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Rot, rot, rot

von

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What's Your Game

Das Rotkäppchen mischt die Karten neu

Der Jäger verdoppelt seinen Einsatz

Der Wolf gewinnt nicht
 

"Heute mal nicht am Yoga-Fisch?", begrüßte Johan Tim, der zu ihm ins Auto stieg.

Tim sah aus wie ein begossener Pudel. Es hatte in dem Moment zu regnen begonnen, als er sich zu Fuß auf den Weg zu ihrem neuen Treffpunkt gemacht hatte und gerade die Hälfte der Strecke quer durch den Park hinter sich gelassen hatte. Das als Schicksal zu sehen, hatte sich Tim verkniffen. Ein Auto hatte er heute ja nicht und als alternativen Treffpunkt hatte er sich auch ausgerechnet das andere Ende des Parks aussuchen müssen, statt irgendwo mitten in der Stadt, wie es eigentlich logischer gewesen wäre. Aber die Logik hatte ja schon längst das Gebäude verlassen. Genauso wie sein Gewissen. Vermutlich saßen beide irgendwo in einer schummrigen Bar und kippten sich einen Drink nach dem anderen hinter die Binde, während sie über seinen Verstand lästerten.

"Also reden fällt aus und essen gehen fällt wohl auch aus, schätze ich." Bemitleidend sah Johan Tim an, der mit klatschnassen Kleidern neben ihm saß und sich erfolglos mit nassen Händen den Regen aus dem Gesicht wischte.

Wie konnte Johan ihn auch noch bemitleiden, wenn er wusste, was für ein Idiot er war? Tim stieg einfach nicht dahinter.

"Zuerst mal Kleider wechseln, oder?"

Tim nickte nur niedergeschlagen auf Johans Frage. Dann überlegte er es sich anders.

"Lass mal, schmeiß mich einfach irgendwo zwischen hier und einem Kilometer vor dem Blumenladen raus und dann verschieben wir das." Er konnte sich unmöglich von Johan bis nach Hause fahren lassen, um sich dort umzuziehen. Wahrscheinlich war Marek schon zuhause. Tim verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen.

"Kommt nicht in Frage", entgegnete Johan und stieß die Luft empört aus. Ohne Tim zu fragen, schlug er den Weg zu seiner eigenen Wohnung ein.
 

"Hier, Handtuch und ein frisches T-Shirt." Johan hielt Tim beides lächelnd entgegen, der bis auf seine Boxershorts entkleidet mitten in dem winzigen Bad stand. Der Regen hatte gerade eine Pause eingelegt. Kühle Luft wehte durch das gekippte Fenster und ließ Tim erschauern.

Johan schloss das Fenster.

"Danke", murmelte Tim verlegen. Er presste sein Gesicht in das Handtuch. Es war rauh. Johan benutzte wohl keinen Weichspüler. Aber es roch gut, dachte er zerstreut und lachte über sich selbst. Er hatte wohl sonst keine Probleme, außer sich um Weichspüler und Waschmittel Gedanken zu machen.

"Meine Hosen werden dir nicht passen", Johan sah an Tim hinab, der schmaler und kleiner war als er und sich gerade die Haare trocken rieb.

"Brauchst du überhaupt eine Hose? Reden wolltest du ja sowieso nicht." Johan lachte nicht, auch wenn das sein erster Reflex war, aber Tim hörte ihm ohnehin nicht zu. So wie er wirkte, war er gerade Meilenweit entfernt mit seinen Gedanken.

Stattdessen nahm Johan Tims völlig durchweichtes T-Shirt und hielt es vor sich. Es war das rote Ramones-Shirt, das Tim am ersten Tag getragen hatte, als er seine Oma besucht hatte. Der Stoff war etwas dicker und durch und durch nass. Wenn sich Tim mal nicht erkältete...

"Das wird dauern, bis das trocken ist", fachsimpelte Johan und warf das T-Shirt über die Querstange des Duschvorhangs.

Tim rieb seine Arme und den Oberkörper ab. "Hast du keinen Trockner?", fragte er und sah Johan hoffnungsvoll an.

"Ich habe noch nicht mal eine Waschmaschine", zerschlug Johan Tims letzten Lichtblick auf ein weniger peinliches Ende des Abends. Geduldig wartete er, bis Tim sich fertig abgetrocknet hatte. "Brauchst du sonst noch was?"

"Nur dich", platzte es aus Tim heraus.

