Jugendamt
„Jugendamt London, Bezirk 13, guten Tag.“
„Snape, guten Tag“ Er holte tief Luft und schaltete innerlich auf seinen Sozial-Modus. „Ich habe aktuell einen minderjährigen Asylanten bei mir wohnen. Er braucht eine Pflegefamilie“ Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen.
„Äh … eine Sekunde“ Man konnte leise Stimmen im Hintergrund hören. „Sind Sie noch dran?“
„Natürlich“ Was sollte er schon groß zwischendurch getan haben?
„Für Asylanten ist das Sozialamt zuständig. So eine Pflegefamilie gesucht werden sollt, muss das Sozialamt einen Antrag bei uns stellen. Wie alt ist das Kind denn?“
„Fünfzehn“ Er hielt nur schwerlich ein Knurren aus seiner Stimme. Anträge zwischen verschiedenen Ämtern? Wie viele Monate sollte das denn dauern?
„Wann wird er sechzehn?“
Severus schlug den Ausweis auf, den er sich schon zurecht gelegt hatte. Als Datum war dort der einunddreißigste Oktober eingetragen. Er erinnerte sich, wie die Dame im Konsulat verzweifelt versucht hatte, ein Datum aus Harry zu bekommen. Er kannte seinen Geburtstag auch nicht, er wusste nur, dass das Datum wichtig war. Also hatten sie das genommen.
„Das ist ja schon bald“, meinte der Mann erleichtert, „dann kriegt er eh eine eigene Wohnung. Bei Sechzehnjährigen suchen wir keine Unterkunft mehr. Ne, wahrscheinlich wird man ihn eher im Asylantenwohnheim belassen. Wir haben davon einige hier in London.“
„Aber er braucht eine Familie“ Severus presste die Lippen zusammen. Wie konnte er das ausdrücken, ohne erbärmlich zu klingen? „Er … hat nicht viel Liebe erlebt.“
„Das hat keines der Kinder, die wir betreuen. Und ehrlich gesagt können wir Ihnen auch selten welche bieten“ Der Mann seufzte. „Von uns gibt es ein Bett, ein Dach über dem Kopf und ein relativ gewaltfreies Umfeld. Aber Aufmerksamkeit oder Liebe können wir leider auch nicht her zaubern. Dafür sind wir zu überlastet. Wenn der Junge das bei ihnen kriegt und sie manchmal mit ihm reden, ist er bei Ihnen besser aufgehoben als alles, was wir bieten können. Warum möchten Sie ihn denn abgeben?“
Severus quetschte in seiner freien Hand einen Kugelschreiber. Bei dieser Frage gab dieser ein gefährliches Knacken von sich. Was sollte er sagen?
„Sind Sie noch dran?“, fragte der Mann wieder.
„Ja“ Diesmal ließ Severus das Knurren nicht aus seiner Stimme. „Ich habe … ich will den Jungen nicht verletzen. Ich weiß nicht, ob ich das kann“ Eigentlich war er ziemlich sicher, dass er es tun würde. Auch mehr als diese Ohrfeige gestern, für die er sich am liebsten selbst zusammen schlagen würde. Allein Harrys erschrockener Blick …
„Wie wäre es, wenn wir Ihnen mal einen Mitarbeiter vorbei schicken? Der kann mit Ihnen besprechen, wie Sie Situationen vermeiden können, die für Sie beide gefährlich werden können. Wir haben auch ein sehr gutes Zentrum für Aggressionsbewältigung nahe der Innenstadt. Ich kann Ihnen gerne ein paar Unterlagen zukommen lassen.“
Ein Zentrum für Aggressionsbewältigung. Das klang ungefähr so ansprechend wie eine Malgruppe, um seine Gefühle künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Andererseits … es konnte nicht schaden, sich zumindest mal ein Prospekt durchzulesen. So lange er vermeiden konnte, dass irgendwelche Jugendamtsmitarbeiter meinten, in seinem Haus ein und aus spazieren zu können.
„Haben die eine Internetseite?“
„Wenn Sie Zentrum für Aggressionsbewältigung in London bei Google eingeben, sind die der erste Treffer. Ist nicht schwer zu finden“ Zufriedenheit klang in der Stimme des Mannes mit. War das etwas, auf das andere nicht eingingen? Hatte er das Gefühl, über Severus zu triumphieren? „Sollten Sie mal Hilfe brauchen oder Fragen haben, rufen Sie einfach an.“
Vielleicht. Dafür, dass er gerade einem Mitarbeiter des Jugendamts gesagt hatte, dass er möglicherweise ein Kind schlug, reagierte der Mann unerwartet gelassen. Wahrscheinlich nahm er ihn nicht ernst. Ohne eine Verabschiedung legte Severus einfach auf.
