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Wie Frühling und Herbst

von

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„Wo ist er? Ich will ihn sofort sehen!“ Eine laute, fordernde Stimme hallte durch die Hallen des Elbenkönigs Oropher.

Als die Wachen den Störefried nicht durchlassen wollten, zog der seine lange, gebogene Elbenklinge. „Lasst mich sofort durch oder ihr werdet etwas erleben!“

„Tut mir Leid, aber Ihr dürft da nicht hinein“, meinte eine der Wachen entschuldigend.

„Was fällt euch ein? Ich bin der Prinz...!“

„Genug!“, donnerte da eine andere Stimme durch den Raum. „Das reicht jetzt!“

Der König höchstpersönlich erschien hinter den Wachen. Als er den Störefried erblickte, seufzte er nur. Doch anstatt ihn hereinzulassen, fasste Oropher den jungen Elben, der ihm sehr ähnlich sah, an den Schultern und bugsierte ihn Richtung Garten.

„Lass mich los, Vater!“, fauchte der junge Elb und versuchte, sich aus dem Griff des Älteren zu winden.

Doch Oropher war eindeutig stärker. Erst als sie außerhalb der Hörweite der Wachen waren ließ er den Jüngeren los und sah ihn mit einem fordernden Blick an. „Was soll dieses Theater, mein Sohn? Du weißt doch, dass ich gerade in wichtigen Verhandlungen stecke...“

„Wieso darf ich dann nicht dabei sein, bei deinen 'wichtigen Verhandlungen'?“, entgegnete der Jüngere halb spöttisch, halb trotzig.

„Du musst noch vieles lernen, mein Sohn...“, antwortete Oropher scheinbar unbeeindruckt.

„Und wieso darf ER dann dabei sein?“ Der Neid in des Prinzen Stimme war nicht zu überhören.

„ER ist dein Bruder. Und der Kronprinz. Es ist seine Pflicht.“ Der König sah es gar nicht gern, wenn sein jüngerer Sohn so über den älteren sprach; wusste er doch selbst nur allzu gut, welche Bürde und Verpflichtungen auf dem Kronprinzen lasteten. „Du solltest dankbar sein, dass du nicht...“

Doch weiter kam er nicht, denn der Prinz unterbrach ihn. „Dankbar!? Ich ihm? Wofür denn? Vielleicht dafür, dass er mich verraten hat?“, rief er leidenschaftlich aus, sodass es bestimmt im ganzen Palast zu hören war.

Da wurde es selbst dem König zu bunt. „Durch das kluge und vernünftige Handeln deines Bruders wurden Leben gerettet. Hätte er mich nicht unverzüglich über deine Pläne, das Orklager anzugreifen, informiert, wärt du und deine Freunde jetzt vermutlich tot...“

„Er hätte auch einfach mitkommen können“, knurrte der Prinz, erbost darüber, dass sich sein Vater auf die Seite des Bruders stellte.

„Und sein Leben auch noch riskieren!?“ Oropher konnte kaum glauben, was er da hörte. „Hast du überhaupt irgendeine Ahnung, was es bedeuten würde, das Leben eines Prinzen aufs Spiel zu setzen?“

„Ich denke mal, solange es nur meines ist, ist es sowieso egal“, fauchte der Prinz zurück. Ihm war sehr wohl bewusst, dass er seinen Vater damit provozierte.

Doch anstatt der erwarteten Ohrfeige, die ihm erlaubt hätte, Vater und Bruder noch mehr zu verabscheuen, meinte der König nur: „Genug jetzt, Gornarbelethas! Du willst nicht wie ein Kind behandelt werden? Dann verhalten dich auch nicht so!“

Mit diesen Worten rauschte er davon und ließ einen griesgrämigen und auf Rache sinnenden, jungen Elben mit seiner Wut allein.

Den Rest des Tages verbrachte Gornarbelethas damit, seiner Wut auf dem Trainingsplatz freien Lauf zu lassen. Er genoss – vor allem aufgrund seiner Fertigkeiten mit dem Schwert – einen sehr guten Ruf im ganzen Waldreich. Und wären da nicht sein Hitzkopf und sein unberechenbares Temperament gewesen, hätte er bestimmt einen Platz unter Orophers besten Kriegern erhalten. Nicht so wie sein Bruder. Pah! Dieser verwöhnte Kronprinz! Er brauchte nur mit dem Finger zu zucken und alle Wünsche wurden ihm von den Lippen abgelesen. So kam es Gornarbelethas jedenfalls vor.
 

Der Prinz forderte auf eher unhöfliche, forsche Art ein Mitglied der Wachen zum Zweikampf auf. Die beiden Gegner verneigten sich; dann startete Gornarbelethas sofort seinen Angriff. Er hielt eben nicht viel vom Warten.
 

Sein Vater meinte immer, Gornarbelethas fehle nicht viel zu einem großen Krieger. Er solle sich nur nicht so von der Wut beherrschen lassen; er solle sie beherrschen. Sie bewusst und gezielt einsetzen. Doch Gornarbelethas hörte nicht auf ihn. Er liebte dieses Gefühl. Dieses Gefühl der Macht und der Stärke, wenn es wie Stromstöße durch seinen Körper jagte. Dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit. Dann konnte er die Blitze spüren, die aus seinen Augen schossen und sah die Furcht aufblitzen in den Augen anderer. So fühlte er sich respektiert. Und genau so sollte nach seiner Vorstellung ein König sein.

Nicht so wie Thranduil. Der sich in Büchern vergrub und hinter Bergen von Dokumenten versteckte. Thranduil mit seinen sorgfältig gewählten Worten und seiner Diplomatie. Weit konnte der doch nicht kommen.
 

Nach nicht einmal zwei Minuten des Kampfes schlug Gornarbelethas seinem Gegner mit einer blitzschnellen Bewegung das Schwert aus der Hand und hielt im nächsten Moment schon seine eigene Waffe an dessen Kehle.

„Ein fabelhafter Sieg, mein Prinz. Ich gratuliere Euch.“

Doch anstatt eines Dankes oder einer ähnlichen Respektbekundung wirbelte Gornarbelethas nur herum und verließ den Trainingsplatz. Er hatte genug. Fürs Erste.
 

Am Abend, als die Sonne schon seit einer Weile untergegangen war, klopfte es an Gornarbelethas' Tür.

„Mhm!?“

Erneutes Klopfen.

Genervt erhob sich der Prinz von seinem Bett und riss die Tür auf. „Du...!“

„Guten Abend, Bruder. Du wolltest mich sprechen?“, erkundigte sich der Kronprinz höflich.

Gornarbelethas starrte Thranduil nur ungläubig an.

„Dürfte ich wohl eintreten?“, erinnerte Thranduil den Jüngeren an seine guten Manieren.

„Vergiss es, du Verräter!“, zischte Gornarbelethas, wieder voll in seinem Element. „Du 'Liebling'!“

Thranduil seufzte nur. „Ich nehme an, Vater hat mit dir gesprochen, oder?“

„Tu bloß nicht so scheinheilig! Ihr steckt doch unter einer Decke, Vater und du...“, versuchte Gornarbelethas seinen Bruder zu provozieren.

Doch der ging nicht darauf ein. „Warum muss zwischen uns eigentlich immer böses Blut herrschen?“, fragte er stattdessen mit tiefstem Bedauern.

„Das ist alles deine Schuld!“, fauchte der Jüngere. „Wenn du nicht ständig so ein Muster-Sohn sein müsstest...! 'Thranduil ist so vernünftig und so verantwortungsbewusst. Du solltest dir an ihm ein Beispiel nehmen.'...Pah!“

„Das ist es also, was dich so stört?“, fragte Thranduil ungläubig nach. „Weißt du eigentlich, warum ich so bin?“

„Weil du der Kronprinz bist, nehme ich mal an“, blaffte Gornarbelethas ihn an. „Aber deshalb musst du nicht gleich so langweilig sein!“

Thranduil sog scharf die Luft ein. „Langweilig? Ist es das, was du von mir denkst?“

„Ja, das ist es wohl...“, entgegnete Gornarbelethas frech. „Du bist...“

Doch Thranduil wollte nichts davon hören. „Langweilig!? Ich glaub' es einfach nicht! Soll ich dir mal was sagen? Wenn du endlich deinen Teil der Verantwortung übernehmen würdest, dann müsste ich das nicht tun. Verstehst du? Ich muss nicht nur meinen Teil machen, sondern deinen auch noch. Ich muss doppelt vernünftig sein, weil du es gar nicht bist!“

Selten ließ sich der Ältere so aus der Fassung bringen; das war beiden in diesem Moment nur allzu bewusst. Doch anstatt es gut sein zu lassen, stichelte Gornarbelethas nur noch weiter. „Gib Acht, Bruder, du wirst ja noch ganz wütend...“, spottete er.

Diese Reaktion verletzte Thranduil sehr. Wahrscheinlich mehr als er es jemals zugeben würde. Immerhin wollte er doch immer jeden noch so kleinen Streit vermeiden. Und doch kam er immer wieder in diese Situationen. Warum tat ihm sein Bruder das nur an?

Ohne noch irgendetwas zu sagen, drehte er sich um und floh.

Am darauf folgenden Tag herrschte beim Frühstück eisiges Schweigen zwischen den Prinzen. Thranduil war nicht besonders gut gelaunt, da er kaum ein Auge zu getan hatte; seine Gedanken hatten sich immer wieder um seinen Bruder gedreht, aber Lösung hatte er noch keine gefunden. Auch Gornarbelethas, der ansonsten beim Essen immer alle unterhielt, war auffallend schweigsam. Oropher versuchte vergeblich zumindest ein wenig gute Stimmung aufkommen zu lassen; auf seine Fragen erhielt er nur einsilbige, ausweichende Antworten und über seine Witze lachte auch niemand. So kam es, dass nicht nur die beiden Prinzen kaum Appetit hatten, sondern auch der König irgendwann das Essen nur mehr auf dem Teller herum schob.
 

Nach dem Frühstück bat Oropher seinen jüngeren Sohn ins Arbeitszimmer – ein seltenes, aber Ernst zu nehmendes Ereignis. Das wusste auch Gornarbelethas nur allzu gut. Nachdem Oropher die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, konfrontierte ihn der Prinz sofort mit seinen Vermutungen: „Was hat er dir gesagt, dieser...?“

„Beruhige dich, mein Sohn“, beschwichtigte ihn der König. „Und setz' dich erst mal.“

Gornarbelethas war so aufgebracht, dass schon ruhiges Stehen für ihn eine Qual war. Doch ein einziger bestimmter Blick seines Vaters genügte, dass er sich ihm gegenüber auf einem Stuhl niederließ.

Aber der Prinz gab nicht so einfach nach: „Was hat Thranduil zu dir gesagt? Ich will es wissen, Vater! Sofort!“

„Ein bisschen mehr Respekt würde dir nicht schaden“, erwiderte Oropher kühl. „Und dein Bruder hat gar nichts zu mir gesagt... Warum denn? Ist wieder etwas vorgefallen?“, wollte er skeptisch wissen.

Gornarbelethas schwieg. Der König wusste, dass er nichts von ihm erfahren würde. Er seufzte nur und meinte dann: „Ich habe eine Aufgabe für dich, mein Sohn. Du wirst ab sofort unserem Gast, dem Zwergenkönig, zur Seite stehen und ihm deinen Dienste erweisen.“

Gornarbelethas starrte ihn ungläubig an. „Was!?“

„Du wolltest eine Chance, da hast du sie“, entgegnete Oropher. „Jetzt kannst du zeigen, was in dir steckt.“

„Ich...aber...“ Gornarbelethas wollte widerspreche, wollte ablehnen, doch Oropher hatte die Sache bereits entschieden.

„Ich muss wohl nicht extra betonen, dass dies eine sehr delikate Angelegenheit ist. Von diesen Verhandlungen hängt vielleicht die Zukunft unseres ganzen Reiches ab. Also sieh zu, dass du es nicht vermasselst...“

Dem König war sehr wohl bewusst, dass er sehr streng mit seinem Sohn war. Doch er war eben nicht nur Vater, sondern auch König. Und vielleicht würde Gornarbelethas ja so lernen, seine Pflichten ernst zu nehmen.

Oropher erhob sich und öffnete einladend die Tür.

Gornarbelethas wusste, dass er diesmal nicht so einfach davonkommen würde. Er spürte, dass Oropher diesmal nicht als Vater, sondern als Herrscher handelte. Es schmerzte ihn, dass sich sein Vater so distanziert und förmlich ihm gegenüber verhielt. Also beschloss er, das selbe zu tun.

Er erhob sich, verneigte sich vor Oropher - „mein König...“ - und verließ das Arbeitszimmer, ohne seinem Vater noch einmal ins Gesicht zu blicken. Innerlich kochte er vor Wut. Er würde denen schon zeigen, mit wem sie es zu tun hatten.

„Ich bin sicher, wir werden zu einer Übereinkunft kommen“, schloss Oropher zufrieden nach einem weiteren, langen Verhandlungstag und erhob sich. „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend...Und zögern Sie bitte nicht, es meinen Sohn Gornarbelethas wissen zu lassen, wenn Sie etwas brauchen.“ Er reichte Dukor, dem Zwergenkönig, die Hand.

Dieser ergriff sie und bedankte sich, ebenfalls äußerst zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Dann wandte er sich zum Abschied an Thranduil. Dieser verneigte sich - „thanu men...“
 

Als Dukor die Halle verlassen hatte, sagte Oropher zu seinem Sohn: „Ich bin wirklich sehr zufrieden. Auch mit dir, mein Sohn. Deine Manieren sind wirklich vortrefflich... Nur musstest du ihn 'mein König' nennen?“

Thranduil lächelte sanft. „Ich kann verstehen, warum dich das stört, Vater. Aber mach dir keine Gedanken. Ich bin dir absolut treu und ergeben. Ich finde nur, ein kleines Kompliment ab und zu schadet sicherlich nicht.“

„Du bist sehr weise, mein Sohn“, meinte Oropher nachdenklich und legte Thranduil die Hand auf die Schulter.

„Du meinst für mein Alter?“, scherzte dieser.

„Ja, in der Tat...“, antwortete der König seinen Gedanken nachhängend. Manchmal fragte er sich insgeheim, ob Gornarbelethas tatsächlich ein klein wenig Recht hatte, und Thranduil verantwortungsbewusster und vernünftiger war als gut für ihn war. Es gab Augenblicke, da bedrückte es ihn regelrecht, seinen Älteren so ernst zu sehen, so „erwachsen“. Er machte sich Sorgen, ob er ihm vielleicht zu viel aufbürdete. Oder aber es fiel ihm nur so auf, weil Gornarbelethas das komplette Gegenteil war. Die beiden waren eben wie „alles oder nichts“; manchmal fragte sich Oropher, ob es nicht besser wäre, wenn seine beiden Söhne mehr vom jeweils anderen hätten und das Verhältnis ausgeglichener wäre...Aber konnte er das überhaupt beeinflussen?

„Nimm dir den morgigen Tag frei, mein Sohn“, sagte er zu Thranduil.

Dieser war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. „Habe ich Euch verärgert?“, wollte er wissen, instinktiv mehr an den König als an den Vater denkend.

„Nein, mein Sohn“, beschwichtigte ihn Oropher. „Im Gegenteil. Ich dachte mir nur, du würdest gerne mal wieder etwas mehr Zeit für dich haben und in die Wälder reiten oder so....“

„Ja, das habe ich tatsächlich schon eine ganze Weile lang nicht mehr gemacht...“, gab ihm der Prinz nachdenklich Recht. „Vielen Dank, Vater.“
 

Nach diesem Gespräch machte sich Thranduil auf den Weg in die Ställe. Alle, denen er auf dem Weg dorthin begegnete, verneigten sich vor ihm und grüßten ihn; Thranduil erwiderte diesen Gruß stets freundlich und zuvorkommend. Dabei beschlich ihn ein Gefühl, das er schon länger nicht mehr gespürt hatte: Manchmal fragte er sich, wie es wohl wäre, kein Prinz zu sein. Einen nicht so formellen Umgang mit seinen Mitmenschen pflegen zu müssen. Und wenn ihm nicht danach zumute war, einfach niemanden zurück zu grüßen.

„Vermutlich ist das mit dem freien Tag keine so schlechte Idee, mellon nin“, überlegte Thranduil laut, als er bei seinem Pferd angekommen war. Er strich dem Hengst sanft über die Mähne. „Na, was sagst du dazu?“

Das Tier wieherte zustimmend und stupste den Elben leicht an. Dieser lachte.

Nachdem er noch einige Zeit im Stall verbracht hatte, beschloss Thranduil, früh zu Bett zu gehen. „Bis morgen, mellon nin.“

Am nächsten Morgen erwachte Thranduil noch vor den ersten Vögeln; die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen. Noch leicht schläfrig versuchte er sich daran zu erinnern, was er geträumt hatte, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er wollte soeben die Augen wieder schließen, als ihm einfiel, dass er heute frei hatte. Sofort war er hellwach und sprang aus dem Bett. Er öffnete ein Fenster und atmete gierig die kühle, frische Morgenluft ein. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er fühlte sich einfach großartig. Ein freier Tag!
 

Rasch zog sich der Prinz an: Nicht seine übliche elegante Hof-Kleidung, sondern eine angenehme, braune Hose, ein weißes Hemd, seinen grünen Kapuzenumhang und die weichen Lederstiefel. Dann schnallte er sich sein Schwert um und nahm Bogen und Köcher mit.