Johans Mundwinkel bogen sich nach oben. Er nahm das feuchte Handtuch aus Tims Händen und ließ es einfach zu Boden fallen. Tims Arme waren kühl und die Härchen darauf hatten sich aufgerichtet. Sachte strich Johan darüber, bis sie sich erwärmt hatten und die Haut sich wieder glättete.

Johan öffnete den Mund, um Tim etwas zu fragen.

"Ohne zu reden, schon vergessen?", schnitt Tim ihm das Wort ab.

Schweigend nickte Johan.

Tim sah ihn unverwandt an. An der Spitze einer Haarsträhne direkt über seinem linken Auge hatte sich ein Wassertropfen gebildet, der dort für wenige Augenblicke hing, ehe die Schwerkraft ihn übermannte und er auf Tims Wange fiel, wo ihn Johans Finger vorsichtig auffing.

Das schwache Trommeln des Regens gegen das geschlossene Badezimmerfenster und das helle Plätschern des Wassers, das aus dem roten T-Shirt in die Duschwanne rieselte, begleiteten Johans Küsse, die sich zuerst Tims Hals, Schlüsselbein und dann quälend langsam dessen Brust hinab zogen. Sein Atem strich dabei wie ein warmer Schatten seiner Küsse über Tims Haut und Tim musste sich auf die Unterlippe beißen, um sich an seine eigene Anweisung, nicht zu sprechen, zu halten. Dabei fiel ihm gerade jetzt so vieles ein, was er Johan unbedingt sagen wollte. Über seine weichen Lippen, die sich gierig ihren Weg über das für sie noch unentdeckte Gebiet suchten, und über seine Hände, die seinem küssenden Mund etwas weiter voraus zu sein schienen.

Aber noch ehe Tim den winzigsten Laut herausbrachte, war Johans Kopf wieder auf seiner Augenhöhe und schloss Tims Mund mit seinem. Jedes Wort war unnötig.
 

Das Gießen der Blumen hätte er sich sparen können.

Marek stand auf dem Balkon. Er hatte die Unterarme auf dem Geländer abgestützt und schaute grübelnd den langen Regenfäden zu, die dicht wie ein Vorhang vom nachtschwarzen Himmel fielen. Die Luft war frisch und klar, keine Spur mehr von der drückenden Hitze, die die letzten Tage geherrscht hatte. Das hätten sie schon früher gebrauchen können.

Marek sah auf die Uhr an seinem Handgelenk hinab und seufzte kaum hörbar. Es war kurz vor zwei und Tim hatte sich, wie es aussah, ausgerechnet heute dazu entschlossen, das gerade erst begonnene Zusammenwohnen, das sich schon fast wie ein echtes Zusammenleben angefühlt hatte, wieder zu beenden. Ohne Ankündigung, ohne sich für die kommenden paar Tage zu verabschieden wie sonst. Anscheinend hatte er sich nach Mareks Nachricht, dass er ihn am Park wohl übersehen hatte, in Luft aufgelöst.

Erschöpft lehnte Marek seine Stirn auf seine Unterarme. Die Luft wehte den Regen als feinen Sprühnebel auf seine Arme, wo er bald schon einen feinen, kühlen Film bildete. Entfernter Donner erklang und am Horizont ließen ein paar Blitze die Wolken aufleuchten.
 

"Guten Morgen, lange nicht mehr gesehen, was?"

"Morgen." Tim vermied es, seine Mutter direkt anzuschauen, als er vor ihr am Küchentisch saß. Er hatte ganz vergessen gehabt, wie früh seine Mutter immer aufstand und ihn dann jedes Mal auch gnadenlos weckte, egal ob er wie letzte Nacht nur drei Stunden Schlaf bekommen hatte, oder acht. Sogar Sonntags stand sie schon um sechs Uhr auf. Wirklich jeden Sonntag. Und dann wurde Kuchen gebacken, dessen Geruch dann Tim schlussendlich auch aus dem Bett trieb.

"Ich fahre heute zu Oma", eröffnete sie ihm gerade, als er nach einem Brötchen griff.

"Soll ich mitkommen?" Neben seinem rechten Fuß lag friedlich schlafend die Töle. Der Köter lag so nahe, dass Tim jeden Atemzug an seinem Knöchel spürte. Warum nur mochte dieser Hund ihn so?

"Dein Vater kommt mit. Ich denke, das reicht."