Harry hatte gekocht, als er zurück kam. Es war nur Reis mit Ei und Gewürzen, aber es schmeckte erstaunlich gut. Severus schaffte es sogar, ein Kompliment dazu hervor zu bringen, dass Harry breit lächeln ließ. Es war einfach zu anstrengend, sozial sein zu müssen.
Erst als er darüber nachdachte, über das Gespräch zu erzählen, wurde ihm klar, welche Implikationen es hatte. Es gab keine Pflegefamilie für Harry. Wenn er also nicht wollte, dass man Harry allein in eine Wohnung irgendwo im Nirgendwo steckte, würde er hier bleiben. Es ließ Severus einen Moment lang auf seinen nun leeren Teller starren, während er das Gefühl von Verzweiflung von seiner Miene fern hielt.
Harry beobachtete ihn still von der anderen Seite des Tisches. Ausdruckslos. Vielleicht etwas vorsichtig. Der Blick einer Katze, die noch überlegte, ob wegrennen oder sitzen bleiben die richtige Entscheidung war.
Konnte er den Jungen ins Asylantenwohnheim stecken? Er wusste nicht, wie es dort aussah, aber ehrlich gesagt konnte er es sich denken. War das wirklich das Leben, das er Harry geben wollte? Allein in einer fremden Stadt, einem fremden Land, wo niemand seine Sprache sprach? Zusammen mit Flüchtlingen aus Afrika, dem mittleren Osten und einigen verlassenen asiatischen Gegenden? Er hatte im Studium natürlich auch über Asylrecht gehört. Man hatte ihnen ein paar Bilder gezeigt … das war kein Leben, dass er für Harry wollte. Von einem Amt zum nächsten für Essen und um zum Sprachkurs gehen zu können und um irgendwo hingehen zu dürfen, das war kein Leben. Keins gegen das, das er Harry bieten konnte. Aber das hieß, dass er ihn hier behalten müsste. Dass er lernen musste, seine Anwesenheit zu ertragen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, dass Harry aufgestanden und hinter ihn getreten war. Warme Hände legten sich auf seine Schultern und begannen, sanfte Kreise über seine Haut zu ziehen. Kurz schoss Severus in den Kopf, dass das ein weiterer Ausdruck von Harrys Angst und Verzweiflung war, aber einen Moment später wurde es ihm egal. Er ließ den Kopf nach vorne sacken und atmete tief aus.
Die Daumen in seiner Schulter waren schmerzhaft. Aber er wusste, dass der Druckschmerz seinen Dauerschmerz vertreiben würde. Der Moment der Entspannung, der auf den Schmerz folgte, war schier unglaublich wertvoll. Es war zu lange her, dass er jemand anderem seinen Körper anvertraut hatte.
Ehrlich gesagt konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte mal eine Massage außerhalb von Vorspiel gehabt hatte mit Ausnahme von letzter Woche. Vor zehn Jahren? Zwanzig? Eher da. Und Harry schaffte es zwanzig Jahre Verspannung aus ihm heraus zu holen. War es wirklich so schlimm, ihn zu behalten? Die Anspannung, die er verursachte, konnte er doch anscheinend wieder beheben.
Irgendetwas nagte an Severus Gedächtnis, das sagte, dass das hier eine ganz schlimme Idee war, aber er schaffte es nicht, den Gedanken zu greifen. Er versuchte es auch nicht mit allzu viel Elan. Als Harry sein Hemd aufknöpfte, nahm er es einfach nur zu Kenntnis.
Wärme. Haut. Berührung.
Es schien so lange her, dass er das ohne den bitteren Geschmack der Bezahlung gefühlt hatte. Selbst bei seiner Frau hatte es sich falsch angefühlt. Sie waren zusammen gewesen, weil man halt mit jemandem zusammen zu sein hatte. Sie hatten geheiratet, weil man das nach einiger Zeit nunmal so tat. Da war nie Liebe oder Leidenschaft zwischen ihnen gewesen. Nicht einmal Freundschaft. Sie waren beide stolz gewesen, eine Beziehung zu führen. Sie waren beide nie daran interessiert gewesen, diese Beziehung miteinander zu führen. Hätte sie sich nicht verliebt und wäre Hals über Kopf abgehauen, vielleicht würden sie sich heute noch anschweigen.
