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The last sealed Second

Diarium Fortunae
von

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Hör auf dein wahres Ich (Teil 1)

Die Krankenstation war, dank gewöhnlicher Leuchtstoffröhren, stets angenehm hell erleuchtet, anders als in den restlichen Bereichen von Athamos, und machte dadurch auf den ersten Blick einen einladenden Eindruck. Sie zählte außerdem zu einem der wenigen Orte innerhalb des Hauptquartiers, an denen die Umgebung überwiegend natürlich und normal wirkte, nicht etwa wie der Unterschlupf von Jägern mit übernatürlichen Fähigkeiten.

Angeblich hatte die damalige Ärztin darauf einen besonders großen Wert gelegt, weil das für den Heilungsprozess der Patienten förderlicher sei, und seitdem wurde daran nichts mehr geändert, selbst nach ihrem Wechsel des Arbeitsplatzes nicht. Wäre Vane gegenwärtig nicht der behandelte Arzt, könnte Luan sich hier wahrscheinlich sogar wohlfühlen, aufgrund der Ordnung und Sauberkeit – auch wegen dem unerwarteten Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit, die diese Räumlichkeiten ausstrahlten.

Dabei sollte ich diesen Ort abgrundtief hassen, musste Luan jedes Mal denken.

Durch die Eingangstür gelangte man zuerst in einen geräumigen Empfangsbereich, wo es gerade ungewohnt still und leer war. Direkt auf der linken Seite ruhte der geschwungene, weiße Tresen mit einigen blauen Elementen und direkt gegenüber, von Luans Sicht aus rechts, lag der offene Warteraum. Lediglich ein paar Trennwände mit milchigen Fenstern sorgten für ein wenig Privatsphäre auf beiden Seiten. Statt Stühlen gab es hinter dieser Abschirmung eine große Couch und einige dazugehörige Sessel, auf denen Patienten Platz nehmen konnten. In der Mitte dieser Sitzmöglichkeiten stand zwar ein Glastisch, aber dieser war oft leer.

Einige gut platzierte Zierpflanzen brachten dafür etwas Grün in die sterile Atmosphäre und wie Luan sofort nebenbei bemerkte, hatte Naola scheinbar auch neue Gemälde besorgt, um den Raum mit noch mehr Farbe zu beleben. Auf die achtete er jetzt aber nicht genauer und ging zügig, soweit es die Erschöpfung zuließ, an dem Tresen vorbei, weil den gerade niemand besetzte. Müsste Nevin nicht eigentlich da sein? Immerhin war er die Vertretung für Naola, die normalerweise den Job als Assistentin ausfüllte.

Ob schon einige Verletzte reingekommen sind?

Auf seinem Weg hierher war er jedenfalls keinen Traumbrechern begegnet, doch es könnte möglich sein, dass die Opfer von Schöpfern durch Teleportation zur Krankenstation gebracht wurden. Oder sie waren allesamt noch zu beschäftigt mit den Angriffen der Alpträume, was Luan sich eher vorstellen könnte. Vane bekäme heute auf jeden Fall noch eine Menge zu tun, so wie er es gewohnt sein sollte, wenn auch nicht wegen einem Überraschungsangriff in Athamos selbst.

Zum Glück beschränkte dieser sich offenbar nur auf den Bereich, wo die Quartiere lagen und sich auch der Ursprung der Alpträume befand, zumindest noch. Solange die Traumbrecher die Gefahr wenigstens noch eine Weile einzudämmen wussten, blieb ihnen etwas Zeit, vermutlich nur nicht allzu viel.

Deshalb betrat Luan gezielt einen der Gänge, der zu den einzelnen Zimmern der Krankenstation führte und knirschte mit den Zähnen bei dem Gedanken, dass es wieder eine Tortur werden dürfte, Vane hier schnell ausfindig zu machen, da er überall sein könnte. Für einen Arzt alleine fiel diese Krankenstation eigentlich viel zu groß aus, noch dazu mit nur einem Assistenten und der dazugehörigen Laborabteilung. Er sollte dringend über weitere Mitarbeiter nachdenken, erst recht bei der hohen Zahl an Patienten, die er hier ständig zu verpflegen hatte.

Zu seiner Erleichterung öffnete sich auf dem Gang kurz vor ihm dann plötzlich eine der Türen, gefolgt von einer ihm vertrauten Stimme: „Ruh dich jetzt schön weiter aus, okay? Und ruf mich einfach nochmal, solltest du etwas brauchen. Ich komme dann sofort.“

Es war Nevin, der drei Jahre jüngere Bruder von Rowan und das genaue Gegenteil von diesem. Schon seine Stimme glich einer warmherzigen Umarmung, so sanft klang sie. Bei Schall-Traumbrechern musste Luan sich oft fragen, ob sie vorher bereits beim Reden solche Wirkungen auf andere gehabt hatten. Neben Nevins Stimme war auch sein Aussehen recht auffällig, denn seine fliederfarbenen Augen waren nicht nur faszinierend anzusehen, sie betonten seinen gütigen Charakter auch nochmal zusätzlich. Hinzu kam sein langes, schneeweißes Haar, das er immer zu einem Zopf geflochten trug.

