich und jeden meiner Dämonen, denn ich werde sie daran teilhaben lassen; die Öffentlichkeit soll sehen, wie du brichst! Und mit dir dein Gebiet!“

 

Da verschwand Ri-Ils Wut einen kurzen, kurzen Augenblick – um dann umso hasserfüllter zurückzukehren und seine Stimme war schneidender als jedes Schwert.

 

„Ihr hattet also niemals vor, irgendeinen Bewohner des Gebietes am Leben zu lassen, Hoheit?“ Finster lachte Kasra, als hätte Ri-Il einen Witz gemacht – einen überaus unterhaltsamen:

 

„Wo denkst du hin!? Die Schreie der 100 Frauen werden dein Abgesang sein, Ri-Il!“, zischte Kasra höhnisch:

Natürlich hatte ich niemals vor, sie wieder gehen zu lassen oder gar dein Gebiet und deine Hordenmitglieder zu verschonen! Sie sind doch ein Teil von dir, eine Verlängerung, ein Beweis deiner Macht – und ich werde all das auslöschen. Erst dann bist du tot. In meiner Welt wird nichts mehr von dir übrig bleiben! Dein Gebiet werde ich dem Erdboden gleichmachen; jedes hier lebende Wesen werde ich eigenhändig auseinandernehmen. Jedes Hordenmitglied, jede Frau. Sie sollen mit dir in Flammen aufgehen, es bereuen, sich dir jemals angeschlossen zu haben! Deine Ära, Ri-Il, wird heute, nach mehr als 600 Jahren, enden!“

 

Da traf Lycrams Faust den König der Dämonen mitten ins Gesicht.

 

 

Kälte und Dunkelheit.

Eine dünne Blutspur und Blasen, die zur Oberfläche hinaufstiegen. Zwei Dämonen, die verschlungen fielen und fielen – immer tiefer, immer tiefer.

Beide waren nicht länger bei Bewusstsein – sie sanken und sanken.

 

Zuerst waren es nur kleine Funken, die plötzlich um eines der drei Glöckchen herum auftauchten, dann wurden es mehr und mehr, die sich vereinten, um die beiden fallenden Dämonen herumwirbelten – wie ein Engel, der ihren Sturz in die Tiefe aufhielt, indem er die Arme nach ihnen ausstreckte und sie wärmend in diese schloss.

 

Wieder Luft bekommend und geweckt von dieser Wärme der Geborgenheit, die auf einen Schlag sämtliches an ihm zehrendes Heimweh verdrängte, öffnete Youma die Augen, Nocturn immer noch gegen sich drückend, mitten im Wasser schwebend.

 

Tränen stiegen in seine Augen, als er kurz das lächelnde Gesicht Lights zu sehen glaubte – aber dann verschwand es und als Youma auf allen Vieren das Wasser aushustete, nachdem er am Strand erwacht war, war er sich nicht sicher, ob er sich das nicht eingebildet, es geträumt hatte… eingebildet, weil er es sich gewünscht hatte. Der Halbdämon kniete sich hin, nicht auf die Wellen achtend, die um seine Knie herum ihrem sachten Gang nachgingen und sich die drei Glöckchen ansehend, die beim Sturz ins Wasser herausgerutscht waren.

 

Sie sahen… normal aus. Unverändert. Nichts deutete an, dass eines von ihnen sie gerade gerettet hatte – aber… warte, seine Schmerzen. Sie waren weg; Youma konnte frei atmen und als er seinen Oberkörper abtastete, spürte er deutlich, dass seine Rippen verheilt waren. Wie… wie war das möglich?

 

Aber während er sich aufgeregt abtastete, bemerkte er noch etwas anderes.

Er war alleine.

 

Die aufkommende Sorge riss Youma sofort auf die Füße; eine Tat, die zu schnell für seinen Körper gewesen war. Ihm wurde schwindelig; das Gleichgewicht drohte ihm zu entfliehen, aber er konnte sich noch im letzten Moment zusammenreißen und seinen Körper dazu bringen, sich umzusehen… doch nein, nirgends war auch nur die kleinste Spur von Nocturn.

 

„Nocturn?!“ Angstvoll wirbelte Youma zum Meer herum – aber das… das konnte doch nicht sein, er war doch nicht immer noch…!?

 

Absolut entschlossen, wieder ins Meer zu tauchen, wollte Youma gerade durch die Wellen waten, als ihm etwas aus den Augenwinkeln heraus auffiel – Schleifspuren. Sie waren zwar schon fast von den Wellen verschluckt worden, aber man konnte sie noch erkennen.

Und als er den Spuren mit den Augen folgte, sah er die halb vom Sand verborgene Hengdi.

Aber keine Spur von Nocturn.   

Faire de Funambule - Opus III

[RIGHT][RIGHT]Opus Magnum[/RIGHT][/RIGHT]

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[RIGHT][RIGHT]Faire de Funambule - Opus III[/RIGHT][/RIGHT]

 

 

Der Schlag Lycrams traf ins Ziel – und für eine Sekunde war es, als wäre die Zeit eingefroren.

 

Geschockt starrte Ri-Il den über ihm aufgetauchten Lycram an, genau wie der sich aufrappelnde Darius; und auch der König selbst sah überrascht aus, als er hinter Ri-Ils ehemaligem Schreibtisch und kurz vor den leuchtenden Bildschirmen landete, wo auch Mekare ungläubig die Augen aufgerissen hatte.

„Was machst du denn hier, Bengel?“ Kasras Stimme und sein Gesichtsausdruck verdeutlichten seine Unzufriedenheit; nicht wegen der Faust, die ihn getroffen hatte, sondern wegen der ungebetenen Störung seines so lang herbeigesehnten Vergnügens. Er war einem Kampf zwar nie abgeneigt, aber er mochte Lycram nicht. Was tat er hier überhaupt und warum sah er so wütend aus? Naja, konnte eigentlich egal sein, dachte Kasra und fand sein Grinsen wieder – das war eindeutig eine Widerwehr gewesen; es war also Zeit für ein wenig Musik!

 

Da der Fürst, der für Mekare zuständig war und den anderen Bescheid geben sollte, dass sie mit der Tortur beginnen sollten, aber von Lycrams plötzlichem Auftauchen genauso überrascht war wie alle anderen, schaltete er nicht sofort und Kasra sah sich gezwungen, das selbst zu übernehmen – er hatte sich gerade herumdrehen wollen, als die blauen Fäden Lycrams schon auf ihn zuschnellten, die er allerdings mit einer fast schon beiläufigen Hand zerschnitt.

„Pah! Mit solch billigen Tricks kommst du bei mir nicht weit, Narr!“

 

Aber jemand anderes kam mit „billigen“ Tricks sehr weit.

 

Lycram hatte Ri-Il die Zeit gegeben, die er gebraucht hatte, um sich aufzurichten; nur ein, zwei Sekunden waren notwendig gewesen, um Ri-Il sämtliche Schmerzen beiseite drängen zu lassen und nun stand er mit beiden Füßen wieder fest auf dem Boden – und der Tropfen Blut, der sich von seinem Oberkörper löste und in diesem Moment auf den Boden fiel, sollte der letzte sein.

 

Darius spürte, wie die Tränen der Freude in ihm aufstiegen, zusammen mit neugewonnener Kraft und Zuversicht; ja, auch Lycram, der eben noch ernster denn je ausgesehen hatte, konnte sich nicht gegen das ehrlich erfreute Lächeln auf seinem Gesicht wehren, als er Ri-Il neben sich stehen sah.  

So wollte er Ri-Il sehen. So und nicht anders.

 

„Majestät.“ Unablässig starrte Ri-Il den zuerst ziemlich verdutzt dreinblickenden, nun aber wieder grinsenden König an; die immer noch brennende Wut in den Augen Ri-Ils entfachte die Vorfreude auf einen spannenden Kampf in ihm – aber es sollte anders kommen.

 

„Ihr habt mich nun belehrt und ich denke, ich werde viel von Eurer Lektion lernen – daher lasst mich nun Euch etwas beibringen.“ Kasra lachte belustigt; für einen Augenblick schien er seine geplante Tortur ganz vergessen zu haben:

„Ich bin ganz Ohr, Ri-Il!“ Aber Ri-Il stimmte nicht in die Heiterkeit seines Königs ein; ihm war absolut nicht nach Spaßen zumute – und auch Kasra würde das Grinsen schnell vergehen.

Alter… Majestät, ist nicht gleichgesetzt mit Schwäche.“ Es war sofort dahin, aber Kasra war für einen Augenblick zu versteinert, um Ri-Il am Fortfahren zu hindern – war das Zufall oder woher…?!

„Lange zu leben bedeutet Erfahrung. Es bedeutet, Zeit zu haben, um zu lernen, zu verstehen.“ Erstaunt sahen die Anwesenden, wie ein orange leuchtender Ring sich unter Ri-Il ausbreitete, ähnlich wie das sachte Kräuseln auf einer Wasseroberfläche, das sich nun auch ausbreitete mit den spitzen Schnabelschuhen Ri-Ils als Zentrum.

„Und in meinen 689 Lebensjahren habe ich natürlich gelernt, wie man einen Teleportationsbannkreis neutralisiert, Hoheit!“

 

Ein lautes Klirren und Knacken war zu hören, wie das Zerbersten von Glas; doch trotz diesem Getöse war Kasras Lachen immer noch zu hören, der Ri-Ils Aktionen falsch deutete – aber das Lachen blieb ihm schnell im Halse stecken.

 

Ri-Il bewies mal wieder, dass er nicht umsonst den Titel des schnellsten Dämons der Dämonenwelt trug – nur Lycram hatte bemerkt, wie Ri-Il sich bewegte und musste augenblicklich grinsen; erfreut, fast schon bejubelnd. Aber auch er war überrascht über das, was Ri-Il tat. Ri-Il war direkt vor Kasra aufgetaucht, dessen Lachen immer noch im Raum nachhallte, hatte seine Hand auf dessen Brustkorb platziert und sagte klar und deutlich:

„Hiermit setze ich dich vor die Tür, Kasra!“

 

Und tatsächlich verschwand Kasra auch. Nicht freiwillig, sondern von Ri-Il wegteleportiert. Aber damit nicht genug, denn natürlich war Ri-Il klar, dass Kasra sich einfach zurück teleportieren konnte. Aber er hatte genug königlichen Besuch bekommen.

Mit seiner berühmt berüchtigten Schnelligkeit ließ Ri-Il sein linkes Bein auf eine der Tatami-Matten herniedersausen, wodurch diese sich beiseite klappte und plötzlich – die Anwesenden hatten keine Ahnung, wo das Teil plötzlich herkam – sprang Ri-Il eine längliche, um die 40 Zentimeter lange Kapsel in die Hand, die gefüllt zu sein schien mit pink-leuchtender Magie.

Ein magischer Stoß ging durch die Anwesenden und immer noch unwissend darüber, was gerade geschah, sahen sie, dass ein Timer auf der gläsernen Oberfläche der Kapsel aufgetaucht war – aber von Ri-Il keine Spur.

 

„Was zur Hölle…“

 

Dann sahen Darius und Lycram das, was Ri-Il bereits in den Gedanken seiner ehemaligen Kunden gehört hatte. Panische, gequälte Schreie voller Schmerzen und Pein ließen den Raum förmlich vibrieren und dröhnten in den Ohren der beiden anwesenden Dämonen nach.