Sie hatten miteinander geschlafen, weil man das halt tat, wenn man verheiratet war.
Er konnte sein altes Selbst nur verhöhnen. Was war er doch für ein Trottel gewesen. Zu zugeknöpft, um jemanden an sich heran zu lassen. Zu erbärmlich schwach, um der Welt den Rücken zu kehren und für sich allein zu leben. Und so pendelte er zwischen karriereorientierten Einsiedler und einsamen Nachtschwärmer auf der Suche nach offenen Armen. Wohin hatte ihn das gebracht?
In die Hände eines fünfzehnjährigen Bengels.
„Besser?“, fragte eben dieser ihn, warme Hände auf den entspannten Muskeln liegend.
„Du kannst bleiben“, erwiderte Severus nur.
Der Rest der Woche verlief friedlich. Harry lernte, Besteck zu benutzen und was im Supermarkt wo zu finden war. Vor allem begann er, interessante Gerichte zu kochen, nachdem Severus ihm ein Kochbuch für westliche Küche auf Thai bestellte. Die Lesefähigkeiten des Jungen verbesserten sich stetig.
Und so lange er Severus abends für eine Massage unter seine Finger bekam, war er ausgeglichen und fröhlich. Er wurde nicht einmal von einem barschen Tonfall verängstigt. Entgegen aller Erfahrungen schien der Junge erstaunlich resistent gegenüber einer aggressiven Körperhaltung und einer abwertenden Stimmlage.
Es war Samstag Abend, als Severus feststellte, dass ein Teil davon nur Fassade war. Lydia hatte ihm einen sozialen Tag gelegt, sodass er zwei Besprechungen zum Brunch, zwei zum Mittagessen und noch drei am Nachmittag hatte. Nicht nur war das auslaugend viel, er hatte auch noch mehrfach essen müssen, sodass zu der sowieso vorhandenen Migräne auch noch Übelkeit dazu kam. Als Harry ihn also zur Begrüßung fragte, was er essen wolle, hörte er nur „Schieb dir dein Essen sonst wo hin und geh mir aus den Augen!“.
Drei Stunden später ging es ihm insoweit besser, dass er zumindest auf die Idee kam, mal nach Harry zu sehen. Dieses mal versetzte es ihn nicht in Panik, dass er ihn nicht fand. Der Junge hatte anscheinend gelernt, dass Weglaufen bei Gefahr eine gute Idee war. Intelligentes Kind. Seine Mutter war nie auf die Idee gekommen, ihn zu nehmen und einfach nicht da zu sein, wenn ihr Mann nach Hause kam. Andererseits hätte es wahrscheinlich noch mehr Prügel gehagelt.
Er verfluchte sich dreifach, dass er dem Jungen noch kein Prepaid-Handy um den Hals gehangen hatte und machte sich auf den Weg, ihn zu suchen. Diesmal fand er ihn im Park. Zusammen gerollt auf einer Parkbank und heftig zitternd. Es war ein erbärmlich genug aussehender Anblick, dass er eine Hand auf die Schulter des Jungen legte. Natürlich ließ es diesen von ihm weg zucken, bevor er die Lider geöffnet und ihn erkannt hatte.
„Bist du noch sauer?“, fragte Harry leise.
„Ich bin nicht sauer“ Severus zog seinen Mantel aus und legte ihn dem Jungen um. Er hatte ihm immer noch keine Winterjacke gekauft. Er hatte das für heute geplant, aber die vielen Termine waren ihm zuvor gekommen. „Ich habe Kopfschmerzen. Die habe ich immer, wenn ich am Tag viel reden muss“ Er hatte sich diese Worte extra zurecht gelegt. „Ich werde unleidlich, wenn ich Kopfschmerzen habe.“
Das Lächeln des Jungen hätte Schnee schmelzen können. Severus legte nur einen Arm um dessen Schulter und brachte ihn zum Auto mit den Worten: „Komm zurück, bevor du dich erkältest.“
Er hatte Sonntag mit Harry geredet und es hatte ihm keine Migräneattacke eingebracht. Der Junge war irgendwie weniger kompliziert als die meisten anderen Menschen. Vielleicht, weil er ihn und seine Launen kannte und Severus daher seine Zunge nicht völlig im Zaum halten musste.