„Ah, Luan“, sagte Nevin erfreut, kaum dass er ihn bemerkte. „Wo kommst du denn plötzlich her? Lange nicht gesehen~.“

Wahre Worte, ihr letztes Treffen war eine Weile her. An Nevin hatte sich seitdem nichts verändert, weder an seiner Art, noch an seinem äußeren Erscheinungsbild. Sogar bei seiner Arbeit als vorläufiger Ersatz für Naola trug er diese schwarze Mütze, die überhaupt nicht zu ihm passte, aber er legte sie so gut wie nie ab. Als Bruder von Rowan hing er scheinbar sehr an solchen Geschenken von ihm.

Erwartungsvoll lächelte Nevin ihn an und schloss dabei sacht die Tür zu dem Zimmer, aus dem er gekommen war. „Wie geht es dir denn? Irgendwie siehst du nicht so gut aus.“

„Tut mir leid“, warf Luan ein. „Ich habe jetzt keine Zeit, um mit dir zu sprechen. Kannst du mir sagen, wo ich Vane finde?“

Zwar sah es nicht so aus, als würde Nevin diese Abweisung persönlich nehmen, doch bei jemandem wie ihm fühlte Luan sich trotzdem schlecht, so reagieren zu müssen. Die momentane Lage zwang ihn aber leider dazu.

„Du suchst freiwillig nach Doktor Belfond?“, stellte Nevin verwundert fest und musterte ihn gleich besorgt. „Dann muss es ernst sein. Ist etwas passiert?“

„Kann man wohl sagen“, erwiderte Luan angespannt und verschwieg die Tatsachen gar nicht erst. „In Athamos sind Alpträume aufgetaucht, die uns angreifen.“

Schockiert sog Nevin die Luft ein und sah ihn mit großen Augen an. „Was? Hier? Das ist doch gar nicht möglich.“

„Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, aber in diesem Augenblick wird bei unseren Quartieren gekämpft.“ Automatisch warf Luan einen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen, dass die Alpträume nicht doch schon hier waren. „Sie sind nur schwierig zu vernichten, bis auf meine Energie zeigt bislang sonst nichts anderes eine effektive Wirkung. Die anderen sind deswegen etwas überfordert, mit Rowan sollten sie es jedoch vorerst schaffen.“

„Ro kämpft also schon?“, fing Nevin auf. Niemand außer ihm durfte seinen Bruder bei diesem Spitznamen nennen. „Oh je.“

„Stell dich schon mal auf eine Menge Arbeit ein“, riet Luan ihm und blickte wieder nach vorne. „Jedenfalls brauche ich jetzt Vane, damit er meine Energie auffüllt. Also, wo ist er?“

An Nevins nervösen Gesichtszügen war deutlich zu sehen, dass er am liebsten nach Details gefragt hätte und kaum etwas verstand, was Luan gut nachvollziehen konnte. Statt dass Nevin ihn aber mit weiteren Fragen aufhielt, wie es viele andere sicher getan hätten, besann er sich schnell auf das Wesentliche und wurde ebenfalls ernst, was man nur höchst selten an ihm beobachten konnte.

„Doktor Belfond wollte etwas im Labor überprüfen“, erinnerte Nevin sich. „Dort ist er schon seit seiner Rückkehr. Komm, ich bring dich hin.“

„Nicht nötig“, lehnte Luan ab und hob dabei gleich abwehrend die Hände. „Ich komme schon alleine zurecht.“

„Sicher? Du siehst wirklich nicht gerade gut aus und wenn du Energie brauchst, ist das auch kein Wunder.“

„Ich bin daran gewöhnt, kümmere du dich besser weiter um die Patienten und triff schon mal Vorkehrungen für die Verletzten, die bald eintreffen werden.“

„Wie du willst ...“, gab Nevin nur sichtlich ungern nach. „Du weißt den Weg noch?“

Luan nickte knapp. „Viel zu gut, ja. Danke, Nevin.“

Könnte Vane im Labor mit den Vorbereitungen für das Brechen der Atemhypnose beschäftigt sein? Besser wäre es für ihn.

„Pass auf dich auf, Luan.“

„Du auch auf dich.“

Mit einer weiteren Entschuldigung an Nevin machte Luan sofort kehrt und eilte zu einem anderen Gang, an dessen Ende sich eine Tür befand, auf der ein Schild mit der Aufschrift „Zutritt für Unbefugte verboten“ befestigt war. Nirgendwo gab es auch nur den kleinsten Hinweis darauf, was sich dahinter verbarg, denn niemand hatte, laut Vane, hier herumzuschnüffeln, erst recht nicht als Patient, der im Bett bleiben und sich erholen sollte.

Hastig durchsuchte Luan die Taschen seines Mantels, bis er schließlich einen einzelnen Schlüssel hervorzog. Damals hatte er ihn nur widerwillig entgegen genommen, aber jetzt kam ihm dieser Vorteil zugute. Er besaß somit als einer der wenigen Zugang zu dem Laborbereich der Krankenstation, warum auch immer Vane das so wichtig gewesen war.

Vor dieser Mission hätte ich noch gesagt, weil er darauf hofft, dass sein Forschungsobjekt freiwillig zurückkommt ...

Durch die beiden Male, in denen Vane ihm gegenüber so etwas wie eine fürsorgliche Seite gezeigt hatte, war er nicht mehr so sicher. Darum ging es aber auch nicht. Also verdrängte er den Gedanken, schloss auf und stemmte sich gegen die schwere Tür, um das Labor zu betreten.