100 Frauen, deren Seele förmlich aus dem Leib gerissen wurde.

Dann Stille. Alle Bildschirme hatten sich rot gefärbt.

 

Im gleichen Augenblick, als der Timer auf der eigenartigen, über Ri-Ils Schreibtisch schwebenden Kapsel anzeigte, dass die ersten 10 Sekunden vergangen waren, kehrte Ri-Il zurück.

Erleichtert jauchzte Darius förmlich auf; denn Ri-Il trug die unbekleidete Mekare im Arm.

Völlig aufgelöst und erst jetzt wirklich begreifend, wo sie war, warf sie sich erleichtert um Ri-Ils Hals, der trotz allem Gedankenlesen kurz über ihre Gefühlsreaktion überrascht schien – ihr dann aber beruhigend den Kopf tätschelte, während Darius sich respektvoll die Augen bedeckte angesichts von Mekares Nacktheit – Lycram hatte einfach nur die Arme verschränkt und wartete ungeduldig auf Antworten.

 

„Ri-Il! Ri-Il! Ich bin so froh… so froh, dass es dir gut geht… so froh! Verzeih, dass wir dich in so eine… in so eine…“ Dann schlug Mekare die Augen auf und sah die blutroten Bildschirme hinter Ri-Il und die Erkenntnis, dass sie die einzige der 100 Frauen war, die Ri-Il hatte retten können, verschlug ihr die Sprache.

 

„So, Ri-Il – ich denke, du bist uns eine verdammte Erklärung schuldig!“   

 

 

Youma war ratlos. Verwirrt drehte er sich herum, als würde Nocturn plötzlich wieder auftauchen, aber das tat er nicht. Youma war gänzlich alleine an diesem Strand, die Hengdi an sich gedrückt, die ihm natürlich auch keinen Anhaltspunkt gab.

Die Wahrscheinlichkeit, dass er alleine irgendwo hingegangen war, war unrealistisch, dachte Youma, der, weil er keinen konkreten Plan hatte, anfing über die Steine zu klettern, um den Weg nach Osten einzuschlagen. Es hätte genauso gut Westen sein können; Youma hatte einfach das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen, egal in welche Richtung. Er konnte nicht stehen bleiben. Er konnte es einfach nicht, dafür war er viel zu nervös.

 

Er machte sich nicht nur Sorgen um Nocturns Aufenthaltsort, sondern besonders um seinen Zustand. Seinen seelischen Zustand.

Nur einen kurzen Augenblick lang hatte Youma das schreckliche Bild von Nathiel gesehen; wie sie gleich neben der Tür, als hätte sie nur auf Nocturn gewartet, mit dem Torso und dem Rumpf von Raria gesessen hatte und… Youma spürte, dass ihm schlecht wurde.

 

Hatte er schnell genug gehandelt? Hatte er verhindern können, dass Nocturn das sah? Der Tod Rarias war an sich schon schlimm genug… ihren toten Körper so geschändet zu sehen… Youma hoffte inständig, dass er schnell genug gehandelt hatte. Hoffentlich. Hoffentlich.

Er durfte keine Zeit verlieren. Egal ob Nocturn etwas gesehen hatte oder nicht, er war in einem Zustand, in dem er Trost und Beistand brauchte – und vielleicht auch noch in Gefahr. Vielleicht sogar in größerer Gefahr, als er es sich vorstellen konnte…

War er vielleicht bei Kasra?! In Lerenien-Sei, im Schloss – in seinen Fängen?!

Aber was wenn nicht? Wenn Nocturn woanders war? Kehrte Youma einmal ins Schloss zurück, dann kam er von dort nicht mehr weg… Kasra würde ihn nicht gehen lassen. Es war sowieso schon ein Wunder, dass Youma noch so unbehelligt geblieben war.

Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste sich auf göttlichen Beistand verlassen.

 

Und als hätte dieser seine Gedanken gehört, hörte Youma plötzlich ein Aufstöhnen; sichtbar wurde der ehemalige Dämonenherrscher aber nicht.

„Youma-kun, bitte nicht!“ Seine Stimme klang theatralisch, aber auch aufrichtig besorgt.

„Frage mich nicht! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nur ein Zuschauer bin und dass ich mich nicht einmische…“

„Aber Ihr wisst, wo Nocturn sich befindet?“ Der unsichtbare Angesprochene schwieg und es dauerte lange, bevor er antwortete:

„Ja.“ Seine Antwort klang sehr ernst, aber obwohl sie es tat, setzte er mit einem Thema fort, für welches Youma in diesem Moment absolut kein Ohr hatte:

„Aber nur weil er bei eurem Probekampf wirklich Rückgrat gezeigt hat und ich seine Faust in Kasras schmieriger Visage gefeiert habe, bedeutet das nicht, dass er in meiner Gunst gestiegen ist-“ Youmas wütende Stimme unterbrach ihn:

„Eure sogenannte „Gunst“ könnte mir nicht egaler sein!“ Der namenlose Dämonenherrscher blickte angesichts von Youmas Wut ein wenig verdattert drein, immerhin war ein solcher Gefühlsausbruch eine kleine Seltenheit von Youma – aber er war noch nicht zu einem Ende gekommen:

„Ich liebe ihn.“ Nicht nur, dass diese Worte sehr ernst ausgesprochen waren; Youma wurde auch noch rot – alles keine Mischung, die seinem Gönner gefallen wollte.

„Sollte das nicht für Euch am Wichtigsten sein?“ Was für ein gemeines Argument.

„Dein Wohlbefinden ist mir am Wichtigsten.“ Und bevor Youma erwidern konnte, dass die zwei Dinge miteinander verknüpft waren, tauchte der namenlose Dämonenherrscher unmittelbar vor Youma auf, was diesen zum Stillstand, aber nicht ins Wanken brachte.

„Er bedeutet Unheil für dich, Youma-kun.“ Youmas Augen verengten sich und die wohbekannte und vom Dämonenherrscher so geliebte Skepsis, die er von seinem Vater geerbt hatte, tauchte in seinen schwarzen Augen auf. Natürlich wusste Youma selbst gut genug, dass er in Gefahr schwebte und dass seine Liebe zu Nocturn dieser Gefahr einen riesigen Nährboden gab, aber…er konnte sich kein Bild davon machen, wie riesig dieser Nährboden eigentlich war. Er hatte die Blicke Kasras vergessen, die ihn aufgesogen hatten… die Augen, die vor Verlangen schrien. Aber er hatte es nicht. Er hatte es nicht.

 

„Ich weiß, was die Konsequenzen meines Handelns sind – aber ich kann Nocturn nicht im Stich lassen. Hättet Ihr meinen Vater im Stich lassen können?“ Diese Frage ließ den namenlosen Dämonenherrscher stutzen. Es war selten – vielleicht war es sogar das einzige Mal – dass Youma die Liebesbeziehung, die sein Vater und der namenlose Dämonenherrscher geführt hatten, ansprach. Er wusste natürlich, warum: Youma wollte nicht akzeptieren, dass es in dem Leben seines Vaters mehr als seine Mutter gegeben hatte, ganz gleich, ob diese die Beziehung, die Luzifer und sein Gebieter hatten, gebilligt hatte oder nicht. Youma billigte sie nicht. In seinen Augen war sie der Grund dafür, dass er nicht die Chance erhalten hatte, ein normales Familienleben mit seinem Vater zu haben – und… zugegeben, das war wahr. Dennoch tat es dem namenlosen Dämonenherrscher manchmal weh zu hören, in was für einem kalten Tonfall Youma von seinem doch so geliebten Luzifer sprach, wo er doch sein Vater gewesen war und trotz der Umstände immer das Beste für seine Kinder gewollt hatte.

Vielleicht war das der Grund, weshalb der namenlose Dämonenherrscher unwillkürlich lächeln musste, als Youma dieses Argument brachte.

 

„Das Beste ist, wenn du dich zu Ri-Il aufmachst“, ergab er sich dann, mit einem wehmütigen Lächeln.

„Zu Ri-Il? Ist Nocturn etwa bei Ri-Il?“ Der ehemalige Dämonenherrscher schüttelte den Kopf und sein Lächeln wich:

„Aber es ist das Klügste, sich jetzt dahin aufzumachen. Du wirst dann sehen warum.“ Wieder zeigte sich Skepsis in Youmas Augen:

„Bringt mich das zu Nocturn?“  

„Ich bin allmächtig. Aber kein Hellseher, Youma-kun. Ich sage nur, was ich jetzt getan hätte, wäre ich an deiner Stelle und eben nicht… naja, mit meinen Fähigkeiten ausgestattet.“

„Kann ich Euch vertrauen?“ Ein Grinsen tauchte auf dem Gesicht des namenlosen Dämons auf, ehe er sich auflöste:

„Diese Frage kannst du wohl selbst am besten beantworten.“

 

 

Akai, Karou und Suren, der Hauptkommandeur Kasras, waren alle mit derselben Frage beschäftigt: was ging in Kasras Kopf vor? Das schmale Lächeln auf seinem Gesicht wirkte angestrengt und nicht wirklich erfreut, wie er wie sie vor der pink leuchtenden Magiebarriere stand und diese anstarrte, als würde sie sich seinem Blick ergeben. Aber wäre er wütend, dann hätte es einer von ihnen oder deren Hordenmitglieder bereits zu spüren bekommen und bis jetzt tat er nichts, außer in sich hinein zu grübeln und dabei bedrohlich mit den Fingern auf seinen verschränkten Armen zu trommeln – und natürlich 99 Frauen zu Tode foltern zu lassen.

„Ich hoffe, das hast du aufgenommen, Karou?“ Karou nickte ergeben, antwortete aber nicht, stattdessen wandte sich Suren an seinen König. Ein überaus treuer, ebenfalls sadistisch veranlagter Dämon, der der festen Überzeugung war, Kasra wäre das Beste, was der Dämonenwelt hätte geschehen können.

„Meine Hoheit, in der Zwischenzeit könnten wir ja Lycrams Gebiet einen Besuch abstatten?“ Das Lächeln auf Kasras Gesicht verschwand, aber er wählte, seinen Kommandeur mit Ignoranz zu strafen, indem er sich wieder Karou zuwandte:

„Hast du jetzt endlich herausgefunden, wie lange diese Barriere uns den Weg versperren wird?“ Karous Finger flitzten weiterhin über die Tastatur seines kleinen, handlichen Computers, während er antwortete:

„Knapp 24 Stunden, Majestät.“  

„Wie viel ist das in Flammen?“

„Fünfeinhalb.“ Kasra überlegte kurz, ehe er antwortete:

„Ist die Barriere aufbrechbar?“

„Sicherlich, aber das würde mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ri-Il bedient sich Wächtermagie.“

„Was für eine Schande für einen Dämon!“, rief Suren empört und Akai beeilte sich, dem natürlich zuzustimmen. Aber Kasra verblieb schweigend; erst nach einer Weile schlussfolgerte er:

„Gut, dann soll er doch da drinnen schmoren und auf sein Ende warten.“ Er wandte sich dann endlich von der Barriere ab und richtete sich an seinen Kommandeur und Akai, Suren bereits in freudiger Erwartung, in Lycrams Gebiet entsendet zu werden, aber Kasra ließ diese Freude verpuffen.

