Puppen
Er stand hinter der Glasscheibe und blickte nach draußen, in den großen, vom Schnee bedeckten, Garten. Die Landschaft wirkte traumhaft schön, unberührt und einzigartig.
Er nutzte die fünf Minuten Pause, die sein Vater ihm gegeben hatte, um ein wenig die Natur zu betrachten, den Schneeflocken, die noch immer leicht vom Himmel fielen, zuzuschauen und sich so vom Training zu erholen.
Vielleicht wäre er sogar nach draußen gegangen, wenn er eins von den Kindern gewesen wäre, das gerne an der frischen Luft spielten.
Aber dafür hatte er keine Zeit – nicht mehr.
Bereits seit vier Monaten tat er nichts anderes, als zu trainieren. Er war noch nicht einmal in der Ninjaakademie, musste aber jetzt schon härter an sich arbeiten, als mancher Erwachsener.
Deshalb fühlte er sich allerdings nicht unwohl oder vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Er wollte dieses Training, denn nur dadurch konnte er stärker werden und sich beweisen.
Was ihn aber störte war, aus welchem Grund er trainieren sollte. Ihm war schon jetzt seine Zukunft auferlegt worden und diese verabscheute er nur.
Von Anfang an hatte man ihm die Pflicht auferlegt, nur für die Hauptfamilie da zu sein. Für sie zu trainieren, zu kämpfen und, falls es nötig werden sollte, auch zu sterben. Er hasste diesen Gedanken.
Sein Blick huschte über die schneebedeckten Sträucher und kahlen Äste im Garten und plötzlich nahm er eine Bewegung wahr.
Ein Mädchen mit kurzen, blauschwarzen Haaren betrat von der anderen Seite des Hauses die Außenfläche und drehte sich ein paar Mal glücklich. Sie bückte sich, steckte die Hände in den Schnee und schmiss diesen dann mit einem strahlenden Lächeln nach oben.
So unbeschwert durfte nicht jeder leben.
Er beobachtete sie eine Weile abschätzig, was sie anscheinend bemerkte, denn plötzlich sah sie zu ihm hinüber.
Sie winkte ihm, er drehte sich weg.
Er mochte dieses Mädchen nicht. Falsch, er hasste sie.
Sie war aus dem Hauptzweig der Familie, er nicht. Er war und würde ihr für immer untergeben sein und das wollte er nicht. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als selbst entscheiden zu dürfen, was er später aus seinem Leben machen würde. Doch stattdessen musste er mit diese Rollenverteilung klarkommen, die ihm nicht gefiel.
Wieso hatten sie sein Leben schon vor seiner Geburt geplant und ihn in Dinge eingespannt, deren Teil er gar nicht sein wollte?
Dieses Mädchen bildete sich sicher auf sich selbst und ihren Stand etwas ein. Sie war die Erstgeborene, die Tochter des Clanoberhauptes. Sie hatte eine große Zukunft vor sich und er? Er würde nichts weiter tun, als die Puppe dieser Familie zu spielen.
Denn um mehr ging es nicht.
Für ihn war alles nur ein dummes Schauspiel, ein Stück, zu welchem seine Mutter ihn gezerrt hatte, bis er alt genug geworden war, die Ausbildung zum Ninja beginnen zu dürfen.
Dieses Kindertheater war noch nie seine bevorzugte Wahl gewesen, diese Puppen, die an Fäden hängend von einer Person gesteuert wurden und willig das taten, was man ihnen vorgab zu tun.
Sie widersprachen nicht, besaßen keine eigene Stimme und ließen sich ohne wenn und aber Befehle erteilen.
Und so fühlte sich Neji auch.
Er war jung – viel zu jung – aber ihm war schon sehr oft die Wahrheit hinter dieser Familie vorgezeigt worden.
Und für dieses Puppenspiel stand auch Hinata.
Das Mädchen, welches irgendwann die Fäden, die diese Familie kontrollierten, in den Händen halten würde.
Und dafür hasste Neji sie.