Klammheimlich stahl sich Thranduil in die Vorratskammer. Er hatte an diesem Tag nicht vor, am gemeinsamen Frühstück teilzunehmen. Stattdessen packte er sich mehr als genug Proviant für den Tag ein. Dann aber fiel ihm ein, dass er auf die Jagd gehen könnte oder zumindest fischen und wenn das nicht klappte, würde er sicherlich ein paar Beeren und Wurzeln finden; also legte er einen Teil der Vorräte wieder zurück und verließ die Kammer.

Auf dem Weg durch den Palast versuchte der Prinz, möglichst niemandem zu begegnen. Wie ein Schatten bewegte er sich durch die langen Korridore und Hallen, ungesehen und lautlos. Vor Gornarbelethas' Zimmertür blieb er kurz stehen. Ihr Gespräch fiel ihm wieder ein und eine leise Traurigkeit legte sich über seine Züge. Doch er schüttelte sie rasch ab; den heutigen Tag wollte er sich von nichts und niemandem verderben lassen.
 

In den Ställen angelangt, wurde er von den Pferden begrüßt. Jede freie Minute verbrachte der Prinz hier; er kannte jedes einzelne der Tiere und sprach mit ihnen, sodass er sich auch hier großer Beliebtheit erfreute.

Besonders begeistert wurde er von seinem Pferd Aurmîdh begrüßt. Es schien, als habe der Hengst nur auf ihn gewartet.

„Guten Morgen, mellon nîn.“ Thranduil strich dem Tier sanft über die Stirn und sah ihm tief in die Augen. „Na, bist du bereit für ein Abenteuer?“

Aurmîdh schnaubte zustimmend und schüttelte stürmisch seine Mähne.

Thranduil lachte. „Na dann los; auf geht’s!“
 

Auf dem Weg zum Tor erwartete Thranduil, jeden Moment auf die Leibwächter zu treffen, die ihm sein Vater aufgehalst hatte. Selbst im Palast konnte er oft keinen Schritt vor sein Zimmer setzen, ohne dass sie ihm wie Schatten verfolgten; es war schon recht lästig. Und sollte er einmal außerhalb des Palastes unterwegs sein, auf der Jagd oder auf einem Erkundungsritt, verdoppelte Oropher die Begleiter seines Sohnes immer.

Einerseits verstand Thranduil die Besorgnis seines Vaters; immerhin war er der Kronprinz und bestimmte Sicherheitsmaßnahmen mussten nun einmal getroffen werden. Doch andererseits fühlte er sich beobachtet und bevormundet, wie ein Gefangener im goldenen Käfig.

Aber an diesem Tag war weit und breit kein Leibwächter zu sehen. Auch am Tor waren keine Wachen positioniert. Nur einmal hatte Thranduil das Gefühl, beobachtet zu werden, doch als er sich blitzschnell umdrehte, war da niemand.

„Hannon le, adar. Ich danke dir, Vater“, flüsterte der Prinz leise. Er wusste, dass es Oropher sicherlich nicht leicht fiel, ihn alleine ziehen zu lassen. Dass er ihm dennoch „einen Tag frei von allem“ gab, freute Thranduil umso mehr. Im Stillen schwor er sich, dem Vater dieses Geschenk zu vergelten.

Der Prinz schwang sich auf sein Pferd und die beiden galoppierten zum Tor hinaus – schnell wie der Wind, ab in die Freiheit.

Thranduil ließ die Zügel erst wieder etwas lockerer, als er und Aurmîdh die äußersten Grenzen des inneren Reiches passiert hatten. Dass sich auch die dortigen Wachen nicht zeigten, überraschte Thranduil nicht einmal mehr wirklich: An den äußeren Grenzen waren großteils Späher und Beobachter positioniert, die darauf Wert legten, nicht gesehen zu werden. Sie kamen meist nur aus ihren Verstecken, wenn sie dem König etwas zu melden hatten oder wenn jemand das innere Reich betrat, der nicht dort lebte. Wenn aber jemand das Reich verließ, griffen die Wachen nur in Ausnahmefällen ein – wie wenn zum Beispiel ein Gefangener des Königs die Flucht versuchte.

Thranduil wusste, dass er längst erkannt worden war, also ritt er einfach weiter.

Nachdem sie also im äußeren Reich angekommen waren, überließ es der Elb seinem Pferd, die Richtung zu entscheiden. „Na, mellon nîn? Wohin soll es gehen?“

Der Hengst blieb einen Moment lang stehen. Er schaute sich um und drehte seine Ohren in alle möglichen Richtungen als wolle er herausfinden, welcher Weg denn nun der beste wäre. Dann hob er einen Vorderhuf und ging einfach seiner Nase nach; erst noch etwas unsicher, doch als er merkte, dass Thranduil ihm komplett vertraute, verfiel Aurmîdh zunächst in einen Trab und dann in einen gemächlichen Galopp.
 

Nach einer Weile kamen sie zu einer Lichtung. Thranduil schwang sich vom Pferd und wollte die Lichtung gerade betreten, als er ein Geräusch vernahm: Pferdehufe! Es klang jedoch nicht so, als säßen Reiter auf den Tieren, also bewegte sich der Elb nicht von der Stelle und wartete erst mal ab.

Nur wenige Sekunden später stürmte eine Herde Wildpferde auf die Lichtung. Die circa zwei Dutzend Tiere merkten natürlich sofort, dass sie nicht alleine waren und beäugten die beiden Fremdlinge argwöhnisch.

Thranduil blieb bewusst ihm Hintergrund, um die Tiere nicht zu erschrecken und sie dadurch womöglich in die Flucht zu treiben. Aurmîdh hingegen war weniger zurückhaltend: Selbstsicher machte er einige Schritte auf seine Artgenossen zu. Eine junge Stute der Herde kam ihm entgegen. Nachdem sie ihn einige Momente lang ausgiebig betrachtet hatte, stupste sie ihn freundlich an. Aurmîdh wieherte vor Begeisterung und schüttelte stürmisch seine Mähne, als wolle er die Stute beeindrucken. Dies genügte offenbar, um ihm auch beim Rest der Herde beliebt zu machen; es sah fast so aus, als wollten sie ihn einladen, bei ihnen zu bleiben.

Aurmîdh zögerte. Er wandte sich zum Thranduil um und sah ihn fragend an. Dieser lachte nur. „Komm her, mellon nîn.“ Er nahm seinen Proviant und machte ihn an seinem Gürtel fest. Dann nahm er Aurmîdh den Sattel und das Zaumzeug ab und versteckte es hinter einigen Büschen. „So, mein Freund, jetzt geh und genieße den Tag.“

Der Hengst zögerte noch immer. Thranduil legte seine Hände sanft unter die Schnauze seines Freundes und schmiegte sich an ihn. „Ich komme schon zurecht, mein Freund, mach dir keine Sorgen.“

Aurmîdh stupste seinen Freund leicht an. Thranduil lächelte. „Am Abend bin ich wieder bei dir... Und jetzt geh, mein Großer. Auf, auf in die Freiheit!“
 

Nachdem er die Lichtung verlassen hatte, schlenderte Thranduil in den Wald hinein. Er hatte kein bestimmtes Ziel im Kopf und beschloss, einfach seinen Instinkten zu folgen. Etwas, das er schon lange nicht mehr gemacht hatte. In seinen Tätigkeiten als Prinz verließ sich der Elb vor allem auf seine Vernunft, seinen Verstand, aber kaum auf seine Gefühle. Das hieß nicht, dass er nichts fühlte, ganz im Gegenteil. Aber er fand, dass man sich auf den Verstand besser verlassen konnte, denn der lieferte beinahe immer einen Ausweg. Gefühle hingegen konnten einen oft in eine Sackgasse bringen, wo es weder ein Vorwärts noch ein Rückwärts gab und diese Situationen mochte Thranduil nicht sonderlich. Er hatte die Lage eben gern im Griff.

Der Elb kam an einen kleinen Rinnsal, an dem er innehielt. Er legte sich daneben hin, ins weiche Moos und schloss die Augen. Wie entspannend doch dieses Geräusch war, dieses Plätschern und Fließen. Hörbar atmete Thranduil ein paar Mal aus und ein. Mit jedem Atemzug hatte er das Gefühl, dass mehr Luft in seine Lungen strömte und dass sein ganzer Körper dadurch leichter und leichter wurde. Sein Kopf schien sich zu leeren; als ob all die Gedanken, die Thranduil immerzu beschäftigen, auf einmal verblassen und all die Stimmen verstummen würden.

„So also fühlt sich Freiheit an“, dachte der Elb glücklich. Dieser innere Frieden war ihm neu, denn sein Geist war immerzu beschäftigt mit allen möglichen Dingen. Auch wenn man ihm das nach außen hin nicht angemerkt hätte; auf andere wirkte der Prinz stets ruhig und ausgeglichen. Nur seinen Vater konnte er nicht immer täuschen.

Auch die Stille genoss Thranduil, die äußere Ruhe. Zwar war es auch daheim im Palast manchmal ganz still, doch es fühlte sich hier im Wald ganz anders an: natürlicher, geborgener, entspannender. Im Palast fühlte er sich abgeschottet von der Außenwelt, hier aber war ihm, als befände er sich im Herzstück der Welt.

„Das muss ich öfter tun...“, dachte sich Thranduil, bereits in den Halbschlaf abdriftend.

Da überkam ihn auf einmal dieses Gefühl: Etwas stimmte nicht! In voller Alarmbereitschaft war der Elb augenblicklich auf den Beinen und griff nach seinen Waffen.

Ein Geräusch kam näher. Schritte.

Thranduil legte einen Pfeil an. Kein Elb würde jemals solch laute Schritte verursachen.

Doch noch bevor Thranduil weiter überlegen konnte, stand sie auf einmal vor ihm: eine Menschenfrau!

Währenddessen im Palast...
 

Als Gornarbelethas am Frühstückstisch erschien, fand er dort zwar seinen Vater, nicht aber seinen Bruder vor. Dies fiel ihm sofort auf, weil Thranduil nie ein gemeinsames Frühstück verpasste; er war sogar meistens der Erste, der am Tisch saß.

„Wo ist er, Vater?“, wollte Gornarbelethas augenblicklich wissen.

„Wo ist wer?“, fragte Oropher nach, in Gedanken versunken auf einer Traube herumkauend.

„Mein Bruder natürlich!“, antwortete der Prinz gereizt. Die Unaufmerksamkeit seines Vaters ärgerte ihn; Gornarbelethas war eben immer schon jemand gewesen, der gerne im Mittelpunkt stand und alle Blicke auf sich zog.

„Der ist nicht da...“, entgegnete der König zerstreut.

„Das sehe ich....!“, schnaubte der Jüngere. „Aber ich will wissen, wo er ist!“ Er war so wütend, dass ihm fast der Kragen platzte. „Vater, sag es mir!“

Das schien nun endlich Orophers Aufmerksamkeit zu erregen. Er sah seinen Sohn an und meinte ruhig: „Du solltest auf dein Temperament achten, mein Sohn...“

Gornarbelethas wollte eben etwas erwidern, als eine Elbin den Saal betrat. Sie verneigte sich und verkündete: „Mein Prinz, seine königliche Hoheit Dukor wünscht Euch zu sehen.“

„Er soll warten!“ Gornarbelethas knirschte mit den Zähnen. Warum musste man ihn andauernd stören, wenn er beschäftigt war?

„Eure Hoheit, der König meinte, es sei dringend“, beharrte die Elbin auf ihrem Auftrag.

Gornarbelethas musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzubrüllen. „Was gibt es denn? Was will er von mir?“

„Er möchte von Euch sein Frühstück serviert bekommen...“, erklärte die Elbin zögerlich, bereits eine Reaktion erahnend.

„Was!?“ Jetzt reichte es dem Prinzen. Hatte der Zwerg nun völlig den Verstand verloren?

„Du kannst diesem stinkenden, faulen...“

„Genug!“, donnerte Oropher. „Geh und erfülle deine Pflichten. Und behandle unseren Gast mit Respekt; sonst darfst du die nächste Nacht im Kerker verbringen...!“

Der König war lange geduldig, aber irgendwann war auch bei ihm Schluss. Und manchmal wusste er sich einfach nicht mehr zu helfen...

„Na schön!“, fauchte Gornarbelethas. „Ich gehe ja schon...“
 

Nur wenige Minuten später stand Gornarbelethas mit einem voll beladenen Tablett vor den Gemächern des Zwergenkönigs. Er atmete noch einmal tief durch, dann klopfte er an.

„Wer ist da?“, erklang von drinnen die tiefe Stimme Dukors.

„Ich bringe Euch Euer Frühstück“, antwortete Gornarbelethas so höflich wie möglich.

Drinnen war ein Rascheln zu hören, dann ein dumpfer Aufprall, gefolgt von ein paar polternden Schritten. Die Tür wurde aufgerissen und Dukor höchstpersönlich stand vor dem Prinzen.

„Das wurde auch Zeit!“, knurrte der Zwerg ihn unfreundlich an.

Gornarbelethas bemühte sich, nichts zu erwidern. „Wo darf ich es abstellen?“

„Komm her. Zum Bett.“

Der Elb stellte das Tablett ab und wandte sich zum Gehen.

„Warte! Ich will erst sehen, ob alles passt“, kommandierte ihn der Zwerg zurück.

Um die Fassung zu bewahren, verschränkte der Elbenprinz die Arme vor der Brust. Er konnte es sich aber nicht verkneifen, dem Zwerg einen vernichtenden Blick zuzuwerfen, als der gerade nicht her sah.

„So, was haben wir denn da...?“ Dukor inspizierte ausgiebig sein Frühstück. Zunächst schien er ganz zufrieden, doch auf einmal verfinsterte sich sein Blick. „Erdbeeren...Wo sind meine Erdbeeren?“ Fordernd sah er Gornarbelethas an.

Dieser hob abwehrend die Hände. „Tut mir Leid, davon weiß ich nichts...“

„Du...!“, argwöhnte der Zwergenkönig. Plötzlich – von einem Moment auf den anderen – war er auf hundertachtzig und begann zu schreien: „Du...Bengel! Du...Taugenichts!“

Gornarbelethas wich vor dem wütenden Zwerg zurück, da dieser seine Axt ergriffen hatte und damit nach dem Prinzen zielte.

„Ich schwöre Euch, ich kann nichts dafür...“, versuchte sich der Elb zu retten.

„Lügner!“, brüllte Dukor. „Raus hier, raus! Und komm mir ja nicht ohne meine Erdbeeren zurück!“

Der Prinz floh. Er rannte um sein Leben. Als er um die nächste Ecke bog, stieß er mit jemandem zusammen.

Gornarbelethas blickte geradewegs in das erzürnte Gesicht seines Vaters.

Ein paar Momente lang sah Thranduil die Menschenfrau einfach nur schweigsam an. Sie war recht schön – zumindest für einen Menschen: Sie hatte langes, schwarzes Haar, das ihre Haut blasser, ihre Lippen dafür aber röter erschienen ließ. Ihre Augen waren grün wie der Wald – was Thranduils Elbenaugen ihm trotz der Distanz zwischen ihnen verrieten; und ihre Gesichtszüge waren fein und ebenmäßig.

„Bitte schießt nicht...“ Ihre flehend bittende Stimmte lenkte den Prinzen von seinen Beobachtungen ab und seine Aufmerksamkeit zurück auf den Bogen in seiner Hand, der noch immer gespannt war. Rasch ließ er ihn sinken.

„Verzeiht...“, fügte er hinzu.

Da erst merkte Thranduil, dass die Frau am ganzen Körper zitterte. Ihr Kleid war schmutzig und an manchen Stellen zerrissen. Und über ihren Unterarm zog sich eine frische, lange Schnittwunde.

„Mylady...!“, entfuhr es dem Elben erstaunt und erschrocken zugleich. „Wer hat Euch das angetan?“

Doch anstatt einer Antwort bat sie nur flehentlich: „Helft mir...“

Dann wurde sie ohnmächtig.
 

Thranduil überlegte nicht lange: Da er selbst von Heilkunde kaum eine Ahnung hatte, musste er sie so schnell wie möglich zu den Heilern des Hofes bringen. Während er die Menschenfrau hochhob und sich mit ihr im Arm auf die Suche nach Aurmîdh machte, schwor er sich, seinen dürftigen Heilkenntnissen mehr Zeit zu widmen. Er wollte ja schließlich auf alles vorbereitet sein.
 

Problemlos fand der Elbenprinz zur Lichtung zurück, wo er sein Pferd gelassen hatte. Als er ankam, kam Aurmîdh sofort auf ihn zu – ganz so als spüre er, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Tut mir Leid, mellon nîn, aber wir müssen unseren freien Tag abbrechen...Ich brauche deine Hilfe...“ Thranduil deutete auf die bewusstlose Frau.

Aurmîdh schnaubte zustimmend. Er verabschiedete sich von den anderen Pferden und ging dann in die Knie, damit Thranduil mit der Frau im Arm aufsteigen konnte. Sattel und Halfter ließen die beiden zurück; es würde nur unnötige Zeit verschwenden es anzulegen und außerdem konnten sie jederzeit zurückkommen, um es zu holen.

„Rasch, mein Freund, rasch“, bat der Elb sein Pferd.

Aurmîdh ließ sich das nicht zweimal sagen. Er galoppierte, als ob sein Leben davon abhängen würde.
 

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Währenddessen im Palast...
 