„Um Lycram kümmere ich mich, sobald Ri-Il sich in Lerenien-Sei befindet.“

„Aber wir haben doch jetzt genug Zeit und ich hätte ja…“ Der Blick Kasras ließ seinen Kommandeur nicht nur sofort schweigen, sondern auch kleiner werden – so klein, dass man meinen konnte, er wollte eins werden mit der Erde unter seinen Füßen.

„Du bleibst hier und bewachst zusammen mit Akai die Gebietsgrenze. Ich will natürlich sofort informiert werden, wenn sich etwas tut.“ Obwohl der Kommandeur sofort ergeben nickte, verriet sein Gesicht, dass er sich nicht gerade darauf freute, 24 Stunden lang nichts zu tun; Akai dagegen war sehr froh über diese Aufgabenverteilung.

 

 

„Ich will alle Daten, die du zu Lycram finden kannst. Ich wusste von Anfang an, dass seine Ernennung zum Fürsten ein Fehler war!“, fluchte Kasra, als er und Karou schnellen Schrittes über die Brücke gingen, die Lerenien-Sei mit dem Schloss verband, denn auch der König selbst konnte sich nicht in sein Schloss hineinteleportieren.

„Als ob es so besonders wäre, einen Hikari zu töten!“, fuhr er fort und bemerkte zum Glück nicht, wie Karou mit der Stirn runzelte; immerhin sprachen sie von einem Hikari wie Shaginai, der eine gesamte Dämonenrasse akribisch ausgerottet hatte. Aber das hatte Kasra wohl vergessen und es kam ihm auch nicht in den Sinn, als die beiden gehörnten Dämonen an dem Bildnis von Menuét vorbeigingen, die immerhin zu jener Rasse gehört hatte.

„So weit ich informiert bin, meine Hoheit… hat Lycram eine Familie.“ Er musste nicht mehr sagen; das war schon genug, um Kasras Wut spürbar zu senken. Sofort tauchte ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht des Königs auf:

„Eine Familie sagst du? Mit Kindern?“

„Ein Sohn und eine Tochter. Es sind die Kinder seines Halbbruders.“

„Aaah, das klingt gut. Darauf freue ich mich.“

 

Das Schloss von Lerenien-Sei war bis auf das Dienstpersonal leer. Niemand hielt sich hier länger auf als notwendig. Nach den Konferenzen eilte der Sprachführer immer schnell zurück in sein Gebiet, froh, es heil überstanden zu haben; vielleicht machte er vorher noch einen Abstecher in die berühmte Bar von Lerenien-Sei, aber das war das höchste der Gefühle. Kein Dämon kreuzte daher ihren Weg.  

 

Eigentlich wollte Karou es Kasra gar nicht mitteilen, aber er musste. Er wusste, es führte kein Weg daran vorbei; dennoch wartete er, bis sie den Schacht erreichten, der alle Zirkel miteinander verband.  

„Nathiel-san wartet im dritten Zirkel auf Euch.“ Kasra warf ihm von der Seite her ein grimmiges Lächeln zu; scheinbar hatte er gespürt, dass Karou mit sich selbst gerungen hatte, es ihm mitzuteilen.

„Ah, keine Sorge, Karou – das eine Mal hat mir gereicht! Ich werde dir deine kleine Nutte schon nicht entreißen.“ War das der Moment, wo Karou sich bei ihm bedanken musste?

 

„Wie ich bereits sagte…“, begann Kasra, die Finger ineinander faltend auf der Stelle schwebend, sich noch einmal nach Karou umdrehend, ehe sie in verschiedene Richtungen flogen:

„Ich will nur ein kleines Gespräch mit ihr führen, danach schicke ich sie wieder zu dir!“ Dann stieg er nach oben, während Karou ihm nachsah, ehe er sich in den untersten Zirkel begab. Ihm war, als wäre Kasra schneller als üblich nach oben gestiegen… als würde er sich auf etwas freuen.

 

Und das tat er tatsächlich. Er hatte noch 5 Flammen, mehr als genug Zeit, um sich seinem persönlichen Vergnügen zu widmen. Ah, nein, das war falsch formuliert.

„So, Nathiel…“ Diese Worte weckten die blutverschmierte junge Frau aus ihrem Trance-ähnlichen Zustand, in dem sie sich befunden hatte, nachdem sie nach Lerenien-Sei zurückgekehrt war. Jetzt, als sie die Stimme ihres Herrschers hörte, schreckte sie aber auf und verneigte sich augenblicklich tief, was einen guten Eindruck bei Kasra hinterließ. Er wunderte sich natürlich nicht über das viele Blut oder ihren metallischen Geruch – er wusste immerhin, woher es stammte und wem es gehörte.

 

„…jetzt erzählst du mir alles, was du von Nocturn weißt.“  

 

…die richtige Formulierung war, dass er doch Youmas Willkommensgeschenk vorbereiten musste!

 

 

Dieser ahnte eine Menge Unheil, aber das, was Kasra momentan plante, das ahnte er nicht, immerhin hatte er selbst noch nicht gänzlich erkannt, dass Nathiel der Schlüssel war… wieder einmal war Kasra ihm einen Schritt voraus. Dieser hatte aber auch gesehen, wie Nathiel sich plötzlich, nachdem Kasras Wut über Rarias… Botschaft abgeflaut war, in das Blut ihres Zwillings geworfen und ihm Dinge offenbart hatte, die für Kasra unglaublich interessant waren. Mehr als interessant: man konnte sie eher… inspirierend nennen.

 

Nein, Youma wusste nichts von diesen Dingen. Er befand sich vor dem Gebiet Ri-Ils, verwundert dort gelandet, nachdem er bemerkt hatte, dass er sich nicht direkt in dessen Gebiet teleportieren konnte. Kein Wunder, denn Youma erkannte die Wächtermagie natürlich sofort und wusste somit, dass es für ihn kein Eindringen gab - außer die Person, die sie errichtet hatte, brachte ihn persönlich hinein.

Was war hier nur geschehen? Warum war ein Teil von Kasras Horde anwesend und hatte das Gebiet umstellt? Und… war das nicht auch Akais Horde?

Was ging hier vor sich – und viel wichtiger, warum hatte sein Gönner gesagt, er solle hierhin kommen, um schlussendlich zu Nocturn zu finden, wenn er nicht einmal in das eigentliche Gebiet von Ri-Il dringen konnte?

 

 

Innerhalb der beschützenden, pinken Barriere hatte Ri-Il Darius, Mekare und Lycram gerade die Lage geschildert, die Arme vor seiner Brust verschränkt, gar nicht darauf achtend, dass die drei anderen Dämonen ihn absolut ungläubig anstarrten, seiner Erklärung trotz dem Ernst der Lage nur mit halbem Ohr folgend, was Ri-Il nun nicht mehr unkommentiert ließ:

Ja, meine Haare sind temporär zu ihrer natürlichen Haarfarbe zurückgekehrt. Noch irgendwelche Fragen?“

„Warum trägst du deine Haare nicht öfter so? Das sieht gut aus!“, fragte Mekare, begeistert von Ri-Ils langen, leicht gekräuselten schwarzen Haare. Ri-Il konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen; Mekare hatte das Lächeln schnell wieder gefunden, nachdem Darius losgestürmt war und ihr einen Kimono zum Überziehen besorgt hatte – dass dieser blutig geworden war von Darius Wunden, hatte Mekare nicht gestört. Dankend hatte sie ihn angenommen und war sogar ein wenig errötet.  

„Danke, Mekare-chan, aber ich meinte eher strategische Fragen.“ Lycram, der nicht zugeben wollte, dass er genau wie die anderen beiden von Ri-Ils ungewohntem Anblick überrascht war, schoss sofort hervor:

„Ja und ob! Da wäre zum Beispiel die Frage, warum zur Hölle du keine Magieschellen mehr trägst!“ Zugeben; eigentlich wollte Lycram viel lieber wissen, warum Ri-Ils Haare sich plötzlich mitten im Gespräch verändert hatten, aber diese Frage zu stellen war ihm zu peinlich – und im Gegensatz zu Mekare glaubte Lycram langsam zu dem Schluss zu kommen, dass Ri-Il schwarze Haare nicht standen. Obwohl er Ri-Il mit seinen schwarzen Haaren kennengelernt hatte, hatte er fast vergessen, dass schwarz seine natürliche Haarfarbe war und nicht orange… ohnehin klärte das ja nun einmal auch nicht, warum sie jetzt nicht nur plötzlich schwarz geworden waren, sondern warum auch die Frisur sich verändert hatte… Ri-Il und seine Haare… mal flogen sie, mal änderten sie die Farbe. Egal!

 

„Ich habe sie in dem Moment aufgebrochen, als du Kasra angegriffen hast – wie ich das getan habe, bleibt mein Geheimnis, Lycilein!“

„Was!? Warum fragst du verdammter Arsch denn erst nach Fragen, wenn du sie sowieso nicht beantworten wirst?!“ Für den Moment begnügte Ri-Il sich damit, Lycram entschuldigend anzugrinsen, denn er wandte sich Darius zu.

„Darius, ich muss dir meine Hochachtung aussprechen. Du bist der beste Kommandeur, den sich ein Fürst wünschen kann.“ Darius überrumpelte dieses plötzliche Lob offenbar: er lief hochrot an, was unter dem ganzen Blut in seinem Gesicht kaum noch zu sehen war. Dennoch verneigte er sich tief vor seinem stolz lächelnden Fürsten:

„Und ich bin stolz, Euch zu dienen, Ri-Il-sama! Ich warte auf Eure Befehle!“ Ri-Ils so charakterliches Kichern war zu hören, was die drei anderen mit Erleichterung aufnahmen, als bräuchten sie eine Absicherung, dass alles normal war, obwohl so gar nichts mehr normal war.

 

„Darius, mein erster Befehl ist es, dass du an dich denkst und dich verarzten lässt.“ Da übernahm Mekare, als wäre es ein Befehl an sie gewesen, obwohl Ri-Il sie eigentlich gar nicht gemeint hatte. Dennoch legte sie ihren Arm um den absolut perplex dreinsehenden Darius und half ihm die Treppen herunter, während sie ihn für seinen Mut lobte – und auch wenn sein Gesicht für die Übriggebliebenen nicht mehr sichtbar war, konnte man die Röte förmlich aus seinen Worten heraushören.

 

Das Schmunzeln schwand, denn Ri-Il wusste, dass es noch zu früh war, um gut gelaunt zu lächeln. Es gab jetzt viele Dinge, die es zu klären galt; er spürte Youmas Aura vor dem Magiebannkreis und hatte auch vor, ihn gleich zu holen, aber erst einmal wandte er sich Lycram zu, der die Hände in die Hüfte gestemmt hatte und ihn ungeduldig ansah – und wieder huschte ein Blick zu seinen Haaren und wieder unterdrückte er krampfhaft einen Kommentar.