Zuerst gelangte er in einen kleinen Vorraum, wo sich ein Waschbecken und Desinfektionsmittel befand, mit dem Luan sich auch gleich die Hände wusch, weil Vane zumindest darauf eine Menge Wert legte. Wie sehr er diesen beißenden Geruch hasste. Dafür ignorierte Luan die weißen Kittel, die hier an Kleiderhaken bereitgestellt wurden. Gerade, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Laut zurück ins Schloss fiel, ging er weiter durch die nächste in den ersten Hauptbereich.

Wie genau ein Labor auszusehen hatte, um es als ebenso gewöhnlich bezeichnen zu können wie den Rest der Krankenstation, wusste Luan nicht, aber seinem Empfinden nach passte dieses durchaus ganz gut in diese Kategorie hinein. Auch hier sorgten Leuchtstoffröhren für genügend Licht, nur in etwas abgeschwächter Form, dennoch konnte der gesamte Raum problemlos überblickt werden.

Hier standen mehrere Werkbänke in geordneten Reihen, ausgestattet mit allerhand Geräten und Werkzeugen, deren Namen Luan nicht im Ansatz erahnen konnte. Einige von diesen dürften nicht mal unter den normalen Forschern außerhalb von Athamos bekannt sein. In den Regalen an den Wänden wurden etliche Glasbehälter in sämtlichen Formen und Farben gelagert, manche davon auch gefüllt mit irgendwelchen Substanzen in Kühlgeräten.

Jeweils drei Türen führten auf zwei Wandseiten in weitere Bereiche, nur eine war mit einer großen Glasfront ausgestattet, die dazu dienen sollte, den Versuchsraum dahinter auch von diesem Platz aus überwachen zu können, doch wegen des heruntergelassenen Sichtschutzes war derzeit nur eine weiße Leinwand zu sehen, worüber Luan ganz froh war. Er hatte nur schlechte Erinnerungen an diesen Ort. Insgesamt fühlte sich die Atmosphäre im Labor bedrohlich an, obwohl es direkt mit der Krankenstation verbunden war, in der eine ganz andere Ausstrahlung herrschte.

Luan ignorierte daher den Großteil der Einrichtung, denn sein Blick galt sowieso eher Vane, den er an einer der Werkbänke entdeckte, wo er gerade an einer Art Mikroskop saß. Dieses war weitaus größer als normale Modelle, sah aus wie eine klobige, antike Maschine mit unzähligen Hebeln, Knöpfen und Rädern, mit denen man etwas einstellen konnte. Das Mikroskop nahm fast die Hälfte des Tisches in Beschlag, weshalb es auch nicht mehr von dort wegbewegt wurde. Regungslos starrte Vane in eines von mehreren Okularen und bewegte dabei gelegentlich minimal verschiedene Räder an der Seite des Geräts.

Bevor Luan auf sich aufmerksam machen konnte, beendete Vane bereits von selbst den Blick durch das Okular und lehnte sich im Stuhl zurück, um ihn besser sehen zu können. Sofort glühte ein kühler Funke der Unzufriedenheit in seinen Augen auf und seine Mimik gewann eine strenge Note, mit der er Luan zu durchbohren schien. In dieser Umgebung fiel Vane offenbar in sein altes Verhaltensmuster zurück, auf das er allergisch reagierte.

„Sagte ich dir nicht schon oft genug, dass du es mit dem Energieverbrauch nicht übertreiben sollst?“

„Sie haben keine Ahnung, was in Athamos los ist“, verteidigte Luan sich genervt. „Es ging nicht anders, ich-“

„Ich weiß sehr wohl, was vor sich geht“, unterbrach Vane ihn, was durch seine Ruhe in der Stimme nur noch provokanter wirkte, ob gewollt oder nicht.

Auf eine Diskussion konnte Luan getrost verzichten, darum versuchte er, darauf gar nicht erst genauer einzugehen. „Schön, dann können wir uns jedes weitere Wort ja sparen und direkt zu den dringenden Dingen übergehen: Ich brauche neue Energie.“

„Du wirst dich noch ein bisschen gedulden müssen.“ Viel zu entspannt notierte Vane sich nebenbei mit einem Kugelschreiber etwas auf den Papieren, beides lag neben dem Mikroskop auf der Werkbank. „Ich habe schon vor einer Weile eine Bestellung bei den Fortunae aufgegeben, die neuen Tanks müssten also bald eintreffen.“

Die Energie, die den Traumbrechern bei einem Mangel als Ersatz zugeführt wurde, stammte aus der Schicksalsmaschine. Bisher hatte Luan nur davon gehört, denn sie wurde noch sicherer unter Verschluss gehalten als Atanas’ Schatzkammer. Eine Fortuna schmiedete aus den Träumen Glück, angeblich mit Hilfe dieser besagten Maschine. An Reinheit war diese besondere Energie kaum zu übertreffen, selbst die der Traumbrecher reichte nicht an sie heran.

Womöglich lag es daran, dass Luan mit seinen Schüssen etwas gegen die Alpträume ausrichten konnte, so oft wie er schon eine Transfusion benötigt hatte. Jedenfalls war Energie aus der Schicksalsmaschine leider sehr flüchtig, weshalb Vane davon nichts im Labor lagern konnte, sondern bei den Fortunae stets bei Bedarf etwas davon anfordern musste. Für gewöhnlich dauerte die Lieferung auch nicht allzu lange, trotzdem ...