„Was ist hier los?“, wollte Oropher mit strenger Stimme wissen, nachdem er seine Robe wieder zurechtgerückt hatte. „Dieses Geschrei ist durch den ganzen Palast zu hören... Also, was hast du angestellt?“

„Ich habe...Moment! Was? Was ich angestellt habe?“ Gornarbelethas war ziemlich aufgebracht über diese für seinen Vater offenbar völlig logische Schlussfolgerung. „Das ist nicht fair von dir, Vater! Dass du gleich davon ausgehst, dass es meine Schuld war.“

Der Prinz erwartete Widerspruch, eine Schimpftirade oder dergleichen. Doch zu seiner Überraschung meinte Oropher: „Ja, da hast du Recht.“

Er wollte soeben etwas hinzufügen, als eine der Wachen auf sie zugeeilt kam. „Mein König! Prinz Thranduil ist soeben zurückgekommen. Mit einer verwundeten Menschenfrau!“

„Lass uns später darüber sprechen, mein Sohn“, sagte Oropher zu Gornarbelethas. „Ich muss nach deinem Bruder sehen.“

Gornarbelethas nickte zustimmend. „Ich komme mit.“
 

Die beiden Hoheiten begaben sich zu den Räumen der Heiler. Dort trafen sie Thranduil an, der ungeduldig vor den verschlossenen Türen auf und ab tigerte.

„Mein Sohn!“ Oropher breitete seine Arme aus, glücklich darüber, seinen Ältesten unversehrt zu sehen, und umarmte ihn. „Was ist geschehen?“

Thranduil berichtet ihm und Gornarbelethas, was sich ereignet hatte.

Gerade als er geendet hatte, wurde die Tür geöffnet und ein Heiler kam heraus. Er verneigte sich. „Mein König. Die Herren Prinzen. Unser Gast ist erwacht.“

„Kann ich zu ihr?“, war das erste, das Thranduil dazu einfiel. Eine Äußerung, die – entgegen seines sonstigen Verhaltens – überraschend spontan, ja fast schon impulsiv klang. Dies fiel ihm offenbar auch selbst auf, denn schon im nächsten Moment rechtfertigte er sich mit leicht geröteten Wangen: „Ich war es, der sie gefunden hat. Ich fühle mich für sie verantwortlich...“

Oropher ersparte seinem Älteren mögliche Hänseleien von Seiten Gornarbelethas' indem er den Heiler anwies: „Lasst uns zu ihr!“

Der Angesprochene verneigte sich ergeben und öffnete die Tür zu den dahinter liegenden Räumen der Heiler.
 

Kaum war die Tür hinter dem König und seinen beiden Söhnen ins Schloss gefallen, erhob sich ein lautes Geschrei. Es stammte eindeutig von einer Frau, von einer Nicht-Elbin.

Augenblicklich eilte Thranduil in den nächsten Raum, gefolgt von seinem Vater, Gornarbelethas und dem Heiler. Dort erklärte sich ihnen der Ursprung des Tumultes: Die junge Frau, die Thranduil in den Wäldern begegnet war, kauerte zitternd hinter einem Stuhl, der ihr offenbar als Versteck und Schutz dienen sollte vor den drei Heilern, die vergeblich versuchten, sich ihr zu nähern.

„Sie lässt niemanden an sich heran, mein König“, erklärte eine Heilerin. „Möglicherweise steht sie unter Schock...“

„Möglicherweise?“, fragte Gornarbelethas skeptisch nach. „Ihr versteht wohl nicht allzu viel von Eurem Beruf...“

Oropher strafte ihn mit einem wütenden Blick. „Schweig, mein Sohn. Du steckst auch so schon genug in der Klemme...“

An die Heilerin gewandt meinte er: „Beachtet ihn nicht...“

Und zur Frau: „So lass dir doch helfen, mein Kind...“ Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Das allein genügte, dass sie noch mehr anfing zu zittern und ganz bleich wurde im Gesicht.

Da erblickte sie Thranduil. Doch anstatt etwas zu sagen, sah sie ihn nur mit einem flehenden Ausdruck in den Augen an; als wolle sie ihn – wie in den Wäldern – um Hilfe bitten.

Thranduil reagierte sofort. Er streckte seinen Arm aus und hielt seinen Vater am Ärmel fest. Dieser sah seinen Sohn – erstaunt über diese Geste – verwundert an. Doch noch bevor er nachfragen konnte, trat Thranduil vor ihn und versperrte ihm somit den Weg.

„Vater, lasst mich mit ihr reden. Sie kennt mich. Vielleicht kann ich sie beruhigen.“

Oropher schien trotz der Logik, die den Worten seines Sohnes innewohnte, zu zögern. Er war eben besorgt um seinen Sohn, wollte ihn keiner auch nur möglichen Gefahr aussetzen.

Thranduil kannte seinen Vater so gut, dass er wusste, was in dessen Kopf vorging. Dementsprechend fand er auch die richtigen Worte, um ihn zu beruhigen: „Es ist nur eine einzelne, unbewaffnete Menschenfrau, adar. Was soll mir groß passieren?“

„Na gut...“, gab Oropher mehr oder weniger überzeugt seine Zustimmung.

Als Thranduil sich nicht von der Stelle bewegte, wollte der König wissen: „Worauf wartest du noch, mein Sohn?“

„Ich weiß, es ist viel verlangt, adar“, antwortete der Kronprinz, „doch ich bitte dich und alle anderen hier Anwesenden, euch zurückzuziehen, damit wir uns ungestört unterhalten können.“

Aus Orophers Miene konnte man schließen, dass er diesen Vorschlag seines Sohnes mehr als missbilligte.

Zu aller Überraschung war es Gornarbelethas, der sich auf Thranduils Seite stellte: „Vertrau ihm, Vater. Er weiß schon, was er tut...“

Der König wollte etwas erwidern, schloss aber den Mund ohne ein Wort gesagt zu haben. Stattdessen legte er seinem älteren Sohn die Hand auf die Schulter und sah ihn mit einem Blick an, der Bände sprach.

„Ihr habt den Kronprinzen gehört...“, meinte er dann zu den anderen und verließ zusammen mit ihnen den Raum.
 

Als Thranduil und die Menschenfrau alleine waren, herrschte zunächst einige Momente lang fast absolute Stille; seine Elbenohren hörten nur das Atmen der Menschenfrau.

Der Prinz wartete darauf, dass sie auf ihn zu kam. Er hatte ihr gezeigt, dass er ihr helfen wollte. Jetzt war sie an der Reihe.

Dennoch trat er einige Schritte zurück und lehnte sich an die Wand neben einem großen Fenster, durch das man die königlichen Gärten erblicken konnte. Thranduil bemühte sich, die verängstigte Frau nicht zu auffällig anzustarren, um sie nicht dadurch möglicherweise noch mehr zu verschrecken; gleichzeitig aber wollte er sie nicht aus den Augen lassen.

Nach einigen Minuten ergriff sie schließlich das Wort. „Ich danke Euch.“ Das war alles. Sie wartete offenbar auf seine Reaktion.

„Ich bin Thranduil“, meinte der Elb freundlich. „Verratet Ihr mir Euren Namen?“

„Kalera...“, kam es zaghaft zurück.

„Ihr braucht keine Angst zu haben, Kalera“, versuchte der Prinz die junge Frau zu beruhigen. „Ich tue Euch nichts. Und auch sonst niemand hier. Wir wollen Euch nur helfen.“

Zaghaft kam Kalera hinter dem Stuhl hervor.

„Setzt Euch doch“, schlug Thranduil vor und zog für sich ebenfalls einen Stuhl heran, jedoch immer noch weit genug entfernt, um der jungen Frau ihren Platz zu lassen. „Wollt Ihr mir erzählen, was geschehen ist?“

Kalera setzte sich und nickte zögernd.

„Ich höre Euch zu. Lasst Euch ruhig Zeit...“ Thranduil versuchte, auch weiterhin so entspannt und ruhig wie möglich zu wirken – was ihm überhaupt nicht schwer fiel.

„Es war Abend...“, begann Kalera zu erzählen. „Meine Familie und ich hatten Verwandte besucht und auf dem Heimweg machten wir Rast, um uns etwas auszuruhen. Wir machten ein Feuer und wurden dabei wohl etwas schläfrig. Jedenfalls haben wir sie nicht kommen hören...“

„Wen habt ihr nicht kommen hören?“, ermunterte Thranduil die junge Frau zum Weitererzählen.

„...Die Orks...“ Kaleras Stimme begann zu zittern und sie schlang die Arme um den Körper. „Es waren bestimmt zwei Dutzend. Wir hatten keine Chance...“

Thranduil wagte es nicht, weiter nachzufragen. Stattdessen meinte er: „Es tut mir sehr Leid, Kalera, was Euch passiert ist. Ich werde das mit dem König besprechen und überlegen, wie wir handeln sollen. Aber bitte wisst, Ihr seid hier in Sicherheit. Es wird Euch nichts geschehen. Dafür gebe ich Euch mein Wort.“

„Ich danke Euch...“, flüsterte die junge Frau und lächelte Thranduil traurig an.

„Darf ich Euch bitten, Euch von unseren Heilern untersuchen zu lassen?“, bat der Prinz. „Sie wollen Euch – ebenso wie ich – nur helfen.“

Kalera nickte zaghaft, aber zustimmend.

„Kommt Ihr nachher wieder zu mir?“, wollte sie wissen.

„Das werde ich“, versprach Thranduil. Er erhob sich und verließ den Raum Richtung Thronhalle.
 

Dort wartete Oropher schon ungeduldig auf ihn. „Da bist du ja endlich, mein Sohn.“ Wie zuvor schloss er Thranduil in die Arme.

„Schon gut, Vater“, lachte dieser. „Alles bestens.“

„Hat dir die Frau etwas erzählt?“, wollte Oropher wissen.

Sofort hörte Thranduil auf zu lachen. „Ja, hat sie. Etwas Furchtbares.“ Er berichtete seinem Vater, was Kalera ihm erzählt hatte.

Als er geendet hatte, gab Oropher zu: „Ich habe kein sehr gutes Gefühl bei dieser Sache...“

„Was heißt das Vater?“

„Das weiß ich noch nicht... Es wird sich schon noch zeigen....“

Oropher ließ einige Augenblicke verstreichen, dann entschied er. „Sie darf bleiben. Vorerst.“

„Ist das alles für heute?“

König Oropher erhob sich von seinem Thron, um seine vom vielen Sitzen etwas steifen Gliedmaßen auszuschütteln und sah seinen Berater fragend an.

„Nicht ganz, mein König...“

„Was ist denn noch?“, forderte Oropher seufzend Auskunft und rückte seine Krone zurecht. „Wen darf ich noch in meinen Hallen empfangen?“

„Euren Sohn, mein König“, antwortete der Berater bereitwillig. „Er bittet um eine Audienz.“

„Mein Sohn bittet um Audienz?“ Oropher glaubte, nicht richtig zu hören. „Welcher?“

„Der jüngere, mein König, Prinz Gornarbelethas.“

„Gornarbelethas bittet um Audienz?“, meinte der König mehr zu sich selbst als zum anderen. „Da stimmt doch etwas nicht...“ Doch er überlegte nicht lange, sondern befahl: „Lasst ihn eintreten. Und lasst uns allein.“

Der Berater verneigte sich untertänig und entfernte sich dann.

Wenige Momente später trat Gornarbelethas ein. Er kam zum Thron und blieb wie ein einfacher Bittsteller wenige Meter davor stehen, um sich zu verneigen. „Mein König...“

Oropher war so verblüfft, dass er nach Worten suchen musste. „Mein Sohn...was ist los?“

„Wieso denkt ihr, dass etwas los ist, Vater?“, antwortete Gornarbelethas mit einer Gegenfrage. „Gefällt Euch mein Benehmen etwa nicht?“

„Doch, doch“, beeilte sich der König zu sagen. „Es...es überrascht mich nur etwas...“ Er konnte es seinem Sohn ansehen, dass es diesem offenbar sehr ernst war. Also fügte Oropher rasch hinzu: „Aber sag' mir: Was führt dich zu mir?“

„Mein König, ich bin gekommen, um Gerechtigkeit zu finden“, kam die Antwort.

Noch immer verwirrt sah Oropher seinen Sohn an. Also fuhr dieser, in einem etwas ungehalteneren Ton, fort: „Die Sache mit dem Zwergenkönig, sie soll geklärt werden.“

„Mein Sohn, ich könnte dir nicht mehr recht geben“, entgegnete der Elbenkönig positiv überrascht. „Und ich muss schon sagen, dein Verhalten ist sehr lobenswert.“

Gornarbelethas deutete zum Dank eine Verbeugung an.

Oropher beschloss, sich später über diesen plötzlichen Sinneswandel seines Jüngeren zu wundern und rief eine Wache herbei. „Geh zu König Dukor und richte ihm aus, dass ich ihn gerne sprechen würde.“

Die Wache verneigte sich und tat wie ihr geheißen.
 

Wenige Minuten später betrat ein verärgerter Zwergenkönig die Hallen. „Ich bin kein Hund, den man einfach so herbeipfeifen kann, Oropher! Ich hoffe, das wisst Ihr“, knurrte er den Elbenkönig an.

„Mein lieber Freund, das war nicht meine Absicht“, entgegnete Oropher diplomatisch. „Ich werde nächstes Mal selbst erscheinen, damit mein Anliegen entsprechend vorgetragen wird.“

Dukor grunzte, scheinbar zufrieden mit diesem Vorschlag, und wirkte nun schon viel friedlicher.

Doch anstatt das Thema zu wechseln, fragte Oropher wohlwollend nach: „Mein Freund, Ihr wirkt etwas... 'unausgeglichen' heute... Es fehlt Euch doch nicht womöglich etwas?“

Der Zwergenkönig seufzte und strich über seinen Bart. „Da habt Ihr wohl recht; ich bin tatsächlich etwas jähzornig heute. Darum habe ich wohl auch Euren Sohn heute Morgen etwas ungerecht behandelt...Es war eben ein ungünstiger Zeitpunkt.“

Er blickte kurz zu Gornarbelethas und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Der Elbenprinz musste sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht etwas zu erwidern; in seinen Ohren klang das nicht wie eine Entschuldigung, sondern eher wie ein „Selbst Schuld!“ Was erlaubte sich dieser freche Zwergenkönig eigentlich? Ihn, Prinz Gornarbelethas, gleich zweimal an einem Tag so zu behandeln?

Doch noch bevor Gornarbelethas etwas sagen oder tun konnte, entschärfte Oropher die Situation: „Mein Sohn, ich glaube, die Sache hat sich soeben geklärt. König Dukor hat eingesehen, dass es nicht deine Schuld war.“

Der Zwerg wollte widersprechen, doch Oropher war schneller: „Du kannst gehen, mein Sohn. Ich werde später nochmals mit dir sprechen. Ich danke dir vielmals für deine Dienste.“ Er neigte leicht seinen Kopf; eine Ehrung, die man vom König nur selten erhielt. Das wusste auch Gornarbelethas und so schaffte er es, sich wortlos zu verneigen und sich abzuwenden. Im Hinausgehen hörte er noch, wie sein Vater zum Zwergenkönig sagte: „Nun, mein Freund, erzählt mir doch, wer es gewagt hat, Euch so zu ärgern...“

Am nächsten Morgen klopfte es schon recht früh an die Türe von Orophers Gemächern.

„Wer ist da?“, wollte der König wissen, der gerade dabei war, sich fertig anzukleiden.

„Ich bin es, adar... Thranduil“, kam von draußen die Antwort.

„Tritt ein, mein Sohn, tritt ein“, erlaubte Oropher, während er versuchte, die Falten seines Umhangs zu bändigen.

Die Tür wurde geöffnet und der Kronprinz trat ein. „Guten Morgen, adar... Warte, ich helfe dir...“ Thranduil zupfte Orophers Umhang zurecht. „So, passt.“

„Vielen Dank, ion nin. Du bist da einfach viel geschickter als ich....“, scherzte der Ältere. „Wenn du einmal König bist, wird dein Umhang sicher immer perfekt sitzen...“

Manch einer hätte diese Worte des Königs vielleicht einer Eitelkeit zugeschrieben, doch Oropher war alles andere als eitel. Dennoch legte er Wert auf sein Erscheinungsbild; er war ja immerhin der König.

„Das hast du sicher von deiner Mutter...“ In liebevoller Erinnerung schwelgend sah Oropher erst seinen Sohn und dann das Gemälde an der Wand an, auf dem seine Gattin abgebildet war.

Doch dann schüttelte er den Gedanken ab und wandte sich wieder seinem Sohn zu, der diskret geschwiegen hatte. „Aber nun sag mir, mein Sohn: Was ist so wichtig, dass es nicht mal bis zum Frühstück warten kann?“

Thranduils Wangen färbten sich einen Augenblick lang leicht rosa, obwohl er wusste, dass dies keine Rüge war.

„Ich...äh...ich wollte dich um einen Gefallen bitten, adar“, gab der Prinz zu.

„Sag' mir, mein Sohn. Ich werde mein Möglichstest tun.“ Ermutigend legte er dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter und zeigte ihm dadurch, dass er seine volle Aufmerksamkeit hatte.

„Nun, ich war heute schon bei unserem Gast...Kalera...“, begann Thranduil.

„Um diese Uhrzeit schon?“, fragte Oropher erstaunt nach, obwohl er wusste, dass Thranduil ein Morgenmensch war.

Dieser nickte zur Bestätigung. „Ja, und sie hat mich gebeten, ihr ein wenig die Gegend zu zeigen. Damit sie sich besser einleben kann...“

„Einleben!?“ Der König wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.

„Jedenfalls“, fuhr Thranduil fort, bevor sich sein Vater noch weitere Gedanken dazu machen konnte, „jedenfalls bitte ich dich, mich für eine Zeit lang von meinen königlichen Pflichten zu entbinden, adar.“

„Weil ein Mädchen dich bittet, ihm die Gegend zu zeigen?“, fragte Oropher ungläubig. Thranduil war doch sonst so vernünftig. Und genau das bewies dieser seinem Vater im nächsten Moment wieder einmal.