„Am besten wäre es, wenn du Azzazello, Rime und die Kinder hierher bringst.“ Er musste seine Gedanken nicht lesen; Lycrams Gesicht sagte ihm deutlich, dass er die Gefahr, in die er sich selbst und seine Familie durch den Faustschlag gebracht hatte, bis jetzt noch gar nicht bedacht hatte. Er war einfach zu Ri-Il gestürmt, hatte sich direkt zu ihm teleportiert, als er Kasras Aura gespürt hatte… ohne Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen. Jetzt holten sie ihn ein; nicht die Sorge um sich selbst, sondern um seine Familie – aber Lycram ließ sich nicht von seiner Sorge mitreißen. Stattdessen wurde er ernst:

„Ich werde sie sofort holen!“

„Eine Sache noch – erlaube mir einen kurzen Augenblick Egoismus.“

„Huh---?“

 

Mehr konnte Lycram schon nicht mehr sagen; denn Ri-Ils Lippen legten sich auf seine und brachten den sonst immer so lauten Dämonen zum Schweigen.

 

Zuerst geschockt über diese plötzliche und unerwartete Aktion Ri-Ils, weiteten sich Lycrams Augen – aber dann verschwand seine überraschte Widerwehr und mit einem innerlichen Fluchen, welches nur seine Freude vertuschen sollte, schloss er seine Augen und legte die Arme um Ri-Ils Schultern, um ihn noch näher an sich heranzuziehen – erleichtert und glücklich darüber, dass Ri-Il am Leben war.

 

Und in diesem Moment, als würde sich Ri-Ils Magie erneuern, färbten sich seine Haare wieder orange und mit einem beschwingten Wippen kehrten die fliegenden Zöpfe zurück.

 

„Danke, Lycram, ohne dich wäre ich…“

„Ach, halt einfach die Klappe… “Egoismus“, pah!“

 

 

Die Informationen Nathiels hatten Kasra mehr als befriedigt. Er hatte das Gespräch mit großen Erwartungen begonnen, aber nicht geglaubt, dass es so profitierend sein würde, mit Nathiel zu reden. Er hatte es aufgegeben, das Grinsen zu unterdrücken – ah, warum war Youma noch nicht wieder da! Aber nein, er musste sich gedulden, ein wenig Zeit brauchte er ja auch noch… aber oh, wie er sich auf sein Gesicht freute…

 

Kasra sprang die letzten Stufen, die zu den Zellen führten, regelrecht herunter, seine Aufregung kaum noch unterdrückend. Was war sein „Sohn“ doch für ein unglaubliches Geschenk – so unerwartet sinnreich und unterhaltend!

 

Mit einem Faustschlag aktivierte Kasra freudig die für einen Dämon viel zu grelle Beleuchtung der Zelle und genau wie der grinsende König es erhofft hatte – der mitten auf dem schwarzen Boden liegende Nocturn begann, sich zu regen. Obwohl er Sonnenlicht gewohnt sein müsste, kniff er die Augen wieder zu, nachdem er sie kurz stöhnend geöffnet hatte – aber dann musste er sie unweigerlich aufreißen, denn er erkannte, wo er war.

Er erkannte die Person, die breit grinsend in die Zelle hereingekommen war.

 

„Ich hoffe, du hast gut geschlafen, mein Sohn.“

                                         

Und dann konnte Kasra sein Lachen nicht mehr zurückhalten.

Faire de Funambule - Opus IV

[RIGHT][RIGHT]Opus Magnum[/RIGHT][/RIGHT]

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[RIGHT][RIGHT]Faire de Funambule - Opus IV[/RIGHT][/RIGHT]

 

 

Nocturn schrie. Er war noch nicht aus seinem Traum erwacht; der Traum ließ ihn nicht los, hielt ihn gefangen. Ihre Hände. Ihre spitzen, in seine Haut hineinbohrenden Fingernägel – sie klammerten sich an ihn, zerrten an seiner Haut, rissen ihn tiefer in die Dunkelheit.

Kein Schrei half ihm.

Sein Ersuch um Hilfe verpuffte wie kleine Blasen, die nach oben stiegen, während er immer weiter in die Tiefe hinabgezogen wurde.

 

„Nocturn, es ist alles gut.“

 

Es war mitten in der Nacht. Sein Schrei hatte Raria aus ihrem eigenen Schlaf geweckt. Sie hatte sich nicht einmal einen Morgenmantel übergeworfen, war so schnell wie möglich gekommen, um sich zu ihm zu setzen, seine zitternde Hand zu nehmen – die er aber aus ihrem Griff losriss, als er, von einer plötzlichen Panikattacke zusammenzuckend, die Decke laut und schnell atmend an sich heran zog und sich so weit wie möglich von ihr entfernte, in die hinterste Ecke seines Bettes, als würde die Wand ihm Schutz geben vor einem unsichtbaren Feind.  

 

„Nocturn, du brauchst keine Angst zu haben“, begann Raria von Neuem, ohne sich von Nocturns abweisender, nein, eher abwehrender Haltung entmutigen zu lassen. Sie tat eher so, als würde sie es nicht bemerken; es war kein Mitleid in ihre Augen getreten. Raria hatte ihn nur kurz ernst angesehen, dann lächelte sie das in sich kauernde und zitternde Bündel Elend wieder an.  

„Es ist alles gut“, wiederholte sie zwar ihre Worte, aber ihre Taten nicht; sie versuchte nicht noch einmal, ihn zu berühren. Ihr Körper konnte ihn nicht erreichen, obwohl er nur einen knappen Meter von ihr entfernt die Beine unter der Decke hochgezogen hatte und sich und seinen Kopf nun hinter seinen Knien verbarg.

„Sie kann dir nichts mehr tun. Sie ist tot.“ Raria hatte nicht einmal „ihren“ Namen genannt – und dennoch genügte dieses simple „sie“, das nur referierend war, um Nocturn nicht nur zum Zusammenfahren zu bringen, sondern auch seine Hände beschützend über seinem Kopf zusammenschlagen zu lassen. Raria wählte, kurz zu schweigen; dann richtete sie sich auf, sich dazu entschließend, dass sie ihm einen warmen Kakao machen würde, als das kleine Kind sie davon abhielt, gerade als sie sein Zimmer verlassen wollte:

„… woher… woher weißt du das?“

„Ich weiß es, Nocturn. Ich war dabei, als es geschah.“ Raria hatte aufgegeben zu zählen, wie oft sie ihm das schon versichert hatte. Sie war tot, dessen war Raria sich absolut sicher und dennoch plagte sie die Träume und die Existenz des jungen Nocturns immer noch. Für ihn war sie nicht tot – solange sie ihn in seinen Träumen quälte, war sie lebendiger denn je. Aber wie tötete man einen Traum?

 

 

„Und… und wenn nicht…?“, fragte Nocturn immer noch mit bebender Stimme, aber nun wenigstens mit leicht angehobenem Kopf, so dass Raria seine verweinten Augen sehen konnte.

„Dann spielt das auch keine Rolle, denn ich werde dich beschützen.“

 

    

Raria war nicht in der Lage gewesen, den Träumen Einhalt zu gebieten. Aber sie machte es… erträglicher. Sie war nie taub für seine Hilfeschreie; sie hörte selbst die kleinsten Blasen und streckte sich immer nach seiner Hand aus, egal wie tief er gesunken war. Sie bekämpfte die Tiefe der Albträume, doch niemals mit Mitleid. Sie bekämpfe sie mit einem warmen Kakao, egal wie spät es war. Ein Kakao, der so manches Mal auf dem Flügel abgestellt wurde, während sie Nocturn lehrte, seinen Ängsten musikalische Form zu geben. Eigentlich hatte sie nie die Frage „Was hast du geträumt?“ gestellt; sie musste sie nicht stellen, denn nur zu deutlich erkannte sie den Schmerz in seinen Melodien. Nie schimpfte sie mit ihm, dass er sie so spät in der Nacht weckte und sie von ihrem Schlaf abhielt; nie erwachte sie mit einem ärgerlichen Stöhnen oder hielt ihm vor, dass er zu alt war, um bei ihr Trost zu suchen.

 

Immer kam sie, um ihr Versprechen zu erfüllen – ich beschütze dich.

 

Aber jetzt würde niemand kommen.

 

Denn sie war tot. Tot. Tot. Tot! Der schöne Flügel war blutbesudelt; sein Zuhause abgebrannt und in Trümmern.

 

Und sie war da, er hatte ihre Stimme gehört, das wusste er, das wusste er, er war sich absolut sicher… Raria… Raria!

 

Aber sie war tot… tot… to-

 

 

 

Da riss ihn das grelle Licht unsanft aus seinen Albträumen.

 

„Ich hoffe, du hast gut geschlafen, mein Sohn.“

 

Im Takt mit Kasras tückischem Lachen beschleunigte sich Nocturns Atem, als er verstand, wo er sich befand – und vor allen Dingen in was für einer Situation. Er lag in einer von grellem Licht durchfluteten Zelle, angelegt als ein recht großes und hohes Viereck, dessen Boden aus einem ebenmäßigen, schwarzen Material bestand, dessen Oberfläche sich glatt anfühlte – sein Atem beschleunigte sich weiter, das Lachen Kasras drang in seinen Kopf, Rarias Blut… das Blut auf dem Flügel; nein!

 

Entschlossen, sich nicht von Kasras Wahnsinn übermannen zu lassen, wollte Nocturn sich aufrichten, seinen Atem dazu zwingen, sich zu beruhigen, Kasra nicht noch mehr Grund zur Erheiterung zu geben – aber als hätte Kasra nur darauf gewartet, dass Nocturn versuchen würde aufzustehen, schnippte er grinsend mit den Fingern und aus der Schwärze der linken, unteren Ecke der Zelle schnellte plötzlich ein kettenähnlicher Magiestrahl empor, welcher auf Nocturn zuraste, seinen linken Fuß packte und ihn unsanft zu Fall brachte. Nocturns zweiten Fuß bekam Kasras Fesselungsmagie allerdings nicht so einfach zu packen; Nocturn handelte schnell genug, um die schwarzen Ketten mit seinen eilig verlängerten Fingernägeln abzuwehren – aber dann spürte er bereits, wie ihm die Luft abgeschnürt wurde.

 

KLACK KLACK du zappelst zu viel, mein Junge. KLACK KLACK aber ich werde dir beibringen, stillzuhalten! Denn wenn deine Herrin will… dass du… stillhältst, dann…

 

Diese sich Nocturn plötzlich aufdrängenden Bilder, Geräusche und Stimmen ließen sein Sichtfeld verschwimmen und machten seine Fingernägel unbrauchbar. Jetzt waren auch sie an den Boden gekettet, genau wie seine Füße und sein Kopf – aber sein Kopf war nicht an den Boden gepresst wie seine anderen Körperteile, sondern wurde von einer der schwarzen Ketten in die Höhe gezwungen: eine Kette, die sich um seinen Hals geschlungen hatte und deren Ursprung die Decke war.

 

„Praktisch, praktisch, nicht wahr?“, jauchzte Kasra, erfreut sein Werk begutachtend und seine Freude wurde besonders genährt, als er sah, dass Nocturns Hände versuchten, sich zu befreien; vergebens natürlich, denn die Ketten saßen genau so fest, wie Kasra es wollte – und er hatte sie dieses Mal sofort so fest wie möglich angezogen, weshalb Nocturns Hände nur noch ein wenig zucken konnten. Ob seine Fingernägel als Waffen überhaupt noch brauchbar sein würden, wenn kein Blut mehr an seine Finger gelangte? Sie würden es herausfinden.