„Können Sie das nicht beschleunigen?“, drängte Luan und deutete hinter sich zur Tür. „Die anderen kämpfen gerade und sind in Bedrängnis, weil ihre Energie nichts gegen den Feind bewirkt. In jeder Sekunde könnten mehr und mehr verletzt werden.“

„Mir gefällt das genauso wenig wie dir, glaub mir“, versicherte Vane und legte langsam den Kugelschreiber wieder ab. „Ich kann aber auch nicht mehr tun, als zu warten. Die Fortunae müssen beim Transport der Energie sehr vorsichtig vorgehen.“

Es hatte keinen Sinn, noch mehr Druck zu machen, schon weil Luan selbst genau wusste, dass es nicht anders ging. Selbst bei Notfällen ließen sich die Fortunae die Zeit, die nötig war, um die gewünschte Energie sicher zu den Traumbrechern schaffen zu können. Kleinste Fehler konnten schlimme Schäden mit sich ziehen.

Seufzend fuhr Luan sich durch die Haare und legte dabei den Kopf in den Nacken. „Das darf doch nicht wahr sein ...“

Womit hatte er all diese Hindernisse nur verdient? Eigentlich gab es nichts, was man ihm wirklich ankreiden könnte. Gewissenhaft vernichtete er jeden Alptraum, der ihm über den Weg lief – und nun schlugen sie derart zurück.

Schweigend erhob Vane sich, in einer viel flüssigeren Bewegung, als man bei seiner Größe erwartete, und holte aus einer Ecke des Raumes einen zweiten Stuhl, den er zu dem Mikroskop neben den anderen stellte. Während er sich wieder auf seinem Sitzplatz niederließ, deutete er zu dem neuen an seiner Seite und sah Luan fordernd an.

„Setz dich, solange wir warten müssen und versuche, dich zu beruhigen. Du solltest dich schonen, bis du wieder über genug Energie verfügst.“

Eigentlich wollte er ablehnen und anmerken, dass Stehen nicht so anstrengend war, aber Luan ergab sich in dem Punkt, noch bevor er sich überhaupt dagegen auflehnte. Im Grunde wäre er ganz froh, die restliche Kraft nicht weiterhin in seine Beine legen zu müssen, also ging er zu dem freien Stuhl und setzte sich dort hin, was Vane mit einem zufriedenen Nicken registrierte.

Nur bei einer Sache musste Luan ihn doch enttäuschen. „Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie immer so ruhig bleiben können.“

„Weil es niemandem etwas nützen würde, wenn ich ihn Unruhe gerate. Das lässt einen unaufmerksam werden und fördert Fehler.“

Unrecht hatte Vane damit nicht. Beim Gedanken daran, dass Mara in Gefahr war und die anderen verzweifelt weiterkämpfen mussten, konnte er aber nur unruhig bleiben. Hoffentlich brachten seine Ratschläge ihnen etwas. Vielleicht sollte Luan diese Wartezeit dann wenigstens doch noch sinnvoll nutzen, immerhin musste er Vane sowieso über etwas Bestimmtes ausfragen, bevor er zum Kampfplatz zurückkehrte.

„Erklären Sie mir mal, woher Sie über das, was hier gerade passiert, Bescheid wissen wollen“, leitete Luan das Gespräch ein. „Nevin sagte, dass Sie seit unserer Rückkehr die Zeit im Labor verbracht haben. Wie wollen Sie also etwas mitbekommen haben?“

Von dieser Initiative war Vane wohl überrascht, was sich nur durch ein leichtes Heben einer Augenbraue zeigte. „Ich ahnte schon, dass es so weit kommen wird, bevor wir nach Athamos gegangen sind.“

„Und woher, bitte?“

Vane hatte nur eine Schall-Prägung, keine hellseherischen Fähigkeiten. In Luan bahnte sich aber eine Vermutung an, die sein Misstrauen wieder neu entfachte und hohe Flammen schlagen ließ. Was, wenn dieser Angriff doch nicht zwingend etwas mit Verrell zu tun hatte, sondern zu einem Plan von Bernadette gehörte, Athamos anzugreifen? Sie blieb eine Verräterin und Vane offensichtlich ein Verbündeter von ihr, wie die letzten Ereignisse zeigten.

„Deine Gedanken schlagen eine völlig falsche Richtung ein“, wies Vane Anschuldigungen von sich, die nicht mal laut ausgesprochen wurden. Hatte er Luan diese Überlegung so deutlich ansehen können? „Als ich die roten Samen sah, die du bei dir hattest, wusste ich sofort, dass jemandem ein Geißel-Ei eingepflanzt wurde.“

Davon hörte Luan zum ersten Mal, daher runzelte er irritiert die Stirn. „Geißel-Ei? Was soll das sein?“

Zu seiner Erleichterung setzte Vane tatsächlich ohne Umschweife zu einer Erklärung an. „Eine Geißel kann einem beliebigen Opfer ein Ei einpflanzen, das in dieser Person im Schlaf durch deren Träume heranreift und auf diese Weise Geißelsaat bildet, eine Alptraumgattung, die in der Rangfolge knapp über den Sakromahren steht.“

Geißelsaat. Sollte das bedeuten, es gab neben den sechs bekannten Arten wirklich noch eine siebte – oder gar noch mehr? Also waren diese Alpträume, gegen die Luan im Wald und vor dem Hotel gekämpft hatte, in der Tat keine Reinmahre gewesen. Dennoch blieb er verwirrt.