Aber es machte Harry nicht sicher vor ihm. Wäre er Samstag nicht abgehauen, wer wusste schon, was er mit dem Jungen gemacht hätte. Er hasste seinen Job und dass er sozial sein musste, um ihn zu behalten und er hasste sein verpfuschtes Leben und vor allem hasste er sich selbst. Wenn dann noch Migräne dazu kam, war Harry ein zu leichtes Ziel.
Und so starrte er auf die Internetseite des Zentrums für Aggressionsbewältigung. Ehrlich gesagt konnte er nicht fassen, dass er sie wirklich aufgerufen hatte. Aber als sich beim Hochfahren automatisch Google geöffnet hatte, hatte er es irgendwie eingetippt.
Hatte er ein Aggressionsproblem? Sein Vater hatte fraglos eins gehabt. Er war mit Gewalt aufgewachsen. Er hatte Harry gegenüber Gewalt angewendet. Er könnte natürlich sagen, dass es nur eine Ohrfeige gewesen war, aber er hatte das Gefühl, dass sein Vater auch irgendwann mal mit einer Ohrfeige angefangen hatte.
Er schnaubte. Wen wollte er denn belügen? Außer Lydia mied jeder in dieser Kanzlei, ihm auch nur auf drei Meter nahe zu kommen. Sie fürchteten ihn und seine Häme. Er musste nicht zuschlagen, um gewalttätig zu sein. Und Harry hatte er sogar geschlagen. Wenn er kein Aggressionsproblem hatte, würde es wirklich schwer werden jemanden zu finden, der eins hatte.
Einzelgespräche, Gruppengespräche, Selbsthilfegruppe … anrufen und sich informieren. Die Informationen reichten ihm eigentlich, um zu verstehen, dass er um das Reden mit mindestens einem Menschen nicht herum kommen würde. Anrufen und einen Termin ausmachen … er schloss die Internetseite und nahm seinen Kaffee, um sich ans Fenster zu stellen.
Die Aussicht zeigte ihm eine Betonwand.
Er hatte es stets als passend empfunden. So fühlte sich auch sein Leben an. Er hatte immer etwas Großes werden wollen. Und er hatte es auch weit gebracht – er arbeitete bei der berühmtesten Kanzlei für Wirtschaftsrecht auf der ganzen Welt. Er könnte nun zu einer politischen Laufbahn wechseln, aber sowohl wollte er nicht noch sozialer werden müssen, auch war ihm die Anerkennung nicht wichtig. Der einzig höhere Job war der Chef der Kanzlei, aber den wollte er nicht haben. Nicht nur müsste er alle Anwälte koordinieren, auch müsste er von einem sozialen Event zum nächsten.
Kurzum: Er hatte alles erreicht, was man erreichen konnte. Er hatte den höchsten Job, der er bekommen konnte, er hatte ein Haus, er hatte genug Geld, um schier endlos lang im Luxus leben zu können, wenn er denn wollte. Nur hatte er auf die harte Art lernen dürfen, dass das nicht glücklich machte. Jetzt war er fast vierzig, vollkommen unleidlich und hatte jeden Menschen von sich gestoßen, der je versucht hatte, ihn kennen zu lernen. Bei Lydia hätte er vielleicht noch eine Chance. Und bei Harry, wenn er es schaffte, weniger aggressiv zu werden.
Er wusste das alles, aber er war trotzdem nicht in der Lage, das Telefon zu nehmen und diese Nummer anzurufen. Er war genau derselbe feige Hund, der er immer gewesen war. Er rannte jetzt weg, obwohl es lange zu spät war, um noch wegzurennen. Er wusste das alles und es war nur Zündstoff für den Hass auf sich selbst. So viel Selbsteinsicht hatte er noch. Er hatte sich völlig verrannt. Er wusste, er war unleidlich und er wusste, es gäbe die Möglichkeit das zu ändern, aber diese Veränderung machte ihm weit mehr Angst als der Schmerz über seine Unleidlichkeit groß war.
