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Schwingen der Vergangenheit

Wenn sich das Schicksal wiederholt
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da bin ich wieder! ♥

Zur Erklärung der Fachworte in diesem Kapitel, gibt's hier eine kleine Legende:
--> Viermaster: Zelte, gestützt von vier Masten
--> Gradin: Zuschauer-Tribüne
--> Piste: Manegenkasten ("kleine Mauer", die die Manege umgibt)

Und nun viel Spaß! Komplett anzeigen

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Begegnung - Levi

Erfahrung ist das was bleibt, wenn man nichts mehr hat.
 

Ich stellte keine Fragen mehr. Auf Fragen erwartet man Antworten – da es allerdings nicht auf jede Frage eine Antwort gibt, könnte es sein, dass man genau einer dieser Fragen erwischt, die keine Antwort aufweisen konnten und man wird enttäuscht. Viel mehr noch. Vielleicht versucht man selbst die Antwort zu finden und vergisst alles andere um sich herum. Erwin wollte immer eine Antwort. Deswegen stellte er Fragen.
 

Erwin wollte alles erklären können – dieses Treffen, dieser Plan. Alles nur verzweifelte Versuche, einem unsichtbaren Gefängnis zu entkommen. Keiner wusste wo die Gitter anfingen oder endeten, somit bewegten wir uns in diesem Bereich und dachten wir seien „frei“, bis schließlich doch jemand gegen das Gitter knallt und seine Grenzen gezeigt bekommt. Ich war bereits gegen dieses Gitter gelaufen. Mich in das Team der Recherche zu stecken war reinste Schikane – vor allen Dingen, weil ich mit diesen nichtsnutzigen Kindern zusammenarbeiten sollte.
 

Andererseits war Erwin nicht der einzige Mensch, der immer eine Antwort brauchte. Der Psychiater im Krankenhaus war genauso – seine Antwort auf die Frage, was denn mit mir los sei, war paranoide Schizophrenie. Zwei Fremdwörter aneinander gereimt, ein paar Symptome aufgezählt und schon hatte man eine psychische Krankheit. Die Menschen machten es sich wirklich einfach.
 

„Der Druck in Ihrem Beruf hat Ihnen äußerst zugesetzt. Ihr Misserfolg projizieren sie auf ihr Spiegelbild, weshalb sie Halluzinationen bekamen. Als Ihr Kollege bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, war das für Sie ein emotionaler Super GAU, der am Montag schließlich – nachdem sie auch noch Ihren Arbeitsplatz verloren hatten – zu einem völligen Nervenzusammenbruch führte. Ihr Freund, Herr Erwin Smith, beschrieb Ihre Symptome sehr genau, sodass es sich bei Ihnen um eine paranoide Schizophrenie handelt. Dabei entstehen Dinge in Ihrem Kopf, die nicht existent sind, aber für sie real, belastend und sichtbar. Aber bitte machen Sie sich keine Sorgen – das kann man behandeln. Wir werden Ihnen helfen.“
 

Der Typ im Spiegel war eine Einbildung, der Fahrstuhl ist zufällig hochgeflogen und runtergefallen und ich hatte nicht selbst gekündigt, sondern hab meinen Arbeitsplatz „verloren“ - aha, ist klar.
 

„Wir behandeln Sie mit Diazepam – ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Es wirkt angst-, krampf- und spannungslösend; ist dementsprechend sehr stark und es besteht akute Gefahr der Abhängigkeit bei zu langer Anwendung. Sie haben doch keinerlei Vorbelastungen zum Thema Abhängigkeit, oder?“
 

Oh oh. Das wird Erwin nicht gefallen.
 

Ich schüttelte auf seine Frage hin den Kopf.
 

„Sehr gut. Wir haben auch keine Drogen oder Alkohol Rückstände in ihrem Blut feststellen können. Gehen Sie bitte verantwortungsbewusst damit um – hier erhalten Sie 30mg täglich – das entspricht drei Tabletten á 10mg. Sobald Sie am Mittwoch entlassen werden, nehmen Sie bitte eine Tablette täglich – am besten abends. Diazepam wirkt sehr einschläfernd, es kann sein, dass Sie sich am nächsten Tag etwas gerädert fühlen. Sollten irgendwelche Unannehmlichkeiten auftreten, melden Sie das bitte sofort – wir werden versuchen, es langsam weniger werden zu lassen, sodass eine Behandlung mit Diazepam innerhalb von drei Wochen abgeschlossen werden kann. Bitte trinken Sie in dieser Zeit keinen Alkohol und nehmen Sie nie mehr, als Sie benötigen.“
 