Unaufgefordert fuhr Vane fort. „Geißelsaat dient der Geißel normalerweise dazu, die Welt schneller einzunehmen, mit Dunkelheit zu verseuchen und effektiver zerstören zu können, was jedoch schon der letzte Schritt in ihrem, von Instinkten geleiteten, Handlungsablauf ist. Zuerst konzentrieren sie sich für gewöhnlich darauf, ihren Wirt zu brechen, um überhaupt erst an einen richtigen, eigenen Körper gelangen zu können, wodurch dann auch ihre Kräfte zunehmen.“

Ratlos schüttelte Luan den Kopf. „Woher wissen Sie so viel darüber? Über Geißel-Eier und Geißelsaat habe ich bisher nicht mal etwas in Legenden gehört ...“

Lag es daran, weil Vane, neben Atanas, am längsten in Athamos tätig war? Nein, das konnte nicht sein. Genau wie Atanas war Vane kein Jäger und verbrachte die meiste Zeit im Hauptquartier, also konnte er sich dieses Wissen nirgendwo angeeignet haben, wenn nicht mal ihr Anführer genauere Details wusste. Unter den Jägern blieb also Luan derjenige, der die meiste Erfahrung in diesem Beruf besaß und er hatte, noch bis vor kurzem, keine Ahnung von Geißeln.

„Das kann ich dir nicht sagen“, wich Vane aus und beendete dabei auch den Blickkontakt zu Luan, indem er vor sich auf das Mikroskop starrte.

Beinahe hätte Luan empört darauf hingewiesen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, dieses Spielchen derart auszureizen und ihm immer noch Informationen zu verschweigen, aber der Drang löste sich von selbst auf. So wie Vane in dieser Sekunde dasaß, bekam er auf einmal eher Mitleid mit ihm. Sogar sitzend war er eigentlich um einiges größer als Luan, machte jedoch momentan einen sehr kleinen Eindruck auf ihn. Er wirkte von innen heraus verloren und unsicher, so hatte er Vane noch nie erlebt. Fast glaubte Luan, noch dazu einen winzigen Hauch von Angst wahrzunehmen. Wovor könnte dieser Mann sich schon fürchten?

Etwa davor, aus Athamos ausgeschlossen zu werden? In dem Fall wären sie sich ausnahmsweise mal ähnlich.

Vane ... kann es sein, dass ich Sie gar nicht wirklich kenne?

Oder dass Luan vergessen hatte, wie Vane wirklich war? Er spielte ihm diese Seiten garantiert nicht vor, so gut konnte er nicht sein. Aber was war mit Luans Misstrauen? Mit der Zeit, in der Vane ihn hier im Labor festgehalten und fast zum Wahnsinn getrieben hatte? Was davon war noch bedeutsam und woran konnte er glauben?

„Vane“, sage er schließlich, statt weiter nachzudenken. „Wenn Sie, du, mir das jetzt noch nicht sagen willst, ist das in Ordnung.“

Natürlich musste Vane über dieses Verständnis verwundert sein, das war auch seinem Blick zu entnehmen, den er Luan daraufhin zuwarf. Dieser sprach aber weiter, um dem Arzt gar keine Gelegenheit zu geben, ihn unterbrechen zu können.

„Du musst mir nicht sagen, woher du das alles weißt, aber ich bitte dich, teile dein Wissen mit mir.“ Er sah Vane entschlossen an. „Mara und alle anderen sind in Gefahr, was vielleicht meine Schuld ist. Ich möchte ihnen helfen, das ist jetzt viel wichtiger. Also teile mir bitte alles mit, was du weißt. So, dass ich es auch verstehe, in einer verständlichen Reihenfolge, solange wir auf die neuen Tanks warten.“

Vane ehrlich um etwas zu bitten, war gar nicht so schwer, wie Luan immer angenommen hatte. Es fühlte sich vielmehr unerwartet vertraut an, wie er feststellen musste. Bisher hatte er sich niemals wirklich auf Vane einlassen wollen, nicht so wie in diesem Augenblick.

Erst schien Vane noch zu sprachlos, um etwas darauf sagen zu können, doch er stimmte letztendlich nickend zu und teilte weitere Informationen mit ihm. „Lassen wir das Thema Geißel an sich vorerst außen vor und konzentrieren uns auf das momentane Hauptproblem: Das Geißel-Ei. Die Geißelsaat, die daraus schlüpft, ist anfangs nur schwer als solche zu erkennen oder zu entdecken, zumindest solange man sie nicht in ihre feste Form zwingt. Sie stehen von der Entwicklung her zunächst auf der Stufe der einfachen Nachtmahre, wachsen jedoch sehr schnell, auch ihre Fähigkeiten. Sollten sie in ihrem Wachstum nicht aufgehalten werden, können sie am Ende sogar menschliche Form annehmen, sobald sie die Stufe eines Reinmahrs überschritten haben.“

Aufmerksam lauschte Luan den Erklärungen und versuchte dabei, einige fehlende Puzzleteile für sich zusammenzusetzen. Seine schwarze Ablagerung regte sich im Normalfall immer, wenn ein Alptraum in der Nähe war, was sie aber nicht bei der Geißelsaat im Wald getan hatte, von der er überrascht worden war. Entwickelten sie sich zu schnell und konnten deshalb nicht richtig von der Kruste, die ihm sonst stets wirksam als Radar diente, erfasst werden?

Sie könnten auch einfach zu speziell sein.

Nein, den Nachtmahr in Mara, den Luan vernichtet hatte, konnte er noch spüren, die anderen nicht mehr. Geißelsaat musste sich tatsächlich unheimlich schnell entwickeln, denn Reinmahre waren selbst für ihn schwer aufzuspüren.