 

„Diese Spielzimmer sind eine Idee meinerseits. Die Decke und der Boden reagieren nur auf meine Magie, womit ich, haha, meine Besucher in jede Position bringen kann, die ich will. Das macht es nicht so eintönig, als wenn feste Ketten installiert wären, findest du nicht auch? Du bist doch ein Künstler, oder? Dann stimmst du mir sicherlich zu, nicht wahr?“ Aber Nocturn stimmte ihm nicht zu; er war immer noch verzweifelt damit beschäftigt, seine Hände zu befreien; waren seine Fingernägel doch seine wichtigste Waffe. Aber Kasras Fesseln lockerten sich natürlich nicht; sie gruben sich als Antwort auf Nocturns Zerren und Zucken nur tiefer in sein Fleisch; ein Trauerspiel, das Kasra zufrieden betrachte.  

 

Aber dann entschloss er sich, anzufangen.

 

„Sag mal, Junge… Du hast wirklich sehr viel… an.“ Sofort hatte er die Aufmerksamkeit Nocturns, die eben noch auf seinen Händen gelegen hatte – und ja, Kasra wusste es; wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Da war die Angst in den sich verkleinernden Augen Nocturns, als Kasra sich nun von der Glaswand abfederte, die Hände von seiner Brust löste:

„Dir muss doch heiß sein! Ich werde dir helfen, dich von diesen vielen Kleidungsschichten zu befreien…“

 

Ah, Kasra konnte sich gar nicht entscheiden! So viele Auswahlmöglichkeiten! Nathiel hatte ihm wirklich eine ganze Palette an Spielmöglichkeiten überreicht und jetzt wusste Kasra gar nicht, womit er anfangen sollte; und vor allen Dingen, wie er das Kunstwerk formen wollte. Er sah die Furcht bereits in Nocturns Augen, die zur Wehrlosigkeit verdammt waren; sie wurde größer und größer mit jedem Schritt, den sich Kasra ihm langsam näherte. Erst einmal musste die störende Kleidung verschwinden. Kasra wollte mit eigenen Augen sehen, was für ein Körper sich hinter all diesen Schichten verbarg; wollte selbst Zeuge dieser Hässlichkeit sein, die Nathiel förmlich besungen hatte, als wäre sie etwas Positives. Sie hatte lautstark verkündet, dass es ihr Werk sei, dass Kasra staunen würde, wenn er es sah… na, einen guten leidenden Gesichtsausdruck konnte der Junge auf jeden Fall machen – fast als wäre er es bereits gewohnt.

 

Aber wie sollte er es tun, fragte Kasra sich mit einem genüsslichen Grinsen, wie ein Gourmetliebhaber vor dem Festessen – langsam, um beobachten zu können, wie sich die Gefühle langsam ihren Weg von seinem pochenden Herzen bis hin zu seinen Augen bahnten, die Kasra das offenbaren würden, was er am liebsten sah? Die stetig wachsende Angst? Oder die schnelle Variante? Sollte er ihm lieber die Kleidung vom Leib reißen, um unweigerlich dafür zu sorgen, dass sein Opfer sich an seine Zeit mit Nathiel erinnerte? Ah, was sollte er tun! Beides war so verlockend! So unglaublich verlockend!

 

Nocturns Herz schlug ihm bis zum Hals; seine Hände und Füße waren fest gekettet, genau so wie es sich gehört, so zappelst du nicht mehr, mein Junge, seinen Kopf konnte er nur unter Schmerzen ein wenig drehen, was er nun gezwungenermaßen tun musste, denn Kasra befahl seinen Ketten, Nocturns Kopf nach oben zu ziehen, ehe zwei Finger unter den Kragen seines Rollkragenpullovers glitten ah, was für ein dünner Hals! Ja, ist der nicht anregend? Aber nicht brechen! Brechen ist nicht erlaubt, angucken und anschneiden ja! und an diesem zerrten.

 

„Ein Rollkragenpullover und eine so lange Jacke darüber! Da muss einem ja heiß werden.“ Nocturn hörte das leise Zischen des Reißverschlusses, den Kasra immer weiter nach unten zog… er spürte Kasras Hand am Ende seiner Jacke ankommen, was ihn dazu brachte, automatisch seine Beine bewegen zu wollen, was natürlich nichts brachte, denn die Ketten waren fester als alle, mit denen Nocturn jemals Bekanntschaft gemacht hatte, aber wehren ist immer gut, wehren ist spaßig --- Nocturn kniff die Augen zusammen, versuchte der Realität zu entfliehen, aber Kasras Hände waren zu mächtig, zu aufdringlich… die eine immer noch am Ende seiner Jacke, die andere Nocturns Hals festhaltend – aber dass Nocturn die Augen zupresste schien ihm nicht zu gefallen, auch wenn er überaus amüsiert darüber war, wie sehr Nocturn es bereits zusetzte, dass er nur seine Jacke geöffnet hatte. Sie hatten doch noch gar nicht wirklich angefangen!  

„Ah, nicht weggucken, Junge! Weggucken ist gemein, das verdirbt das Spiel.“ Wo das Spiel doch so vielversprechend zu werden schien! Es war bis jetzt nichts weiter als ein dummer Reißsverschluss und Nocturns Körper zitterte bereits, als würde Kasra ihn foltern.

 

Und das tat er auch; jedenfalls reagierte Nocturn genau so, als Kasra – um ihn fürs Weggucken zu bestrafen – nun da die schwarze Jacke zu Boden gefallen war, ohne Vorwarnung seinen Griff um Nocturns Kragen festigte und diesen herunter riss; das ganze Kleidungsstück damit entzweite. Lass uns anfangen, lass uns anfangen, Spaß haben – mein kleiner Junge, warum weinst du denn? Danach bekommst du Wasser… dann stille ich deinen Durst…

 

Nocturn biss sich so fest auf die Lippe, dass Blut nun aus seinen Mundwinkeln heraustrat – ah, wie oft hatte Kasra das nicht schon gesehen! Eine Verzweiflungstat, so oft gesehen, so sehr geliebt, hach. Es deutete an, dass sie gleich brechen würden – und in der Tat, als Kasra sich über den plötzlich irgendetwas auf Französisch redenden Nocturn beugte und ein weiteres Mal mit genießender Langsamkeit schnippte, brach er und tat das, was Kasra so sehr liebte.

 

Eine ausgewogene Mischung war wirklich das Beste!

 

Ein Schrei des Erschreckens riss Nocturn aus seinem französischen Hilfegesuch, als die Kette um seinen Hals sich plötzlich herumdrehte und den Kopf des Halbentkleideten auf den Boden aufschlagen ließ.

„So…“, begann Kasra, seinen geflochtenen Zopf galant auf den Rücken werfend, seine Knie links und rechts neben Nocturn platzierend, so dass das dünne Häufchen Elend zwischen ihnen an den Boden gekettet war.

„… jetzt widmen wir uns dem Rest deine Kleidung. Mal sehen, wie hässlich du wirklich bist… und wage es nicht noch einmal, wegzusehen!“

 

 

Kasra hatte großen, nein, unermesslichen Spaß, Nocturn jedes Kleidungsstück zu nehmen; manchmal zerriss er es, manchmal ließ er sich Zeit. Schnell fand er heraus, dass er die absolut perfekte Methode gefunden hatte, um Nocturn zu quälen. Es war nicht nur die Tatsache, dass sein eigener Körper ihn selbst anwiderte, sondern auch das absolut erbarmungslose Entblößen seiner vernarbten Haut und dass egal, wie sehr er an seinen Ketten zog und zerrte… nichts befreite ihn. Nichts konnte Kasra stoppen, der jede noch so kleine Form der Widerwehr genießerisch in sich aufnahm, dafür sogar kurz seine akribische Arbeit unterbrach, um Nocturns Reaktionen genüsslich in sich aufzunehmen.

 

Aber Nocturn konnte nichts tun. Er konnte absolut gar nichts tun. Seine spitzen Fingernägel kratzten sinnlos über den glatten Boden, auf dem sie keine Schrammen hinterließen und seine zunehmende Nacktheit lähmte ihm die Zunge – was… hätte er auch sagen sollen? Er hätte nichts sagen können. Der sonst so wortgewandte Nocturn war völlig in seiner Angst und Hilflosigkeit verloren. Sämtliche Worte hatten ihn verlassen – er hatte keine Worte mehr, aber andere hatten genug, quälten ihn, peinigten ihn. Immer wieder drängten diese alten Erinnerungen sich ihm auf, die er sonst nur in seinen Albträumen gesehen und gehört hatte – Kasra ließ sie lebendiger werden denn je. Er stieß Nocturn in jene Albträume, in jene Zeit zurück, machte ihn wieder zum Kind, dessen Hilferufe nicht mehr zu hören waren, weil Raria… weil Raria… tot war… sie konnte ihn nicht beschützen… sie konnte es nicht… er war selbst schuld daran… er sank tiefer und tiefer, die Erinnerungen wurden deutlicher, deutlicher… und am Boden dieses endlosen Albtraums wartete seine Herrin auf ihn.

Fing ihn auf und hielt ihn fest.

 

 

Nicht einmal die Stiefel oder die Socken hatte Kasra Nocturn gelassen. Schweigend begann der König sein Werk zu betrachten, zuerst in Nocturns seitlich liegende, weit aufgerissene, leere Augen starrend. Die Blutspur, die an seinen Mundwinkeln begonnen hatte und sein Kinn hinabgelaufen war, war verschmiert und bereits getrocknet – Kasra hatte sich viel Zeit gelassen.

 

Aber das Grinsen verging ihm auf einmal, während seine roten, aufmerksamen Augen Nocturns nackten Körper in sich aufsogen und sich mehr und mehr verengten, ehe er sich schlussendlich aufrichtete und zwei Schritte rückwärts ging, Nocturn dabei nicht aus den Augen lassend. Er hatte aufgehört, sich zu wehren; lag absolut ruhig auf dem Boden, hatte aufgegeben.

 

Das grelle Licht zeigte mit erbarmungsloser Härte jede einzelne Narbe des völlig regungslosen Körpers, dessen hervorstehende Knochen tiefe, dunkle Schatten warfen. Besonders sein Becken war um einiges dürrer als von Kasra erwartet; auch seine Schulterblätter waren spitz und unförmig, wie auch seine Ellenbogen und Hacken. Dank des grellen Lichtes waren sogar seine Rippen sichtbar unter der dünnen Haut seines sich kaum bewegenden Brustkorbs. Die Narben, die Nathiel ihm bei ihren Spielereien zugefügt hatte und andere hatte machen lassen, passten gut zu diesem abartigen Körper; sie hatten ihn nicht noch hässlicher gemacht, nein, sie waren eher der passende, letzte Schliff gewesen. Wirklich, dieses dumme, kleine Gör hatte bessere Arbeit geleistet, als Kasra es ihr zugetraut hatte; sogar seine Fußsohlen waren vernarbt.

 

Was für eine hässliche Kreatur.

 

 

… Und mit so einem widerlichen Wesen hatte Youma geschlafen?