Tim nickte. Insgeheim hatte er gehofft, dass seine Mutter seine Frage verneinte. Er hielt dem Hund eine Scheibe Wurst unter die Nase, der, ohne die Augen zu öffnen, gleich danach schnappte. Die dankbaren Blicke, die Tim zugeworfen bekam, waren fast herzerweichend.

"Eure saubere Wäsche steht im Keller auf dem Trockner", sagte seine Mutter abwesend. Ein dünnes Heft mit Kreuzworträtseln lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Der Kugelschreiber in ihrer Hand klickte im Sekundentakt, während sie nachdenklich mit dem Daumen auf den kleinen Knopf am oberen Ende des Stifts drückte, der die Mine ein- und ausfahren ließ. "Törichter Mensch mit acht Buchstaben?"

"Tim", antwortete Tim trocken.

Seine Mutter war im Begriff, Tims Vorschlag in die quadratischen Kästchen einzutragen, als sie irritiert aufsah. "Das sind drei Buchstaben."

"Die Beschreibung stimmt trotzdem", murmelte Tim verbittert.

"Hör auf, dich selbst zu bemitleiden", schlug ihm seine Mutter natürlich in diesem Moment vor, als wüsste sie, um was es ging und Tim hatte im ersten Augenblick eine trotzige Entgegnung auf den Lippen. Er verkniff es sich.

Tim stand auf. "Ich geh mit dem Hund raus."

Seine Mutter blinzelte verwundert. "Als ob ich da Nein sagen würde", entfuhr es ihr überrascht. "Aber trockne ihm bitte die Pfoten ab, wenn ihr nach Hause kommt. Der Boden ist frisch gewischt."
 

"Schau mich nicht so an, ich kann es auch kaum glauben", sagte Tim zu dem Hund, der brav neben ihm über den Bürgersteig trottete und mit großen runden Augen ergeben zu seinem Herrchen aufsah.

Sein Handy vor dem Regen schützend las Tim die Nachrichten, die seit gestern Abend eingegangen waren und die er bis jetzt erfolgreich ignoriert hatte.

Hab dich eben leider verpasst. Bis später. Von Marek.

Guten Morgen. Geht's dir gut? Auch von Marek.

Tims Lippen wurden zu einem schmalen Strich und sein Magen wand sich zu einem unlösbaren Knoten.

Habe die Schicht mit Simone getauscht. Nachtschicht. Werde mich sicher tierisch langweilen - außer du kommst vorbei. Von Johan.

Und so schnell löste sich der scheinbar unlösbare Knoten auf, dachte Tim schmunzelnd.
 

Als Tim nach der zehnten Runde durch den Park mit dem Hund, dem mittlerweile schon die Zunge bis zum Boden aus dem Hals hing, nach Hause kam, lag ein Zettel von seiner Mutter auf dem Küchentisch.

Marek war hier und hat die Wäsche abgeholt. Im Kühlschrank ist ein Stück Kuchen für dich. Denk an die Pfoten! Mama

Tim verdrehte die Augen.
 

"Das gibt sicher Ärger, wenn das jemand rausbekommt." Etwas unbehaglich war Tim schon zumute, als er neben Johan die stillen Flure des Altenheims entlang ging.

"Wenn du es niemandem erzählst, wird es auch niemand wissen." Johan zwinkerte Tim verschwörerisch zu. "Außerdem dürfen Angehörige zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikommen."

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Tim zu Johan auf. "Hast du dir das gerade ausgedacht?"

Johan lachte. "Nein, das stimmt wirklich." Er sperrte die Tür zum Stationszimmer auf und ließ Tim als erstes hinein. "Es könnte ja mal ein Notfall sein", erklärte er Tim weiter, der nach drei Schritten stehengeblieben war. "Aber jetzt mach's dir gemütlich. Wenn wir Glück haben, passiert die ganze Nacht nichts."

"Wer weiß", witzelte Tim. Interessiert sah er in dem kleinen Raum um. Es war halt ein Büro. Völlig unspektakulär. "So sieht das Aquarium also von innen aus."

"Aquarium?" Johan schüttelte amüsiert den Kopf. Er deutete auf eine kleine Tischgruppe, die an einer Wand stand und setzte sich dann Tim gegenüber, nachdem der Platz genommen hatte.

"Ist der Raum eigentlich schalldicht?" Tim grinste frech.