So viel zu dem Gespräch, als ich Montagabend die Ergebnisse meiner Untersuchungen erhielt. Bis mich Erwin am Mittwoch abholte, wurde ich mit diesem Zeug vollgepumpt und ich muss sagen, es beruhigte mich wirklich. Ich fühlte mich so entspannt und äußerst schläfrig. Dienstag habe ich fast nur geschlafen und Mittwoch war ich immer noch entspannt, sogar als Erwin so panisch angerannt kam und von irgendeinem Anruf quatschte.
 

Wie es sein konnte, dass Erwin angerufen wurde, ohne dass ich etwas getan hatte, konnte ich jedoch nicht erklären. Ebenso wenig die anderen kuriosen Ereignisse – oder dieses Ding im Spiegel. Wie gesagt, ich fragte nicht mehr.
 

Seit dem Treffen am Mittwoch hatte ich Erwin nicht mehr getroffen, da ich die ganze Zeit viel zu müde war und gestern noch zu meinem neuen Therapeuten musste. Natürlich erzählte ich Erwin nichts von diesem Zeug – wenn er erfahren würde, dass ich wieder etwas nahm, würde er mir wahrscheinlich den Kopf abreißen. Er könnte nicht verstehen, dass ich das brauchte, um nicht vollkommen durchzudrehen. Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte – er hatte mir damals mit allem was er hatte beigestanden und nun belog ich ihn. Aber ich wollte es ja auch nicht zu einer Abhängigkeit kommen lassen. Nur ein paar Tage – bis der Typ im Spiegel entweder verschwindet oder mir egal wird…
 

Heute war Freitag und mein neuer, toller Therapeut hat mir ein Vorstellungsgespräch für 10:00 Uhr organisiert. Ich hasste diesen Typen. Nile Dok – ein abartig schmieriger Typ, dessen Oberflächlichkeit als ansteckend eingestuft werden müsste. Er meinte mich komplett analysiert zu haben, da ich so leicht zu durchschauen war. Ein paar Sitzungen und meine „postpubertären Anwandlungen“ seien Geschichte. Tja, wenn er das meinte.
 

Jedenfalls sollte ich mich bei einem großen Unternehmen vorstellen – in einer der angrenzenden Städte: Aipotu. Mit der Bahn brauchte ich 45 Minuten dorthin und musste sogar noch etwas durch die Stadt gehen. Eine sehr lange Straße, zugestopft mit unzähligen Klamottenläden und Fast Food Restaurants. Menschenmassen strömten unkoordiniert durch die Straßen, viele kleine Tüten in der Hand, teilweise aufgebrezelt wie Nutten oder aber verwahrlost wie Penner. Auf der linken Straßenseite standen Vertreter einer internationalen Zeitschrift, die belustigt und überzeugt ihre gedruckten Blätter in die Luft hielten. Auf einem der riesigen Plakate, konnte man den Satz „Gibt es auch in ihrer Sprache!“ groß aufgedruckt sehen.
 

Was waren das bloß für Idioten? Wenn deutsch nicht meine Sprache wäre, verstände ich auch den deutschen Hinweis nicht, dass ebenfalls noch andere Sprachen verfügbar waren. Unglaublich.
 

Die Stadt war voller Dinge, die ich einfach nur belächeln oder mit der Nase rümpfend ignorieren wollte. Hier sollte ich demnächst arbeiten? Abartig.
 

Nachdem ich nach gefühlten zwanzig Jahren das Gebäude endlich erreicht hatte, trat ich ein und meldete mich beim Empfang. Ich wurde in einen Warteraum geschickt, fast wie in einer Arztpraxis. Pünktlich war ich allerdings noch – es war 9:53 Uhr.
 

In diesem Raum lief leise das Radio. Auf ablenkende Musik hoffend, starrte ich die geschmacklosen Bilder in diesem Raum an. Das sollte ein Architekturbüro sein? Was hatten dann Bilder von Landschaften an der Wand zu suchen? Ein Frühlingsbild mit spielenden Kindern, ein sommerlicher Strand mit Urlaubern und ein winterlicher Wald, in dem sich Tiere versteckten. Irgendwie verspotteten sie sich selbst. Die moderne Architektur hatte doch wirklich nichts mehr mit Natur zu tun.
 