„Solange das Geißel-Ei in Mara bleibt, wird es immer neue Geißelsaat produzieren“, setzte Vane seinen unüblichen Redeschwall fort. „Als Sakromahr bietet sie natürlich eine besonders fruchtbare Energiequelle für die Geißelsaat, anders als Menschen. Da Verrell die Mutter dieser Alpträume ist, suchen sie instinktiv die Nähe des Opfers, das gebrochen werden muss, um dabei behilflich zu sein. Sie sind von Natur aus immun gegen die Energiekugeln des Wirts, weil die Geißel selbst in diesem herangewachsen und mit ihr vertraut ist. Ferris’ Energie wirkt daher nicht schädlich für Geißel oder Geißelsaat.“

Womit geklärt wäre, warum Ferris im Wald nichts gegen den Alptraum ausrichten konnte und wieso ausgerechnet Feuer aus diesem hervorgebrochen war. Über Verrell kannte die Geißelsaat seine Schwächen.

„Aber wieso wirkt die Energie der anderen Traumbrecher auch nicht?“, wandte Luan ein. „Und warum greift die Geißelsaat wahllos alle an, wenn sie doch nur auf Ferris fixiert sein sollten?“

„Sie legen wahrlich ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag“, musste auch Vane zugeben, ging aber nicht auf die erste Frage ein, und tippte nachdenklich mit dem Finger gegen eines der Okulare vor sich. „Ich bin sicher, sie handeln nicht wahllos. Verrell muss irgendein persönliches Ziel durch diesen Angriff verfolgen.“

„Persönlich?“, griff Luan auf. „Folgen Alpträume nicht sonst nur ihren Instinkten, die vom Hass gelenkt sind?“

„Es gibt immer Ausnahmen.“ Seine Stimme klang plötzlich ziemlich eindringlich, noch mehr als sonst. „Für dich sind Sakromahre doch auch anders und nicht nur eine Form von Alpträumen, oder nicht?“

Der Blick, mit dem Vane ihn nun betrachtete, sah seltsam erwartungsvoll aus. Worauf wollte er hinaus? Im Gegensatz zu Geißeln waren Sakromahre schon von ihrer Bestimmung her völlig anders, sie entstanden aus einem intensiven Wunsch. Ihre gesamte Beschaffenheit war rein und nicht derart bösartig wie bei Verrell. Könnte es unter Geißeln wirklich Ausnahmen geben?

Auf eine Antwort wartete Vane nicht lange und sprach weiter. „Es gibt nur drei Wege, ein Geißel-Ei zu entfernen.“

Jetzt wurde es interessant. „Und die wären?“

„Verrell müsste es eigenhändig wieder entfernen, um jeglichen Schaden zu vermeiden.“

„Das kommt dann schon mal nicht in Frage“, seufzte Luan.

„Der andere Weg wäre, es mit einer Atem-Prägung herauszuziehen, was einen geübten Nutzer erfordert.“

Sofort richtete Luan sich ein Stück auf. „Kannst du die Atemhypnose denn schon vollständig brechen?“

Leider schüttelte Vane den Kopf. „Die Vorbereitung läuft noch, in frühestens fünf Stunden könnten wir anfangen.“

So lange wollte Luan nicht warten müssen. Rowan traute er es bedenkenlos zu, Stunden am Stück ohne Pause zu kämpfen, aber nicht den anderen Traumbrechern. Die meisten brachen vorher unter Garantie zusammen und für einen alleine wäre diese Flut unmöglich länger aufzuhalten.

Den gleichen Gedanken hatte Vane auch schon. „Die dritte Möglichkeit wäre, Verrell zu vernichten, damit sich auch das Geißel-Ei mitsamt seiner Existenz auflöst.“

Auch nicht besser, dafür war ebenfalls keine Zeit. „Sind das wirklich alle Möglichkeiten?“

„Soweit ich weiß schon.“

Das konnte doch nicht sein. In Luan kam der Verdacht auf, Vane wollte ihm nur nicht alle Möglichkeiten nennen, wieder aus irgendwelchen Gründen, die nur er selbst verstand. Deshalb beobachtete Luan ihn genau, mit zusammengezogenen Augenbrauen, und wartete auf jeden kleinsten Hinweis, der ihm das bestätigte.

„Du bist doch Arzt“, versuchte er zusätzlich, an Vanes Ehre zu appellieren, denn seinen Beruf führte er immerhin stets pflichtbewusst aus. „Als solcher willst du doch auch, dass es nicht unnötig Verletzte geben muss. Gibt es wirklich nicht noch mehr Möglichkeiten?“

„Alles andere käme ohnehin auch nicht in Frage“, gab Vane nach und nahm den Kugelschreiber wieder in die Hand, um diesen zu drehen. „Ich bezweifle, dass du Mara töten möchtest, um die Produktion neuer Geißelsaat zu stoppen.“

Erschrocken lehnte Luan sich zurück. „Auf keinen Fall!“

„Dachte ich mir.“ Eine kurze Pause folgte. „Du möchtest sie unbedingt retten?“

„Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage“, bestätigte Luan.

„Ist sie dir so wichtig?“

Stellte Vane ihm hier nun ernsthaft die gleiche Frage wie Rowan zuvor? War es denn so verwunderlich, dass Luan Mara retten und nicht opfern wollte? Hing das mit seinem Willen zusammen, mit dem er sonst jeden Alptraum zu vernichten versuchte, statt kleine Fische entkommen zu lassen?