„Weißt du, es ist so, adar: Ich fühle mich einfach für sie verantwortlich. Und jemand muss sich schließlich um sie kümmern, sie beschützen und so... Ich verspreche dir, es ist nur temporär. Und du weißt, dass ich nur Versprechen gebe, die ich auch halten kann.“

In dieser Hinsicht musste Oropher seinem Sohn absolut Recht geben. Und außerdem hatte er sich in letzter Zeit ja viele Gedanken gemacht, ob Thranduil nicht etwas zu verantwortungsbewusst war. Daher meinte er: „Du hast es dir ja wirklich verdient, ion nin...“

„Du erlaubst es?“ Thranduil war ganz aus dem Häuschen und strahlte übers ganze Gesicht.

Oropher nickte, erfreut seinem Sohn damit eine so große Freude zu machen.

„Du wirst es nicht bereuen, adar. Ich werde danach doppelt so viel arbeiten wie vorher...“, versprach Thranduil übermütig.

Oropher lachte. So hatte er seinen Sohn noch nie erlebt. Dieses Mädchen musste es ihm ja ganz schön angetan haben.

„Nun geh schon zu ihr“, schlug er vor.

Das ließ sich Thranduil nicht zweimal sagen.

Erfreut über die Zustimmung seines Vaters betrat Thranduil wenig später die Räume der Heiler. Kalera hatte die Nacht dort verbracht - „zur Beobachtung“, wie es geheißen hatte. Doch nun sollte sie in einem der Gästezimmer untergebracht werden und das wollte Thranduil höchstpersönlich übernehmen.

Er kam also in den Raum, in dem er sich am Tag vorher mit Kalera unterhalten hatte, doch das Bett war leer. Und von der Menschenfrau keine Spur.

„Kalera!?“ Es kam keine Antwort.

Sofort fielen Thranduil die allerschlimmsten Szenarien ein, was mit ihr passiert sein könnte. Die Orks, vermutlich hatten sie die Orks geholt. Oder die Trolle...

Da fiel dem Elben plötzlich auf, wie absurd diese Gedanken waren. Es hätte doch sicherlich jemand gemerkt, wenn irgendwer in den Palast eingedrungen wäre und eine Frau entführt hätte....Was war nur los mit ihm?

„Mein Prinz!?“ Eine sanfte Stimme riss Thranduil aus seinen Gedanken. Er blickte auf. Vor ihm stand Kalera in einem sehr hübschen, violetten Kleid.

„Ihr... Ihr seht bezaubernd aus...“, stammelte der Elb.

„Geht es Euch gut?“, wollte Kalera wissen, nicht auf das Kompliment eingehend, und griff nach Thranduils Hand.

Dieser war erstaunt über die Berührung, ließ es sich aber nicht anmerken. Stattdessen ergriff er die warme, weiche Hand der Menschenfrau und lächelte sie an.

„Alles gut, Mylady... Aber viel wichtiger ist: Wie geht es Euch?“

„Es geht mir ganz okay, soweit....“ Kalera lächelte schüchtern zurück. „Ich habe überraschend gut geschlafen hier...“

„Wenn Ihr mit mir mitkommt, werdet Ihr heute Nacht sogar noch viel besser schlafen...“ Augenblicklich hielt sich der Elb die Hand vor den Mund. Hatte er das soeben wirklich gesagt?

„Verzeiht, Mylady, ich wollte nicht...“

„Schon gut“, entgegnete Kalera freundlich lächelnd und ergriff auch Thranduils andere Hand. „Kommt. Zeigt mir das Schloss.“

Dankbar für ihre Reaktion ließ sich der Elbenprinz von ihr aus dem Zimmer ziehen. Doch er kam nicht umhin, sich selbst innerlich zu rügen. Er musste wirklich besser aufpassen. Sonst würde er sich hier noch total blamieren.
 

Nachdem Thranduil Kalera einige wichtige Räume des Palastes gezeigt hatte, wollte sie unbedingt die Ställe sehen: „Lasst uns zu den Pferden gehen, Prinz Thranduil, ich bitte Euch.“ Und da sie ihn mit diesen großen, wunderschönen Augen ansah, konnte er natürlich nicht „nein“ sagen.

„Außerdem würde ich gerne etwas mit Euch allein sein...“, fügte Kalera spitzbübisch hinzu. Auf ihrem Rundgang im Palast waren die beiden stets von Dienern und der Wache umringt gewesen und von Schaulustigen – vor allem Kindern -, die einen Blick auf die Menschenfrau erhaschen wollten.

Thranduil wusste nicht warum, aber irgendwie ließ diese Aussage Kaleras sein Herz schneller schlagen. Es fühlte sich seltsam an, wirklich seltsam. Aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Also beschloss er, es herauszufinden.

„Hier entlang, Mylady...“

Kalera hakte sich wie eine gute Bekannte einfach so bei ihm ein und ließ sich zu den Ställen führen. Thranduil fand das aus irgendeinem Grund recht beeindruckend, da sie sich ja immerhin erst seit einem Tag kannten. Doch gleichzeitig freute es ihn, denn es musste bedeuten, dass sich Kalera bei ihm sicher fühlte und ihm vertraute. Und das war ein schönes Gefühl.

„Ihr habt es wunderschön hier...“, bemerkte Kalera, als sie durch die Gärten Richtung Stallungen gingen. „Wirklich wunderschön...“

„Ihr seid auch wunderschön...“, gab Thranduil zurück und fragte sich im nächsten Moment schon wieder, woher er den Mut genommen hatte, das zu sagen.

Kalera errötete und lächelte, nicht wissen, was sie darauf erwidern sollte.

„Ich...äh...“ Der Prinz konnte das Kompliment schlecht zurücknehmen, wollte er auch nicht. Also versuchte er, es einfach zu überspielen, ebenso wie sein flatterndes Herz, das es ihm noch schwieriger machte, die richtigen Worte zu finden. „Ich...äh...kommt, lasst uns Aurmîdh besuchen...“

„Aurmîdh?“, stieg Kalera auf sein Ablenkungsmanöver ein.

„Mein treues Pferd“, antwortete Thranduil. „Das Euch aus dem Wald hierher gebracht hat.“

Als die beiden die Ställe betraten, wieherte Aurmîdh, als er seinen Freund schon von Weitem erkannte.

„Hallo, mellon nîn! Wie geht es dir heute?“ Thranduil kraulte das Tier zwischen den Ohren und strich ihm sanft über die Nüstern.

Dann streckte er Kalera, die ein wenig weiter hinten stehen geblieben war, die Hand hin. „Kommt her. Er beißt nicht. Kommt, ich helfe Euch...“

Sie ergriff seine Hand und folgte ihm langsam und zaghaft in die Pferde-Box.

Vorsichtig nahm er ihre Hand und legte sie zusammen mit seiner auf Aurmîdhs Mähne, was wieder dieses seltsame Kribbeln in Thranduil hervorrief. Er versuchte, es zu ignorieren.

„Seht Ihr? Ihr könnt es...“, lobte er Kalera. Und dann fügte er ohne nachzudenken hinzu: „Habt Ihr bei Euch zuhause keine Pferde?“

Selbst wenn Kalera nicht zur Salzsäule erstarrt wäre und sich nicht von ihm abgewandt hätte, hätte Thranduil begriffen, dass er soeben etwas sehr, sehr Dummes gesagt hatte.

„Ich...äh...Das wollte ich nicht...“ Er hätte sich ohrfeigen können.

„Ist schon gut...“, kam es nicht ganz überzeugend von Kalera.

„Nein, es...es tut mir wirklich Leid. Ich habe nicht nachgedacht und...“

„Lasst uns nicht davon sprechen, ja?“, bat die Menschenfrau.

„Natürlich“, stimmte der Elb zu. „Verzeiht mir, das war wirklich ungeschickt von mir...“

Da drehte sie sich zu ihm um. Tränen schimmerten in ihren großen, grünen Augen. Und das seinetwegen!

Thranduil wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Er sah nur ihr Gesicht, das dem seinen immer näher kam. Er hörte sein Herz laut klopfen und hatte das Gefühl, es müsse jeden Moment seinen Brustkorb sprengen. Doch er war nicht imstande, sich zu rühren. Er sah nur diese wunderschönen Augen...
 

„Hmhm...!“ In diesem Moment räusperte sich jemand.

„Hmhm...“

Thranduil zuckte leicht zusammen, Kalera aber erschrak so sehr, dass sie stolperte, vorwärts fiel und an Thranduils Brust landete.

„Was soll das werden?“

Sich ertappt fühlend wandten sich beide, sowohl der Kronprinz als auch die Menschenfrau, der Stimme zu, die sie in ihrer Zweisam

keit gestört hatte.

„Gornarbelethas!?“, entfuhr es Thranduil.

„Ja, Bruder.“ Der Angesprochene grinste hämisch.

„Was machst du hier?“, wunderte sich der Ältere. Gornarbelethas war doch nie in den Ställen...

„Die Frage ist wohl eher, was du hier machst“, konterte der Jüngere geschickt und deutete auf Kalera.

Da wurde Thranduil erst wirklich bewusst, dass die Menschenfrau noch immer an seiner Brust lag, und er die Arme um sie geschlungen hatte – ein unbeabsichtigter Reflex, als sie gestürzt war. Der Kronprinz musste sich alle Mühe geben, nicht augenblicklich rot zu werden; er stellte Kalera wieder auf die Beine und zupfte sein Hemd zurecht. Er war seinem Bruder doch wirklich keine Rechenschaft schuldig, oder? Und daher entgegnete er mit nach Auskunft fordernder Stimme: „Was willst du?“ In seinen Ohren klang es doch etwas schroffer und unhöflicher als beabsichtigt, doch weder Kalera noch Gornarbelethas zeigten eine dementsprechende Reaktion.

„Vater will dich sprechen“, rückte Gornarbelethas dann schließlich doch heraus. „So schnell wie möglich“, fügte er mit einem Seitenblick auf die Menschenfrau hinzu.

Dies entging Thranduil natürlich nicht; er wandte sich an Kalera und bot ihr seinen Arm an. „Mylady?“

Doch noch bevor sie reagieren konnte, fuhr Gornarbelethas dazwischen. „Alleine! Vater will dich alleine sprechen!“ Auch seine Aussage fiel ziemlich ruppig aus, sogar für seine Maßstäbe.

Thranduil blickte von Kalera zu Gornarbelethas und wieder zu Kalera. „Verzeiht, Mylady, entschuldigt mich. Ich bringe Euch noch zurück zu Eurem Gemach.“

„Nicht nötig, das übernehme ich“, mischte sie Gornarbelethas schon wieder ein. Und ohne Thranduils Reaktion abzuwarten, bot er Kalera seinen Arm an. „Wenn ich bitten darf...“

Als Kalera sich zögernd bei ihm einhakte, versetzte das Thranduil einen Stich und einen Augenblick lang fühlte er furchtbare Wut auf seinen Bruder in ihm aufflackern.

Doch dann drehte sich Kalera zu ihm um, sie ließ Gornarbelethas' Arm los und knickste vor dem Kronprinzen, nur um ihm dann die Hand zu reichen. „Ich danke Euch“, ließ sie ihn wissen und steckte ihm heimlich, ohne dass Gornarbelethas es merkte, einen Zettel zu.

Thranduil verneigte sich ebenfalls und mit einem besorgt-ermahnenden Blick an Gornarbelethas verließ er die Ställe Richtung Thronhalle.
 

Als Thranduil die Thronhalle betrat, merkte er schon von Weitem, dass etwas nicht ganz in Ordnung war. Sein Vater stand etwas abseits vom Thron und unterhielt sich mit einem seiner Kundschafter, so leise, dass selbst Thranduils Elbenohren nichts hören konnten, doch die Miene des Königs zeugte von Besorgnis.

Als Oropher Thranduils Anwesenheit gewahr wurde, beendete er das Gespräch sofort und schickte den Kundschafter hinaus.

„Ihr wolltet mich sprechen, Vater?“, fragte Thranduil angesichts des offensichtlichen Ernstes der Lage und verneigte sich.

„Ja, mein Sohn“, antwortete der König. „Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich mein Wort brechen und dich zu mir bitten muss, aber deine Dienste als Kronprinz des Düsterwaldes werden jetzt benötigt.“ Sein Blick war nur eine weiteres Zeichen dafür, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handeln musste.

„Natürlich, Vater“, erwiderte Thranduil. „Ich wisst, dass ich Euch stets jeden Dienst erweisen würde.“

Oropher kam auf ihn zu und legte ihm dankbar die Hand auf die Schulter. „Komm, mein Sohn, wir haben einiges zu besprechen.“

Oropher und Thranduil zogen sich in die königliche Privatbibliothek zurück, wo sie ungestört waren und aufgrund einer Anweisung des Königs keine Störungen zu befürchten hatten.

Thranduil nahm sofort am Schreibtisch Platz, Oropher aber – anstatt sich ebenfalls hinzusetzen und seinem Sohn alles zu berichten – ging vor dem Fenster auf und ab, immer wieder vor sich her murmelnd, aber kein Wort an seinen Sohn richtend. Dieser zeigte sich zunächst geduldig, wurde aber mit der Zeit immer unruhiger – er sah wie die Miene des Königs immer ernster und ernster wurde und wollte endlich wissen, was los war.

„Vater!?“

Erschrocken zuckte Oropher zusammen; es wirkte so, als habe er vergessen, dass er nicht alleine im Zimmer war.

„Vater, was ist los?“

„Tut mir Leid, mein Sohn“, meinte der Elbenherrscher endlich und ließ sich ebenfalls am Schreibtisch nieder, „ich bin etwas zerstreut....“

„Ja, das sehe ich“, entgegnete Thranduil. „Und langsam mache ich mir Sorgen...“

Der König sah seinen Sohn mit unentschlüsselbarer Miene an.

Thranduil wartete. Als jedoch noch immer keine Erklärung kam, fügte er so verständnisvoll wie möglich hinzu: „Vater, nein, mein König, nicht ohne Grund habt Ihr mich rufen lassen. Nun lasst mich auch helfen.“

Und tatsächlich verfehlten diese Worte ihre Wirkung nicht. „Schlechte Neuigkeiten“, begann Oropher. „Es gibt Gerüchte, dass Sauron einen weiteren Ring der Macht erschaffen hat und nun Orkheere um sich versammelt. Er will offenbar ganz Mittelerde unter seine Herrschaft bringen...“ Er machte einen Moment Pause, dann fuhr er fort: „Gil-galad und Isildur wollen ein Bündnis schließen, eine gemeinsame Armee aus Elben und Menschen, um gegen Sauron in den Krieg zu ziehen und ihn in seinem Wahnsinn aufzuhalten.“

„Werden wir uns anschließen?“, war das einzige, das Thranduil dazu wissen wollte.

„Ich werde mich noch mit einigen anderen Elbenfürsten beraten“, antwortete Oropher. „Das Bündnis ist vorerst auch nur eine Idee, es ist noch nichts ausgemachte und wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem sollte auch noch der Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte überprüft werden... Wie dem auch sei, ich wollte dich wissen lassen, was auf uns zukommen könnte.“

Thranduil nickte. „Ich werde natürlich mein Amt als Kronprinz wieder an oberste Priorität stellen und dir zur Seite stehen, wo ich nur kann, Vater.“

„Ich danke dir, mein Sohn.“ Oropher blickte Thranduil mit echter Dankbarkeit an. „Nun geh' ruhig wieder zur Menschenfrau, heute werde ich deine Dienste nicht benötigen.... Ach ja, noch was. Sprich bitte mit niemandem darüber; wir wollen keine unnötigen Sorgen bereiten, vor allem, wenn die Dinge noch nicht feststehen...“

Der Kronprinz nickte zustimmend. „Ich danke dir für dein Vertrauen in mich, Vater.“

Oropher lächelte wohlwollend und deutete eine Verbeugung an. Thranduil verneigte sich ebenfalls und ging.
 

Der Kronprinz kehrte zu den Ställen zurück, ahnte aber bereits, dass er Kalera und Gornarbelethas dort nicht mehr antreffen würde.

Als sich seine Vermutung bestätigte, löste das ein eigenartiges Gefühl in ihm aus. Er war ein wenig enttäuscht. Enttäuscht, dass Kalera nicht hier auf ihn gewartet hatte, enttäuscht, dass sie Zeit mit Gornarbelethas verbrachte. Er wollte sie jetzt am liebsten um sich haben, damit sie ihn ablenkte von all diesen düsteren Gedanken, von den Sorgen und Befürchtungen, die seit dem Gespräch mit seinem Vater durch seinen Kopf spukten.

Gleichzeitig war er aber auch sauer auf Gornarbelethas, dass er sie einfach so gestört und ihre Zweisamkeit zerstört hatte. Sie war ihm doch so nah gewesen, ein perfekter Augenblick, und jetzt war alles weg.

Da fiel ihm plötzlich wieder ein, dass Kalera ihm ja einen Zettel zugesteckt hatte, kurz bevor sie sich hatten trennen müssen. Thranduil zog ihn heraus und las:

„Ich warte auf dich, heute Abend bei der alten Weide.“

Mehr stand da nicht. Doch mehr brauchte es auch nicht, damit Thranduils Herz schneller schlug. Der Abend konnte gar nicht schnell genug kommen.

Thranduil stand in seinen Gemächern vor dem Kleiderschrank und wusste nicht weiter, für ihn eine sehr ungewohnte Situation, mit der er nicht wirklich umzugehen wusste. Er war ja immerhin ein rationaler Mensch, der sich auf die Logik verließ – gerade in solchen Situationen wie dieser. Doch sein Verstand half ihm gerade gar nicht weiter, im Gegenteil: Immer, wenn es um Kalera ging, schien sein Gehirn ihn im Stich zu lassen – gerade dann, wenn er es am dringendsten brauchen würde. In nicht einmal einer Stunde würde der Abend anbrechen und seine Verabredung mit der schönen Menschenfrau erwartete ihn.