Wer wäre er denn, wenn er nicht der unleidliche Severus Snape wäre? Was für einen Wert hätte sein Leben dann? Eine Gift und Galle spuckende Leitfigur des Hasses zu sein, das war so lange seine Rolle gewesen, dass er sich in keiner anderen vorstellen konnte. Allein der Gedanke, einsehen zu müssen, dass das vielleicht der falsche Weg gewesen war … war nicht der Hass darüber, sein Leben für vierzig Jahre verpfuscht zu haben nicht so schlimm wie der Hass, ein unleidlicher Mensch zu sein?
„Chef?“ Lydia klang sehr unsicher. Wahrscheinlich hatte sie geklopft, wie immer keine Antwort bekommen und war herein gekommen, nur um ihren Chef auf eine Betonwand starren zu sehen. Es reichte wohl nicht, dass er unleidlich war, jetzt musste sie ihn auch noch für gestört halten.
„Ich denke“ Er drehte sich zu ihr. „Wahrscheinlich ist es gut, wenn Sie mich unterbrechen. Was steht für heute an?“
„Mister Johnson wünscht, dass Sie Kalebirths Arbeit überprüfen. Ich habe Ihnen einen entsprechenden Ordner fertig gemacht“ Sie legte ihm diesen auf den Schreibtisch und die schwarze Mappe mit seiner eigenen Arbeit daneben. „Korrespondenz in Fach eins, Verträge zur Überprüfung in Fach zwei, neue Aufträge in Fach drei und BlackRock in Fach vier. Außerdem hat ihr Assessment-Manager gebeten, dass Sie ihn anrufen“ Sie sah vorsichtig zu ihm und musterte sein Gesicht für einen Moment. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Haben Sie Angst vor mir?“, fragte er sie aus einem Impuls heraus.
„Man muss Sie zu nehmen wissen, Sir“ Sie zog die Kladde, die sie immer trug, vor ihre Brust. Er bemerkte zum ersten mal, dass sie ein pastellfarbenes Ensemble aus Jackett und Rock trug, das ihrer Figur schmeichelte. Er hatte eine hübsche Sekretärin. „Nach der Hälfte Ihres sozialen Tages sollte man Sie nicht mehr anrufen.“
Äußerst diplomatisch gesprochen. Allein das sagte ihm, dass die Antwort weit mehr zu ja als zu nein tendierte. Allein, dass er sich nicht wie sonst benahm, machte ihr Angst. Er seufzte und setzte sich, damit er weniger bedrohlich wirkte und ein Tisch zwischen sie kam. Er war kurz davor, sie hinaus zu schicken, als er doch noch fragte: „Denken Sie, ich kann mich ändern?“
Er sah nicht hoch, um nicht direkt von der Ablehnung in ihrem Gesicht getroffen zu werden, aber als sich ihre Pose entspannte, musste er der Versuchung doch nachgeben. Sie lächelte. Das ehrliche, offene Lächeln, dieses belohnende Lächeln, dass auch Harry ihm am Samstag gegeben hatte. Sie sagte: „Jeder kann sich ändern. Es ist nie zu spät dafür.“
Er nickte nach einigen Sekunden des Schweigens. Sie nahm es als ihr Zeichen zu gehen. Ihr Schritt hatte plötzlich etwas Leichtes, als hätte er ihr den ganzen Tag gerettet mit seiner Frage.
„Londoner Zentrum für Aggressionsbewältigung, was kann ich für Sie tun?“
Beinahe hätte Severus wieder aufgelegt. Er war nah genug dran, es aus Häme zu tun, weil zweimal besetzt gewesen war. Er wusste selbst, das war kindisch. Aber lieber war er kindisch als die Realität zu akzeptieren, wo er in dieser Beratungsstelle anrief. Er schalt sich einen Feigling.
„Ich … denke, ich brauche einen Termin bei Ihnen.“
„Wollen Sie mir persönlich erzählen, mit was sie zu kämpfen haben oder möchten Sie lieber am Telefon sprechen?“
Ich möchte gar nicht mit Ihnen sprechen. Allerdings sprach er diesen Gedanken nicht aus. Stattdessen sagte er: „Was muss ich Ihnen denn erzählen?“
„Den Grund, warum sie anrufen. Damit ich einordnen kann, was Ihr Problem ist und wie wir Ihnen am besten helfen können“ Dass das prinzipiell logisch klang, half nicht, mehr über sich selbst zu sprechen. „Wenn Sie noch nicht bereit sind, darüber zu reden, möchte ich Sie einladen in unsere Selbsthilfegruppe, damit Sie unsere Arbeit kennen lernen können. Sie können sonst auch zu einem anderen Zeitpunkt nochmal anrufen, um mit einem anderen Berater als mich zu sprechen.“
„Ich möchte möglichst wenig mit anderen Menschen zu tun haben“ Er spürte schon jetzt den Beginn einer Migräneattacke. Dabei hatte er nicht einmal seinen Namen genannt. Anonyme Beratung und Schweigepflicht waren die zwei Formulierungen, die ihn dazu bewegt hatten, doch anzurufen.