Bestimmt ließe sich Vane nicht so leicht mit der Antwort zufriedenstellen, die er Rowan gegeben hatte, also musste er ein wenig genauer werden. „Ja, sie ist mir wichtig. Jeder Traum ist mir wichtig. Ich möchte alle Träume beschützen, nur darum bin ich überhaupt nach Athamos gekommen.“

„Du betrachtest Sakromahre als Träume?“, wiederholte Vane. Wachsam suchte er in Luans Augen nach etwas. „Dir bedeuten Träume sehr viel, oder?“

„Mehr als alles andere auf der Welt.“

Luan spürte, wie er allein durch diese Worte noch mehr Entschlossenheit in sich weckte und ballte die Hände zu Fäusten. Derweil schloss Vane die Augen und drehte weiter gleichmäßig den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern, während er sich tief in seine Gedanken verlor, so wie es aussah. Ein lauter, heller Signalton aus einem Lautsprecher, der unscheinbar in einer Ecke des Raumes hing, weckte Vane schließlich wieder aus dieser Phase.

„Die Tanks sind da“, sagte er ruhig und stand sogleich auf. „Beeilen wir uns und geben dir neue Energie.“

Das ließ Luan sich nicht zwei Mal sagen und folgte Vanes Beispiel, indem er sich ebenfalls von seinem Platz erhob. Er bemühte sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie schwindelig ihm dabei wurde. Wahrscheinlich fiel es Vane trotzdem auf, doch er sagte nicht viel dazu, was Luan ihm dankte.

„Geht es noch?“

„Ein paar Schritte überstehe ich schon noch, ja.“

Nickend ging Vane daraufhin voraus, auf eine der Türen zu, die in Behandlungsbereiche führte. „Ich werde dir bei der Transfusion erklären, wie du Mara retten könntest.“

Damit hatte Luan nicht mehr gerechnet. „Es gibt also noch einen Weg?“

„Ja, aber der ist sehr riskant“, warnte Vane ihn. „Außer dir würde ich es auch sonst niemandem zutrauen.“

Derart viel Zuspruch war Luan gar nicht von ihm gewohnt. Sonst versuchte Vane immer alles, um ihn von der Jagd nach Alpträumen abzuhalten. Besser, er hinterfragte diesen Sinneswandel nicht, zumal er sich insgeheim auch ein bisschen darüber freute, gesagt zu bekommen, dass nur er es schaffen könnte.

„In Ordnung, Vane, du hast meine volle Aufmerksamkeit.“
 

***
 

„Hast du alles verstanden?“, fragte Vane nochmal nach, als er zusammen mit Luan das Labor etwa eine halbe Stunde später verließ und auf die Krankenstation zurückkehrte.

Er blickte zu ihm auf, noch genauso entschlossen wie zuvor und dank der erfolgreichen Transfusion wieder wesentlich fitter. „Keine Sorge, das habe ich.“

„Ich wollte nur sichergehen.“

„Dachte ich mir.“

„Glaubst du wirklich, ihr helfen zu können?“, blieb Vane zweifelnd.

Davon ließ Luan sich aber nicht entmutigen und blieb zuversichtlich. „Ich bin mir absolut sicher. Sie entstand durch jemanden, der mir viel bedeutet, und deshalb habe ich sie schon einmal beruhigen können.“

Vor wenigen Tagen, im Wald, als sie solche Angst gehabt hatte. Ohne weiteres konnte sie Luan dort einfach vertrauen, obwohl sie einander gar nicht kannten. Inzwischen war er davon überzeugt, dass es daran lag, weil Mara Erinnerungen und eventuell sogar Gefühle von Estera in sich trug, dank denen sie Luan so schnell glauben konnte. Alleine darauf baute er nicht, doch es sollte ihm hilfreich bei seinem Vorhaben sein.

„Jemand, der dir viel bedeutet?“, hörte er Vane interessiert sagen.

„Hm? Ah, vergiss das.“

Warum sagte Luan so etwas unbedacht vor ihm? Gerade Vane gegenüber wollte er nicht darüber sprechen, dachte er bisher jedenfalls.

„Na schön.“ Zum Glück bohrte Vane nicht weiter nach. „Behalte du selbst auf jeden Fall auch Ruhe. Denk daran, alles andere wäre nur fatal.“

„Das habe ich inzwischen schon verstanden.“

„Ja? Dann könnten wir auch doch darauf warten, bis ich deine Atem-Prägung brechen kann“, machte Vane ihn erneut auf die, in seinen Augen, bessere Option aufmerksam.

„So lange kann ich nicht warten. Außerdem kam ich bisher auch lange ohne meine Prägung aus und die Geißelsaat reagiert sowieso empfindlich auf meine Schüsse.“

Es war zu hören, wie Vane schwer ein- und ausatmete. „Übertreib es aber nicht.“

„Schon klar. Sag mal“, nahm Luan sich doch kurz noch die Zeit, eine letzte Frage zu stellen, „kannst du dir erklären, wieso ausgerechnet meine Energie so wirksam ist? Darauf hast du noch gar nichts gesagt.“

„Weil ich keine Ahnung habe.“

Irgendwie kam diese Antwort etwas zu schnell. „Ist das wahr?“

„Warum sollte ich lügen?“

„Das sage ich zu den Menschen, die ich vor Alpträumen rette, auch immer.“

Deswegen musste Luan fast schmunzeln. Wer hätte gedacht, dass Vane und er sich doch einige Gemeinsamkeiten teilten? Erstaunlich, wohin sich die Dinge entwickelten, innerhalb so kurzer Zeit. Diese Entwicklung war zur Abwechslung mal recht angenehm, anstelle des Grolls, den er bei Vane zuvor dauernd empfunden hatte.