Thranduil war sehr wohl bewusst, dass er sich in letzter Zeit irgendwie verändert hatte, er merkte, dass er sich anders fühlte, dass er anders dachte, dass er anders redete – und alles schien mit Kalera zusammenzuhängen. Wieso hatte sie wohl solche Macht über ihn? Immerhin war sie noch nicht einmal eine Woche in seinem Leben... Das war doch alles total unlogisch, oder? Es sei denn... Nein, das konnte nicht sein. Oder doch? War er wirklich verliebt? Er hatte bisher immer nur von der Liebe gelesen... Doch je mehr der Elb darüber nachdachte, desto stärker wurde sein Eindruck, dass er tatsächlich verliebt war – das Aussetzen des Verstandes, der beschleunigte Herzschlag, die Wut auf seinen Bruder... es machte irgendwie doch alles Sinn.

Doch genug davon, genug nachgedacht, die Zeit flog nur so vorbei und Thranduil wussste noch immer nicht, was er anziehen sollte. Und dann war da ja auch noch die Überraschung, die er für Kalera geplant hatte...
 

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Kaum war auch der letzte Sonnenstrahl von den obersten Baumwipfeln verschwunden, stand Thranduil mit klopfendem Herzen am vereinbarten Treffpunkt. Vergeblich versuchte er, ruhig zu bleiben; er war so nervös, dass er unter dem Baum hin- und herrannte und immer wieder Ausschau nach Kalera hielt.

Dennoch bemerkte er ihr Kommen nicht, auf einmal stand sie vor ihm, sodass der Elb vor Schreck zusammenzuckte.

Die Menschenfrau konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken.“

„Schon gut“, entgegnete Thranduil und versuchte, ebenfalls zu lächeln. 'Jetzt reiß dich bloß zusammen!', ermahnte er sich selbst innerlich, eine alte Gewohnheit, die eigentlich immer gut funktioniert hatte...bis jetzt.

„Ich äh...“, stammelte der Prinz.

„Ja?“ Kaleras freundliches Lächeln machte das ganze auch nicht einfacher.

„Ich äh... ich habe... nein, ich möchte...“

„Was möchtet Ihr?“

„Ich... ich möchte Euch etwas zeigen... eine Überraschung.“

„Eine Überraschung!?“ Kalera schien ganz außer sich zu sein vor Freude. „Ich liebe Überraschungen!“

Thranduil freute sich sehr über diese Reaktion. Besonders da er feststellte, dass Kalera offenbar das schönste Lächeln der Welt hatte...

„Mein Prinz? Träumt Ihr etwa?“, neckte die Menschenfrau ihn.

Der Elb errötete. „Verzeiht, ich bewunderte nur gerade Eure Schönheit...“

Da färbten sich auch Kaleras Wangen rot und ganz verlegen knickste sie vor dem Thronerben.

„Was ist denn nun die Überraschung?“, wollte sie im nächsten Moment schon wissen.

„Verzeiht, natürlich, kommt sofort.“ Thranduil pfiff Richtung Ställe. Nur wenige Augenblicke später trottete auch schon Aurmîdh heran.

„Mylady“, begann der Elb und verneigte sich vor seiner Begleitung. „Ich hoffe, Ihr habt nichts gegen einen kleinen Ritt im Mondenschein einzuwenden...“

„Oh, eine fabelhafte Idee!“, entgegnete die Angesprochene und umarmte Thranduil stürmisch. Dieser war so überrascht, dass er sich nicht von der Stelle rührte, und als er sich dann endlich entspannte, hatte Kalera ihn schon wieder losgelassen. „Verzeiht, mein Prinz, das war...“

„Es gibt rein gar nichts zu verzeihen, Mylady“, unterbrach der Elb sie. „Und es war zauberhaft...“

Die beiden sahen sich einen Moment lang an.

„Darf ich Euch aufs Pferd helfen?“, bot Thranduil dann an.

„Gerne, vielen Dank.“

Der Prinz trat einen Schritt näher an Kalera heran. „Dafür müsste ich...“ Wieder errötend deutete er auf ihre Hüfte.

Diese war einen Augenblick lang verdutzt, aber als sie verstanden hatte, meinte sie nur: „Selbstverständlich“ und hob ihre Arme.

Thranduil bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, als er noch zwei Schritte auf die Menschenfrau zu trat, sie hochhob und auf Aurmîdhs Rücken setzte.

Dann musste er sich einen Moment abwenden, seine Hände zitterten vor Aufregung so sehr, dass er sich erst mal beruhigen musste.

„Ist alles okay bei Euch?“, fragte Kalera besorgt.

„Alles gut, macht Euch keine Sorgen“, beeilte sich Thranduil zu erwidern und setzte sich hinter seiner Begleitung aufs Pferd.

Er atmete noch einmal tief durch, dann hieß er Aurmîdh auf Elbisch an, sie so sanft wie möglich in den Wald hineinzutragen.

„Du bist so ruhig, mein Sohn...“, stellte Oropher fest.

Er und Gornarbelethas saßen beim Abendmahl, eine Gelegenheit, die der Prinz immer gerne nutzte, um von seinen Erlebnissen zu erzählen. An diesem Abend aber war er tatsächlich auffallend still, in Gedanken war er weit weg, bei einer ganz bestimmten Person.

„Es fehlt dir doch nichts?“, fragte der König besorgt nach.

„Nein, nein, alles gut, Vater“, beruhigte ihn sein Sohn. „Ich träume nur...“

„Wovon träumst du denn?“ Der Elbenherrscher war neugierig, diesen verklärten Gesichtsausdruck hatte er bei Gornarbelethas noch nie gesehen. „Oder sollte ich besser frage: Von wem träumst du?“

Da verschluckte sich der Prinz so heftig an der Traube, an der er gerade herumgekaut hatte, dass er ordentlich hustete und ganz rot wurde im Gesicht.

Oropher sprang sofort auf und klopfte ihm auf den Rücken und ein wenig schuldbewusst meinte er: „Es tut mir Leid, mein Sohn, erschrecken wollte ich dich nicht.“

Doch als er sah, dass es Gornarbelethas schon besser ging, fügte er schelmisch hinzu: „Das war wohl ein Volltreffer...“ und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Der Jüngere errötete wieder, diesmal allerdings, weil er sich ertappt fühlte.

„Nun, wer ist denn die Glückliche?“, wollte der König, noch immer neugierig, wissen.

„Niemand, niemand“, beeilte sich sein Sohn zu antworten.

„Hm, lass mich nachdenken...“ Oropher ließ nicht locker. „Vielleicht ist es eine aus meiner Wache... oder eine der Bogenschützinnen... die Menschenfrau wird es wohl nicht sein...“

Alles mögliche fiel dem Elbenherrscher ein. Wäre er jedoch nicht so in seinen Überlegungen versunken und hätte er den Reaktionen seines Sohnes mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte er womöglich nicht übersehen, dass Gornarbelethas' Wangen bei der Erwähnung der Letzteren erneut einen rötlichen Schimmer aufwiesen...
 

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Aurmîdh trug Thranduil und Kalera immer tiefer in den Grünwald hinein. Gemächlich schritt er im Mondenschein dahin und dachte dabei immerzu an Thranduils Worte vorhin im Stall: „So habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt, mellon nîn. Es ist, als wäre die Welt auf einmal eine andere... Wenn ich's nicht besser wüsste, müsste ich glauben, dass ich verliebt bin...“

Die Begegnung vorhin zwischen Thranduil und Kalera hatte Aurmîdh gezeigt, dass es seinen elbischen Freund tatsächlich „erwischt“ hatte. Eigentlich sollte er sich ja freuen für Thranduil, denn immerhin kannte Aurmîdh keine Person, die es mehr verdient hätte, glücklich zu sein – wäre da nur nicht dieses mulmige Gefühl in Aurmîdhs Magen gewesen, wann immer Kalera in der Nähe war...
 

Thranduil hatte das Gefühl, dass sich Kalera – je länger sie ritten – immer stärker nach hinter und somit an seine Brust anlehnte. Nicht, dass es ihn störte, im Gegenteil – ihre weichen, duftenden Haare an seinem Körper lösten ein behagliches, warmes Gefühl in ihm aus. Was ihn aber noch viel mehr erstaunte, war die vollkommene Ruhe in ihm drinnen, die von diesen Augenblicken ausging – es fühlte sich einfach „richtig“ an, vollkommen.
 

Nach einer Weile, an einer ganz bestimmten Stelle, ließ Thranduil Aurmîdh anhalten und stieg ab.

„Sind wir da?“ Kaleras Augen leuchteten neugierig.

Der Elb bejahte und half seiner Begleiterin vom Pferd herunter.

„Vertraust du mir?“, wollte der Prinz wissen.

„Ja, das tue ich“, antwortete die Menschenfrau mit solcher Inbrunst und so nahe bei ihm, dass Thranduil ein leichter Schauer über den Rücken fuhr.

„Schließ... schließ bitte die Augen“, bat er.

Sofort tat sie, was er sagte, allerdings nicht, ohne ihm vorher nochmals zuzulächeln.

„Darf ich... darf ich dich an der Hand nehmen?“ Langsam wurde der Elb wieder nervös.

Bereitwillig streckte ihm seine Begleiterin die Hände entgegen. Als Thranduil sie berührte, spürte er so was wie einen kleinen elektrischen Schlag, der sein Herz hüpfen ließ.

Er führte Kalera auf eine Waldlichtung, auf der sich eine Blumenwiese erstreckte.

Als er sie die Augen öffnen ließ, sah sich Kalera neugierig um und meinte dann scherzhaft: „Du weißt aber schon, dass Blumen bei Tag blühen?“

Thranduil lächelte geheimnisvoll. „Warte noch einen Moment...“

Und tatsächlich, als wenige Minuten später der Mond hinter einer Wolke hervorschaute, begann sich die Blumenwiese zu verändern: Nach und nach öffneten sich immer mehr Blüten und bald leuchtete die ganze Lichtung in einem warmen Blau-Weiß.

Kalera war zunächst sprachlos, doch quietschte dann vor Freude, sie gab Thranduil einen raschen Kuss auf die Wange und sprang dann lachend durch die Blütenpracht.

„Wunderschön!“, rief sie so laut sie konnte.

„Ja, tatsächlich“, gab Thranduil ihr leise recht, doch etwas anderes meinend. „Wunderschön...“

Am nächsten Morgen erwachte Thranduil bereits mit einem Lächeln auf den Lippen, und als er dann richtig wach war, konnte er gar nicht mehr aufhören zu grinsen.

Der Abend zuvor war einfach...unbeschreiblich schön gewesen, unvergesslich. Nach der Lichtung waren Kalera und er wieder zum Palast geritten, sie hatte ihn in den Ställen eine halbe Ewigkeit, die doch nicht lange genug war, umarmt, und in diesem Moment hatte er sich sich aufgehoben gefühlt, so „ganz“ einfach, dass er sich nicht mehr vorstellen konnte, wie er vorher, ohne Kalera, hatte überleben können.

Er hatte sie dann noch zu ihren Gemächern begleitet, sie hatte ihm tausend Mal gedankt, und wie sie ihn zum Abschied „mein Prinz“ genannt hatte... der Gedanke daran wärmte Thranduils Herz.

Er war sich sicher, dass er gar nicht mehr glücklicher sein könnte. Und mit diesem alles übertreffenden Gefühl und einem breiten Lächeln im Gesicht machte er sich auf den Weg zu seinem Vater.
 

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Oropher saß auf seinem Thron in der großen Halle und hörte sich gerade den Bericht eines seiner Botschafter an, als sein Sohn um eine Audienz bat.

„Vater, verzeiht, wenn ich Euch störe, ich muss Euch in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“

Oropher hatte Thranduil noch nie so erlebt, sein Sohn unterbrach ihn nie mitten in einem Gespräch; es musste also tatsächlich etwas Ernstes sein.

„Natürlich, mein Sohn“, entgegnete der König daher und bat seinen Botschafter, später wiederzukommen. Dann erhob er sich von seinem Thron und führte seinen Älteren raus aus der großen Halle, abseits der königlichen Empfangsräume, in einen ruhigeren Trakt des Palastes.

„Sag mir, mein Sohn, was führt dich zu mir?“

Da erst fiel ihm Thranduil helle, warme Miene auf, das Lächeln, das seine Augen so leuchten ließ. Oropher kannte diesen Blick nur allzu gut. Nicht nur von sich selbst, aber auch von so vielen anderen aus all den Jahren, die er nun schon lebte.

Eine tiefe, aufrichtige Freude breitete sich in ihm aus, als er Thranduil so glücklich sah und lachend umarmte er ihn. „Ich freue mich so für dich“, meinte er an Thranduils Ohr, Tränen der Glückseligkeit in den Augen. „Ich freue mich so unendlich für dich, mein Sohn...“
 

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Nur wenig später war Thranduil auf dem Weg zu Kaleras Gemächern. Er musste ihr jetzt sagen, was sie ihm bedeutete, es musste jetzt einfach sein, ansonsten würde sein Herz noch überquellen.

Der Elb wollte gerade anklopfen, als er ein Lachen hörte, das Lachen einer Frau.

„Kalera!“ Thranduil wusste nicht warum, aber er war sich sicher, dass es die Menschenfrau war, die da lachte.

Also ging er in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Und tatsächlich, da war sie, dort in einer abgelegenen Ecke des Gartens. Und sie war nicht allein, Gornarbelethas war bei ihr.

Doch an diesem Tag hatte Thranduil keine Augen für seinen Bruder, alles, was er sah, war Kaleras Schönheit. Er spürte das Verlangen, zu ihr zu laufen und sie mit seinen starken Armen hochzuheben, er wollte der Grund für ihr Lachen sein.

Der Elbenprinz trat einen Schritt nach vorn und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, als ihm das Lächeln auf den Lippen erstarb... Gornarbelethas küsste Kalera.

Thranduils erster Gedanke war, dass er träumte, dass er es sich nur einbildete.

Sein zweiter ließ ihm seinem Bruder die Schuld zuschieben: Sicherlich hatte Gornarbelethas Kalera geküsst, ohne dass diese es wollte... Er wollte bereits mit wütender Miene auf die beiden zustürmen, um Kalera zu „retten“, als ihm bewusst wurde, dass sich diese gar nicht gegen den Kuss zu wehren schien.

Thranduils dritter Gedanke war, dass es sich hierbei um ein riesiges Missverständnis handeln musste.

Doch als Kalera Gornarbelethas liebevoll anlächelte und ihn „mein Liebster“ nannte, dachte Thranduil gar nichts mehr. Er fühlte nur, wie sein Herz in tausend Stücke zersprang.
 

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König Oropher war seit der Begegnung mit seinem Sohn allerbester Laune. Thranduil so lebenslustig zu sehen, ihn so glücklich zu wissen, erfüllte den Elbenherrscher mit tiefem Frieden und Zufriedenheit.

Und erstaunlicherweise erschien ihm auch Gornarbelethas in letzter Zeit verändert, in positiver Weise. Jedenfalls wirkte er weniger gereizt, weniger genervt von allem und jedem. Und das war ziemlich ein Fortschritt. Blieb nur zu hoffen, dass es auch von Dauer war...
 

Nachdem Oropher die Unterhaltung mit seinem Botschafter fortgesetzt und beendet hatte, beschloss er, ein wenig durch die Gänge des Palastes zu wandeln, um besser nachdenken zu können. Die Bedrohung aus Mordor bereitete ihm ernsthafte Sorgen und obwohl sich seine väterlichen Gedanken ganz um Thranduils Glück drehten, musste er sich als König doch um politische Angelegenheiten kümmern.
 

So ganz in Gedanken versunken erschrak der Elbenkönig furchtbar, als er plötzlich beinahe in Thranduil hineingerannt wäre. Er wollte gerade sein Erstaunen zum Ausdruck bringen, als ihm die Veränderung in seinem Sohn bewusst wurde: Er war – selbst für einen Elben – furchtbar bleich im Gesicht und das Lächeln von heute Morgen war verschwunden.

„Thranduil!?“ Die Besorgnis war Oropher deutlich anzusehen. „Man le trasta? Was bedrückt dich? Ist etwas geschehen?“

Doch der Elbenprinz schien so unter Schock zu stehen, dass er kein Wort hervorbrachte. Nur sein Gesichtsausdruck ließ seinen Vater darauf schließen, dass er Schmerzen hatte. Und Thranduils gekrümmte Haltung, ebenso wie die Hand, die er gegen sein Herz presste, verrieten Oropher auch die Ursache: die Menschenfrau...

„Was ist geschehen, iôn nín? Sag es mir...“, bat er.

Es dauerte eine Weile bis Thranduil so weit war, zu antworten. Und auch dann brachte er nur ein einziges Wort hervor: „Gornarbelethas.“

„Gornarbelethas!?“ Oropher verstand zunächst nicht, was das mit Kalera zu tun haben sollte. Hatte er sich womöglich getäuscht und es ging gar nicht um die Menschenfrau?

Doch ein geflüstertes, kaum wahrnehmbares „Sie haben sich geküsst...“ von Thranduil machte ihm schlagartig alles klar. Gornarbelethas und die Menschenfrau. Warum war ihm das nur nicht schon früher aufgefallen? Hatte er sich durch Thranduils Glückseligkeit von der Wahrheit ablenken lassen? Und wenn ja, konnte man es ihm verübeln?