Er ertrug ihren Anblick nicht. Dieses süße Lächeln, die leicht gerötete Wangen und ihre Augen, die so anders wirkten, als die des restlichen Hyuugaclans, obwohl sie die gleiche Farbe und Form besaßen. Das selbe Bluterbe.
»Da bist du ja, Neji«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter dem Jungen. Er drehte sich um und blickte in das freundlich lächelnde Gesicht seines Vaters. Dieser lehnte sich ein Stück vor, um auf eine ähnliche Größe wie sein Sohn zu kommen, wobei ihm seine langen, braunen Haare über die Schulter fielen.
Neji wusste, dass sie wohl gleich weiter machen würden, schließlich bedeutete das Auftauchen seines Vaters nichts anderes, als trainieren, doch wollte er im Moment nicht mehr zurück in diesen furchtbaren Raum.
»Hast du deiner Cousine beim Spielen zugesehen? Lern sie schon ein mal ein bisschen kennen, schließlich wirst du irgendwann auf sie aufpassen.«
Neji starrte zur Seite und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sein Vater würde ihm sowieso nicht zuhören, geschweige denn zustimmen.
Er war die perfekte Puppe. Hing an den Fäden seines älteren Bruders (es waren nur ein paar Minuten, die dies entschieden hatten), so wie sich das für die Zweigfamilie gehörte und ließ sich von Hiashi ohne jeglichen Widerspruch lenken und führen.
»Oh je«, flüsterte sein Vater plötzlich und richtete sich wieder auf.
Neji schaute ihn noch eine Sekunde an, bevor er schließlich seinem Blick folgte.
Hinata stand da, Hände zu Fäuste geballt und gen Boden starrend. Vor ihr befand sich ihr Vater, welcher alles andere als glücklich wirkte. Er schien sie fast anzuschreien und Neji hatte das dumpfe Gefühl, dass sie gleich weinen würde.
Geschah ihr Recht.
»Das arme Ding«, murmelte Hizashi plötzlich und Neji drehte augenblicklich seinen Kopf zu ihm.
»Was?«, fragte er ungläubig und spürte seinen Hass diesem Mädchen gegenüber erneut hoch kommen.
»Sie hat es wohl schwerer, als wir alle zusammen. Du musst gut auf sie aufpassen, sobald du alt genug bist. Sie wird noch viel in ihrem Leben lernen müssen, bis Hiashi überhaupt einmal daran denken wird, sie als Nachfolgerin zu wählen. Und während all ihren Prüfungen musst du ihr zur Seite stehen.«
Neji warf erneut einen Blick auf die Kulisse draußen, doch Hinata stand nicht mehr dort. Sie wurde von ihrem Vater ins Haus gezogen und tatsächlich schien sie zu weinen.
»Vater«, begann Neji, ohne seine Augen von Hinata und diesem Mann zu lösen, »sie ist doch die Erbin. Also ...« Das auszusprechen traute sich Neji allerdings nicht und biss sich wütend – er war eben doch noch ein Kind und feige – auf die Unterlippe.
»Warum war ihr Vater dann gerade so streng mit ihr? Das willst du doch wissen, oder?«
Neji schwieg.
»Weil sie seine Tochter ist. Er zeigt bei ihr mehr Strenge als bei uns allen zusammen. Wie schon gesagt, sie muss sich als Nachfolgerin noch beweisen.«
Sein Vater stockte und reichte Neji die Hand. Die Erklärung reichte ihm nicht, aber sein Vater wirkte nicht so, als würde er noch ausführlicher darüber sprechen wollen.
»Wir sollten weiter trainieren.«
Widerwillig nahm er die ihm angebotene Hand und mit einem letzten Blick auf den, nun wieder leeren, Garten, liefen sie Richtung Trainingshalle.
Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Neji plötzlich das Gefühl, dass Hinata auch nur eine Puppe in diesem ganzen Stück war, die willenlos an Fäden hing.
Vielleicht – und diese Frage hatte er sich, wenn er absolut ehrlich war, schon öfter gestellt – sollte er nicht sie hassen, auch, wenn das einfacher war, sondern nur den Aufbau dieser Familie. Den Puppenspieler hinter den Kulissen.
Hiashi Hyuuga.