 

Youma? Mit seinem perfekten Körper, seiner ebenmäßigen, samtenen Haut, die keinen einzigen Makel aufwies, die sicherlich nicht einmal eine Narbe bekommen konnte, weil seine Haut jede Hässlichkeit abwies – weil er gar nichts anderes sein konnte als wunderschön?

Freiwillig?!

Wie hatte er es überhaupt ertragen, dieses Etwas anzusehen?! Was hatte ihn geritten, dass er es freiwillig hatte berühren wollen?! Was hatte ihn dazu gebracht, es küssen zu wollen --- diese dünnen Lippen, die konnten doch nicht begehrenswert sein für so ein schönes Wesen, das selbst so weiche Lippen hatte… geschweige denn das Bett damit zu teilen?! Er war doch so schön, so makellos, so hoheitlich, so unglaublich begehrenswert, warum… warum…

 

Diese Frage stellte Kasra sich nun selbst – warum war er plötzlich so wütend? Es gab doch gar keinen Grund dafür! Es war alles wie geplant verlaufen; es, dieses nichtswürdige Wesen, hatte ihm mit seiner Hilflosigkeit eine gute Unterhaltung dargeboten... warum war er dann so wütend? Warum bebten seine zusammengeballten Hände, als wäre er aufs Heftigste beleidigt worden? Sogar als Lycrams Faust ihn getroffen hatte, war er nicht so wütend gewesen… er spürte, wie es regelrecht von ihm Besitz ergriff---

 

Mit einer etwas fahrigen Bewegung brachte er den halb bewusstlosen Nocturn dazu, sich aufzurichten. Nein, er sollte lieber gerade an der Wand hängen, das gefiel ihm besser – aber obwohl diese Stellung und diese Wehrlosigkeit Nocturns ihn eigentlich in Hochstimmung versetzen sollte – genauso wie sie es immer tat – wirkte es nicht. Er fand nicht zu seinem Grinsen zurück; nein, im Gegenteil, seine Laune schien sich immer weiter zu verschlimmern, umso länger er Nocturn ansah, dessen Arme nun über seinem Kopf gestreckt an der Decke festhingen, die Hände wehrlos in den Ketten baumelnd, den Kopf schiefgelegt.

 

„Hochgucken hab ich gesagt“, zischte Kasra, auf Nocturn zugehend, während seine Ketten ihm zur Hilfe eilten, sich um Nocturns Kopf schlangen und diesen nach hinten rissen, womit Kasra und Nocturn sich ansahen – wenn man denn behaupten wollte, dass Nocturn überhaupt noch etwas sah.

  

„Was habt ihr beide so gemacht, als ihr Sex hattet?“ Kasra wusste selbst nicht, warum er diese Frage stellte – war es nicht auch vollkommen egal, warum er es tat?!

„Wart ihr beide nackt? Hast du es gewagt, Youma diesen hässlichen Körper zu zeigen?!“ Nocturn antwortete nicht, aber Kasra sah in seinen Augen, dass er es gehört hatte, dass sich etwas in ihm geregt hatte – und zwar in dem Moment, als er Youmas Namen genannt hatte.

Ein Stoß Zorn durchströmte ihn – warum? Warum?!

„Hast du ihn dazu gezwungen, dich anzufassen?! Kein Wunder, dass so was Widerliches wie du sich nach einem vollkommenen Wesen wie Youma sehnt…“ Dieses Mal folgte jedoch keine Reaktion; Nocturns Augen blieben leer und undurchdringbar – und fluchend beschloss Kasra sich kurzerhand dazu, eine Pause einzulegen. Zwar hatte er genug Zeit, aber dennoch wollte er sie nicht mit einem Spielzeug verschwenden, das nicht mehr ordentlich funktionierte. Er würde ihn da hängen lassen… und die Spiegelfunktion der Fenster nutzen, oh ja, das war eine gute Idee. Nicht vor seiner Hässlichkeit fliehen können. Er sollte sich selbst sehen; sehen, wie hässlich er war… sehen, was er Youma angetan hatte… Die ganze, ganze Zeit.  

  

Aber gerade als Kasra sich herumgewandt hatte, gerade an der Tür angelangt war, da fand Nocturn die Worte wieder – und verdammte damit sich selbst.

„Ich… ich habe Youma… nicht gezwungen…“ Kasra blieb auf der Stelle stehen.

„… ich verstand es… auch nicht… aber er sagte… er ekle sich nicht vor mir… weil er mich… weil er mich… liebt.“

 

Kasra drehte sich auf dem Absatz herum und seine schnell gesagten, eher geschrienen Worte donnerten nur so durch den Raum:

„Ich rufe die 24igste der Verbotenen Künste…“ Die Fesseln lösten sich von Nocturns dürrem Körper; sie waren nicht länger vonnöten, denn Kasras starke, vor Hass und Wut bebende Faust umschloss Nocturns Hals und hielt den nicht viel wiegenden Dämon ohne Probleme in die Luft:

ENTFACHTES HÖLLENFEUER STUFE DREI!“

         

Wie ein Blitz, der in Nocturns Körper einschlug, entbrannte das Feuer der Schmerzen in jedem einzelnen Glied, jedem einzelnen Knochen, jedem Organ und der Schrei, auf den Kasra so lange gewartet hatte, der ihn aber jetzt auch nicht mehr befriedigen konnte, quoll aus dem von schwarzen Flammen gepeinigten Körper heraus, wurde immer lauter, immer lauter, immer qualvoller, immer qualvoller, umso mehr Flammen Nocturn auseinanderrissen, seinen Körper dehnten und drohten, ihn zu sprengen.

 

Aber Nocturn hielt durch – er schrie und schrie, sein Schrei konnte von nichts aufgehalten werden; weder von der gläsernen Zelle noch vom unteren Zirkel des Schlosses. Er schallte im gesamten Schloss nach, brachte Karou dazu, seine Hände von der Tastatur zu erheben und Nathiel dazu, sich weinend die Hände über die Ohren zu halten. Er brachte die Gläser von Karous Labor förmlich zum Vibrieren, aber Kasra erweichte es nicht. Auch Nocturns in Kasras Arm krallende Fingernägel bewirkten nichts. Er spürte den Schmerz nicht, auch wenn das Blut bereits von seinen Armen herunterlief.

 

„Wow, nicht schlecht!“, rief Kasra mit einem grimmigen Grinsen, das aber eher seine Wut zeigte als irgendeine Form der Freude zu bekunden:

„Du hältst wirklich lange aus! Länger als so manch anderer! Ist das etwa die Kraft der Liebe für Youma, huh?!“ Natürlich konnte Nocturn nicht antworten; er konnte nur schreien.

„Was weißt du eigentlich von ihm?! Nichts weißt du, gar nichts weißt du! Du bist ein Wicht, ein nichtswürdiger Wicht! Ein Insekt! Ein niedriges Insekt, das sich geehrt fühlen sollte, von mir – dem König! – in Stücke gerissen zu werden!“ Karou hörte diese Worte natürlich nicht, sie wurden von Nocturns anhaltendem Schrei verschluckt – aber er sah auf die Uhr und bemerkte, dass Nocturn schon... schon… drei Minuten aushielt?!

 

„Du bist nichts anderes als ein Bastard von Menuét! Ohne die Spur von königlichem Blut! Und wenn man es genau nimmt – was war Menuét schon anderes als eine Nutte?! Eine starke Nutte zwar, aber Nutte bleibt Nutte! Und du! Du gehörst genau wie sie in den Staub!“ Die Gläser knirschten, hielten aber stand, als Kasra Nocturn plötzlich rücklings gegen die Scheibe donnerte, seine geliebte Folterkunst deswegen aber nicht abbrechend, die Flammen weiter in Nocturn eindringen ließ, während das Blut von seinem aufgeschlagenen Rücken und Hinterkopf die Scheibe beschmierte. 

„Wusstest du, dass Youma aus einer anderen Zeit stammt? Ja, ich habe auch lange gebraucht, um es herauszufinden, aber ich habe es herausgefunden – du, der angeblich von ihm geliebt wirst – HA! – weißt es nicht, oder, Nocturn? Er ist das Kind einer Göttin! Er ist das Kind eines Teufels! Er ist aus Gold gemacht! Und du! Was bist du!? Du bist das Hurenkind einer billigen Nutte!“ Und mit diesen Worten warf er Nocturn noch ein weiteres Mal gegen die Scheibe, ehe er ihn auf den Boden schmetterte.

 

Wie ein Echo schienen die Schreie Nocturns noch im Schloss nachzuhallen. Ungläubig starrte Karou auf die Uhr – fast… fast zehn Minuten; das… was unglaublich! Sowohl von Nocturn als auch von Kasra. Die letzte der verbotenen Künste benötigte sehr viel Anstrengung, Magie und Können. Karou hatte oft gesehen, wie diese Technik angewandt wurde, aber noch nie, dass sie so lange angedauert hatte – warum auch? Die meisten starben innerhalb der ersten Minute… Nocturn hatte fast zehn Minuten ausgehalten.

„Ist er… ist… ist mein Junge… ist er tot?“, heulte Nathiel, sich weiter in den blanken Stoff von Karous Mantel vergrabend, der die weinende Nathiel nach den ersten fünf Minuten aus Reflex an sich gedrückt hatte.

„Das… das habe ich nicht gewollt… das habe ich… ich… nicht…“

         

Aber Nocturn war nicht tot.

Schnell atmend und stark am Hinterkopf und Rücken blutend, lag er mit zuckenden Gliedern, tränenden Augen und aufgerissenen Mundwinkeln auf dem Boden, wo der ebenfalls stoßweise atmende Kasra ihn hingeworfen hatte. Kurz starrte er den unter sich liegenden Nocturn genauso entgeistert an wie Karou die Uhrzeit, während er die Fäuste an seinen Knien abstützen musste; so sehr hatte diese lange Folter an ihm und seinen Magievorräten gezehrt.

 

Warum war es nicht tot?

 

Obwohl, dachte Kasra, sich wieder aufrichtend; er sollte froh darüber sein, dass es überlebt hatte. Hatte er vergessen, was er eigentlich damit vorhatte?

 

Als wäre nichts passiert, richtete Kasra seine Haare wieder, raffte seinen Umhang und verließ Nocturn, ohne noch so viel wie einen Blick auf ihn geworfen zu haben – und stand schon neben Karou, der seine Ungläubigkeit nun ihm zuwandte und sich fast dabei erwischte, seinen König zu fragen, ob es ihm nach so einer langen Folter gut ginge. Aber er wäre schön dumm, wenn er diese Frage in so einem Moment stellen würde – er vermutete nämlich zu recht, dass Kasra einen Wutausbruch gehabt hatte und die lange Folter daher stammte. Was war nur…vorgefallen?

„Sorg dafür, dass die Scheiben in der dritten Zelle spiegeln.“ Bildete Karou sich das ein oder bebte die Stimme seines Herrschers vor Wut?

„Natürlich, meine Majestät.“

„Und entferne die Überreste der Kleidung aus der Zelle.“ Wieder stimmte Karou dem ohne Widerworte zu und schon drehte Kasra ihm den Rücken zu.

 

Jetzt musste er leider das tun, was für ihn die schlimmste Art der Folter darstellte.

Warten.      