„Iôn nín... Mein Sohn...“
 

Doch in diesem Moment kam eilig der Anführer der Wache gerannt. „Aran nín, aran nín! Mein König, mein König!... Herr Elrond aus Bruchtal bittet um Euer sofortiges Erscheinen!“

Und etwas leiser fügte er hinzu: „Er sagte, der Ring der Macht habe begonnen, seinen Schatten über Mittelerde auszubreiten...“

Genau das hatte Oropher befürchtet, genau diesen Moment. „Dann ist es also wahr...“ Er konnte es trotz der vielen Berichte, die er in letzter Zeit gesehen hatte, nicht so recht glauben.

Aber Thranduil! Er konnte doch seinen Sohn nicht alleine lassen in dieser Situation.

Der Prinz jedoch sah das anders. Zwar war er immer noch ein wenig bleich, doch wirkte er gefasster, ruhiger.

„Geh nur, Vater. Ich kümmere mich um alles...“

„Iôn nín... Mein Sohn...“ In diesem Augenblick wünschte sich Oropher mehr denn je, dass Thranduil nicht eine solche Last, eine solche Bürde tragen müsste. Wäre er kein König und Thranduil kein Prinz, dann könnte er jetzt bei ihm bleiben, er könnte ihn trösten, ihn aufrichten.

Doch die Umstände ließen das nicht zu. Oder doch? War ihm sein Sohn nicht wichtiger als der Rest der Welt?

Thranduil jedoch schien fest entschlossen, seine Bürde als Kronprinz zu tragen. „Ich bitte dich Vater, geh. Dein Volk braucht dich, Mittelerde braucht dich. Ich werde auch noch hier sein, wenn du wiederkommst.“

Oropher nickte, im Moment nicht fähig, zu entscheiden, was nun richtig war, was er tun sollte. Doch schon wenige Augenblicke später hatte er sich gefangen, er musste nun mal tun, was er tun musste, immerhin war er der König.

Zum Abschied umarmte er seinen Sohn. „Le melin. Ich liebe dich.“

Doch erst der fest entschlossene Blick Thranduils gab ihm das Gefühl, gehen zu können.
 

Als Oropher nur eine halbe Stunde später die Grenzen des inneren Reiches passierte, schwor er sich, so schnell wie möglich zurückzukehren. Denn abgesehen von Thranduil und seiner Situation war da auch noch eine leise Ahnung, dass im Waldreich irgendetwas nicht in Ordnung war...

Im Grunde war Thranduil vollkommen überfordert mit der Situation: Schon allein die Sache mit Kalera und Gornarbelethas wäre mehr als genug für ihn gewesen und nun sollte er auch noch vorübergehend den Platz seines Vaters in den königlichen Hallen einnehmen.

Nein, es war ihm nicht entgangen, dass es auch für Oropher keine einfache Entscheidung gewesen war. Und genau das, nämlich, dass sein Vater bereit war, sein Wohl über alles andere zu stellen, hatte Thranduil so berührt, dass er wusste, was zu tun war: Sein Pflichtgefühl, das er von klein auf erworben hatte und das bei ihm besonders ausgeprägt zu sein schien, erinnerte ihn an seine Rolle als Thronfolger. Immerhin hatte er sich all die Jahre auf Situationen wie diese vorbereitet, in denen er Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen sollte.

Seine eigenen Angelegenheiten, sein Herz, mussten warten. Thranduil war sich dieser Pflicht nun schon lange bewusst und hatte sie schon so manches Mal ertragen müssen – etwa wenn er seinen Vater den ganzen Tag lang nicht zu Gesicht bekam oder wenn er trotz Streitigkeiten mit Gornarbelethas bei repräsentativen Anlässen auch mit ihm freundlich und höflich sein musste. Doch all das erschien dem Kronprinzen jetzt, im Vergleich zur aktuellen Situation, wie ein Kinderspiel, auch, da er nicht einmal wusste, was denn wirklich zwischen Kalera, Gornarbelethas und ihm vorging.

Sollte er versuchen, es herauszufinden? Sollte er die beiden zur Rede stellen? Doch was würde passieren, wenn er etwas Unerfreuliches, etwas die vorige Situation Bestätigendes hören würde? Könnte er dann noch diese Entschlossenheit, Orophers Platz bis zu dessen Rückkehr einzunehmen, hervorbringen?

Angesichts dessen, dass es ihm jetzt schon so schwer fiel, an etwas anderes als sein leidendes Herz zu denken, beschloss der Elb, dass die Konfrontation warten sollte. Es war zu riskant, z viel stand auf dem Spiel.

Doch leider sah Gornarbelethas die Situation etwas anders....
 

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Als Thranduil die Große Halle betrat, um seinen Platz neben des Königs Thron einzunehmen, wartete dort eine unangenehme Überraschung auf ihn: Sein Bruder Gornarbelethas saß dort, auf Orophers Thron, jedoch nicht respektvoll und aufrecht, sondern quer darüber, die Füße über die Armlehne geschwungen, mehr liegend als sitzend.

Dies genügte, um Thranduils so mühsam aufgebaute Selbstbeherrschung und seinen recht kontrollierten Umgang mit der Situation durcheinander zu bringen, wenn auch nur kurzzeitig.

„Was machst du da auf Vaters Thron?“ Der Ältere konnte nicht verhindern, dass die Worte mehr von seinen Gefühlen preisgaben, als ihm lieb war.

Gornarbelethas jedoch besaß nicht genug Feingefühl, um einfach darüber hinwegzusehen oder sich der Ursache bewusst zu sein. Stattdessen ließ er seinen Worten ungehindert freien Lauf. „Na na, Bruder“, spottete er. „Ist dir die Verantwortung schon zu viel?“

Nur mit äußerster Anstrengung konnte Thranduil sich selbst davon abhalten, dem Jüngeren nicht nur ordentlich die Meinung zu sagen, sondern auch noch sein Schwert zu ziehen. Er spürt die Wut, die in ihm aufkochte, die Wut auf diese Situation, die Wut auf Gornarbelethas.

Dieser konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sich die Hand seines Bruders dem Schwert an seinem Gürtel genähert hatte – für ihn nur ein Grund, Thranduil noch weiter aufzuziehen.

„Aber, aber, mein lieber Bruder, du greifst zu Waffen? Wo ist denn deine Vernunft geblieben?“

Thranduil versuchte, ruhig zu bleiben, er versuchte, sich auf das Atmen zu konzentrieren und an ihren Vater zu denken. Er merkte, wie ihm bei Gornarbelethas' Worten immer wärmer und wärmer wurde und wie das Blut nur so durch seinen Körper schoss, doch diesen Triumph wollte er dem Jüngeren nicht auch noch gönnen.

Thranduil wandte sich also ab, die Flucht als einzige Rettung vor Gornarbelethas und vor seinen eigenen Gefühlen ansehend.

Doch wieder kam es anders. Gornarbelethas meinte halb zu sich, halb zu seinem Bruder: „Kein Wunder, dass Kalera nichts von dir wollte...“

Da war es aus bei Thranduil, aus und vorbei mit Vernunft und Kontrolle, und er reagierte so schnell, dass Gornarbelethas gar nicht dazu kam, sich zu wehren. Thranduil zog sein Schwert und wirbelte herum, um seinen Bruder zum Duell zu fordern, ohne jedoch zu bemerken, dass dieser aufgestanden und hinter ihn getreten war, sodass Thranduils Schwert nun einen Schnitt in Gornarbelethas' Wange hinterließ.

Beide erschraken. Gornarbelethas hielt sich verdutzt die blutende Wange, Thranduil hingegen ließ sein Schwert augenblicklich fallen. Was hatte er getan? Er hatte jemanden verletzt. Er hatte die Wut die Oberhand über ihn gewinnen lassen und er war auf seinen Bruder losgegangen. Was hatte er getan? Auf jeden Fall etwas Unverzeihliches. Und Gornarbelethas hatte ihn dazu gebracht. Er hatte ihn kontrolliert, er hatte ihn manipuliert. Doch er selbst hätte es besser wissen müssen. Er war der Ältere, er war der Kronprinz. Und als solcher, vor allem aber als derzeitiger Stellvertreter seines Vaters, hätte er „königlicher“ handeln müssen.

Thranduil drehte sich um und suchte das Weite.

Wie schon so manches Mal zuvor suchte Thranduil Trost bei Aurmîdh, seinem treuen Freund. Das Pferd war ein überaus geduldiger Zuhörer und Thranduil war überzeugt davon, dass es jedes einzelne Wort von ihm verstand.

Der Elb fühlte sich so furchtbar wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und das lag nicht „nur“ an seinem gebrochenen Herzen. Er hatte jemanden angegriffen, seinen Bruder. Er hatte sich selbst verraten, hatte seine Prinzipien verraten. Am liebsten würde er sich verstecken vor der Welt. Doch er wusste, dass er zurück musste. Er hatte seinem Vater ein Versprechen gegeben. Die Verantwortung war zu groß, um einfach davor zu fliehen...

Plötzlich schnaubte Aurmîdh unruhig neben ihm und kratzte mit dem Huf mehrmals am Boden entlang.

„Was ist los, mellon nín?“, fragte Thranduil, durch diese Bewegung in Alarmbereitschaft versetzt; er kannte sein Pferd nur allzu gut und wusste, dass etwas nicht stimmte.

Der Elb hörte Schritte und – seinem Instinkt folgend – versteckte er sich.

Jemand näherte sich Aurmîdhs Box.

„Na du?“

Thranduil erkannte diese Stimme sofort: Kalera! Er spürte, wie seine Knie ganz weich wurden und er anfing zu zittern, doch mit all seiner Geisteskraft ignorierte er sein pochendes Herz. Was machte die Menschenfrau hier? Redete sie tatsächlich mit Aurmîdh?

„Ich hab' dir was mitgebracht...“

Thranduil konnte nicht sehen, was es war; er fürchtete, entdeckt zu werden, wenn er sich nur ein klein wenig bewegte.

„Ich bin mir sicher, dass dir das schmecken wird“, fuhr Kalera fort. „Du musst wissen, ich hatte selbst sehr lange Pferde bei mir zuhause. Ich weiß also ganz genau, was ihr am liebsten mögt.“

Es folgte eine kurze Pause, in der die Menschenfrau das Mitgebrachte vermutlich in Aurmîdhs Box legte.

Dann meinte sie noch: „Lass es dir schmecken, Großer.“ Und fort war sie.

Thranduil kam aus seinem Versteck heraus, verwundert darüber, was gerade geschehen war. Es erschien ihm so unlogisch...

Da erblickte er die Pflanze, die Kalera Aurmîdh offenbar mitgebracht hatte, zumindest war sie vor ihrem „Besuch“ noch nicht da gewesen.

Der Elb erkannte sofort, dass es sich um eine für Pferde überaus giftige Pflanze handelte; zum Glück schien auch Aurmîdh von ihrer Unverträglichkeit überzeugt zu sein und hatte sie nicht angerührt.

„Was...!?“ Thranduil verstand rein gar nichts mehr. Hatte Kalera eben gelogen, als sie meinte, eine Pferde-Expertin zu sein? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte ihm doch schon mehrmals von ihren Pferden erzählt...

Also gab es nur einen Schluss, zu dem der Elb kommen konnte: Es war Absicht gewesen. Kalera hatte versucht, Aurmîdh zu vergiften!

Thranduil wollte augenblicklich mit seinem Bruder darüber sprechen, auch wenn er ihm lieber eine Zeit lang aus dem Weg gegangen wäre. Er fand ihn auf dem Trainingsplatz, wo er gerade mit einem Mitglied der königlichen Wache kämpfte.

Geduldig wartete Thranduil am Rande des Platzes, bis das Duell vorbei war und schritt dann langsam, aber zielstrebig auf seinen Bruder zu. Dieser wirbelte stürmisch herum, das Schwert noch immer fest in der Hand, und wäre Thranduil nicht ausgewichen, hätte auch er einen Kratzer abbekommen. Ergeben hob er die Hände. „Ich muss mit dir reden, Bruder.“

„Ich aber nicht mit dir“, zischte der Jüngere ihn an.

Thranduil ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich bin gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen. Für mein impulsives, ganz und gar unüberlegtes Handeln. Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Und ganz sicher wollte ich dich nicht verletzen.“ Trotz seiner Schuldgefühle hatten Thranduil diese Worte einige Mühe gekostet, war er doch selbst mindestens ebenso verletzt, auch durch die Taten seines Bruders.

„Das hättest du dir früher überlegen sollen!“, gab Gornarbelethas unfreundlich zurück.

„Ich weiß“, erwiderte Thranduil so sanft wie möglich. „Mir ist klar, dass ich einen großen Fehler gemacht habe.“

„Schön für dich!“, entgegnete Gornarbelethas noch immer äußerst unsympathisch. „Ist das alles, was du zu sagen hast? Wie du siehst bin ich beschäftigt...“

„Nein, das ist noch nicht alles...“ Thranduil seufzte innerlich, jetzt kam der wirklich schwierige Teil. „Ich muss dir noch etwas sagen, das dir nicht gefallen wird...“

„Warum sagst du es mir dann?“, wollte der Jüngere ungehalten wissen.

Bei diesem kontinuierlich unfreundlichen Tonfall war es selbst für Thranduil schwer, ruhig und bedacht zu bleiben.

„Ich sage es dir, um dich zu warnen. Und, weil es dich auch betrifft.“

„Wenn du Vaters Mission meinst, dann spar' es dir. Er hat schon mit mir darüber gesprochen.“

„Nein, das meine ich nicht“, erwiderte der Ältere. „Es geht um... Kalera...“ Diesen Namen vor seinem Bruder auszusprechen war angesichts der Situation ganz eindeutig nicht einfach.

„Was ist mit ihr?“, fragte Gornarbelethas misstrauisch nach.

Trotz seiner Unfreundlichkeit und trotz ihrer vielen „Zusammenstöße“ in der Vergangenheit wünschte Thranduil, seinem Bruder das nun Folgende ersparen zu können. Doch leider konnte es nicht sein.

„Ich glaube, man kann ihr nicht trauen...“, begann der Ältere also vorsichtig. „Sie hat versucht Aurmîdh zu vergiften...“

Thranduil hatte sich so Einiges erwartet, doch sicherlich nicht, dass Gornarbelethas lauthals anfangen würde zu lachen. Aber genau das tat er.

„Das ist wirklich das Albernste, das ich je gehört habe... Du bist so armselig, Thranduil, dir so was auszudenken... und das nur, um dich zu rächen...“

„Ich versichere dir, dass ich dir nicht Schaden will“, beteuerte Thranduil. „Ich meine es ernst. Kalera führt etwas im Schilde.“

Doch Gornarbelethas verspottete ihn nur.

„Ich wusste gar nicht, wie mies du sein kannst, Bruder“, ließ er Thranduil wissen. „Keine Chance zu haben und es dann heimzahlen zu wollen... Geh lieber zurück in dein Zimmer und spiel' mit deinen Büchern. Du taugst weder als Bruder noch als König was...!“

Thranduil fühlte sich, als hätte man ihm sein Herz, das doch schon zerbrochen war, nun auch noch in Flammen gesteckt. Er war nicht wütend, nein, das konnte er nicht mehr sein, das konnte er nie mehr sein. Nicht nach dem, was er Gornarbelethas zuletzt in seinem Zorn angetan hatte. Also war er traurig, er war zutiefst verletzt und gekränkt, da ihn sein Bruder nicht einmal ernst genommen hatte.

Und so schleppte er sich mühsam zu seines Vaters Thron, unfähig, einen Gedanken zu fassen, wo doch alles so weh tat.

Thranduil saß da, unfähig, klar zu denken, unfähig, zu entscheiden, was er nun tun sollte. Und über all dem schwebte die Frage, wie er in diesem Zustand regieren sollte, wie er seinen Vater vertreten und seine Pflichten als Kronprinz erfüllen sollte. Thranduil fühlte den immensen Druck dieser so wichtigen Frage, dieses Problems, das es zu lösen galt – denn er hatte bisher in dieser Hinsicht zwar „Glück gehabt“, da regierungstechnisch nichts angefallen war, doch jeden Moment konnte etwas geschehen, das sein Handeln als Mitglied der Königsfamilie fordern würde.

Nach einiger Zeit des Atmens und des allmählichen Gedanken-Ordnens, meldete sich Thranduils Verstand wieder zu Wort. Er drängte ihn, ein Auge auf Gornarbelethas und Kalera zu haben. Was führte die Menschenfrau im Schilde? Und wer war dadurch in Gefahr? - Dies waren die zwei wichtigsten Fragen, die es zu beantworten galt.

Thranduil veranlasste die königliche Wache, die Augen offen zu halten. Deren Anführer bekam die spezielle Aufgabe, die Menschenfrau zu finden und zu Thranduil zu bringen – er wollte sie zur Rede stellen, vor allem aber wollte er sie vor weiteren möglichen „Giftanschlägen“ oder Ähnlichem abhalten.
 

Und tatsächlich wurde Kalera wenig später vor Orophers Thron geführt.

„Thranduil...“ Sie lächelte liebevoll und streckte die Hand aus, als wolle sie sein Gesicht berühren. „Was hast du...“

„Nennt mich nicht so“, erwiderte der Elb so unbeeindruckt und distanziert wie möglich und wandte sich von ihr ab. Er stieg die Stufen zum Thron empor und drehte sich erneut zu ihr um, nun erreichbar für sie.

Kalera wirkte gekränkt. „Aber mein Prinz, was ist geschehen? Wir hatten doch einen so schönen Abend zusammen...“

„Genug!“, donnerte Thranduils Stimme über sie hinweg. Dabei war er nicht wenig überrascht, dass er so „stark“ war in diesem Moment. Doch an seinen Vater zu denken, sich in ihn hineinzuversetzen, half offenbar.