"Du kommst auf Ideen..." Johan verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete sich sein Gegenüber lächelnd. "Dein T-Shirt ist übrigens frisch gewaschen und getrocknet. Du kannst es dir gerne abholen kommen."

"Ach was, behalte es ruhig." Tim blätterte in einem Heft, das auf dem Tisch lag."Ich dachte, du hättest keine Waschmaschine." Gott, was stand da für ein Blödsinn in diesem Heftchen? Die 20 besten Abnehmtipps. Und so einen Unfug las Johan?

"Es gibt Waschsalons", erinnerte Johan Tim an diese nicht ganz so neumodische Errungenschaft.

"Wir haben eine Waschmaschine", murmelte Tim abwesend. Sie hatten tatsächlich eine. Eine brandneue sogar, die allerdings nur ein einziges Mal in Gebrauch war, um sie auszuprobieren. Seine Mutter machte die Wäsche für sie und Tim oder Marek holten sie dort ab.

"Wer ist wir? Du und dein Chef?" Johan amüsierte sich königlich über Tims schockierten Gesichtsausdruck, als er endlich von dem Heft aufsah. Er schnappte sich Tims Hand, ehe er noch eine weitere Seite von Simones Schicht-Lektüre umblättern konnte. "Du kannst trotzdem vorbeikommen und so tun, als würdest du es abholen."

Jetzt sah Tim auf.

Johan bemühte sich, ein relativ neutrales Gesicht zu machen, was ihm aber sichtlich misslang. Tim schlug sich die Hand gegen die Stirn. "Entschuldige, aber manchmal stehe ich echt auf dem Schlauch", lachte er.

"Kann ja vorkommen." Johan beugte sich über die Tischplatte hinweg zu Tim, der ihm entgegen kam. "So schnell lasse ich nicht locker, keine Sorge", fügte er hinzu und wartete auf den Kuss.

Ein Warnton unterbrach die Stille nach Johans letztem Satz. Er löste seine Lippen von denen seines Gegenübers und sah zu einer Anzeigetafel über dem Fenster, das zum Flur zeigte. Eine orange-leuchtende 12 flammte auf.

"Oh, das ist deine Oma", bemerkte Johan, während er aufstand. "Als ob sie wüsste, dass du da bist."

"Soll ich hier warten?"

Johan nickte. "Ich bin gleich wieder hier", sagte er und verließ das Zimmer.
 

"Hallo, Esther", begrüßte Johan die alte Dame, als er ihr Zimmer betrat.

Leises Schluchzen empfing ihn und Johan beschleunigte seine Schritte, bis er an Esthers Bett stand.

"Was ist denn?", fragte er besorgt und strich Esther die Haare aus der Stirn. Ihre Wangen waren tränenüberströmt.

Esther konnte nicht direkt antworten. Ein Schluchzen ließ ihre Stimme jedes Mal ersticken, sobald sie den Mund öffnete.

"Schon gut." Johan griff nach ihrer kühlen Hand, bis sie sich gefasst hatte. "Haben Sie Schmerzen?"

Esther schüttelte mit dem Kopf. "Lotte ist krank, sie muss zum Arzt", flüsterte sie schließlich erstickt.

Johan dachte einen Moment nach. Eine Lotte gab es hier nicht. Er besah sich Esthers Augen, die ihn bis auf die Tränen völlig klar anblickten.

Sie senkte die Blicke, schluchzte noch einmal auf und sagte dann mit bebender Stimme: "Ich-ich habe schlecht geträumt."

"Das kommt vor", erwiderte Johan gefasst. Ihm kam eine Idee. "Warten Sie, Esther, ich bin gleich wieder hier."
 

"Wer ist Lotte?"

Tim sah zu Johan, der ihn gerade im Stationszimmer abholte, um ihn zu seiner Oma zu begleiten.

"Die Mutter meiner Mutter. Meine richtige Oma, also." Tim wartete auf eine Erklärung. "Was ist mit ihr?"

"Esther hat nach ihr gefragt." Johan sperrte das Stationszimmer ab. "Sie sagte, Lotte wäre krank und müsste zum Arzt."

Tims Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. Er zuckte hilflos mit den Schultern und folgte Johan über den Flur zum Zimmer seiner Großmutter. "Ich kannte sie nicht. Sie ist wohl schon früh gestorben."