„Wie kommt das?“ Der Mann war freundlich und interessiert. Wahrscheinlich hatte man ihn deshalb ans Telefon gesetzt. Er gab einem das Gefühl, reden zu wollen. Severus gab es ein Ziehen an der linken Schläfe.
„Ich kriege Migräne, wenn ich mit Menschen reden muss“ Dass er schon jetzt die Zähne zusammen biss, gab ihm den Beginn eines pochenden Schmerzes. „Ich werde aggressiv, sobald ich Migräne kriege.“
„Dann sollte ich sie wohl nicht dazu zwingen, zu lange mit mir zu sprechen“ Wahrscheinlich hatte der Mann die Veränderung im Tonfall gehört. „In dem Fall sind Gruppen wahrscheinlich etwas viel für Sie. Trauen Sie sich zu, an einem Einzelgespräch teilzunehmen? Die dauern bei uns fünfzig Minuten. Die Gespräche können über die Krankenkasse abgerechnet werden, Sie müssen also nichts zahlen. Nur erscheinen.“
„Wann?“, fragte er nur. Seine soziale Geduldsspanne war fast aufebracht.
„Sekunde“ Er blätterte. „Morgen um neun Uhr bei meinem Kollegen oder Donnerstag bei mir um elf Uhr.“
„Donnerstag“, entschied er spontan. Der Mann klang wie das kleinere Übel.
„Habe ich markiert. Bitte bringen Sie ihre Krankenversichertenkarte und ihre Migränemedikation mit. Die Chance, dass Sie nach dem Gespräch eine Migräneattacke haben, ist hoch.“
Ach wirklich, Sherlock. Das hätte er ja gar nicht erwartet. Er brummte ein zustimmendes Geräusch und legte auf. Mit einer weiteren Handbewegung fegte er das Telefon vom Tisch gegen die nächste Wand.
Wie jeden Abend stand Harry lächelnd in der Tür, als er nach Hause kam. Als würde er nur auf das Geräusch des Automotors warten. Diesen Abend begann er nicht zu plappern sondern trat still zur Seite und half Severus aus seinem Mantel. Als Severus die Hand nach ihm ausstreckte, verkrampfte er sich, aber entspannte wieder, als dieser ihm nur durchs Haar fuhr.
„Ich gehe mir ein paar Schmerztabletten holen“, murmelte Severus und ging hoch ins Bad. Das Telefonat heute hatte für eine Migräne vollkommen ausgereicht und auch fünf weitere Stunden ruhiger Arbeit hatten wenig positiven Effekt gehabt. Nicht dass konzentriertes Arbeiten als eine effektive Maßnahme gegen Migräne bekannt wäre.
Er nahm zwei höchstwahrscheinlich völlig nutzlose Tabletten, legte Jackett und Krawatte ab und machte sich zurück nach unten. Harry saß im Wohnzimmer über seinem Lehrbuch, neben ihm ein Übungsbuch und ein Block. Als er Severus sah, reichte er ihm den Block und wartete erwartungsvoll.
Severus nahm diesen und las dort in reichlich schludrigem Thai »Hast du Kopfschmerzen? Sprechen ist schlecht bei Kopfschmerzen?«. Er musste lächeln. Das kleine Biest war gar nicht so dumm. Am liebsten war er einfach allein in einem dunklen Raum, bis die Migräne nachließ, aber möglicherweise war das hier nicht allzu schlimm. Er könnte es austesten.
»Ich habe Kopfschmerzen und Sprechen ist schlecht. Ich weiß nicht, ob Schreiben gut ist. Wir können es ausprobieren.«
Als er Harry den Block zurück gab, schenkte ihm dieser wieder eines dieser glücklichen Lächeln. Severus hatte nie viel auf so etwas gegeben, aber so ein ehrliches Lächeln ließ selbst ihn irgendwie besser fühlen. Es könnten natürlich auch die Schmerztabletten sein.