Das Radio war ebenso enttäuschend wie diese Bilder – es kamen nur Nachrichten.
 

„Die kurz-vor-News – heute mit Ian Dietrich.
 

Guten Morgen – unsere Themen:

Die Explosion der Boutique in Comforting – Nachdem die Ursache für die Explosion der Boutique in Comforting am Montag vorerst unklar war, konnte nur herausgefunden werden, dass zuvor Sprengstoff außen an das Gebäude angebracht wurde. Es handelte sich dabei um eine zeitliche gesteuerte Bombenkette. Verdächtige sind noch nicht bekannt. Es starben vierzig Menschen, dreizehn wurden verletzt. Die Zeugenaussagen werden momentan ausgewertet. Man vermutet, dass dieses Ereignis als Terroranschlag einzustufen ist.
 

Neue Studentenregelung innerhalb des ganzen Landes – zukünftig sollen Studenten innerhalb des ganzen Landes, wenn sie einen bestimmten Schnitt erreichen, einen Rabatt auf die Studiengebühren erhalten. Inwieweit der Rabatt zu staffeln ist und welche Leistungen notwendig sind, ist momentan noch unklar.
 

Plötzlicher Einsturz des Einkaufszentrums – gestern Abend stürzte in Aipotu plötzlich das Einkaufszentrum „DeinDeal“ am Rande der Stadt ein. Dieses Einkaufszentrum war erst neu gebaut worden. Nach einigen Untersuchungen konnten Baumängel und grundlegende statische Fehler festgestellt werden. Momentan wird noch ermittelt, wer für den Bau verantwortlich war. Sechs Menschen starben, vierundzwanzig wurden verletzt.“
 

Gott – was war mit dieser Welt los? Ich blickte gleichgültig in die Richtung des Radios – so viele Informationen und keine davon war auch nur annähernd erheiternd. Hätte ich meine Tabletten gestern Abend nicht genommen, würde mich dieser ganze Kram wahrscheinlich ziemlich mitnehmen. Aber es war mir egal –obwohl ich von der ersten Meldung selbst betroffen war. Eigentlich hätte ich sogar als Zeuge aussagen sollten, aber Erwin meinte, er hat alles Notwendige schon erledigt, ich sollte mich damit nicht belasten. Diese Worte, die Ereignisse – vollkommen egal. Sie waren so leer und weit weg; als würde ich eine Geschichte lesen oder einen Film schauen. Einfach nicht real.
 

„Herr Ackerman, bitte folgen Sie mir.“
 

Der Aufforderung nachgekommen, trat ich in das spartanisch eingerichtete Büro, gab dem Chef die Hand und nahm nach seinem Angebot vor ihm Platz. Weißes Hemd, schwarze, gebügelte Hose und eine äußerst stark glänzende Krawatte, die gerade bis zur silbernen Gürtelschnalle reichte. Ich hatte mich angemessen gekleidet, aber es passte einfach nicht. Dieser heuchlerische Stoff schmiegte sich um meinen Körper, bedeckte diese blasse, kalte Haut, die nichts mehr fühlte. Mein Gegenüber wurde jedoch offensichtlich von dem Schein getrübt und sah mich in ähnlicher Garderobe lächelnd an.
 

„Herr Ackerman – haben Sie gut hergefunden?“
 

„Anscheinend, sonst wäre ich nicht pünktlich hier.“
 

Verdutzt starrte er mich an; hatte wohl mit dieser Antwort nicht gerechnet. Plötzlich wieder dieses falsche Lächeln.
 

„Sie scheinen ein lustiger Typ zu sein, das gefällt mir. Lassen Sie uns doch zu Ihren Kenntnissen kommen. Sie haben vorher in einem kleinen Architekturbüro gearbeitet, richtig? Haben Sie dort auch schon einmal Verantwortung für ein großes Projekt übernommen? Wir arbeiten hier in Teams und ein erfahrener Mitarbeiter, der auch bereit ist Verantwortung zu übernehmen, wäre äußerst von Nutzen.“
 

„Genau genommen gab es in meinem alten Betrieb kein großes Projekt.“
 

Schweigen breitete sich aus in diesem großen Raum. Kahle Wände starrten uns an, ein glatter Boden verschluckte jede Vibration. Die großen Fenster ließen das Tageslicht hinein und schienen direkt auf die vielen Unterlagen, die das einzige waren, was den großen schwarzen Schreibtisch bedeckte. Zusätzlich standen noch zwei Gläser Wasser auf dem Tisch.
 