„Ich weiß nicht, welches Spiel Ihr spielt“, fuhr der Kronprinz respekteinflößend fort. „Doch nun hat es ein Ende.“ Er gab den Wachen ein Zeichen, die Menschenfrau in die Kerker zu bringen.

„Ein Ende hat es tatsächlich“, keifte Kalera, die nun wie ausgewechselt schien – nichts mehr war übrig von der freundlichen, liebenswürdigen, jungen Frau, die ihre Familie auf tragische Weise verloren hatte. „Ein Ende hat es mit Eurem Bruder. Der will mich nämlich gerade rächen!“

Thranduil fühlte sich augenblicklich in oberste Alarmbereitschaft versetzt. Er versuchte, mehr von der Menschenfrau zu erfahren, doch vergeblich.
 

Kalera einsperren zu lassen, die Frau, die er geliebt hatte, hinter Gitter zu bringen, ließ Thranduil trotz der Kälte in seiner Stimme und seinem Auftreten ganz und gar nicht kalt. Doch er erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, was er fühlte. Er musste seinen Bruder finden und ihn retten! Thranduil würde es sich nie verzeihen, sollte Gornarbelethas etwas zustoßen...

In diesem Moment kam ein Mitglied der Wache angerannt. „Mein Prinz, mein Prinz! Seine königliche Hoheit, Prinz Gornarbelethas, ist ganz alleine aufgebrochen, um das gesichtete Orklager anzugreifen!“

Das hatte Kalera also mit „sie rächen“ gemeint. Gornarbelethas wollte die Orks töten, die laut Kaleras Erzählungen ihre Familie ermordet hatten!

„Wie viele sind es?“, wollte Thranduil, bereits auf dem Weg zu den Ställen, wissen.

„Um die fünfzig, mein Herr“, gab die Wache Auskunft.

'So viele!', schoss es Thranduil durch den Kopf. Und Gornarbelethas war allein. Er hatte keine Chance...

„Wir müssen augenblicklich aufbrechen!“, entschied der Kronprinz.

Die beiden erreichten die Ställe. Dort kam ihnen der Anführer der Wache entgegen. „Mein Herr, die Pferde, sie sind vergiftet worden...“

„Was!? Alle?“ Thranduil glaubte, nicht richtig zu hören.

„Ja, mein Herr“, antwortete der Anführer. „Alle bis auf Euer Pferd Aurmîdh.“

Thranduil holte Aurmîdh aus seiner Box und stieg auf. „Folgt mir nach, sobald Ihr könnt..:“

„Aber mein Herr, was wollt Ihr...?“

„Er ist mein Bruder“, entgegnete Thranduil, mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber. Er war entschlossen, doch er wusste nur allzu gut, wie seine Chancen standen. „Beeilt Euch!“

Der Anführer versprach es sogleich und Thranduil stürmte auf Aurmîdh zum Tor hinaus. Er wusste, was zu tun war...
 

Viele Kilometer entfernt beschlich den Elbenkönig Oropher erneut die unangenehme Ahnung, dass in seiner Heimat, in seinem Reich, etwas ganz und gar nicht stimmte. Und es ließ ihm keine Ruhe; er musste sofort aufbrechen!

Als Oropher endlich im Inneren Reich ankam, war Thranduil schon eine Weile weg und der Anführer der Wache war noch immer dabei, nach einer Lösung zu suchen: Die Heiler taten ihr Möglichstes, um die Pferde von der Vergiftung zu heilen, doch es dauerte Zeit, zu viel Zeit – die beiden Prinzen schwebten in größter Gefahr und dies beunruhigte den gesamten königlichen Hofstaat. Daher sah sich der Anführer der Wache, der sich in Orophers Abwesenheit noch mehr für das Wohlergehen von Thranduil und Gornarbelethas verantwortlich fühlte, bei des Königs überraschender, früherer Rückkehr mit zwiespältigen Gefühlen konfrontiert: Einerseits war er erleichtert, wieder jemand anderem das Kommando zu überlassen, andererseits aber bedauerte er, keine besseren Nachrichten für seinen König zu haben – und er konnte nicht umhin, sich selbst einen Teil der Schuld zu geben.
 

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Thranduil hoffte, nein, er betete, dass er nicht zu spät kommen würde. Was auch immer Gornarbelethas getan hatte, was auch immer er ihm angetan hatte, er verdiente es nicht, im Stich gelassen zu werden.
 

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Als Oropher am königlichen Hof ankam, sah er sich augenblicklich in seinen Vermutungen bestätigt: Etwas war hier tatsächlich nicht in Ordnung.

Elben sind bekanntlich Meister der Tarnung, besonders, wenn es um ihre Gedanken und Gefühle geht. Doch man musste kein Hellseher sein, um die unübliche Hektik, den unüblichen Druck zu bemerken. Und das kreidebleiche Gesicht der Obersten Wache bei seinem Anblick sagte Oropher, dass etwas ganz Furchtbares geschehen war. Und er bereitete sich innerlich auf einen dementsprechenden Bericht vor.
 

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Thranduil fühlte, dass es das Adrenalin war, das ihn im Sattel hielt. Es war das Rauschen des Blutes und das laute Hämmern des Herzens, das seinen Schmerz überdeckte und seine Gedanken betäubte. Volle Konzentration. Das Richtige zu tun hieß oft, das Schwierige zu tun. Sein Bruder brauchte ihn, sein Bruder brauchte den Krieger in ihm. Hier halfen keine Worte und keine Diplomatie, hier war das Schwert die einzige Lösung, die einzige Rettung. Thranduil musste auf seine andere Seite, seine „dunkle“ Seite vertrauen, er musste eins mit ihr werden und handeln wie sie, handeln wie ein Krieger. Auch wenn er immer gehofft hatte, dass dieser Moment – sollte er überhaupt jemals kommen – in weiter Zukunft liegen würde.
 

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In kurzen, knappen Worten erzählte die Oberste Wache Oropher, was vorgefallen war. Dieser hörte sich den Bericht mit einer Ruhe an, die ihn auch selbst erstaunte., nach dem letzten Wort jedoch verschwendete er keine Sekunde und handelte sofort.

Er stieg auf sein Pferd, das zum Glück noch gesattelt war – wobei ihn andererseits auch dieser Umstand nicht aufgehalten hätte. Und an der Spitze seiner besten Krieger ritt er Richtung Orklager. Allerdings nicht, ohne vorher die Wachen im Kerker verdoppeln zu lassen – er hatte kein gutes Gefühl, wenn er an die Menschenfrau dachte...
 

Schon von weitem konnte man die Geräusche der Schlacht hören. Für Oropher ein Zeichen dafür, dass zumindest einer seiner beiden Söhne höchstwahrscheinlich noch lebte. Es war also noch nicht alles verloren.

Als Oropher und seine Krieger auf die Lichtung ritten, wo sich das Orklager befand, war die Schlacht tatsächlich noch in vollem Gange. Die beiden Prinzen schlugen sich tapfer, obwohl sie gewaltig in der Unterzahl waren.

Dieser Anblick erzürnte Oropher sehr; wie um alles in der Welt konnte Gornarbelethas sich und seinen Bruder nur in eine solche Situation bringen? Doch noch im selben Moment kam dem Elbenherrscher der Gedanke, dass er selbst sicherlich nicht unschuldig war am unverantwortlichen Verhalten seines Jüngeren... Energisch schob Oropher diese Gedanken beiseite, sich den Kopf zerbrechen konnte er auch später noch, nun galt es erst mal, seinen Söhnen zur Hilfe zu kommen.
 

Oropher konnte sich zunächst zu Gornarbelethas durchschlagen, der ein paar kleiner Schrammen, allerdings auch einen nicht ganz so gut aussehenden Schnitt am rechten Unterarm hatte. Doch davon schien er nicht besonders beeindruckt zu sein; all die Übungsstunden auf dem Trainingsplatz hatten sich gelohnt – er kämpfte einfach mit der anderen Hand weiter.

„Alles klar, mein Sohn?“, wollte Oropher wissen.

Gornarbelethas' Blick verriet weder Schuldbewusstsein noch Reue, er zeigte nur seinen entschlossenen Kampfgeist.

Oropher verstand, dass dies der falsche Zeitpunkt zum Reden war. Und als einige der Krieger Gornarbelethas zur Hilfe geeilt waren, machte er sich mit einem „Wir sprechen uns später noch...“ auf zu Thranduil.
 

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Dafür, dass Thranduil eigentlich ganz und gar nicht in seinem Element war, schlug er sich erstaunlich gut, jedenfalls war er überrascht, wie leicht ihm der Umgang mit dem Schwert fiel. Als durchaus „angenehm“ - sofern man irgendetwas an einer Schlacht überhaupt so bezeichnen kann – empfand er die Tatsache, dass er im Eifer des Gefechts keine Zeit hatte, zu denken, sondern „nur“ auf seine Instinkte horchen musste. Er in diesen Momenten merkte er, wie befreiend es doch war, nicht denken zu müssen – etwas, das er ansonsten Tag und Nacht tat.
 

Plötzlich nahm er war, dass anderen Elben ihnen zur Hilfe kamen und mit einem raschen Seitenblick erkannte er Mitglieder der königlichen Wache. Der Schub der Erleichterung, der ihn bei deren Anblick durchfuhr, verlieh Thranduil zusätzliche Kraft, und er hoffte, dass die Schlacht nun bald vorbei sein würde.

Da hörte er auf einmal jemanden seinen Namen rufen. „Thranduil!“

Abgelenkt sah sich der Kronprinz um, was er jedoch sofort bereute, da ihm ein Ork in die Seite hieb. „Ah!“ Vor Schmerz zuckte er zusammen und presste sich eine Hand gegen die Wunde, aus der Blut zu sickern begann.

Thranduil bemühte sich, seine Konzentration wieder voll auf seine Gegner zu richten, doch diese Stimme hatte ihn irritiert und seine Gedanken wieder ins Rollen gebracht – die lauten Stimmen in seinem Kopf begannen, seine Instinkte zu übertönen.

Schon sauste das nächste Schwert auf ihn herab und traf ihn am Arm, den er eben so noch hatte hochheben können, um seine Brust zu schützen.

„Thranduil!“ Wieder diese Stimme. Doch diesmal kam sie ihm bekannt vor, mehr als bekannt. Konnte das tatsächlich sein? War sein Vater hier?

Erneut wandte sich Thranduil der Stimme zu – und wirklich, vor ihm stand Oropher. Und auf einmal wurde Thranduil bewusst, wie zu viel ihm alles war. Und die Tatsache, dass er hier aufrecht stand, dass er kämpfte, erschien ihm angesichts dessen so irreal... er hatte doch eigentlich keine Kraft mehr, oder?

„Vater...“ - daraus sprachen Erleichterung, Verzweiflung, Schuldbewusstsein,... Den Schlag auf den Kopf spürte Thranduil schon fast nicht mehr. Alles wurde schwer und schwerer. Und dann fiel er.

Oropher hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, Thranduil so in Gefahr zu bringen. Er hatte seinen Namen gerufen, um ihm zu zeigen, dass er ihm zur Hilfe kam, um ihm zu zeigen, dass er nicht länger alleine war. Dabei hatte er jedoch vergessen, dass Thranduil kein Krieger war wie Gornarbelethas, er hatte ihn aus dem Konzept gebracht und ihn abgelenkt – in einer Schlacht oft ein tödlicher Fehler.

Und dann stand er auch schon so gut wie vor ihm, als sein Sohn sich ihm zuwandte. Der Schmerz in seinen Augen, das eine Wort, das er sagte, machten Oropher sofort klar, dass die Situation noch viel schlimmer war, als er erahnt hatte. Doch noch bevor der Elbenherrscher die Zeit hatte, sein eigenes Handeln zu bereuen, tauchte hinter Thranduil dieser Ork auf und schlug ihn eiskalt von hinten nieder. Und sein Sohn fiel.
 

Oropher war nicht wütend, nein, er war absolut stinksauer. Schneller als man hinsehen konnte, war er an Thranduils Seite und hieb dem Ork mit einem gekonnten Schlag den Kopf ab. Ebenso verfuhr er mit drei anderen, die sich ebenfalls auf ihn stürzen wollten, ehe dann auch schon die königliche Wache zur Stelle war und diese Aufgabe übernahm.

Augenblicklich ließ sich Oropher neben seinem Sohn auf die Knie fallen und untersuchte dessen Wunden. Er kam zum Schluss, dass es schlimm war, aber nicht ganz so schlimm, wie es hätte sein können. Dennoch mussten sie sofort zurück zum Palast, zu den Heilern!

Während der Anführer der Wache Oropher ein Pferd holte, nutzte dieser seine Elbenmagie, um seinem Sohn zumindest ein kleines bisschen zu helfen – damit er den Weg zurück gut überstehen würde.

Und dann war auch schon das Pferd da und nachdem man den immer noch bewusstlosen Prinzen hinaufgehoben und sein Vater hinter ihm Platz genommen hatte, galoppierte es so schnell wie möglich Richtung Palast.

Oropher hatte ganz und gar kein schlechtes Gewissen, die letzten paar Orks seinen Kriegern zu überlassen. Und Gornarbelethas war nicht dazu zu überreden, ebenfalls nach Hause zu reiten und sich von den Heiler versorgen zu lassen. Unter dem Schutz der königlichen Wache ließ Oropher ihn auf dem Schlachtfeld zurück, er hatte keine Zeit zu verlieren, mit seinem Jüngeren zu diskutieren kam jetzt nicht in Frage. Thranduil war alles, was jetzt zählte. Oropher hatte ihn schon einmal im Stich gelassen, jetzt sollte sein Fehler nicht auch noch seinem Sohn das Leben kosten.
 

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Einige Stunden später
 

Oropher fühlte sich nicht wirklich imstande, an etwas anderes zu denken, als an seinen Sohn, der sich noch immer in Behandlung bei den Heilern befand. König hin oder her, er war auch Vater und alles andere erschien ihm zweitrangig, alles andere war unwichtig.
 

In diesem Moment wurde die Tür zur Großen Halle geöffnet, in der Oropher nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit hin und her wanderte, und eine Heilerin kam herein.

„Mein König...“ Sie verneigte sich.

Das war Oropher aber in diesem Moment ganz egal: Er kam auf die Elbin zu, blieb direkt vor ihr stehen und ohne jede Wahrung von Höflichkeit und Königlichkeit wollte er sofort wissen, wie es seinem Sohn ging.

„Seine Majestät ist nicht in Lebensgefahr“, kam die Antwort. „Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass Prinz Thranduil noch nicht bei Bewusstsein ist. Wir warten noch, dass er wieder aufwacht.“

Oropher wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Und wann wird er...?“

„Das kann man nicht genau sagen“, erklärte die Heilerin. „Seine Wunden sind nicht so gravierend. Er hat zwar einiges an Blut verloren, doch nach ein paar Stunden Schlaf sollte das wieder aufgeholt sein... Womöglich dauert es bei ihm einfach etwas länger, das ist bei jedem etwas anders...“

„Danke.“ Oropher nickte knapp. Zumindest ein Teil seiner Sorgen war ihm wieder genommen. Er durfte die Hoffnung jetzt nicht aufgeben, er musste an Thranduil glauben.

Die Stunden vergingen, wurden zu Tagen, doch Prinz Thranduil erwachte einfach nicht aus seinem Tiefschlaf. Oropher, zunächst noch zuversichtlich, verlangte es nach einer Erklärung, nach einer Lösung, doch ganz so einfach war die Sache nicht. Die Heiler konnten ihm nur sagen, dass Thranduil körperlich „keinen Grund dazu hatte“, nicht aufzuwachen; es musste also an seiner Seele liegen, an seinen Gedanken und Gefühlen. Und das machte die Sache natürlich auch nicht einfacher. Denn das bedeutete, dass nur Thranduil selbst sich helfen konnte, nur er selbst konnte über sein Schlafen und Aufwachen entscheiden.

Oropher verbrachte jede freie Minute am Bett seines Sohnes. Er fühlte sich ohnmächtig, da er nichts anderes tun konnte, als sich immer wieder beim schlafenden Thranduil dafür zu entschuldigen, dass er ihn alleine gelassen hatte.

Mit der Zeit allerdings schlug dieses Ohnmachtsgefühl zunehmend in Zorn um – Oropher war sich sehr wohl bewusst, dass er nicht der einzige „Schuldige“ war. Zunächst hielten ihn seine Reue und sein eigenes Schuldbewusstsein noch davon ab, andere in die Mängel zu nehmen, aber dann gerieten Gornarbelethas und Kalera immer häufiger in seine Gedanken, bis er irgendwann eine solche Wut hatte, dass er die beiden damit konfrontieren wollte.
 

Also ließ er beide vor den Thron bringen, Kalera flankiert von zwei Wachen, Gornarbelethas mit seinem verletzten Arm in der Schlinge.

Oropher sah die Menschenfrau prüfend an. „Was hast du mir zu sagen, mein Kind?“, wollte er ohne Umschweife wissen.

„Was meint Ihr?“, entgegnete Kalera scheinheilig.

„Ich meine, dass ich dir Schutz geboten, dass ich dir eine Zuflucht gewährt habe, und du alle Pferde vergiftet hast.“

„Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht...“, tat sie weiterhin ahnungslos.

„Es ist unnötig, es zu leugnen“, erwiderte Oropher. „In den Mägen der Tiere wurde die selbe seltene Pflanze gefunden, die du auch schon Aurmîdh zu fressen geben wolltest.“

„Aurmîdh? Ihr meint das Pferd Eures Sohnes, der im Sterben liegt...!?“

„Kalera!!“ Nicht Oropher war es, den diese so ausgewechselte Redeweise der Menschenfrau so erstaunte, sondern Gornarbelethas.

