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Iramon - Die Katze des Königs

Eine Pokemon Geschichte von Kanto
von

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Kapitel 5

>>>Neru<<<
 

"Wo bin ich?", fragte eine zitternde Stimme. Nerus Lebensgeister erwachten mit einem Schlag. Die ganze Nacht hatte Neru neben Evolis Bett gesessen und über sie gewacht. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, viel Zeit, um das Geschehene zu überdenken und sich die Frage zu stellen, wie es zu dieser Entwicklung hatte kommen können. Zweifellos hatte er einen großen Teil der Schuld auf sich zu nehmen, war er es nicht gewesen, der Nerina den Vorwurf, sein Evoli könne sich nicht entwickeln, weil Seedraking zu stark sei, an den Kopf geworfen hatte? War er damit nicht die Ursache dafür gewesen, dass sie den Plan entworfen hatten? Andererseits hatte er nur zu Evolis Bestem handeln wollen, hatte ihr Selbstvertrauen geben wollen und er wollte ihr die Angst vor dem Wasser nehmen. Doch so, wie die Dinge jetzt standen, war sein Plan nach hinten losgegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er Evoli jeh wieder ins Wasser bringen sollte, ob er das nun wollte oder nicht. Die ganze Nacht hatte er, obwohl er nach dem Rennen schon todmüde gewesen war, damit verbracht, sich auszumalen, was Evoli wohl sagen könnte, wie sie auf die Situation reagieren könnte. Ein Vorwurf ihm gegenüber wäre nur fair gewesen. Doch Evoli hatte keine Anstalten gemacht, ihm auch nur ein Wort gegenüber auszusprechen. Sie hatte einfach geschlafen. Geschlafen und sich von der üblen Attacke von Texomon erholt. Neru war immernoch geschockt, was für Attacken die beiden aufeinander abschießen konnten. Natürlich hatte er gewusst, dass Seedraking eine starke Form war, doch hatte er mit einer solchen Power nicht gerechnet. Evoli war den Urgewalten, die Texomon entfesselt hatte, wie ein Schilfbötchen in der Brandung ausgeliefert gewesen. Warum hatte sie sich überhaupt auf einen solchen Kampf eingelassen? Fragen über Fragen - und leider keiner da, der antworten konnte. So ging es Neru die ganze Nacht, während er den Puls von Evoli, über eine Maschine hörbar gemacht, gleichmäßig piepsen hörte. Nach dem Angriff hatte Neru im ersten Augenblick geglaubt, Evoli sei tot, einen solchen Angriff konnte ein Körper dieser Größe doch unmöglich überstehen. Doch Evoli hatte nur eine Prellung an der Brust und ihr Bewusstsein eingebüßt dafür, dass sie sich mit einem solchen Seeungeheuer angelegt hatte, zu dem der kleine und liebe Texomon werden konnte. "Bin ich im Himmel?", fragte Evolis piepsige Stimme und Neru erwachte aus seinen Gedanken. "Nein, aber viel hat nicht mehr gefehlt", erwiderte er kühl, Evolis Verletzungen dabei weit übertreibend, "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?" Evoli wandte ihm den Kopf zu und ihre blauen Augen fokussierten sich langsam auf Nerus Gesicht. "Ich bin nicht schwach. Das wollte ich...", lautete ihre zitternde Antwort, dann war sie auch schon mitten im Satz wieder eingeschlafen. Neru fragte sie nicht weiter aus, als sie zum zweiten Mal erwachte. Er wollte mit einem klärenden Gespräch warten, bis sie wieder komplett gesund und bei Verstand war und nicht unter dem Einfluss von diversen Schlaf- und Schmerzmitteln. Ohne es zu wollen nickte er neben Evolis Bett ein und als er am Morgen erwachte, lag er auf demselben Bett wie sie, während sie sich eng an ihn gekuschelt hatte. Verwirrt sah Neru sich um und blickte in das Gesicht eines Arztes. "Wir haben dich zu ihr gelegt, nachdem du eingeschlafen bist. Evoli ist wieder voll auf dem Damm und ihr könnt gehen, wann immer ihr wollt", erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln, dann wandte er sich zum Gehen. Neru sah wieder auf seine Begleiterin, auf sein Iramon hinunter, doch diesmal erwiderten die blauen Augen seinen Blick und der übliche intelligente, leicht schelmische Blick sah ihn an. "Ich habe verloren", stellte Evoli fest. "Ja, du hast verloren", seufzte Neru. Er war mit den Nerven am Ende. Nicht nur, dass er und Nerina es nicht fertig gebracht hatten, ihre beiden Iramon zurückzuhalten und sie davon abbringen konnten, diesen sinnlosen Kampf zu kämpfen. Vater hatte auch noch alles mit angesehen und war sicherlich schrecklich enttäuscht. "Warum hat das sein müssen?", fragte er hilflos und wider Willen standen ihm Tränen in den Augen, "Warum hast du diesen sinnlosen Kampf ausgefochten?" "Moment!", fuhr Evoli auf und ihr Fell sträubte sich vor Ärger, "Warum sollte das bitteschön sinnlos gewesen sein?" Neru kratzte sich am Kopf. "Naja", erwiderte er schulterzuckend. "Der Kampf war überhaupt nicht sinnlos! Hast du nicht gesehen, wie lange ich gegen ihn durchgehalten habe? Wie ich seinen Attacken ausweichen konnte?" "Wie er dich ins Pokemoncenter gebracht hat!", erwiderte Neru nicht minder aufgebracht, "Der Typ hätte dich fast erledigt!" "Red keinen Quatsch", fuhr ihm Evoli über den Mund, "Das Töten eines Iramon oder Pokemon ist eine sehr schwere Sache. Man stirbt von solchen Lappalien nicht." Neru öffnete den Mund, um etwas zu sagen - und schloss ihn wieder. Er öffnete ihn nochmal und wusste doch immernoch nicht, was er sagen sollte. "Ich wollte beweisen, dass ich auch stark bin!", erklärte Evoli mit hocherhobenem Kopf, "Und ich war nicht feige!" "Ja, aber dumm!" Neru konnte sich nicht mehr beherrschen und sprang auf. Er war zornig, zornig darüber, dass Evoli so wenig Verstand besaß. Evoli blieb ruhig sitzen und sah ihn mit ebenso ruhigen aber aufmerksamen Augen an. "Man muss einsehen, wenn man verloren hat", wechselte er das Thema, "Und es war schon von Anfang an klar, wer den Kampf verlieren würde, das weißt du! Es tut mir Leid, das klingt vielleicht jetzt hart. Ich glaube an dich. Aber wir wissen beide, dass Texomon viel stärker ist und, dass auch seine Wasserform ein wahres Ungeheuer sein kann. Warum musstest du dich mit ihm anlegen?" Evolis Ohren verloren an Spannkraft und fielen dann ganz langsam in sich zusammen. "Texomon hat mich herausgefordert!", erwiderte sie fest, "Da kann ich nicht anders, als darauf zu reagieren. Und ich hab bewiesen, dass ich kein Feigling bin." "Ja, das hast du", musste Neru zugeben, "Aber warum hat Texomon dich denn herausgefordert?" Evoli begann, leicht vor und zurück zu schaukeln. "Naja", erwiderte sie stockend. "Vielleicht hatte er ja recht", schoss Neru weiter, "Vielleicht ist dir deine stärkere Form wirklich zu Kopf gestiegen." Evolis Ohren hingen endgültig herunter. "Ich hab ihn provoziert", gab sie zu. "Und er hat dir dafür eine Lektion erteilt", erwiderte Neru fest. Sein Ärger war verraucht. "Ich weiß, dass ich verloren hab", erwiderte sie zickig, "Aber auch ich werde noch stärker und dann kann er was erleben." Beleidigt zog sie ihren Schwanz um sich herum und versteckte ihren Kopf unter dem plüschigen Fell. Nach einer Weile nahm Neru sie in den Arm und ging mit ihr hinaus. Evoli ließ ihn gewähren ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, ja sie schmiegte sich sogar an ihn. Doch hob sie ihren Schwanz keinen Millimeter und sah ihn somit auch nicht an.