„Nun gut, Herr Ackerman, dann frag ich Sie direkt – was möchten Sie mir denn über Ihre Fertigkeiten erzählen? Haben Sie Fragen über unsere Firma?“ – seine Hände waren vor ihm zusammen gefaltet und seine gesamte aufrechte Körperhaltung machte wieder einmal deutlich, dass ich ziemlich klein war. Ich hingegen hielt meine Hände auf meinen Oberschenkeln unter dem Tisch.
 

„Ich bin ein staatlich geprüfter Architekt – heißt ich habe das Studium erfolgreich abgeschlossen. Bis jetzt habe ich einige Gebäude entworfen, keine der Vorschläge wurden jedoch akzeptiert. Zu ihrer Fir-“
 

Oh nein. Er war wieder da. Dort – im Wasserglas. Leicht meinen Kopf schief gelegt, starrte ich ihn an, wartete auf seine Handlung. Dabei ignorierte ich die Nachfragen des Chefs bewusst.
 

Die Augen kalt und tot wie kleine graue Steine, die Lippen stumm und unbewegt. Der Ausdruck in seinem Gesicht glich dem Ausdruck einer Puppe. Ich hatte jedoch keine Angst. Seine rechte Hand zeigte auf die Unterlagen, die dort auf dem Tisch lagen. Meine Augen wanderten auf die schwarze Schrift, die so viele weiße Blätter schmückte. Aus dem einem Papierstapel hing ein Dokument aus, das aussah wie ein Vertrag oder so. Langsam drehte ich meinen Kopf noch mehr zur Seite um den Text des falsch herumliegenden Papiers zu lesen.
 

DeinDeal – Bauabnahme; Mängel beseitigt, Entgelt bezahlt
 

DeinDeal - Hatte diese Firma etwa das Einkaufszentrum bauen lassen? Mängel? Entgelt? Ich bin mir auch schon sicher, um was für ein dreckiges Geld es sich handelt.
 

„Herr Ackerman, was ist los? Sprechen Sie mit mir!“
 

Wieder schaute ich zu ihm ins Glas. Dieses Mal lächelte er überlegen und nickte. Meine Vermutung war also richtig. Ein leichtes Lächeln zierte mein Gesicht – es war ein ungewohnter Ausdruck, der sich wiederum nicht zurückhalten ließ.
 

„Verzeihung, ich wollte sagen: Zu Ihrer Firma habe ich keinerlei Fragen, denn die Fähigkeiten ihrer Architekten haben sich ja bereits beim Vorfall mit dem Einkaufszentrum gestern Abend gezeigt. Ich verzichte auf die Zusammenarbeit mit einem korrupten Pack wie Ihresgleichen - guten Tag!“, noch während ich den letzten Satz sagte, nahm ich meine Tasche und verließ den Raum und bald daraufhin auch das Gebäude.
 

Seltsam – dieses Mal hatte ich bewusst auf ihn gehört – dabei sollte er laut meinem Therapeuten eigentlich gar nicht mehr da sein. Doch – wäre er nicht gewesen, hätte ich erneut einen folgenschweren Fehler begannen. Er war vielleicht gar nicht mein Feind…oh gott…da sprach wahrscheinlich das Diazepam aus mir. Allerdings machte es viele Dinge einfach einfacher.
 

Heute musste Nile noch nicht wissen, ob das Gespräch gut verlief - das könnte er auch Montag erfahren. Also hatte ich jetzt Zeit – es war 10:22 Uhr. Ich fuhr zurück nach Comforting in der Hoffnung vielleicht einen dieser Studentenbälger zu finden – schließlich wäre Erwin morgen echt not amused, wenn von mir wieder mal keine Rückmeldung kommt. Auch wenn mir dieser ganze Plan zuwider war; Erwin wusste schon was er tat. Zumindest ging ich immer davon aus.
 

Ausgestiegen an der Uni-Station, stand ich gegen 11:35 Uhr vor der Uni. Ob ich einfach warten sollte? Aber wie sagt man so schön: Zu dem, der immer wartet, kommt gewöhnlich alles zu spät.

Entschlossen im Gebäude einen der Studenten zu suchen, lief mir doch tatsächlich direkt dieser Eren erneut entgegen. Er schien ziemlich wütend und leicht verstört, aber um einen erneuten Zusammenstoß vorzubeugen, sprach ich ihn direkt an.
 

