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Ego

(LokiXOC)
von

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A Christmas Carol

Vielleicht war das mit den kurzen Haaren doch keine so gute Idee. Am Morgen vor dem Spiegel hatte er feststellen müssen, dass ihn allein seine Haarfarbe vor dem Erscheinungsbild eines Goldenretrievers bewahrt hatte. Loki drückte ein weiteres Mal auf die Türklingel, deren Ton gedämpft durch die Tür schallte. Nichts geschah. Merkwürdig, er hatte sich doch angekündigt.  Als sich auch nach einem weiteren Klingeln nichts tat, nahm er seine Reisetasche und ging vorsichtig ums Haus. Der Schnee, der über Nacht gefallen war, knarrte leise unter seinen Schuhen. Er spähte über den niedrigen Gartenzaun, konnte aber außer einigen schneebedeckten Laubhaufen nichts entdecken. „Eve?!“ Hundegebell. In Windeseile stürmte Charlie aus dem Nichts hinter dem Dickicht hervor und sprang am Zaun hoch um den Gast zu begrüßen und zu prüfen, ob man ihm ordnungsgemäß eine Belohnung mitgebracht hatte. Kurz darauf erschien Eve dick eingepackt in Stiefeln, Daunenjacke, quietschbunter Mütze nebst passendem Schal und Handschuhen. „Hey! Komm rein, das Gatter ist offen.“ Also trat er in den Garten  und kraulte Charlie kurz am Kopf. Der Beagle  schnupperte neugierig an der Reisetasche.

„Du hast es Dir überlegt.“, stellte Eve lächelnd fest.

„Das Hotel ist zwar schön, aber alleine recht öde.“ Aus der Manteltasche zog er eine kleine Salami, die er beim Frühstück im Hotel in eine Serviette gewickelt hatte und warf sie Charlie zu.

„Hallo, Eve.“ Er trat auf sie zu und nahm sie wieder kurz in den Arm. „Du bist so bunt.“ Er zupfte an ihrem Schal.

„Ach so, ja. Die hat mir Amber vor ein paar Jahren zu Weihnachten gestrickt.“

“Evie! Daisy macht nicht was ich ihr sage!“

Beide spähten hinter das Dickicht, wo Alice auf ihrem gescheckten Pony saß und verzweifelt versuchte, das Tier von den offenbar recht schmackhaften Flechten abzulenken.

„Ich würde sagen, Daisy hat keinen Bock mehr“, murmelte Eve und wand sich wieder an Loki. „Geh schon mal rein, ich komm gleich nach. Fühl dich wie zu Hause.“ Sie wies auf die Hintertür und lief zu Alice.

Sonst war niemand im Haus. Auf dem Esstisch lagen bereits die restlichen Unterlagen. Er brühte in der Zwischenzeit eine Kanne Tee auf, nachdem er auf der Suche nach der Teedose jeden einzelnen Schrank in der Küche durchsucht hatte. Mit der dampfenden Tasse wollte er sich an den Kamin setzen, wurde aber von Charlies Gebell und lautem kindlichem Quietschen abgelenkt. Er trat ans Fenster und sah, wie Eve Alice recht langsam hinterherjagte und beide sich lachend mit Schneebällen bewarfen, während Alice offensichtlich so schnell rannte wie sie konnte. Charlie tobte bellend um die beiden herum. Schließlich hatte Eve das Mädchen eingeholt, packte sie und wirbelte sie durch die Luft.

"Ich hab dich lieb, Evie!", verkündete Alice, als sie auf dem Arm ihrer Tante saß.

"Ich hab dich auch lieb, mein Schatz. Lass uns reingehen."

"Musst du wieder arbeiten?", fragte sie mit einem kleinen Schmollmund.

"Ja, allerdings nicht mehr viel. Und nachher mach ich uns Pfannkuchen." Alice strahlte. "Au ja!"

Kaum hatte Eve die Tür geöffnet, trabte Charlie herein und setzte sich demonstrativ vor den Kamin.

"Eve?" Loki stand im Türrahmen und hielt ihr eine Tasse mit dampfendem Inhalt entgegen. "Ein Traum, Dankeschön."

"Loki!" Alice hatte den Kampf mit ihren dicken Winterstiefelchen aufgegeben und gab sich alle Mühe, ihn mit ihrem stürmischen Angriff umzuwerfen. Indes hatte Loki das Gefühl, ihn würde eine Fliege rammen. "Hallo, Alice."

"Alice, du sollst doch nicht mit den nassen Schuhen ins Haus", sagte Eve tadelnd und nippte an der Tasse.

"Ich krieg die nicht auf", protestierte Alice, stapfte zurück in die Diele und hinterließ kleine Pfützen auf dem Parkett. "Ich hol nen Lappen." Eve Stellte die Tasse ab und verschwand im Flur.

"Loki! Das geht nicht!" Etwas unschlüssig trat Loki in die Diele, wo Alice an dem Knoten herumfingerte. "Der Knoten geht nicht auf."

Er seufzte. "Ich helf‘ dir."

 

"Ich hab keinen Bock mehr." Stöhnend ließ Eve den Kopf auf die Tischplatte sinken. "Ich hab Urlaub."

"Wir sind fast durch." Lokis Motivation war ebenfalls schon lange im Urlaub. "Wenn wir jetzt weitermachen, kann ich das heute Nacht fertig machen und fliege morgen zurück nach New York."

"Was willst Du denn in New York." Eves Kopf tauchte langsam hinter dem Laptop auf.

Loki blinzelte verwirrt. Das war doch offensichtlich.

"Dad hat Dich eingeladen. Ich dachte, du wolltest bleiben?"