»Ich muss Schreiben üben. Die Lehrerin findet viele Fehler.«
Das konnte er sehen. Harry war wirklich ungefähr auf dem Niveau eines Zweitklässlers. Seine Schrift war eine einzige Sauklaue und er hatte viele kleine Fehler darin. Man verstand, was er sagen wollte, aber in einer Arbeit hätte das trotzdem höchstens ein Ausreichend bekommen. Sie schrieben mehrere Nachrichten hin und her, in denen Severus ihm einige seiner Fehler erklärte. Harry gab es irgendwann ganz auf so zu tun, als würde er in seinem Buch lesen und setzte sich neben Severus auf die Couch, um mitzulesen.
Die Wärme neben ihm hinterließ gleichzeitig ein Prickeln und ein Schaudern. Harry schien so nah und doch so fern. Er war direkt da, aber er durfte doch nicht hin langen. Wie ein duftender Kaffee, gefüllt mit Arsen. Die Wärme tat gut, aber er wusste, mehr durfte er nicht haben. Jetzt nicht. Vielleicht irgendwann. Vielleicht konnte er irgendwann gut genug sein, damit … solche Hirngespinste sollte er sich aus dem Kopf schlagen.
Ihre Konversation erlosch irgendwann, sodass Severus sich ein Buch holte und sich damit zurück auf die Couch setzte. Harry drehte seine Unterlagen so, dass er neben Severus sitzend weiterlernen konnte. Nachdem er seine Übungen fertig hatte, nahm er den mittlerweile fast ausgelesenen thailändischen Roman und lehnte sich zurück, um ihn zu lesen. Das ließ ihn Schulter an Schulter mit Severus sitzen. Genau genommen ließ es ihn nach einigen Minuten an Severus lehnend sitzen.
Er versuchte sich stur auf sein eigenes Buch zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er war nur froh, dass seine Migräne verhinderten, dass diese Gedanken tiefere Regionen erreichten.
„Kalebirth“, sagte Severus anstatt eines Grußes.
„Guten Morgen, Mister Snape“ Der Andere nahm tief Luft als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten. Wahrscheinlich hatten ihn die Kollegen schon vorbereitet, was es hieß, wenn der Chef die eigene Arbeit von ihm überprüfen lassen ließ. Das war nicht konstruktiv gemeint. Es war eine Strafe. Das wusste Kalebirth und das wusste Severus.
„Ich habe mir die von Ihnen erstellten Verträge angesehen“ Severus legte den Ordner vor dem Anderen auf den Schreibtisch. „Sie sind freundlich gesagt Müll. Sowohl fehlen mehrere Sicherheitsklauseln als auch haben Sie Fehler in der Berechnung des erwarteten Gewinnausschusses gemacht“ Er fuhr fort mit seiner Kritik. Er hatte genug Munition. Kalebirth war ein Idiot.
Zuerst begegnete der Andere seinem Blick noch. Man sah die Abwehr, die Wut, die Demütigung in seinem Blick. Er wusste, er musste es über sich ergehen lassen. Er nahm sowieso nichts von dem auf, was Severus sagte, das war klar. Es hielt diesen nicht davon ab, diese Tirade fortzuführen. Aus der Rebellion wurde Scham. Aus der Scham Verzweiflung. Zum Ende hin kämpfte Kalebirth mit den Tränen. Nach diesem grässlichen Gespräch am vorherigen Tag genoss Severus den Anblick.