Ohne diesen hätten sie das Chaos durch die Geißelsaat so einfach verhindern können. Vane hatte, nach einiger Überlegung, in Limbten nämlich schon relativ schnell eingrenzen können, wer das Geißel-Ei in sich trug, deswegen war er auch dagegen gewesen, Mara mit nach Athamos zu nehmen. Da er aber wusste, dass Luan ihm niemals geglaubt hätte, sparte er sich zu dem Zeitpunkt jede Erklärung. Und er musste zugeben: Ja, Luan hätte es nur als Lüge angesehen, um einen Grund zu haben, Mara zurücklassen zu müssen.

„Ich hoffe, du wirst mir auch das irgendwann beantworten. Du hast noch so lange Zeit, wie meine Mission andauert.“

Nach einigen Schritten blieben sie gleichzeitig stehen und warfen sich gegenseitig einen ernsten Blick zu. Erst wollte Luan sich bei Vane für seine Hilfe bedanken, aber so weit war er dann doch noch nicht. Da sich auf einmal auch Nevin meldete, der laut nach dem Arzt rief, weil die ersten Verletzten es hierher geschafft hatten, blieb dafür ohnehin keine Zeit mehr. Also trennten sie sich ohne weitere Worte, indem jeder für sich seine Arbeit wieder aufnahm.

Mit neuer Energie verließ Luan die Krankenstation und rannte zurück zu den Quartieren. Der Weg erschien einem viel kürzer, wenn man ihn schnell zurücklegen konnte. Nur wenig später fand er sich nämlich bereits in der Halle wieder, wo noch gekämpft wurde, aber die Lage sah etwas ruhiger aus als vorher. Sicher hatten deswegen einige Traumbrecher auch die Gelegenheit dazu genutzt, endlich die Verletzten zu Vane zu bringen.

Mittlerweile schwebten noch mehr violette Gitterkugeln wie Lampions in der Luft herum, gefüllt mit Geißelsaat. Der dunkle Nebel, in dem sie eingehüllt waren, rüttelte wild an den Stangen, konnte jedoch nicht entkommen.

Rowan war vollkommen in seine Gefechte vertieft und wirkte noch ziemlich fit, weshalb Luan einfach weiterlief, ohne ihn abzulenken. Geradewegs in den Gang hinein, an dessen Ende sein Zimmer auf ihn wartete. Unterwegs kam er nur noch an wenigen Alpträumen, die er nun als Geißelsaat bezeichnen konnte, vorbei. Sie riefen wie zuvor seinen Namen, was ihn nicht mehr so sehr verwunderte.

Verrell war quasi in Ferris aufgewachsen und seine Kinder mussten eng mit ihm verbunden sein, also kannten sie auch Luans Namen. Hätten sie das alles vielleicht von Anfang an vermeiden können, wäre ihnen aufgefallen, dass in Ferris eine Geißel tätig wurde? Verdrängung schien zu den Spezialitäten seines Freundes zu gehören, andernfalls hätte ihm doch auffallen müssen, dass sich etwas von ihm gelöst hatte.

Auch Theeder hat Ferris einfach komplett aus seinem Gedächtnis verdrängt.

Er rettete sie alle, ganz bestimmt. Mara, die Traumbrecher und dann endlich Ferris. Nichts war unmöglich, er durfte nur nicht aufgeben und musste Ruhe bewahren. Nur auf die Art hatte er ohne Traumzeit so lange als Jäger weiterarbeiten können – und durch eine Menge Transfusionen.

Vor der Tür zu seinem Zimmer angekommen, hielt Luan wieder an und betrachtete die schwarzen Dornenranken feindselig. Sie bewegten sich noch immer wie Schlangen und ließen sich von seiner Anwesenheit nicht stören. Dieses Geißelwerk nahm ihn nicht ernst, was ein großer Fehler war.

Ohne zu zögern streckte Luan eine Hand Richtung Ranken aus und öffnete die geballte Faust, in der die roten Samen zum Vorschein kamen, die Vane ihm im Hotel Tesha abgenommen und an denen er am Mikroskop geforscht hatte. Laut ihm war das der Schlüssel, um ins Zimmer zu gelangen, und tatsächlich versuchte bald schon die erste Ranke ihm durch einen Peitschenhieb diese Saat zu entreißen. Reaktionsschnell zog Luan die Hand allerdings zurück, bevor sie ihn verletzen konnte.

„Willst du sie zurück haben?“, sagte er gefasst und baute sich standhaft vor der Tür auf. „Dann lass mich rein, Mara.“

Drohend bauten die Ranken sich nun allesamt ebenfalls vor ihm auf. Nur noch ein aggressives Zischen hätte gefehlt und sie wären wirklich wie Schlangen, die sich nicht so leicht von jemandem einschüchtern ließen, der größer war als sie. Unbeeindruckt blieb Luan stehen und wartete darauf, dass sich etwas tat, mit Erfolg:

Die Tür wurde plötzlich ruckartig mit Gewalt nach innen gerissen und dabei wie ein Blatt Papier zusammengeknüllt. Der schwarze Schlund eines hungrigen Tieres lag nun offen vor ihm und Luan zeigte keine Furcht, als er diesen gefährlichen Ort alleine betrat.



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