"Oh", stieß Johan leise aus. Seine Hand legte sich auf Tims Rücken. "Na ja, dann geh mal zu Esther und rede ein bisschen mit ihr, bis sie sich beruhigt hat. Ich warte im Aquarium. Wenn was sein sollte, klingelst du."
 

Tim schnürte es den Hals zu, als er seine Oma in ihrem Bett liegen sah. Sie hatte die Augen geschlossen und schniefte leise vor sich hin.

"Hallo, Oma." Tims Stimme klang gepresst, auch wenn er sich Mühe gab, sie möglichst locker klingen zu lassen. Langsam ging er auf ihr Bett zu. Als er direkt neben ihr stand und seine Hand auf ihren Arm legte, schlug Esther ihre Augen auf.

"Oh, Tim", begrüßte sie ihn erstaunt. "Arbeitest du jetzt hier?"

Tim konnte nicht anders als leise zu lachen. "Nein, Oma, ich bin nur zufällig gerade hier gewesen." Wie schon Johan zuvor, strich Tim Esther nun ein paar Haare aus ihrer bleichen Stirn. "Hast du schlecht geschlafen?"

"Ich denke ja", hauchte Esther so leise, dass Tim Mühe hatte, sie zu verstehen. "Tim?"

Der Angesprochene sah auf.

"Ich möchte nach Hause."

Tims Kehle war wie zugeschnürt. "Wie meinst du das? Mit nach Hause zu uns?"

Esther nickte langsam.

"Ich spreche mit Mama darüber, gut?" Er beugte sich zu seiner Oma herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Erneut quollen Tränen aus ihren Augen. Er sah zu ihrem Nachtschrank hinüber, wo ein Stofftaschentuch mit gehäkelter Borte lag. Er nahm das Tuch, das ihm wie ein Artefakt aus einer ewig vergangenen Zeit vorkam, und wischte damit Esthers nasse Wangen trocken.

"Weißt du was?", sagte Tim leise und lächelte Esther aufmunternd zu, die ihn gespannt ansah. "Ich bleibe hier, bis du wieder eingeschlafen bist und wenn ich das nächste Mal vorbei komme, zeigst du mir wie man Patience spielt. Einverstanden?"

Esthers Mund verzog sich zu einem strahlenden Lächeln. Sie nickte eifrig und drückte die Hand ihres Ur-Enkels so fest sie konnte. "Abgemacht", sagte sie mit leiser brüchiger Stimme.

Tim ließ die Hand seiner Oma kurz los, um sich einen Stuhl näher zu ihrem Bett zu ziehen. Er setzte sich hin und griff gleich wieder nach der Hand seiner Oma, die nun, nicht ohne Tim noch einmal zuzulächeln, ihre Augen schloss.

Auch nachdem Esther bereits vor einer knappen halben Stunde eingeschlafen war, blieb Tim weiter bei ihr sitzen und dachte nach. Ausnahmsweise mal nicht über Marek und Johan und sich selbst. Er dachte an Esther und an Lotte, die er nie kennengelernt hatte. Und er dachte an seine Mutter, die nach Lottes frühem Tod bei Esther aufwachsen war.
 

"Schläft sie wieder?"

"Ja." Tim gab Johan einen Kuss, der auf dem Bürostuhl saß und eine Liste vor sich auf dem Tisch liegen hatte, die er am Ausfüllen war.

"Hat sie das öfter?", hakte Tim besorgt nach.

Johan dachte kurz nach. "Selten, aber es kam schon vor." Er hob seine Hand und strich sachte über Tims Wange. "Du musst dir keine Sorgen machen. Das ist normal."

"Ich versuche es", versprach Tim.
 

"Marek?" Sein Name kam kaum zu ihm durch. Er registrierte die Stimme sehr wohl, schob sie aber schnell wieder beiseite, als wäre sie eine lästige Fliege, die summend um seinen Kopf kreiste. "Marek? Ist noch Schleierkraut da?" Er wurde sachte am Arm angestoßen. "Marek?"

Seufzend sah Marek auf. Seine Tante stand neben ihm und sah ihn fragend an.

"Bitte? Ich war gerade-"

"Habe ich gesehen." Seine Tante runzelte die Stirn. "Schleierkraut. Ich wollte wissen, wo es steht."

"Oh, na klar", Marek rieb sich seine Schläfen hinter denen es nach zwei fast schlaflosen Nächten dumpf pochte. Er hatte das Gefühl, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Von Konzentration war gar nicht zu reden. "Ich glaube, es steht noch welches bei den Rosen, bin mir aber nicht sicher..."