"Aber das muss-" - "Du glaubst doch wohl nicht, dass bei Lockheed zwei Tage vor Weihnachten noch irgendjemand freiwillig arbeitet." Sie schenkte ihm einen vielsagenden Blick. Loki blieb stumm.

"Evie?" Alice lugte vorsichtig hinter dem Mauerbogen hervor.

"Ja, Mäuschen?" Eve drehte sich  um und beobachtete, wie der kleine Rotschopf hinter dem Bogen hervortrat, um ihr Anliegen kundzutun. "Grandpa hat gesagt, ich soll euch nicht beim Arbeiten stören, aber du hast versprochen, dass du Pfannkuchen machst."

"Pfannkuchen?"

"In der Tat. Pfannkuchen!" Eve sprang vom Stuhl angesichts der willkommenen Ablenkung und klemmte sich die fröhlich quietschende Alice auf dem Weg in die Küche unter den Arm.

Loki fasste sich seufzend an den Kopf. Die Aufstellung für den Prototyp der Lockheed-Maschine schien endlos. Und Eve zeigte sich nicht unbedingt kooperativ. Er streckte sich und folgte den beiden in die Küche, wo Alice bereits auf der Anrichte saß; mit der großen Rührschüssel auf dem Schoß und einem Schneebesen in der Hand. Eve suchte indes  die Zutaten nebst Bratpfanne aus den Schränken zusammen. Loki setzte sich auf einen der Barhocker vor dem Tresen an der Anrichte und Legte das Kinn auf die verschränkten Arme.

„Warum schaust du so böse? Magst du keine Pfannkuchen?“ Alice versuchte seinen Gesichtsausdruck zu imitieren. Eve kippte das Mehl in die Schüssel.

„Was?“ Gedanklich war er immer noch beim letzten Punkt der Liste: Durchführung 1. Testlauf. Pfannkuchen. „Nein, ich…Nun…“ Nein, noch keine Pfannkuchen.

„Du hast noch nie Pfannkuchen gegessen?“ Alice zeigte sich äußerst bestürzt.

„Pass auf, sonst macht die Schüssel gleich nen Abflug.“, mahnte Eve und schlug die Eier auf.

Alice rührte vorsichtig den Teig um, damit nichts herausplatschte.

„Fertig!“, verkündete sie, als sie mit der Konsistenz des Teiges zufrieden zu sein schien und reichte ihrer Tante die Schüssel. Innerhalb kürzester Zeit begann es im ganzen Haus herrlich zu duften.

„Hier, probier‘.“ Eve stellte einen der gebackenen Teigfladen auf einem Teller vor Lokis Nase.

„Ich will auch!“, protestierte Alice, worauf sie von ihrer Tante auf den Tresen umgepflanzt wurde. „Teilt ihn euch.“ Eve legte Messer und Gabel neben den Teller. Loki zuckte mit den Schultern und schnitt den Pfannkuchen entzwei. „Da muss noch Marmelade drauf.“ Alice versuchte das Glas mit der dunkelroten Marmelade von der Anrichte zu angeln, doch ihr Arm war zu kurz. Loki griff nach dem Glas. „Tust du mir auch was drauf?“

Eve beobachtete die beiden lächelnd aus dem Augenwinkel, während sie nacheinander die heißen Pfannkuchen auf einem Teller stapelte. Alice war ein sehr fröhliches Mädchen, aber Fremden gegenüber sehr misstrauisch. Doch Loki schien die Ausnahme darzustellen.

„Nachschlag?“ Als Eve sich umdrehte, streckte ihr Loki süffisant grinsend den leeren Teller entgegen. Alice saß daneben und strahlte über das ganze marmeladenbekleckste Gesicht. Eve seufzte und legte nach.
 

 „Du, Loki?“

„Ja, Alice?“ Die Kleine wollte sich gerade mit Hilfe ihres Ärmels der Marmeladenreste auf ihrem Gesicht entledigen, als Eve ihr gerade rechtzeitig eine Serviette vor die Nase hielt. Sie wischte sich den Mund ab. „Kannst Du reiten?“

Er schenkte Eve einen kurzen Seitenblick. Sie zuckte nur vielsagend mit den Schultern.

„Vielleicht?“, antwortete er vorsichtig.

Dass Alice anschließend darauf bestand, am Nachmittag noch auszureiten, war absehbar. Loki begleitete Eve mit gemischten Gefühlen durch den Schneebedeckten Garten. Charlie war schon lange mit Alice hinter den Schuppen verschwunden, der an den Stall angrenzte. „…ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass mir der Reitsport nicht geläufig ist.“,  beendete er den Satz.

„Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht möchtest. Aber die Tiere müssen bewegt werden.“

„Ich will es versuchen. Du meintest Cinnamon sei ein umgängliches Tier.“

Eve öffnete die Tür zum Schuppen. Drinnen brannte bereits Licht, das von einer einfachen herabhängenden Baulampe ausging. Es roch nach Heu, altem Holz und natürlich nach Ross. Es war überraschenderweise angenehm warm.

Eve öffnete einen der dunkelgrün lackierten Spinde an der Wand und beförderte aus einer Plastiktüte ein eingestaubtes Paar schwarzer Reitstiefel zu Tage. Sie hielt sie nacheinander ins Licht, sodass sie prüfen konnte, ob sich nicht doch trotz der Tüte eine Spinne oder anderes Kleingetier darin eingenistet hatte. „Die könnten Dir passen.“ Er nahm die Stiefel entgegen. Auf den hinteren Schlaufen waren die Initialen J.H. Eingestickt. Die Stiefel mussten James gehören, machten allerdings den Eindruck als seien sie seit Jahren nicht getragen worden. Er setzte sich auf einen der Strohballen in der Ecke und schlüpfte probeweise in einen der Stiefel während Eve ebenfalls ihr Schuhwerk wechselte. Aus dem Stall drang das leise Stampfen der Hufe auf dem Stroh und vereinzelt ein Schnauben. Des Weiteren war Alice zu hören, wie sie mit dem Sattelzeug kämpfte. „Wenn du Hilfe brauchst, musst du’s sagen.“, rief Eve in den Stall worauf ein etwas gequältes „Ich kann das schon alleine!“ zurückkam. Eve musste lachen.