„Hallo Eren.“ – verdutzt blieb er vor mir stehen.
 

„H-hallo Levi, ähm, wie geht’s?“
 

„Dein Ernst? Hast du schon dein Handy untersuchen lassen?“ – Smalltalk wäre wirklich zu viel des Guten.
 

„Was? Äh, nein, ich wollte mit Jean reden, aber der hat irgendwie keine Lust auf das alles und dich konnten wir ja nicht erreichen – so dachte ich, ich treffe mich erstmal mit Armin und Mikasa.“
 

Ohne auf seine Aussage zu reagieren, trat ich näher heran und griff nach dem Schlüssel, den er um den Hals trug. Ich schaute ihn mir nur kurz an und ging wieder einen Schritt zurück. Eren beobachtete das Geschehen regungslos. Ich weiß nicht, ob ihn meine Handlung oder meine durchaus übertriebene Kleidung so aus der Fassung brachte.
 

„Du kannst dich gern mit deinen Freunden treffen, allerdings solltet ihr anstatt rumzublödeln nach dem Keller suchen. Dieser Schlüssel ist ein sehr alter Schlüssel; nur ein Schloss eines sehr alten Gebäudes bzw. Raumes passt dazu.“ – ich überlegte kurz und schaute ihm in seine grünen, leuchtenden Augen – „Mir fallen spontan nur der Keller unserer alten Bäckerei, die ehemalige Kammer für Kriegsgefangene im anderen Stadtteil oder der unterirdische Lagerraum des Museums ein. Allerdings bin ich nicht über alle alten Bauten informiert, kann sein, dass es noch mehr aus diesem Zeitalter gibt – sobald ich die Unterlagen von Mike habe, kann ich dir mehr dazu sagen.“
 

Eren schwieg. Was sollte das? Hatte er das etwa nicht erwartet? Es diente der Sache – keinen anderen Grund gab es für mein Handeln – naja, vielleicht noch das Beruhigungsmittel, aber ich konnte ja nicht alles auf diese blöde Gammlerdroge schieben.
 

„Na gut, wir sehen uns morgen.“, sagte ich noch, da von ihm anscheinend nichts mehr kam. Zum ersten Schritt angesetzt, packte mich Eren am Arm und hielt mir sein Handy unter die Nase.
 

„Deine Nummer, Levi. Damit wir dich erreichen können.“
 

Widerwillig speicherte ich meine Nummer in sein Handy und ließ das breit grinsende Gör allein zurück. Meine anfängliche Euphorie einen der Bälger zu treffen hatte sich plötzlich in pure Anspannung verwandelt und ich spürte wie meine Beine schwerer wurden. Bewegung. Ich brauchte definitiv Bewegung.
 

Da fiel mir doch glatt noch was ein. Heute war Freitag – bis 18 Uhr liefen die Proben im Zirkus. Dort bekäme ich definitiv Bewegung. Kurz entschlossen fuhr ich nach Hause, holte die Karte, die mir Erwin damals gab und machte mich, nachdem ich mir wieder erträgliche Klamotten – bestehend aus Jeans und Hoodie – anzog, auf dem Weg zu diesem neuen Zirkus in der Stadt. Ich hatte sowieso nichts zu verlieren.
 

Ein großes Schild hing über dem großen, gelben Zelt, aus dem gut hörbar Musik schallte. „Circus Maria“ stand in Großbuchstaben und rot-schwarzer Schrift über der äußeren Fassade. Gewebestarke PVC-Planen bildeten das Dach. Ich näherte mich dem Eingang, wurde aber sofort von einem großen blonden Typen aufgehalten.
 

„Hey Kleiner, was willst du? Heute ist keine Vorstellung mehr!“
 

„Ich wollte mich hier bewerben.“
 

„Sucht der Zirkus etwa Kobolde? Ich glaub hier ist kein Job für dich, Kleiner!“
 

„Lassen Sie mich mit dem Chef reden.“
 

„Hier gibt’s keinen Chef, sondern eine Chefin und die hat sicherlich Besseres zu tun.“
 

Kurz bevor ich aufgrund der Unhöflichkeit, die dieser Typ an den Tag legte, meine Haltung verlor und ihm eine klatschen wollte, mischte sich ein anderer blonder, großer Typ ein. Dieser war allerdings geschminkt wie ein Clown – wahrscheinlich war er auch ein Clown.
 