Doch Oropher ließ ihn nicht weitersprechen. „Dafür wird später noch Zeit genug sein. Jetzt darf ich euch einen ganz besonderen Gast, einen alten Freund von mir, vorstellen...“

Die Tür ging auf und herein trat der Oberste Zauberer, bei dessen Anblick Kalera sichtlich erbleichte. Die Erklärung hierfür folgte einige Augenblicke später, als der Oberste Zauberer bemerkte: „Sie ist keine gewöhnliche Menschenfrau, mein Freund... sie ist eine Halb-Hexe.“

Augenblicklich war es totenstill im Saal. Durchbrochen wurde dieses Schweigen erst durch ein lautes, spöttisches Gelächter... von Kalera.

„Du solltest dein Gesicht sehen, Oropher!“, rief sie aus. „Du wunderst dich wohl über deine eigene Dummheit...“ Und im selben Augenblick sprengte sie mit ihrer Magie die Fesseln und warf einen Dolch – wie aus dem Nichts gegriffen – Richtung Oropher.

Dieser war noch immer so überrascht, dass es ihm nur mit der Hilfe seines Freundes, des Zauberers, gelang, auszuweichen.

Dann aber, als er realisierte, was hier wirklich passiert war, wurde er langsam aber sicher ungehalten. „Was willst du hier, Hexe?“, fuhr er Kalera an, jedoch keine Reaktion außer vielleicht ein hochmütiges Grinsen erwartend. Daher war er umso erstaunter, als sie ihm antwortete und auch noch tatsächlich auf seine Frage einging. „Ich will dich fertigmachen, Oropher“, kam es voller Wut zurück. „Ich habe deinen Sohn verhext und ihm dann das Herz gebrochen, ich habe zwei Brüder gegeneinander ausgespielt und hätte es fast geschafft, sie beide zu töten.“

Was er da hörte, war Oropher einerseits ein Rätsel, andererseits aber machte es ihn furchtbar wütend. „Was habe ich dir jemals getan?“

„Ich hasse dich einfach, Oropher. Das ist alles. Ich hasse und verabscheue dich!“

„Nun denn... Ich denke, angesichts deiner Taten darfst du wohl nur auf eine einzige Bestrafung hoffen...“ Und mit diesen Worten zog der Elbenherrscher sein Schwert, er trat auf Kalera zu und holte aus....

Da blickte sich ihm herausfordernd in die Augen: „Mörder...!“

„Ich denke, das kann man wohl kaum einen Mord heißen“, zischte Oropher zurück. „Ich tue hiermit vielmehr allen einen Gefallen. Dann ist wenigstens niemand mehr in Gefahr vor dir.“

„Ich meinte auch nicht mich...“, entgegnete Kalera seelenruhig. „Ich meinte mein ungeborenes Kind...“ Sie sah von Oropher zu Gornarbelethas und wieder zurück. „... deinen Enkelsohn....“

Thranduil erwachte in einer Welt, die nicht die seine war. Noch bevor er die Augen aufschlug, wusste er, dass er sich nicht im Waldlandreich, ja nicht einmal in Mittelerde befand. Dennoch empfand er weder Besorgnis, noch Furcht, noch Verwirrung... er fühlte sich nur unendlich leicht.

Da bemerkte der Elb, dass er auf einer Wolke saß. Wie war er hier her gekommen? Was war geschehen? Thranduil versuchte, sich zu erinnern, doch seine Gedanken waren wie ein einziger Nebel, dicht und undurchdringlich, jedoch nicht schwer und zäh, sondern sogar recht angenehm. Es war, als gäbe es nur das Hier und Jetzt, nur diesen einen Moment, und kein Gestern, kein Morgen.

Thranduil lehnte sich, auf die Arme gestützt, nach hinten und ließ die Füße baumeln. Es war so... so friedlich hier.
 

Da ertönte plötzlich eine tiefe, männliche Stimme: „Thranduil, Sohn des Oropher, zukünftiger Herrscher über das Waldlandreich, was hast du hier zu suchen?“

Der Elb blickte sich erschrocken um, konnte aber niemanden entdecken.

„Antworte mir!“, donnerte die Stimmer so laut, dass es in Thranduils Ohren hallte.

„Ich weiß es nicht...“, entgegnete der Elb unsicher. „Ich weiß nicht, wie ich hier her gekommen bin...“

„Dann erinnere dich!“, befahl die fremde Stimme.

Ja, wenn das so einfach wäre... Thranduil wollte eben etwas erwidern, als sich der Nebel in seinem Kopf zu lichten begann. Nach und nach tauchten Bilder auf, Geschehnisse, und Thranduil erinnerte sich: sein Vater, Gornarbelethas, Kalera, die Schlacht,... Mit jedem Stück Vergangenheit, das zu ihm zurückkehrte, mit jedem Stück Schmerz und Enttäuschung der jüngsten Ereignisse, wurde der Elb schwerer und schwerer und er sank tiefer und tiefer in die Wolke hinein, als wäre sie Treibsand.

Thranduil wurde panisch, er schlug um sich und versuchte, sich zu wehren, doch vergeblich – er schien nur noch schneller zu versinken.

„Wehr dich nicht...“, wisperte es auf einmal neben ihm. Wieder war niemand zu sehen.

Sich nicht wehren? Das war doch absurd, oder? Dennoch hielt der Elb einen Moment lang still, nur um noch tiefer zu versinken.

„Wie soll ich dann überleben?“, rief Thranduil, allmählich frustriert, in die unendliche Weite hinaus. „Wie soll ich zurückkehren und mich all dem stellen?“

„Lass los...“, flüsterte es im Echo von mehrere Seiten gleichzeitig. „Lass los...“

„Das versuche ich ja... ich versuche es...“, erwiderte Thranduil nun leiser. „Es tut nur so weh...“

„Schließ' die Augen...“, kam das Echo wieder.

Der Elb tat, wie ihm geheißen wurde. Eine Weile lang passierte nichts. Dann fiel der erste Regentropfen, gefolgt vom zweiten und dritten und von vielen anderen. Und mit jedem Tropfen, den Thranduil spürte, entspannte er sich mehr – als ob das Wasser alles Schwere wegspülen würde.

Als der Elb die Augen wieder öffnete, saß er wieder auf der Wolke wie zuvor, unversehrt und frei.

„Und nun erlange deinen Mut zurück...“, wisperten die Stimmen. „Finde einen Grund, zurück zu kehren....“

Thranduil überlegte. Jetzt fühlte er sich zwar frei und entspannt, doch was würde ihn zuhause erwarten? Und selbst wenn er tatsächlich den Schmerz der jüngsten Ereignisse hinter sich gelassen hätte, es gab keine Garantie dafür, dass ihm nicht noch einmal so etwas passieren würde. Keine Garantie dafür, dass man ihm sein Herz nicht noch einmal brechen würde...

„Dann verschließe es... verschließe dein Herz...“, hörte der Elb.

Sollte er das wirklich tun? Wie konnte er dann noch lieben? Und wie konnte er dann eines Tages König werden?

„Schlimme Zeiten kommen auf dich zu, o Thranduil, Sohn des Oropher, zukünftiger Herrscher über das Waldlandreich... Doch nun musst du gehen, kehre zurück in deine Welt...“

Noch bevor Thranduil etwas erwidern konnte, wurde es schwarz um ihn.
 

Und dann, dann schlug er die Augen auf.

Oropher war sprachlos. Er war so sprachlos, dass er nicht einmal denken konnte. Er sah von Kalera zu Gornarbelethas und wieder zu Kalera und konnte nicht begreifen, was hier gerade passierte.

„Mein König! Mein König!“ Ein Berater kam hereingestürmt, ganz außer Atem. „Eure Majestät, Prinz Thranduil, er ist erwacht!“

Diese Mitteilung riss Oropher aus seiner geistigen Starre. Sofort ließ er Kalera wieder in die Kerker sperren und eilte dann zu seinem Sohn.
 

„Thranduil!“ Der Ausdruck der Erleichterung, die Oropher beim Anblick seines Älteren empfand, war deutlich zu sehen.

„Vater...“ Auch Thranduil lächelte erfreut.

„Mein Sohn, wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“

„Es geht mir gut, Vater“, beruhigte ihn Thranduil. „Es fehlt mir nichts.“

Da verdüsterte sich Orophers Miene. „Es tut mir so unendlich Leid, mein Sohn, ich habe dich im Stich gelassen...“

„Ich danke dir, Vater. Aber du hast nur deine Pflicht getan, es trifft dich also keine Schuld...“

Oropher, der nicht derselben Meinung war, aber schwieg, zupfte nachdenklich am Saum seines Ärmels herum.

„Was ist los, Vater?“, fragte Thranduil.

„Mein lieber Sohn, es ist höchst unfair dir gegenüber...“ Weiter kam er nicht.

„Aber?“, hakte Thranduil nach.

Oropher seufzte. „Aber es gibt etwas, das du wissen musst...“ Mit kurzen, knappen Worten schilderte er, was sich in der Großen Halle ereignet hatte; Thranduil lauschte schweigend.

Als Oropher geendet hatte, fragte der Jüngere: „Wie soll es nun weitergehen? Was machen wir?“

„Wir reden mit ihnen...“, antwortete Oropher, wenn auch nicht sehr zuversichtlich. „Das heißt, ich rede mit ihnen. Diese Aufgabe soll dich in keinster Weise treffen.“

Thranduil nickte dankbar.

„Sobald es dir besser geht, gibt es etwas anderes für dich zu tun, mein Sohn“, wechselte Oropher das Thema. „Dein Freund Aurmîdh ist seit der Schlacht etwas... verstört... Jedenfalls lässt er niemanden an sich ran. Aber ich habe so das Gefühl, dass er bei dir eine Ausnahme machen wird...“
 

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Wenige Tage später
 

Nach Thranduils weitgehender Genesung und Erholung, hatte Oropher genug Mut gefasst, um erneut mit Gornarbelethas und Kalera zu sprechen. Lösung für die Situation hatte der Elbenherrscher zwar nach wie vor keine parat, doch früher oder später musste er sich dem „Problem“ wohl stellen.
 

Nur wenige Minuten nach Beginn des Gesprächs, in denen Kalera deutlich gemacht hatte, dass sie ihr Kind nicht hergeben würde und in denen Gornarbelethas bewiesen hatte, dass er selbst durch die Ereignisse der letzten Wochen nicht wirklich dazugelernt hatte, kam ein Bote hereingestürmt. „Mein König! Mein König!... Sauron hat allen noch freien Völkern den Krieg erklärt! Herr Elrond bittet Euch, so schnell wie möglich aufzubrechen!“

Ein paar Momente lang war es totenstill im Raum.

Thranduil, der dem Boten in die Große Halle gefolgt war, sah seinen Vater an – noch nie hatte er so alt ausgesehen. Wie viele Sorgen lagen doch auf seinem Haupt!

Oropher jedoch zeigte sich entschlossen, allem und jedem die Stirn zu bieten.

An Kalera und Gornarbelethas gewandt meinte er: „Es gibt nun Dringenderes, auf das wir unser Auge richten müssen...“ An dieser Stelle sah er Thranduil kurz an, der ihm ein aufmunterndes und zustimmendes Lächeln schenkte, bevor Oropher wieder die beiden vor ihm fixierte.

„... Wenn all das vorbei ist, werden wir hierfür schon eine Lösung finden...!“
 

Doch dazu sollte es nie kommen...

Epilog (Thranduil)

Ich bin Thranduil, Sohn des Oropher, Herrscher über das Waldlandreich.
 

Wir schreiben das Jahr 281 des Dritten Zeitalters. Und alles, das mir einst lieb und teuer war, ist fort.
 

Mein Vater und mein Bruder... sie sind tot, gefallen in der Schlacht des Letzten Bündnisses, im Jahre 3441 Z.Z. auf der Dagorlad... wie auch so viele andere Elben, die ich kannte.

Wie es passiert ist, wer Schuld hat und wer nicht, das alles zu diskutieren macht keinen Sinn, denn sie sind fort, für immer und ewig – ein Elben-Leben ist zu lang, um darüber nachzudenken.
 

Kalera ist auch tot. Hexte hin oder her, ich habe sie einst geliebt. Und sie war die Mutter meines Neffen, gestorben bei dessen Geburt, nicht einmal ihre Magie konnte ihr da noch helfen. Seither ziehe ich ihn groß als wäre er mein eigener Sohn.

Erst zehn Jahre nach seiner Geburt kehrte ich ins Waldlandreich zurück. Zunächst konnte ich ihn nicht ansehen, ohne an all jene zu denken, die mir genommen worden sind, und dabei das Gefühl zu haben, keine Sekunde länger mit diesem Schmerz leben zu können.

Mit jedem Tag sieht mein Neffe seinem Vater, meinem Bruder, ähnlicher. Und ich fürchte, auch dessen Temperament hat er teilweise geerbt. Und doch liebe ich ihn – auch wenn ich das niemals wieder für möglich gehalten hätte.
 

Alles ist fort. Doch das Leben geht weiter. Sauron ist besiegt, fürs Erste. Doch würde ich mich ihm jederzeit wieder stellen, wenn mein Vater und mein Bruder wieder bei mir wären. Noch einmal mit Gornarbelethas wegen Verantwortung streiten, noch einmal mit meinem Vater Regierungsgeschäfte durchbesprechen...

Doch genug davon; ich habe beschlossen, mein Herz zu verschließen. Andernfalls wäre es einfach zu viel für mich. Und das kann ich mir jetzt nicht mehr leisten, mein Volk braucht mich, Mittelerde braucht mich. Ich wurde als ältester Sohn eines Königs geboren. Und nun ist es an mir, zu herrschen.

Epilog (Legolas)

Dies ist die Geschichte von Thranduil, Sohn des Oropher, Herrscher über das Waldlandreich, die Geschichte meines Vaters.
 

Er hat alles aufgeschrieben, was passiert ist. Es heißt oft, zehn Jahre seien nichts im Leben eines Elben, nur ein Wimpernschlag, doch manchmal sind sie alles – die Ereignisse dieser zehn Jahre damals machten meinen Vater zu dem, was er ist, zu einem Mann mit einem gebrochenen Herzen.
 

Ich kenne die Geschichte der zwei Prinzen, die Geschichte zweier Brüder, die so verschieden waren, und sich doch beide in meine Mutter verliebten. Ich weiß, wie einer schon immer die Verantwortung übernahm und von einen Tag auf den anderen dann plötzlich die ganze tragen musste, während der andere, der sich seit jeher davor drückte, schließlich ganz „davonkam“.

Ich glaube, manchmal erinnere ich meinen Vater zu sehr an seinen Bruder und bringe ihn dadurch in eine schmerzliche Situation. Er ist dann oft so streng mit mir, als würde er versuchen wollen, alles wieder gut zu machen, als würde er sich selbst die Schuld dafür geben, was damals passiert ist.
 

Ja, mein Vater hat alles aufgeschrieben, doch er redet nie darüber. Als ich endlich „alt genug“ war, hatte er sein Herz längst verschlossen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Auch wenn es selbst für mich zunehmend schwieriger wird, ihm ein Lächeln zu entlocken.

Ich weiß, dass viele ihn fürchten. Sie fürchten die Kälte in seiner Stimme, die scheinbare Gleichgültigkeit und Unbeeindrucktheit in seinem ganzen Verhalten. Ich soll nicht zu anderen darüber sprechen, was passiert ist damals und ich respektiere diese Bitte. Doch manchmal wünschte ich, jeder könnte meinen Vater so sehen wie ich ihn sehe – als einen Mann, der Vieles gesehen und erlebt hat, als einen Mann mit einem Kämpferherz.
 


 

ENDE



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Nizi-chan
2015-10-28T22:47:14+00:00 28.10.2015 23:47
krass...
Das mit Legolas hast du gut verknüpft
Antwort von:  Memories_of_the_Moon
29.10.2015 05:57
Danke dir für all die lieben Reviews!
Von:  Nizi-chan
2015-10-28T22:40:57+00:00 28.10.2015 23:40
So,so. eine Hexe also

XD
Von:  Nizi-chan
2015-10-28T22:13:52+00:00 28.10.2015 23:13
nee oder?
Kommt jetzt die Wendung? Ich hasse scheinheilige Leute. OMG und jetzt wirds interessanter^-^
Von:  Nizi-chan
2015-10-22T19:58:31+00:00 22.10.2015 21:58
So Thrandy ist mit einer Frau und der jüngere Bruder mit einem Zwerg beschäftigt XD
Von:  Nizi-chan
2015-10-21T22:07:47+00:00 22.10.2015 00:07
Jetzt frage ich mich, was der Jüngere wohl anstellen wird.
Da Thrandy jetzt schlafen geht, geh ich auch mal haia machen.
Werde auf jeden Fall alles durchlesen^^
Von:  Nizi-chan
2015-10-21T22:02:48+00:00 22.10.2015 00:02
Ahahahaa XD
Von:  Nizi-chan
2015-10-21T21:59:10+00:00 21.10.2015 23:59
Soo: Es ist ja erst der Anfang, aber in meiner Vorstellung ist Thrandy eiskalt und redet nicht über Gefühle u.ä., sondern handelt( mit Schwert XD). Mal sehen wie du sie weiterentwickeln lässt *freu*

Der kleine Bruder ist ein typischer kleiner Rotzlöffel. Finde ihn jetzt schon lustig XDD
Von:  Nizi-chan
2015-10-21T21:52:32+00:00 21.10.2015 23:52
Da bin ich mal gespannt auf Thranduils Charakter *ihn lieb hab*
Von:  Stef_Luthien
2014-12-13T09:16:15+00:00 13.12.2014 10:16
Weiter, weiter, weiter \(^-^)/


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