„Sturheit liegt wohl bei euch in der Familie.“, stellte Loki fest und stand auf.

„Passen sie?“ Eve überging den Kommentar.

„Sie sind etwas groß, aber sie werden genügen.“

„Da bin ich aber erleichtert, eure Hoheit.“ Mit einer hervorragenden Parodie eines Hofknickses verschwand Eve in den Stall und öffnete die Boxen. „Na, mein Großer?“ sie wuschelte dem Tier durch die dunkle Mähne. Mein Großer war durchaus passend. Das Pferd war riesig und breit gebaut mit langen dunklen Fransen an den Fesseln. Sie führte den grauen Riesen mit einer sanften Berührung am Kinn aus der Box. Der Wallach war dieses Procedere offenbar gewohnt und ging gemächlich zur gegenüberliegenden Stallmauer, um gesattelt zu werden.

„Keine Sorge“, sagte Eve angesichts der Überraschung auf Lokis Zügen und schubste das zweite Pferd mit der gleichen Bewegung hinaus aus seiner Box. „Das hier ist Cinnamon.“ Cinnamon mit der gleichnamigen Fellfarbe von Zimt trat etwas zögerlicher aus der Box. Die Stute war etwas kleiner, was ihrer Größe allerdings nichts abtat angesichts des eher schlanken drahtigen Körperbaus. Aus dem Eimer in der Ecke holte Eve ein Werkzeug. Der Graue scharrte ungeduldig mit den Hufen. „Jaja. Hetz mich nicht.“  Loki sah sich um. Dieser Geruch, die Tiere. Es schien ihm alles irgendwie vertraut. Er ging langsam zu Cinnamon; näherte sich seitlich, sodass sie ihn sehen konnte und streichelte ihr über den Hals. „Ein wunderschönes Tier.“

„Gunpowder! Lass das!“ Amüsiert beobachtete Loki, wie Eve -bei dem Versuch den Vorderhuf, den Gunpowder bereitwillig auf ihrem Oberschenkel abgelegt hatte, auszukratzen- den riesigen Kopf des Pferdes wegzudrücken versuchte, da er ihren Haarknoten offenbar für etwas Schmackhaftes zu halten schien.  Angesichts ihrer Absicht kräuselte er eine Augenbraue. „Eve, das ist Arbeit für einen Stallknecht.“

Eve hielt inne und sah verwirrt zu ihm auf. Dann stöhnte sie genervt und packte die Schnauze des Leckermauls mit beiden Händen. „Ist gut jetzt!“ aus der Westentasche zog sie einen kleinen Haferkeks. „Da hast du.“ Gunpowder wandte sich zufrieden dem Leckerchen zu.

„Was war das denn gerade?“ fragte Eve und drückte Loki einen Haferkeks für Cinnamon in die Hand.

„Was meinst du?“ Er überreichte der zutraulichen Stute den Keks.

„Ein Stallknecht?“ – „Nun, ich… kann mich nicht daran erinnern einen zu kennen, falls du darauf anspielst.“

„Vielleicht hast du ja blaues Blut und ihr hattet daheim einen Stallknecht.“, mutmaßte Eve und drückte Loki grinsend den Hufkratzer in die Hand. „Du hast gesehen, wie’s geht. Viel Spaß.“

„Aber du warst noch gar nicht fertig.“

„Ich weiß.“ Eve ging zurück zu dem Eimer. „Aber wir haben mehrere von den Dingern.“

 

„Willst Du ihn denn nicht satteln?“ Loki passte gerade Cinnamons Steigbügel an, als er sich über den scheinbar nicht vorhandenen Sattel wunderte.

„Er braucht keinen.“ Der große Graue ließ sich das einfache Halfter überziehen. Auch für Cinnamon gab es kein übliches Zaumzeug mit Gebissstange, allerdings gab es einen passenden Sattel für die Stute. Gunpowder war wohl einfach zu groß. Über seinem Rücken lag lediglich eine dick abgesteppte Decke. Aus einem Automatismus heraus stieg er in den Sattel und lenkte das Tier hinaus ins Freie, wo Alice schon ungeduldig auf ihrem Pony saß. Kaum, dass er das Hufgetrappel auf dem gepflasterten Vorhof hörte, sprang Charlie aus dem Gebüsch und tanzte um die wenig beeindruckte Stute herum. Als er Alice so auf dem kleinen gescheckten Tier sah, aufgrund der Kälte dick eingepackt wie ein Michelin-Männchen, keimte in ihm die Frage auf, wie das kleine Mädchen auf das verhältnismäßig große Pony hochgekommen war. Die Steigbügel schienen zu hoch, um aus dem Stand aufsitzen zu können. Aus dem Stall war das schwere Traben von Gunpowder  zu hören. Eve musste den Kopf einziehen, um auf dem Rücken des Tieres nicht mit dem Torbogen zu kollidieren. Instantan fragte Loki sich bei ihr dasselbe.

„Da seid ihr ja endlich!“ Alice ergriff die Zügel.