"Ich schau mal nach." Seine Tante hatte die Hände in die Hüften gestützt und blieb entgegen ihrer letzten Worte vor Marek stehen. "Mach dir mal einen Kaffee oder sonst was, du siehst aus als wärst du seit zwei Wochen wach."

"Fühlt sich auch so an", murmelte Marek mit belegter Stimme. Sein Blick fiel wieder auf Tims Glasherz neben der Kasse. Nein, auf sein Herz, das er Tim geschenkt hatte, der es dann hier auf der Theke liegen ließ, als wäre es irgendein Dekozeug.

Und das erste Mal kam Marek der Gedanke, dass der Jäger, von dem Tim gesprochen hatte, tatsächlich echt sein könnte und keine Erfindung von Tim war, um Marek aufzuziehen. Und dass das Treffen am Ostpark nicht mit ihm hätte stattfinden sollen, wie er gedachte hatte.

Er war so dumm gewesen, so furchtbar dumm...
 

Tim stand vor dem geöffneten Kleiderschrank und durchsuchte hastig jedes einzelne der sorgfältig gestapelten T-Shirts in den Fächern. Hier irgendwo zwischen Mareks und seinen T-Shirts musste das sein, das Johan ihm geliehen hatte. Und ausgerechnet Marek musste es dort eingeräumt haben. Wahrscheinlich ohne es überhaupt zu bemerken.

Seufzend hielt Tim in seiner Suche inne. Er setzte sich aufs Bett und sah zum Schrank hinüber, als könne der ihm gleich die Antwort darauf geben, wo das T-Shirt war.

Die drei schmalen Fächer waren bis oben hin voll mit T-Shirts in allen möglichen Farben. Ein System beim Einräumen gab es nicht wirklich. Die Kleider im Schrank aufzuteilen hatten sie einmal ganz kurz am Anfang ausprobiert und gleich wieder sein gelassen, nachdem Tim irgendwann immer öfter bei Marek geblieben war und es einfach unpraktisch war, jedes Mal eine Tasche mit seinem Kram erst zu Marek hinzuschleppen und zwei Tage später wieder mit nach Hause zu nehmen. Da hatten dann Tims Kleider eine Weile lang im mittleren Fach gelegen. Nach dem dritten Mal ein- und aussortieren hatte keiner mehr Lust gehabt, die Kleider aufzuteilen und so fanden Tims Sachen nach und nach ihren Weg in sämtliche Bereiche von Mareks Schrank, wo sie sich ganz selbstverständlich einfügten.

Tim ließ sich nach hinten auf das Bett fallen. Er schloss die Augen und ließ die bekannten Geräusche und Gerüche des Zimmers auf sich wirken.
 

Vor dem Fenster rauschte schwach der Straßenverkehr wie ein nie abreißender Strom vor sich hin. Tim hatte sich erst an das stetige Rauschen gewöhnen müssen, als er die erste Zeit bei Marek übernachtet hatte, was ihn einige schlaflose Nächte gekostet hatte.

Was für ein Unterschied zum kaum vorhandenen Verkehrslärm zuhause bei seinen Eltern, der nur Sonntags zunahm, wenn alle zur Kirche wollten. Ansonsten war es dort meistens so still und Vorstadtmäßig langweilig, dass Mareks Auftauchen mit dem Leichenwagen für jede Menge Aufregung in der Nachbarschaft gesorgt hatte. Außer bei seinen Eltern. Der erste Anstandsbesuch von Marek verlief völlig glatt, was eigentlich so gut wie nur an Marek gelegen hatte, der eine angeborene Begabung dafür zu haben schien, Eltern für sich einzunehmen, weil er sich keine Sekunde verstellte.

Tim rollte zur Seite. Mareks leerer Platz hatte was deprimierendes. Er meinte sogar, dass das Kissen an der Stelle, auf der Mareks Kopf nachts lag, noch leicht eingedrückt war. Marek schlief auf der Seite. Immer. Und immer mit dem Gesicht zur Bettmitte, egal, auf welcher Bettseite er lag. Es war, als wolle er sich sicher gehen, dass Tim noch da war.

Wie er jetzt wohl schlief, wenn Tim tatsächlich nicht da war?