„Hey Dieter, lass‘ gut sein - ist doch schön, wenn wir Zuwachs bekommen. Komm‘ rein, ich bin Eld; Jongleur und Clown des Zirkus. Ich stelle dir mal unsere Chefin vor.“
 

In schnellen Schritten folgte ich ihm, warf diesem Dieter keinen einzigen Blick mehr zu. Bald schon kamen wir im Inneren des Zeltes an der Manege an. Bei diesem Zelt handelte es sich um einen Viermaster und dieser Zirkus verzichtete darauf vor dem Gradin Sturmstangen aufzustellen, um die Sicht zu verbessern. Wahrscheinlich stützten sie die Dachplane stattdessen mit zusätzlichen Seilen. Die Manege selbst war ellipsenförmig, war sehr breit und die Piste, die die Manege ummantelte, ca. 50cm hoch. Anscheinend probten gerade die Seiltänzer, denn oben konnte ich ein stark gespanntes Seil über dem Mittelpunkt des Zeltes erkennen. Außerdem war unten ein Auffangnetz aufgestellt.

Ein sehr schönes Zelt mit sehr guter Bauleistung hatte ich hier erwischt.
 

„Petra, wir haben hier einen neuen!“
 

Eine sehr kleine, junge Frau mit kupferfarbenen Haaren näherte sich mir; ein freundliches, sanftes Lächeln schmückte ihre Lippen.
 

„Guten Tag, ich bin Petra Ral, die Zirkusleiterin und Dompteurin. Und wie heißt du?“
 

Interessant wie schnell diese Leute hier beim „du“ waren – jedoch hielt ich mich zurück, einer schönen Frau meine Meinung zu sagen.
 

„Ich bin Levi, ein Freund hat mir diesen Zirkus empfohlen.“
 

„Ah, interessant. Gut Levi, freut mich, dass du hier bist. Hast du denn schon eine Vorstellung, welche Rolle du hier haben willst?“
 

„Ehrlich gesagt hatte ich noch nie eine Vorstellung davon, dass ich jemals in einem Zirkus eine andere Rolle als die des Zuschauers übernehmen würde…“
 

Sie lächelte leicht und griff nach meinen Schultern.
 

„Du bist mir einer – wir finden schon heraus was du gut kannst! Am besten bringt dich Eld erstmal in die Umkleide, da bekommst du andere Schuhe von uns, damit du dir hier nicht wehtust.“
 

Eld rückte seinen Zopf zurecht und ging mit einem „Folg mir“ voraus.
 

Irgendwie waren diese Menschen seltsam. Sie akzeptierten mich einfach schon als einer von ihnen, ohne dass ich etwas erklären oder zeigen musste. Vielleicht war es naiv – oder einfach nur Vertrauen. Sie vertrauten darauf, dass ich in ihr Team passen würde. Möglicherweise wird die Zeit hier ja doch nicht so schlimm – schließlich brauchte ich das Geld. Ich hoffte nur, dass ich durch dieses Zeug nicht eingeschränkt war.
 

In der Umkleidekabine angekommen, legte mir Eld ballarinaähnliche, weiße Schuhe auf die Bank.
 

„Das sind die kleinsten die wir haben – ich hoffe sie passen.“ – mit diesen Worten ließ er mich allein.

Die Schuhe angezogen starrte ich in den großen Spiegel, der in der Nähe der Tür hing. Was machte ich hier eigentlich? Ich stand etwas benebelt in einer Zirkusumkleide - in Weiberschuhen. Wie tief musste man dafür sinken?
 

Gerade als ich meinen Anblick nicht mehr ertragen konnte und mich zur Tür umdrehte, hörte ich ein leises, geflüstertes „Hey“ hinter mir. Diese Stimme…klang wie meine.
 

Etwas erschrocken drehte mich um, erblickte wieder mein Abbild. Grinsend hielt er einen Jonglierball in der Hand – dabei war kein einziger Ball in meiner Nähe. Immer wieder warf er in hoch und fing ihn, dabei stets mich fixierend.
 

Ich trat näher an den Spiegel; wartete ab. Hatte er gerade „Hey“ gesagt?
 

„Was willst du von mir?“ – jetzt fragte ich doch tatsächlich schon meine Spiegelung aus. Mit mir stimmte anscheinend wirklich etwas nicht. Er hörte auf den Ball zu werfen, musterte mich und zögerte einige Sekunden, bevor seine Lippen deutlich hörbare Worte formten.
 

„Du hast den Keller der Universität vergessen…“



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