Gunpowder schnaubte, dass heiße Dampfwölkchen von seinen Nüstern aufstiegen und scharrte ungeduldig mit den Hufen. „Geduld, mein Großer.“ Eve tätschelte den Hals des Tieres.

„Kommt ihr?“ Alice hatte bereits einen Teil des verschneiten Feldweges zurückgelegt und drehte sich im Sattel zu ihnen um. „Du kannst das Gatter schon mal aufmachen.“ Eve lächelte verschmitzt, als Alice eine Schnute zog und beleidigt davontrabte.

„Willst du dir nicht noch etwas überziehen?“ Eve sah etwas skeptisch zu Loki hinüber der sich zum Rausgehen nur mit seinem schwarzen Pullover begnügt hatte. Eve hingegen trug unter ihrer Steppweste drei lagen Funktionswäsche nebst der dicksten Wollsocken, die sie hatte finden können.

„Nein, weshalb?“, fragte er scheinbar überrascht.

Eve runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob du‘s schon weißt, aber wir haben Dezember, befinden uns an der Nordatlantikküste und es hat geschneit.“

„Ich weiß.“ Loki lächelte.

„Ist dir denn nie kalt?“

Er überlegte kurz. „Nicht dass ich mich erinnern könnte.“ Eve machte gedanklich eine Notiz auf der Liste der vielen Mysterien des Luke Saulsbury. „Wollen wir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten preschte Loki davon. Eve fügte eine weitere Notiz hinzu.

Am Gatter angekommen demonstrierte Alice die Antwort auf Lokis ungestellte Frage. Nachdem sie das Gatter geöffnet hatte, musste sie ja irgendwie zurück in den Sattel kommen. Sie hielt sich gleichzeitig am Halfter und der Mähne fest und wartete, bis das Pony den Kopf und damit das Mädchen vom Boden hob. Anschließend hakte sie sich mit einem Bein am Sattelknauf ein und zog sich mit Schwung in den Sattel. Das Pony schien der ganze Hokuspokus dabei wenig zu interessieren.

Alice folgte dem Feldweg ungerührt weiter während der Beagle die Umgebung erkundete. Gunpowder holte auf. Der Weg führte über die Küstenstraße an einer steilen Klippe entlang hinunter zum endlos erscheinenden Strand. Dieser war teilweise von Schnee bedeckt, vereinzelt lugten braun gewordene Grasbüschel hervor. Zum Wasser hin ging der feste Boden in feiner werdenden Kies über. Der Wind blies kräftig von Seeseite her. Schon nach kurzer Zeit konnte man das Salz auf den Lippen schmecken. Die Wellen brachen sich mit leisem Donnergrollen an einer vorgelagerten Felskante, sodass das Wasser nur in sanften Wogen über den Kies schwappte. Unten hatte Charlie ein

überdimensioniertes Treibholz herbeigezerrt und Alice vor die Füße gelegt. Nach kurzer Zeit war ein Stöckchen gefunden, dass der kleine Rotschopf auch werfen konnte.

Cinnamon wurde nun auch unruhig und begann mit den Hufen zu scharren und zu schnauben. „Was hat sie?“

„Sie will laufen.“ Eve lächelte und sah die Küste entlang.

„Dann lassen wir sie laufen.“ Und wieder preschte er davon, diesmal im Galopp.

„Hey! So nicht.“ Eve ließ die Zügel los und drückte die Beine gegen die Flanken des Tieres. „Lauf!“

Darauf schien Gunpowder die ganze Zeit über gewartet zu haben. Nach kurzer Zeit hatte der große Graue die Stute eingeholt und zog an ihr vorbei. Eve ließ ihn laufen, bis er keine Lust mehr hatte und an einer Anhöhe auf der Suche nach einem Snack die Nüstern in den Schnee steckte. Eve schwang ein Bein über die Kruppe und sprang ab. Loki kam nach kurzer Zeit hinzugetrabt. „Ich muss gestehen, dich unterschätzt zu haben, Eve.“

„Mich, oder das Pferd?“ Sie hob ein paar Kiesel auf und warf sie in die Brandung.

„Sowohl, als auch“, gab er zu und sprang elegant aus dem Sattel.

„Hast du dich in der ganzen Zeit an etwas erinnert?“

„Nein, nichts.“ Loki seufzte und hob seinerseits ein paar Kiesel auf, um sie im Meer zu versenken. „Egal was ich versuche, ich kann mich an nichts erinnern.“

Ein Schnauben. Gunpowder hatte offenbar die Suche aufgegeben und fieselte nun von hinten an ihre Westentasche, in der sich die Haferkekse versteckten. Eve seufzte und drückte die große dunkelgraue Schnauze weg. „Manchmal glaub‘ ich, du bist einfach nur ein viel zu groß geratener Hund.“ Sie zog einen Keks aus der Tasche und stellte sich vor das Tier. „Mach sitz.“ Doch anstatt sich hinzusetzen reckte Gunpowder den Kopf nach vorn und nahm den Keks vorsichtig mit einer kussmundähnlichen Bewegung aus ihrer Hand. „Doch eher ein Maultier.“

Ein Steinchen flog in einem frustrierten Bogen ins Wasser. „Zumindest wissen wir jetzt, dass ihr daheim Pferdeknechte hattet, eure Hoheit.“ Loki verzog das Gesicht. „Das eilt mir wohl noch ewig nach.“

„Jup.“  Eve warf ihren letzten Kiesel in die Brandung. Über dem Himmel im Osten breitete sich bereits langsam die Nacht aus. „Wir sollten langsam wieder zurück.“ Sie nahm ihr Pferd beim Halfter und begann gemütlich zurück über den Strand zu wandern. Loki spazierte mit Cinnamon bei den Zügeln nebenher.