Tim streckte einen Arm aus und schob seine Hand unter Mareks Kopfkissen. Noch vor einer Stunde hätte er nicht gedacht, dass er hier liegen und über seine und Mareks Beziehung nachdenken würde, als wäre sie bereits vorbei. Es fühlte sich nicht so an. Er war schließlich hier und Marek war auch hier, wenn auch nur als Erinnerung an seine letzte Nacht, in der sein Kopf auf seinem Kissen gelegen hatte. Er roch ihn sogar. Old Spice - was Tim früher lustig gefunden hatte, weil es nach alten Männern klang, aber seit er Marek kannte, verband er diesen Geruch nur noch mit ihm. Er war mittlerweile so vertraut für Tim, dass er ihn in jedem anderen Zusammenhang einfach nur irritierte. Er konnte sich Johan nicht mit diesem Aftershave vorstellen. Keine Sekunde lang.

Tims Hand unter Mareks Kissen öffnete sich. Er fühlte das Gewicht, das das Kissen auf seine Hand niederdrückte und er roch den würzigen Duft von Old Spice, als ihm schlanke Finger sachte über die Wange strichen und die fast getrocknete Tränenspur nachzeichneten.
 

Marek wagte nicht, irgendetwas zu sagen.

Als er nach Hause gekommen war und Tim schlafend im Bett liegen sah, hatte er sich so sehr gefreut, dass er sich dazu hatte zwingen müssen, ihn nicht zu wecken, obwohl er genau das am liebsten getan hätte.

Tims Erscheinen war so plötzlich und unwirklich, erst recht, als Marek die geöffneten Schranktüren bemerkte, dass er sich nicht traute, diesen Moment mit einem unvorsichtigen Hallo zu zerstören. Er legte sich einfach zu ihm und betrachtete ihn stumm. Tims Tränen brachen ihm fast das Herz. Er hatte so viele Fragen, die in der Sekunde unwichtig wurden, als er die nassglänzenden Spuren auf den Wangen des Schlafenden gesehen hatte.

Das erste Mal, seit ihm der Gedanke gekommen war, dass Tim nicht zuhause bei seinen Eltern schlief, weil er eine Auszeit vom Blumenladen brauchte, lag Marek wieder in seinem Bett. Und Tim war auch hier. Mehr wollte er nicht. Ob es das war, was Tim wollte, wusste er leider nicht.
 

Als Tim die Augen aufschlug, war das erste, was er sah, ein verschwommener heller Schriftzug auf dunklem Stoff. Die Finger, deren Berührung er im Wegdämmern auf seiner Wange gespürt hatte, lagen nun auf seinem Rücken, wo sie sachte über die Erhebungen und Senkungen seiner Wirbelsäule strichen. Er konnte Mareks sich hebenden und senkenden Brustkorb an seiner Stirn fühlen, die er dicht gegen die Brust seines Nebenmannes gedrückt hatte. Kurz bildete sich Tim ein, Mareks Puls wahrzunehmen.

Tim rückte ein kleines Stück weg, um Marek ins Gesicht sehen zu können. Er schlief nicht, wie Tim zuerst vermutet hatte. Seine Blicke trafen Tims Augen in dem Moment, als der aufsah, als hätte er nur auf diesen Zeitpunkt gewartet.

Schweigend hielt dieser Augenblick an, bis Marek ihn schließlich mit leiser Stimme unterbrach.

"Er ist echt, oder? Der Jäger."

Die sechs Worte entzogen Tim sämtliche Kraft, die er zu haben geglaubt hatte, als er mit dem Vorsatz hergekommen war, nach dem T-Shirt zu suchen und dann wieder zu verschwinden, bis ihm eine Antwort auf so eine Frage leichter fallen würde. Stumm presste Tim die Lippen zusammen. Mareks Blicke lösten sich von seinen und glitten zu einem Punkt hinter Tim. Jäger, Wolf, Rotkäppchen. Er wusste doch selbst nicht, welche Rollen sie alle gerade spielten.

Marek reichte Tims Schweigen als Antwort. Es beinhaltete alles, was er sowieso nicht hören wollte. War er wirklich der Wolf? Der böse Wolf? Und wenn, warum fühlte sich das Rotkäppchen so wohl bei ihm? Tat es das überhaupt? Tim hatte seine Stirn wieder gegen Mareks Brust gelehnt. Seine freie Hand lag auf Mareks Hüfte.

"Wie heißt er?"
 