 

      

   


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es ist endlich so weit - hiermit präsentiere ich (ein wenig stolz, zugegeben u////u) das erste Kapitel von Opus Magnum ♥! An dieser Stelle möchte ich ganz besonders Tekuu danken, die mal wieder ein absolut wunderbare Beta-Arbeit geleistet hat - aber auch ein einzigartig toller Leser war. Ohne ihre konstante Motivation hätte ich Opus Magnum nicht auf diese... verschlingende... Art schreiben können. Vielen dank dafür nochmal!

Ich hoffe euch gefällt dieses Werk. Es ist anders als das Originalwerk Himitsu no Mahou, aber doch gibt es einige Überschneidungen. Noch einmal möchte ich aber beschwören, dass die, die das Originalwerk kennen, Opus Magnum getrennt vom Originalwerk betrachten, für sich. Ansonsten könnte es, denke ich, zu Verwirrungen kommen *lach* Das schwerste war auch wirklich Opus Magnum für Nicht-Himileser lesbar zu machen haha! Man ist so fest im Canon verankert, dass man ganz vergisst, was vielleicht für Nicht-Himileser verwirrend sein könnte... auf die schlechte Art verwirrend, denn - wie die Himi-Leser sicherlich gut von mir kennen - ich mag verwirren ;3 ♥

Sollte es irgendwelche Unklarheiten geben, Fragen oder einfach Dinge die ihr gerne diskutieren wollt (eventuelle Überschneidungen, Charakterunterschiede etc) beantworte ich natürlich gerne ENS, aber auch meine Ask-Box auf Tumblr ist jederzeit offen und bereit Fragen entgegen zu nehmen ♥!

Und jetzt hoffe ich, dass euch das Kapitel gefallen hat und dass ihr Opus Magnum und seine Charaktere bei ihrem steilen Weg begleitet... ♥

Übersetzung des Französischen:
"Monsieur, entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, aber Monsieur le Noires wünscht ein Treffen mit Ihnen. Er hofft, Sie folgen dieser Einladung...."
"Zehn Minuten, Monsieur Le Noires. Die Presse..."
"Ja, natürlich, ich weiß."
"Guten Abend, Raria ! ... ja... ja, es war unglaublich! Nein, ich habe keinen einzigen Fehler gemacht... nein ! Meine Nocturne Opus III war…ja, sie war perfekt. Perfekt, sag ich dir. Ich bin nicht überheblich... ja. Natürlich...einverstanden...einverstanden. Ja, ich kehre sofort zurück... Die Presse? ... ja... egal, haha!"
„Nein, warte. Es ist hier in Paris gerade so schön... ja, ich weiß... ich kehre vor Mitternacht zurück, einverstanden? ... Wünsch Madeleine einen “Guten Abend” von mir! ... Bis nachher!... Ja... Ja, ich weiß, Raria, ich weiß...“

Und der Titel bedeutet "Der Auftakt" ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht es mit dem nächsten Kapitel ♥ das letzte war ja etwas kurz und diente auch eher als Prolog... warum es nicht als Prolog markiert war? Weil alle sieben Teile von Opus Magnum mit einem "Prolog"-Kapitel eingeleitet werden und Animexx nur einen Prolog zulässt, was das letzte Kapitel hervor gehoben hätte, was ich nicht wollte >w< ♥

Aber jetzt haben wir hier ein Kapitel mit "normaler" Länge - geht schon eher in die Richtung von dem, was die Himi-Leser unter euch gewohnt sind, nicht wahr? Dennoch - finde ich - lässt sich Opus Magnum anders lesen als zum Beispiel DeA... Aber vielleicht ist das auch nur mein Empfinden?

Jedenfalls war das nun das erste "richtige" Kapitel, mit gleich einem Haufen neuer Charaktere! Weiterhin steht natürlich das Angebot: wenn Fragen, dann einfach stellen ♥

Und hier... möchte ich mich ganz ganz doll für die Kommis bedanken ;W; Opus Magnum ist zwar an sich beendet, aber eure Kommentare geben mir Ideen für Extraszenen und natürlich... absolut und ohne jeden Zweifel... Motivation und übermässige Freude >w< ♥ ♥ ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich für den Anstieg des herben Vokabulars, sage aber gleichzeitig... Hallo, Lycram! Und natürlich auch ein geehrtes "Hallo" an... Ri-Il! Ohne euch beiden kann man doch wirklich keine Himi-Geschichte schreiben, wo kämen wir denn da hin! *lach* Jetzt sind wir also so gut wie komplett - fast alle Opus Magnum-Mitspieler sind versammelt, hehe >w< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und schon geht es weiter ♥! Jetzt ist denke ich auch das "System" von Opus Magnum klar: Opus Magnum besteht aus sieben Teilen, die alle mindestens vier Kapitel haben. Das erste und das letzte Kapitel eines "Teils" sind kurze Kapitel, mit rund 4-5 Seiten - ein Einleitungskapitel und ein Abrundungskapitel. Für spätere Teile sei gesagt, dass das Einleitungskapitel meistens ein Flashback ist...

Teil eins "Le Prélude" war "Teil 0" und dient Opus Magnum als generelle Einleitung. Man kann sagen, dass der gesamte Teil "Le Prélude" ein langer Prolog ist... jetzt sind wir im eigentlichen ersten Teil der Geschichte, weswegen dieser Teil auch "Es beginnt" bedeutet~ ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Guten Morgen UwU

Ohne Umschweife werde ich mich mal den Übersetzungen des Französischen annehmen, also:

Nocturn sagte "Oh mein Gott! Entschuldige, entschuldige, Rar-"
Raria antwortete: "Nocturn! Sag mir nicht das war das teure, dänische Porzellan, was du da gerade zerstört hast?!"

Jaja, mit Raria ist nicht gut Kirschen Essen... öwö Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kurze Übersetzung des Französischen: „Si inexorable...“ = "So unbarmherzig" uwu ♥! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es geht weiter! Und jetzt ist Opus Magnum auch im neuen FF-System angekommen ÖwÖ!!! Und es ist sooo cool! Ich bin absolut verliebt HACH! ♥ Aber nur eins: Trigger-Warnungen finde ich zwar an sich witzig, aber es wird bei mir keine geben. Weder in Opus Magnum, noch in einem meiner anderen Werke - ich finde, das nimmt die Spannung ;3

Hiermit beginnen wir einen neuen Part - und zwar "La Ténèbres et la Nuit", was so viel bedeutet wie "Die Dunkelheit und die Nacht" ♥! Warum dieser Titel... hehe, das werdet ihr ja herausfinden, wenn ihr weiter liest, hehe >w< ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Guten Morgen!

Uuuuund weiter gehts! Das sofortige Hochladen von Animexx ist wirklich absolut mega praktisch... vielen dank dafür >w<!

Wir bewegen uns immer weiter der Spitz der Achterbahn zu; langsam werden die Weichen unwiderruflich gelegt... und dann haben wir in diesem Kapitel auch zum ersten Mal die für Opus Magnum so wichtigen "Äpfel". Interessante Trivia: dieses Kapitel war mehrere Wochen/Monate aus der Himitsu no Mahou-Dropbox verschwunden, ehe Tekuu und ich bei einem Re-Read von Opus Magnum bemerkten, dass sie weg war ahahahah /o/°°°°°°°° aber zum Glück verschwinden Dateien in der Dropnox nie wirklich haha! Wäre doch komisch gewesen, wenn es gefehlt hätte, oder xDD?

An dieser Stelle bedanke ich mich auch mal wieder für 44 Kommentare >////w///<!! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein für Opus Magnum und für mich sehr wichtiges Kapitel uwu vor diesem Kapitel war Opus!Nocturn für mich ein richtiges Mysterium; schwer zu ergreifen, weil ich den Original!Nocturn aus Himitsu no Mahou zu sehr gewohnt war und ihn so zu sehr liebe; erst in diesem Kapitel, wo ich ihm die Erzählerrolle gab, hatte ich das Gefühl ihn wirklich zu verstehen, ihn ergreifen zu können. Das war sehr wichtig für mich und auch für das Weitergehen der Geschichte, denn für die kommenden Kapitel war es absolut notwendig, dass ich Opus!Nocturn absolut begriff, ihn kannte.... ihr werdet schon sehen, was ich meine, hehe xD

Und noch etwas anderes wollte ich nicht unkommentiert lassen: Rarias Einstellung zur Homosexualität. In der Dämonenwelt, in der es keine Regeln und keine Konventionen gibt (außer deine Furcht vor Kasra hahaha), ist Homosexualität weder verschrien noch in irgendeiner Form verboten, weil jeder machen kann was er will und wer mit wem ins Bett springt ist jedem Schnuppe. Dass Raria, Dämonin, dennoch sagt "Männer verlieben sich eigentlich nicht ineinander"sollte zeigen wie sehr sie sich mit dem Dorf identifiziert und ihre Normen angenommen hat - und so sehr ich für Offenheit der gleichgeschlechtigen Beziehungen gegenüber bin, so denke ich nicht, dass ein kleines Minidorf in Nordwesten Frankreichs 1989 in einem sehr stark katholisch denkenden Land meiner Meinung teilt...und daher habe ich mich dazu entschieden, dass Raria ihn eher davon abrät, anstatt dem Thema gleichgültig gegenüber zu stehen, wie es ihre dämonischen Artgenossen getan hätten uwu

So jetzt aber genug geredet xD Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht's ♥

Es gab eine kleine Pause - entschuldigt bitte uwu aber jetzt geht es weiter und wir nähern uns dem Ende der ersten Hälfte von Opus Magnum... nur noch ein Kapitel ♥

Aber noch möchte ich nicht über das nächste Kapitel sprechen, auch wenn mir das sehr wichtig ist - denn dieses hier liegt mir auch sehr am Herzen! Ich hatte wirklich Spaß beim Schreiben dieses Kapitels, weil mir von Anfang an klar war, dass ich schreiben wollte, wie Nocturn seine Liebe durch Musik gesteht - und wie Youma, der am Anfang seine Musik so gar nicht verstehen konnte... es jetzt aber versteht. uwu ♥

Viel Spaß beim Kapitel >w< ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So! Nach langer Pause geht es nun weiter >w< ich hoffe ihr habt dieses Paket an cuteness und fluff überlebt - speichert es, denn es geht nicht sonderlich cute oder fluffy weiter haha... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit, mit einem etwas kleineren Kapitel... beginnen wir... den nächsten Part von Opus Magnum ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Letztes Update vor Weihnachten ♥ weiter geht es dann vielleicht noch kurz vor Neujahr... auch wenn der Cliffhänger gerade echt fies ist haha xDD ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dam Dam Daaaaaamm /o/ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Aaaaah, es tut mir Leid, dass es solange gedauert hat ;w;! Ich hab euch einen Monat warten lassen, entschuldigt OTL!!!! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (81)
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Von:  fahnm
2016-05-15T20:34:25+00:00 15.05.2016 22:34
Spitzen Kapitel
Von:  fahnm
2016-02-27T01:48:38+00:00 27.02.2016 02:48
Spitzen Kapitel
Von:  fahnm
2016-02-11T08:20:37+00:00 11.02.2016 09:20
Tolles Kapitel
Von:  fahnm
2016-01-15T22:46:09+00:00 15.01.2016 23:46
Spitzen Kapitel
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T20:04:49+00:00 05.01.2016 21:04
OMFG. Es war so touching. ;___;
Die Begegnung mit Raria und Kasra kam sehr unerwartet. Fast schon erschreckend. Immerhin hatten wir die ganze Zeit Angst um Nocturn und jetzt ist es Raria, die geopfert wird. Wieso braucht Himi immer Tote (die sich nicht wieder auferstehen lassen)? Das grenzt schon an Massenmord-Kult! ABER ICH MAG ES!!! Raria ist die Heldin der Story ;___;. Offiziell nur Tante, aber handelnd wie eine wahre Mutter. Sie ist streng und toll!
UND SIE IST TOT?!?!?!?! DAMMIT. AIMAI!!!
Immer dasselbe! Aber es ist 4 da feelz!!!
Und natürlich wieder die Glasshipping-Szene, die einem das Herz zerreißt. Was mich mega positiv überrascht hat, war die Tatsache, dass Youma, obwohl er mit Raria zuvor noch Unstimmigkeiten hatten, sich sofort um sie sorgt und Nocturn überreden will, es wenigstens zu versuchen, sie zu retten. Das ist so, so cute und ergreifend! Dass er sich trotzdem um sie sorgt, obwohl sie so schroff sein kann. Er erkennt wohl doch den wahren Kern in ihr. So toll!
UND NOCTURN DU DUMMES KIND. DU KANNST NICHT ABHAUEN. RARIA IST DEINE FAMILIE!!! YOUMA HAT RECHT!!! WIDERSETZE DICH UND KÄMPFE! TU WAS DU FÜR RICHTIG HÄLTST!!!