"Bist du hier aufgewachsen?"

Eve bedachte ihn mit offener Verwunderung. "Warum fragst du das?"

"Nun" Ihm entkam ein kurzes Lachen, da er die Antwort für selbstverständlich hielt. "es interessiert mich. Ich möchte mehr erfahren über die geheimnisvolle Eve, von der ich nichts weiß, außer dass sie keine Menschen mag, dafür aber Käse vergöttert." Den letzten Teil verpackte er mit einem humorvollen Sarkasmus-Schleifchen, was Eve kurz zum Stutzen brachte.

"Lass doch den Unsinn. Vorsicht." Sie sprang zur Seite, um von der anrollenden Brandung keine nassen Füße zu bekommen und rempelte Loki dabei beinahe um. "Wir kommen vom Thema ab.", stellte er auffordernd fest.

"Ich bin hier aufgewachsen, seit ich sieben war. Davor war ich bei meiner Großmutter in Deutschland."

"War dein Bruder auch dort?" Eve setzte zu einer Antwort an, hielt dann aber abrupt inne, als sie Alice sah, die sich gerade nach Charlies Stöckchen bückte. Plötzlich war sie unsicher. Ein ungewöhnlich lautes Donnern von der Felskante kündigte die Flut an, hallte an der Klippe wieder und erschreckte die Kleine. "Loki, ich..."

"Schon gut." Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und saß auf. Als er davon ritt, hätte sie am liebsten den Schädel gegen eine der Felswände geschlagen. Verbockt. Konversation war in familiärer Hinsicht nicht sonderlich ihre Stärke. -Nett ausgedrückt. Eve seufzte und nahm Gunpowder sanft an der Schnauze, drückte sie hinunter. Von außen sah es beinahe wie eine Verbeugung aus. Das Tier beugte folgsam ein Knie. Eve packte die Mähne und saß mit einem schwungvollen Satz auf. "Gehen wir nach Hause, mein Großer." Sie tätschelte ihm den Hals und lenkte ihn zum Weg zurück, wo sich Alice ebenfalls zum Aufbruch bereit gemacht hatte. Als sie zu ihrer Nichte aufgeschlossen hatte, bedachte diese sie mit einem neugierigen Blick. "Loki hat doch gesagt, er kann nicht reiten."

"Vielleicht hat er geschwindelt?" Gunpowder versuchte, den feuerroten Zopf des Mädchens anzuknabbern. "Schwindeln darf man nicht.", beschwerte sie sich und drückte die weichen grauen Nüstern weg. "Und Jungs können normal nicht reiten."

"Vielleicht ist er ja kein normaler Junge", begann Eve geheimnisvoll und beugte sich verschwörerisch zu ihr hinunter, "vielleicht ist er ja ein Prinz." Alice stand der Mund offen. Der entgleiste Gesichtsausdruck des Mädchens brachte Eve zum Lachen. "Na los, wir müssen heim, sonst macht Grandpa sich noch sorgen." Sie trieb den Großen Grauen an.

Alice, ihrer selbst indes wieder gewahr, trat eilig in die Seiten ihres Ponys. "Du schwindelst, Evie!"

 

 „Da seid ihr ja.“ James Harrington sah über die minimalistische Sehhilfe hinweg und musterte die drei Neuankömmlinge. Er war gerade dabei im Kochbuch ein Rezept nachzuschlagen.

„Hi, Dad!“ Eve gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Was hast du denn vor?“ Offenbar war das aufgeschlagene Rezept etwas opulenter. „Für morgen.“, erklärte er und machte kurzerhand ein Eselsohr in die Seite.

„Mister Harrington.“ James schob die Brille ein Stück Richtung Nasenwurzel und ergriff die Ausgestreckte Hand. „James bitte.“ – „Gerne.“

„Hallo, Grandpa!“ Alice versuchte James zu umarmen, musste sich aber ähnlich wie bei Loki mit einem Bein begnügen.

„Hallo, Schätzchen.“ Er beugte sich hinunter und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Habt ihr euch schon arrangiert?“

„Ich schlaf‘ auf der Couch.“, verkündete Eve beiläufig, betätigte den Schalter am Wasserkocher und suchte in der Küche nach der Teedose. „Luke schläft oben und Celine entweder bei Amber oder Alice.“

„Celine ist meine Mama.“, erklärte Alice für Loki und sprang die Treppe hinauf.

Das war nicht nötig er konnte auf der Couch schlafen. Doch Eve ließ ihm keine Gelegenheit zum Protest.

„Wo ist Amber?“ Eve drückte den Herren eine Tasse Tee in die Hand. James nippte kurz daran und hob die Augenbrauen. „Darüber wollte ich mit Dir…“

In dem Augenblick wandten alle angesichts des Tumultes den Blick die Treppe hinauf. „Geh raus! Lass mich in Ruhe!“ Oben wurde eine Tür zugeschlagen. Alice begann zu weinen.

„…reden.“, beendete er den Satz und nahm mit wehleidigem Blick einen weiteren Schluck aus der Tasse.

„Wie lange geht das schon so?“ Eve stellte die Tasse auf den Tresen und machte sich auf den Weg nach oben.

„Eine ganze Weile.“
 

"Oh, Schätzchen." Oben angekommen hob Eve die heulende Alice auf den Arm und streichelte ihr über den Rücken bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. "Amber hat's doch nicht so gemeint."

"Warum ist sie immer so gemein?!", beschwerte sie sich. "Hat Amber mich nicht mehr lieb, Evie?"  

Eve seufzte und schenkte dem Mädchen ein sanftes Lächeln. "Natürlich hat sie dich lieb."