Es war nur die Hälfte der Wörter wie im letzten Satz, aber ihr Gewicht fiel noch schwerer auf Tim, als Mareks Frage nach der Echtheit des Jägers. Er zwang ihn mit der Frage dazu, zu antworten und Marek hier auf der Stelle alle Illusionen zu nehmen, oder zu schweigen und mit einem noch schlechteren Gewissen wegzugehen und alles vielleicht nur ein bisschen länger hinauszuzögern.

"Warum willst du das wissen?" Tims Stimme klang befremdlich in seinen eigenen Ohren, als er sich darum bemühte, sie fest und sicher klingen zu lassen. "Was hast du davon?"

Dann hätte er einen Namen. Dann würde aus der gesichtslosen Märchengestalt, vor der sich Marek fürchtete, ein Mensch. Der Jäger war Rotkäppchens Retter und er wusste, was der Jäger in der Geschichte mit dem Wolf machte. Aber das war nur ein Märchen. Er wollte jetzt wissen, mit was er es in der Realität zu tun hatte, selbst wenn es nur ein Name war.

"Nur so", antwortete Marek leise. Seine Hand auf Tims Rücken, die kurz innegehalten hatte, setzte ihr Tun fort. Sein Herzschlag pochte unerträglich laut in seinen Ohren. Es fühlte sich an, wie der vibrierende Hall einer riesigen Glocke, die geläutet wurde. Das Blut schoss durch sein zitterndes, pulsierendes Adergeflecht und sein Hals wurde langsam eng. Der eigentlich glatte Stoff wurde unter Mareks tauben Fingerspitzen zu rauem Sandpapier, das sich in seine Haut und seine Nerven fraß.

Tim verlagerte seine Position etwas. Mareks Hand auf seinem Rücken hatte ihren Griff nach und nach unangenehm verstärkt.

"Johan."
 

Mareks Hand hielt abrupt auf Tims unterem Rippenbogen inne. Jetzt kannte er den Namen also. Besser machte es das aber auch nicht. Im Gegenteil. Er wusste den Namen, mehr aber nicht. Der Jäger war immer noch nur eine gesichtslose Gestalt, vor der sich Marek noch genauso fürchtete. Was für ein Mensch war er? Und warum fiel es Tim so schwer, sich zu entscheiden? Und, war es wegen ihm oder war es wegen Johan, dass er sich nicht entscheiden konnte? Hatte er sich schon entschieden und Marek war der letzte, der es erfuhr?

Mareks Hand rutschte von Tim herunter, als dieser sich aufsetzte.

"Ich geh dann jetzt", sagte Tim knapp. Er sah auf Marek hinab, der auf seinem Platz liegen blieb, wie ein Gummitier, aus dem man die Luft herausgelassen hatte.

Marek drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. "Wann kommst du wieder?"

Was für eine dämliche Frage, dachte Marek im gleichen Moment. Es gab vermutlich niemanden, der in ihrer Situation war und auf so eine Frage eine ehrliche Antwort geben konnte oder wollte. Aber irgendwie hatte er trotzdem noch die irrige Hoffnung, dass sie Morgen oder Übermorgen oder In drei Tagen lauten könnte.

"Weiß ich noch nicht", sagte Tim stattdessen und in Mareks rumorendem Bauch mischten sich Enttäuschung und Bestätigung, weil er eigentlich mit genau so einer Antwort gerechnet hatte, wenn er ehrlich war.

"Bist du bei deinen Eltern?"

Die Matratze gab nach, als Tim aufstand.

Marek lag wie gelähmt da, während er Tim nachsah, der die Türen des Kleiderschranks schloss und ohne Marek auf dem Bett noch einen Blick zuzuwerfen das Schlafzimmer verließ.

Wie konnte es für Tim nur so leicht sein, zuerst hier aufzutauchen, um seine Sachen zu packen, und dann wieder zu verschwinden, ohne sagen zu können, warum er das tat und weshalb er Marek so einfach in der Schwebe hielt?

Mareks Augen verfinsterten sich.

Okay, er hatte jetzt die Möglichkeit, hier zu bleiben und darauf zu warten, das irgendwann mal irgendetwas passierte. Und er hatte die Möglichkeit, selbst etwas zu tun, um zumindest den Faktor des ungewissen Zeitpunkts zu ändern. Die Wahl fiel Marek nicht schwer. Er erhob sich vom Bett und öffnete den Kleiderschrank, den Tim eben erst wieder geschlossen hatte.



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