„Am schlimmsten von allem ist Ihre Inkompetenz, einfache mathematische Formeln anzuwenden. Wirtschaftsrecht beruht auf der Fähigkeit, wirtschaftliche Berechnungen anzustellen. Das ist keine hohe Kunst, dafür benötigen Sie kein Mathestudium. Dreisatz lernt man spätestens in der achten Klasse. Jeder Schüler würde das besser hinkriegen al-“
„Das reicht!“ Kalebirth schlug seine Hände auf die Ohren als könne er damit den Rest der Welt ausblenden. „Ich weiß, dass Sie mich nicht leiden können.“
„Dass ich Sie nicht leiden kann, hat nichts mit Ihrer Fähigkeit des Rechnens zu tun. Dass Sie ein mathematischer Reinfall sind, ist eine objektive Feststellung und ist unabhängig von der Tatsache, dass ich Sie für eine rückradlose Amöbe halte.“
„Und Sie sind besser, ja?“ Der Jüngere ballte seine Hände zu Fäusten. „Wer von uns hat einen Stricher aus Thailand mitgebracht und gibt ihn jetzt als seinen Sohn aus, um ihn vögeln zu können? Meinen Sie wirklich, Sie können mir Predigten halten?“
„Vollkommen“ Severus warf ihm einen Blick zu, der ihm sagen sollte, dass er gerade selbst den letzten Funken Respekt verloren hatte. „Meine Fähigkeit, ihre mathematischen und juristischen Kompetenzen zu beurteilen, hat keinerlei Bezug dazu, was ich in meinem Privatleben tue. Und ich würde Ihnen raten, noch einmal stark darüber nachzudenken, mit was für Anschuldigungen Sie um sich werfen.“
Man konnte Kalebirths Adamsapfel auf und ab wandern sehen. Sein Körper zog sich von Severus weg in sich zusammen, ohne dass er dabei einen Schritt nach hinten nahm. Das war schon fast zu einfach gewesen.
„Lesen Sie meine Anmerkungen und setzen Sie sie um. Wie Ihre Kollegen Ihnen vielleicht schon mitgeteilt haben, das ist Ihre letzte Chance. Nach mir kommt nur noch der Rausschmiss“ Er wandte sich um und ging.
Solche Gespräche ließen ihn stets erfrischt und bestärkt zurück.
„Guten Tag“ Ein Bär von einem Mann schüttelte ihm die Hand. Von der Stimme her nicht der, mit dem er telefoniert hatte. Plus der Tatsache, dass dieser Slang statt Hochenglisch sprach. „Willkommen im Zentrum für Aggressionsbewältigung. Schon 'nen Termin?“
„Um 11 Uhr bei Ihrem Berater, der mir seinen Namen nicht verraten hat“ Severus hatte das Bedürfnis, seine Hand zu desinfizieren.
„Ah, bestimmt Remus“ Der Mann lächelte breit. Er war zu fröhlich für Severus Geschmack. Er blätterte in einem kleinen Buch. „Hier, 11 Uhr. Unbekannter, bitte Karte einlesen. Jopp, dann brauch' ich 'ne Karte.“
Severus unterdrückte das tiefe Seufzen, als er seine Krankenversichertenkarte überreichte. Da ging seine Anonymität dahin. Wenigstens hatte sein Berater Schweigepflicht. Und war hoffentlich besser dressiert als dieser Dummkopf vor ihm. Wer stellte denn so jemanden als Sekretär ein? Als Türsteher würde er sich vielleicht noch machen, aber dafür war er vermutlich zu lieb. Nun ja, vielleicht war er für die Sicherheit hier zuständig. In einem Zentrum für Aggressionsbewältigung ging wahrscheinlich nicht immer alles reibungslos vonstatten.
„So, fertig. Dann schreib' ich dem Remus doch mal, dass Sie da sind“ Der Mann begann etwas in ein Smartphone zu tippen, was in seinen Händen kaum größer als ein Keks wirkte. „Remus kommt dann gleich.“
„Kann ich meine Karte zurück bekommen?“ Severus wies auf die noch immer im Lesegerät steckende Karte.
„Oh ja, sorry“ Der Mann zog diese heraus und gab sie zurück. „Ich bin ein bissel vergesslich, eh? Na ja, dem Remus habe ich geschrieben. Sein Büro ist das da“ Er wies auf eine Tür rechts hinter sich. „In dem Raum da sind Stühle, falls sie sitzen wollen“ Er wies zu einem großen Gruppenraum links von sich, dessen Tür offen stand. „Und falls Sie was brauchen, mein Name is' Hagrid.“
Wo war er hier gelandet? Er ging zum Gruppenraum, nicht weil er sitzen wollte sondern um von diesem Mann wegzukommen. Der Raum selbst enthielt Platz für einen Stuhlkreis von zehn bis fünfzehn Stühlen. An den Wänden hingen beschriebene Pappen, Zeichnungen, Briefe und schlecht gemachte Werbeplakate. Eine Pappe war groß mit »Gruppenregeln« beschriftet. Wahrscheinlich fanden in diesem Raum die Selbsthilfegruppen statt. Er las sich alles durch, was er finden konnte.
Nicht aus Nervosität. Rein aus Langeweile. Er war nicht nervös.
Er wanderte durch den Raum und las.