"Aber warum ist sie dann so gemein?" Eve setzte sich auf den Treppenabsatz und setzte Alice rittlings auf ihren Schoß.

"Ich verrat' dir jetzt was." Eves Flüsterton lies den kleinen Rotschopf aufhorchen. "Wenn Mädchen älter werden, dann werden die irgendwann komisch."

Alice machte große Augen. "Komisch?" Eve nickte.

"Plötzlich ist dann alles blöd und uncool und man will unbedingt erwachsen sein, es geht aber nicht schnell genug. Deine Familie ist dann auch blöd."

"Unsere Familie ist nicht blöd!", empörte sich Alice.

"Natürlich nicht, aber so kommt es Amber vielleicht gerade vor. Bei dir ist das bestimmt auch irgendwann mal so."

Alice schüttelte energisch den Kopf. "Ganz bestimmt nicht. Ich will nicht komisch werden."

Eve lachte. "Ich fürchte, dagegen lässt sich nichts machen, meine Süße."

"Das ist doof." Die Kleine zog eine Schnute. "Aber dann kann Amber ja gar nichts dafür, dass sie so doof ist?"

Ihre Tante tippte ihr breit lächelnd auf die Nasenspitze. "Kluges Mädchen. Genauso ist es. Und deswegen dürfen wir deiner Schwester nicht böse sein. Okay?"

"Okay!" Alice lächelte wieder.

"Ich rede mit Amber. Geh schon mal runter und hilf den Jungs beim Abendessen, ja?" Sie drückte einen Kuss auf die Wange des Mädchens.

Als Alice unten ins Wohnzimmer gelaufen war, ging Eve zurück über den Flur.
 

„Es ist schön, dass Sie sich entschieden haben  über die Feiertage hierzubleiben.“ James machte eine einladende Geste in den Wohnraum und setzte sich auf die Couch vor dem Kamin, wo es sich Charlie bereits auf dem Teppich gemütlich gemacht hatte. „Vielen Dank für die Einladung.“ Charlie hob ein Schlappohr und bewegte sich dann zu seinem Herrchen um sich den Kopf kraulen zu lassen.

„Ich muss zugeben, Luke, die Einladung war nicht wirklich uneigennützig.“ Loki wurde hellhörig. „Sie arbeiten mit Eve zusammen, richtig?“

„Ja?“ er war sich nicht sicher, worauf der Hausherr abzielte.

„Wie lange arbeiten Sie schon bei Stark Industries?“

„Ein paar Monate.“ Diese Antwort brachte James zum Lächeln. „Dacht‘ ich mir.“ Er nippte wieder an seinem Tee. „In letzter Zeit wirkt sie ausgeglichener und es ist sehr selten das Eve sich mit jemandem so gut versteht.“

Dachte er etwa, dass er…dass Eve… Du lieber Himmel, das war ausgeschlossen! „Sir, Ich…“

„Das ist nur einer der Gründe, warum ich Sie eingeladen habe.“, schnitt James ihm das Wort ab und lächelte, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. „Eve erwähnte, sie wären sonst über Weihnachten allein in New York. Und Freunde sind uns jederzeit willkommen.“

"Grandpa?" James und Loki wandten sich um, als Alice wieder so fröhlich wie zuvor ins Wohnzimmer gestürmt kam. "Evie hat gesagt, ich soll euch beim Kochen helfen." Die beiden Männer sahen sich erstaunt an. "Kochen?"

 
 

"Amber?" Sie klopfte vorsichtig an die Tür, auf der ein handgekritzelter Zettel KEEP OUT mahnte und horchte.

"Geh weg." Ein ersticktes Schniefen. Eve drückte vorsichtig die Klinke hinunter und öffnete die Tür einen Spalt breit, sodass sie gerade den Kopf ins Zimmer stecken konnte. Ein Kissen traf sie mitten ins Gesicht. "Ich hab gesagt, geh weg!" Amber saß in eine Decke gewickelt auf dem Bett, wie eine Schnecke, die nicht mehr aus ihrem Haus wollte. "Na hör mal..." Als nächstes kam ein zerfledderter Teddybär geflogen und nahm Eve kurz den Wind aus den Segeln, als sie das Bärchen so auf dem Boden liegen sah. Es war Mr.Kuddles, Ambers erstes Kuscheltier. Sie hatte keine Ahnung, wie oft sie den Bären hatte operieren müssen, weil er wieder einem ihrer Kleinkinder-Unfälle zum Opfer gefallen war. Seinen Hals zierte ein ausgewaschenes dunkelgrünes Halstuch. Es gehörte Ambers Vater. Sie hob ihn an einem der braunen filzigen Beinchen hoch und befreite sein Ohr von einem Fussel. "Der arme Mr.Kuddles.“ Kurz sah sie ihren Bruder vor sich, wie er im Krankenhaus kaum stillsitzen konnte und aufgeregt den Kuschelbären für seine neugeborene Tochter im Wartebereich spazieren trug.  Als sie die Nachricht erreicht hatte, Celine sei soweit, waren beide vom Dienst befreit worden und ins Hospital gefahren. Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Eve lächelte. Es war eine schöne Erinnerung. Leise schloss sie die Tür und setzte sich aufs Bett neben den Deckenhaufen, in den sich Amber nun gänzlich zurückgezogen hatte. "Willst du da nicht rauskommen, kleine Schnecke?"