UND JETZT AB MIT EUCH NACH LE ROUCHE!!! DALLI DALLI!!!
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T16:02:43+00:00 05.01.2016 17:02
Also ich denke, ich muss DIR nicht sagen, wie sehr ich solche Szenen liebe, in der eine geliebte Person vor einer anderen gequält wird. Immerhin hast du mich auf diesen Genuss gebracht. XD (OMG ich rede wie Kasra...)
Jedenfalls war die Art, wie du es mal wieder geschrieben hast, bombastisch. Man fühlt regelrecht mit und allein der Gedanke, dass so ein starker, selbstbewusster Dämon wie Youma weinen muss, löst in mir besondere Gefühle aus. Man merkt regelrecht, wie er das erste Mal in seinem Leben befürchtet, nicht nur zu sterben, sondern auch dasselbe Leid am eigenen Leib zu erfahren, was er seine Ziehvater einst antat. Dass er endlich vor Augen geführt bekommt, real wie nie, was er damals getan hat. Natürlich sind das nur ganz dunkle Gedanken, denn immerhin steht die eigene Angst deutlich im Vordergrund. Dieses Flehen an seinen Partner, er möge ihm doch bitte irgendwie helfen und gleichzeitig ja nicht in Kasras Falle tappen. - Das ist so unglaublich und das ist es auch, was ich so gerne in meinen eigenen Geschichten einbaue. So gesehen der ultimative Liebesbeweis; zu zeigen, zu wem man gehört, auch in den aussichtslosesten Momenten.
Aber auch Kasra selbst lässt einen total mitfiebern. Ich hätte weiß Gott was erwartet, als Nocturn ihn schlug, aber dass ausgerechnet Fragi Nocturn hilft, Youma zu retten, war eine extreme Überraschung. Das hat mich mega gefreut, weil es so unerwartet kam. Hat mir wirklich gut gefallen.
Der Schluss hat mir jedenfalls sehr gut gefallen. Wie Youma in Nocturns Armen erwacht und er ihm erst mal sagen muss, dass er aufpassen muss, sich zu bewegen (so wie dein Schreibtisch XD). Und der erste Gedanke ist Raria! Das fand ich wirklich, wirklich toll!.

LOS!!! LASS UNS RARIA RETTEN!!! ASAP!!!
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T14:57:38+00:00 05.01.2016 15:57
Ich hab immer noch unglaubliches Herzklopfen. Das Kapitel war so heftig, dass ich Mühe hatte meinen Stift zu halten.
Es war verdammt.gut.geschrieben!
Der Kampf ist ja schon ne Klasse für sich, aber wie du das Saufgelage da noch als Auflockerung mit rein genommen hast, war echt genial! Lycci und Ri-Il sind einfach ne Klasse für sich. XDDDD Die zwei ey! So Hamma.
Erschaudert bin ich kurz, als Kasra seine Zähne fletschte, wenn man das so nennen kann. Zuerst dachte ich, er wolle selber kämpfen, just 4 fun, aber dadurch, dass er das Glöckchen in der Hand hält, zeigt, was er wirklich vor hat.
Ich bin wirklich mega gespannt, was Youma UND Nocturn für Qualen erleiden müssen. Ich gehe mal davon aus, es soll ein offenes Geständnis von Nocturns Seite herüber kommen, aber möglichst so, dass nur Kasra und Youma es bemerken. Dazu will er natürlich einfach nur seinen Spaß, und wir wissen ja, was das bei Kasra bedeutet!
BRING IT ON!!!
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T14:02:47+00:00 05.01.2016 15:02
Ich muss gestehen, ich bin etwas geplättet. Kasra ist genauso unheimlich wie Raria, Ri-Il und manchmal auch Youma. Sind denn alle Dämonen Detektive? Es kann echt nicht mehr wahr sein. Ich hoffe doch mal nicht, dass Fragi ihm irgendwas zugeflüstert hat, nur weil er mit Nocturn nichts anfangen kann und ihn los haben will. Ne, das würde ihm doch selbst das Spiel versauen. Kann echt nicht angehen. Aber wer sonst hätte es ihm gesagt? Ganz bestimmt nicht Raria und ich denke auch nicht, dass Ri-Il auf seiner Seite ist, möchte er den Typen ja selbst gerne los haben. Karou schien eher überrascht als wissen zu sein. Er war es also auch nicht. Und er selbst? Er kann ja seine Aura verstecken und genauso könnte es sein, dass er den Teleport Dank Youmas Aura hätte mitverfolgen können - ich traue diesen magischen Wesen alles zu!!!
Jedenfalls wird das echt hart. Ich konnte mir Youmas Gesicht richtig gut vorstellen, als seine Welt schon ganz klar vor ihm zu verschwinden scheint. Das ist echt grausam und genau nach Kasras Geschmack.
Ich bin wirklich sehr gespannt, wie es weiter geht! Jetzt kommt alles richtig in Schwung.
(Und ich will beim Saufgelage von Ri-Il und Lycci dabei sein!!!)
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T13:06:11+00:00 05.01.2016 14:06
Uhuhuhuuuuu! Ri-Il und Raria. Sehr interessant ¬w¬* Ich frag mich, was die beiden aushecken. Da du uns da ja Details verschweigst, kann ich nicht wirklich was dazu sagen, außer, dass das mit dem Wein und Sake sehr lustig finde. Ri-Il ist also auch Getränkehändler. Wunderbar! ICH WILL TROTZDEM WISSEN WAS DA GESPROCHEN WURDE!!!
Und wie, kein Schmalz und Knuffelei? Da war sehr wohl was! Und es war mega knuffig!! Mehr davon!!!
Von: MiyaToriaka
2016-01-05T12:29:32+00:00 05.01.2016 13:29
Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Das Kapitel war so super, super cute, knuffig und toll. Genau mein Ding und absolut nicht das, was man im Orgi!Himi erwarten würde. Es war alles so wunderschön beschrieben, zärtlich, liebevoll, genau so wie ich es auch schreiben würde. Es hatte genau diese intimen Szenen, die ich auch selbst so liebe. Wie der Sex allein beschrieben wurde. So voller Gefühl und Zärtlichkeit. Genauso würde ich mir wünschen, dass alle Partner auf ihre Gegenüber eingehen würden.
Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sondern sich vorsichtig antasten; herausfinden, was der Partner mag und was nicht, schauen, wovor er Angst, Hemmungen hat und erst einmal schauen, ob die Handlung für beide Teilnehmer so in Ordnung ist. Dieses Reden miteinander fehlt mir ganz oft in anderen Geschichten. Da heißt es nur, immer drauf und so fest wie möglich! Einfach nur: Urgh!
Aber hier ist es ganz genau so, wie es sein sollte, wenn man seinen Partner in dieser speziellen Situation noch nicht kennt. Es ist der perfekte Einklang von Leidenschaft, Erotik und Vorsicht. Genau das, was man lesen möchte, wenn man eine Vergangenheit wie Nocturn hinter sich hat. Menschen, die Angst vor dem haben, was andere als "Medium einer Beziehung" sehen, sollten mit Respekt und Vorsicht behandelt und vor allem nach ihren Grenzen GEFRAGT werden. Denn obwohl Nocturn das alles hinter sich hat und eigentlich absolut asexuell ist, gibt er sich seinem Partner voll und ganz hin, der mit Verständnis und höchster Vorsicht auf ihn eingeht. Das ist - die pure Erfüllung. Sowas nenne ich Liebe! Nicht das, was andere mit purer Lust verwechseln.
Es ist wichtig, dass sich beide wohlfühlen und das tuen beide auf höchstem Niveau und das OBWOHL sie unter Druck stehen, weil das vielleicht ihre einzige Gelegenheit sein könnte, es zu tun. Ich habe sehr, sehr großen Respekt vor Nocturn hier. Ich bin ehrlich, ich hätte das nicht gekonnt, so sehr ich es auch gewollt hätte. Ich hätte nicht über meinen Schatten springen und die Schmerzen ertragen können. Youma auf der anderen Seite verdient aber genauso viel Respekt und Achtung. Er hat perfekt alles richtig gemacht, obwohl er schon Erfahrung gesammelt hatte und es auch ganz anders hätte angehen können, rein vom eigenen logischen Denken/Handeln her. Aber er spürt Nocturn voll und ganz und merkt auch, wenn er etwas kann und was nicht. Das ist der absolute Wahnsinn. Ich hab so, so, so viel Respekt und sogar Ehrfurcht vor den beiden. Es ist unglaublich.
Die zwei passen so gut zusammen, dass es schon unheimlich ist. ;___;
Dass dich das Kapitel viel Überwindung gekostet hat zu schreiben, auch all die Mühe und Zeit, die du reingesteckt hast, ist total nachvollziehbar und dir gebührt ebenso viel Respekt. Dir liegt Romantik nicht? So ein Unsinn! Dir hat nur das Pairing dazu gefehlt. Du kannst es! Und das viel besser als z. B. Leute wie ich, die eigentlich immer dachten, sie könnten sowas schreiben/rüber bringen. Es ist so gut geschrieben, dass man alles ganz genau und mit allen Gefühlen miterleben konnte. Das ist etwas ganz besonderes und du solltest verdammt noch mal stolz auf dich sein!
Ich liebe dieses Kapitel und habe es sehr, sehr genossen. Vielen Dank, dass du keine oberflächliche Schreiberin bist, sondern tief in ALL deine Charaktere hineinblickst und so Dinge überaus realistisch schreiben kannst, die du (manchmal hoffentlich) nie selbst erlebt hast. Ganz, ganz großes Lob dafür. Es ist fantastisch!


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