Wieder ein Schniefen, dann regte sich etwas unter der Decke und zeigte ein rotes sommersprossiges vom Weinen leicht geschwollenes Gesicht. "Was ist denn da los, hm?" Eve wischte dem Mädchen die Tränen von der Wange. Amber rollte sich ein, sodass nur ihr zerzauster Kopf herausschaute und versuchte den Schnodder durch ein heftiges Schniefen loszuwerden. Eve lächelte und fischte aus der Nachttischschublade eine Packung Taschentücher. Sie hielt ihr eins vors Gesicht. "Erstmal Nase putzen." Amber nahm widerwillig das Taschentuch und trompetete hinein. "So." Eve rutschte näher heran und legte einen Arm um das Deckenknäuel. "Besser?" Das Mädchen nickte und trompetete ein weiteres Mal in das Taschentuch. Eve wartete.

"Ich will nicht mehr zur Schule, Evie." sie schniefte wieder.

"Warum denn nicht?"

Schließlich begann die Kleine zu erzählen. Celine konnte sich nicht viel leisten, aber sie tat alles für ihre Mädchen. Die Familie hatte es Amber ermöglicht, die beste Schule der Region zu besuchen, dass dort allerdings meist nur reiche Kinder mit anderen Standards unterwegs waren, erschwerte es ihr, Anschluss in ihrer Klasse zu finden. Keine teuren Klamotten oder nicht das neuste Handy zu haben machten einen dort scheinbar zum Außenseiter. Dazu kam auch noch ihre Haarfarbe und die Sommersprossen.

"Letzte Woche sollten wir entweder unsere Mama oder Papa mit zur Schule bringen. Mama musste wieder arbeiten. Ich war die Einzige, die niemanden mitgebracht hatte." Sie schniefte wieder und sah zu Mr.Kuddles der geduldig mit offenen Armen auf Eves Schoß saß. Sie drückte den Bären an sich und schälte sich aus der Decke um sich an ihre Tante zu kuscheln, die sie fest in die Arme nahm. "Ich vermiss' Daddy so sehr, Evie." sie begann wieder zu schluchzen. "Ich vermiss' ihn doch auch, mein Schatz." Eve tat einen tiefen Atemzug und blinzelte heftig. Sie durfte vor der Kleinen nicht weinen. "Wir vermissen ihn alle."

"Mommy will immer nicht drüber reden. Dann geht sie immer weg, und macht die Tür zu. Sie muss immer arbeiten und Grandpa versteht das nicht."

"Ich glaube schon, dass Grandpa das versteht. Er kann nur seine Gefühle nicht so zeigen." Sie legte eine Wange auf den weichen roten Schopf. "Und eure Mama arbeitet nur so viel, damit es euch beiden gut geht. Sie vermisst euren Daddy genauso sehr, wie ihr."

"Mir wär' lieber, sie wär' öfter zu Hause. Und dass wir über Daddy reden könnten." Eve löste die Umarmung ein wenig und sah ihrer Nichte ins Gesicht. "Hast du mal versucht, ihr das so zu sagen?"

"Wie denn? Sie will das nicht hören. Und wenn sie weg ist, rennt Alice mir ständig hinterher und fragt mir Löcher in den Bauch."

"Was fragt sie dich denn?"

Amber wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullis über die Augen. "Warum Mommy immer weggeht und sie fragt mich Sachen über Daddy und überhaupt, sie nervt einfach so!"

"Hey," Eves Stimme war sanft. "Sie ist doch erst vier und weiß es nicht besser. Und du bist ihre große Schwester, sie sieht zu dir auf."

"Echt?"

"Klar! Ich hab' auch zu meinem großen Bruder aufgesehen. Das ist immer so." Amber wandte nachdenklich den Blick ab. "Sei nicht so streng mit Alice. Ihr seid Schwestern, ihr sollt zusammenhalten und euch nicht ständig zanken."

"Ich versuch's", seufzte Amber schließlich. "Kannst du nicht mal mit Mommy reden?"

Eve seufzte. "Ok, ich versuch's." Sie drückte ihre Nichte noch einmal an sich und stand auf. "Kommst du dann runter?"

"Ja." Amber rollte lächelnd mit den Augen.

"Sicher? Nicht so, wie gestern?" Eve begann zu grinsen.

"Ja, jetzt geh raus."

"Versprochen?"

Amber stöhnte und versuchte, ihre Tante aus dem Zimmer zu schieben, doch Eve hatte zu viel Kraft. "Jetzt geh schon!" Mit viel Mühe schaffte Amber es bis zur Türschwelle.

"Oh, Nein! Die Schwerkraft reißt mich zu Boden!" hörte man Eve theatralisch von oben rufen, während Amber eher angestrengt klang. "Evie, lass den Quatsch!"

"Ich schwör's dir! Ist genau, wie letztes Mal!" Es polterte.

"Evie! Geh' runter von mir!"

"Du hast mich fallen lassen!"

"Du bist doof!"

Der Heilige Abend begann mit einem weiteren Ausritt an der Küste am Morgen und den Vorbereitungen für das Abendessen, die sich bis in die späten Nachmittagsstunden zogen. In der Zwischenzeit war Celine auch am Haus ihres Schwiegervaters angekommen. Alice war ihr in die Arme gesprungen, während Amber sich eher verhalten zeigte. Celine war eine Frau, die man klassisch als hübsch bezeichnen würde. Sie musste in etwa so alt sein wie Eve, war allerdings einen knappen Kopf kleiner, hatte aschblondes schulterlanges Haar, blaue Augen und eine schlanke Figur. James begrüßte sie mit einem obligatorischen Wangenkuss und Luke stellte sich ordnungsgemäß vor. Nur Eve erhielt keine Begrüßung.

Anschließend wurde der Weihnachtsbaum geschmückt Eve hatte ein Paar Kisten aus dem Schuppen geholt, aus denen die Mädchen mit ihrer Mutter nun bunte Anhänger und Glaskugeln an den Tannenbaum hängten, den James und Luke im Laufe des Vormittags angeschleppt hatten. Eve und James waren gerade dabei, die Küche vom Erscheinungsbild eines Schlachtfeldes zu befreien, als Alice mit einem großen goldenen Stern bewaffnet zu Loki lief, der gerade den Tisch für das Abendessen deckte. „Loki! Kannst du mir bitte helfen?“ Sie hielt den Stern demonstrativ in die Höhe und zeigte auf den beinahe fertiggeschmückten Weihnachtsbaum. „Der muss da ganz oben drauf.“

Loki überlegte kurz und ignorierte den überraschten Seitenblick von Celine. Dann hob er Alice auf den Arm und trug sie zum Baum, damit sie den Stern auf die Tannenspitze setzen konnte. „Danke, Loki!“, sagte sie, als er sie wieder abgesetzt hatte. „Bitteschön.“

 

„Warum nennt die Kleine sie Loki?“, fragte Celine, als die Familie beim Nachtisch saß: Brotpudding mit Karamell. „Es ist ein Spitzname.“, sagte er automatisch und nahm einen weiteren Löffel in dem Mund. Er wusste zwar nicht im Geringsten wie Brotpudding zu Stande kam, befand das etwas labbrige Gebilde mit Karamellsoße allerdings für gut. Im Laufe des Tages hatten Eve und Celine kein einziges Wort miteinander gewechselt. Es überraschte Loki, da Eve mit ihrer Familie einen sehr herzlichen Umgang pflegte. Es war ein Ruhiger Abend, alle saßen auf der Couch um den Weihnachtsbaum der neben dem Kamin stand, und tranken Glühwein oder Punsch - bis Amber etwas verunsichert eine Gitarre ins Wohnzimmer brachte. Sie klammerte sich am Hals des Instrumentes fest, das offensichtlich schon einiges durchgemacht hatte. „Ich hab‘ sie schon gestimmt.“, begann sie zögerlich. „Wir haben früher immer an Weihnachten gesungen.“ Loki bemerkte, wie sich die Luft augenblicklich mit Spannung aufgeladen hatte, und alle mit unterschiedlichen ausdrücken das Mädchen betrachteten. Alice schien sich über den Vorschlag ihrer Schwester zu freuen. Celine allerdings war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung ins Gesicht gezeichnet. Aus seiner Position heraus konnte er James‘ und Eves Ausdruck nicht sehen. Es wurde totenstill im Raum. James Harrington seufzte schließlich und nahm seiner Enkelin die Gitarre aus der Hand. „Na schön. Und was wollen wir singen?“

Alice wünschte sich Weihnachtslieder, und sang so laut und schief, wie es nur möglich war und zauberte Loki ein lächeln aufs Gesicht, der die Texte nicht kannte und sich währenddessen mit dem Glühwein beschäftigte. Eve sah ihn mehrmals halb entschuldigend halb wehleidig an, was ihn nur noch mehr zum Lachen brachte und James war völlig mit Singen und Gitarrespielen beschäftigt. Celine brachte keinen Ton heraus und betrachtete beinahe Apathisch ihre Töchter.

„So, nun ist’s aber genug.“ James machte Anstalten, die Gitarre wegzulegen.

„Nein! Eins noch! Bitte!“ Damit hatte Alice die Playlist bereits mehrmals erweitert. „Was denn noch?“ James lachte die Kleine an. „Es gibt doch schon gar kein Weihnachtslied mehr, das wir noch nicht gesungen haben.“ Alice holte Luft um zu protestieren aber offensichtlich viel auch ihr kein Lied mehr ein.

I have seen the rain.“, sagte Amber plötzlich. „Das haben wir immer mit Daddy gesungen.“

Celine Stand unvermittelt auf und verließ das Wohnzimmer. „Mom! Bitte bleib hier!“

Damit sich die Situation nicht verschlimmerte, schlug James die ersten Akkorde des Liedes an. Alice lauschte gespannt, da sie das Lied offenbar nicht kannte.

 

I have seen the rain

I’ve felt the pain.

I don’t know, where I’ll be tomorrow.

IDon’t know, where I’m goin‘,

I don’t even know, where I’ve been.

But i know, I’d like to see them again.

 

Spend my day just searchin‘,

spend my nights and dreams.

Stop lookin‘ over my shoulder,Baby!

I’ve stopped wonderin‘, what it means.

 

Drop out, burn out, sold your hope.

Oh, they say I schould have been more.

Probably so, if I hadn’t been in that crazy damn Vietnam-War.

 

I have seen the rain.

I’ve survved the pain.

Oh, I’ve been home thirty years or so

And I’m just steppin‘ off on that plane.

 

Spend my day just serchin‘,

spend my nights and dreams.

Stop lookin‘ over my schoulder,Baby!

I’ve stopped wonderin‘, what it means.

 

Drop out, burn out, sold your hope.

Oh, they say I schould have been more.

Probably so, if I hadn’t been in that crazy damn Vietnam-War.

 

We have seen the rain together.

We’ve survived the pain forever.

Oh, it’s good to be home again!

It’s good to be with my friends.

 

Oh, it’s good to be home again.

It’s good to feel the rain…

 

Als der letzte Akkord verklungen war, begann Alice begeistert zu applaudieren. „Toll! Ein schönes Lied!“

Loki hatte den Glühwein in seiner Tasse völlig vergessen. Es war in der Tat ein schönes Lied und es hatte unweigerlich eine Geschichte erzählt. Für jeden der drei eine andere. Eve lächelte ihn unsicher an und zuckte dann mit den Schultern. Ihre Augen glänzten.



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