Als Neru das Pokemoncenter verließ, stand draußen schon sein Vater, der auf ihn zu warten schien. Neru atmete tief durch. Mit einem Schlag wurde er sich bewusst, was für eine jämmerliche Figur er vor seinem Vater abgeben musste. Yamato und Eich hatten Nerina und ihn losgeschickt, um mit ihren entwickelten Iramon Gringo zu besiegen und nun kehrten sie nach Hause zurück und Evoli beherrschte gerade eine ihrer vielen Evolutionen und selbst mit der schien sie nicht zu wissen, wie sie umzugehen hatte. Neru hatte als Trainer auf ganzer Linie versagt, das wurde ihm nun mit einem Schlag klar. Er hatte viel über den Ton seines Vaters von gestern nachgedacht. Es war erst Yamatos Stimme gewesen, die ihn wieder aus dem Trauma gerettet hatte und er hatte in einer solchen Schärfe gesprochen, dass Neru nicht wusste, wie er ihm nun unter die Augen treten sollte. Evoli hob den Schwanz einen winzigen Spalt weit und ließ ihn dann erschrocken fallen. "Yamato!", zischte sie und mit einem Satz war sie von Nerus Armen gesprungen und mit einem ziemlich bedrückten Neru im Schlepptau ging sie ehrfürchtig zu Nerus Vater hinüber. Yamato grüßte Evoli fröhlich und Neru wunderte sich noch für eine Sekunde, woher sie ihren Vater wohl kannte. "Evoli!" Yamato sah sie für ein paar Sekunden mit Bedacht an. "Gut siehst du aus", sagte er dann und Evoli reckte sich stolz zu voller Größe. "Hallo Vater", sagte Neru ziemlich kleinlaut. "Hallo Neru", begrüßte sein Vater ihn mit freundlicher Stimme. "Gutes Rennen", sagte er dann anerkennend und Neru hob den immernoch beschämt gesenkten Blick. "Du hast deine Sache wirklich gut gemacht. Ich hab das ganze Rennen im Fernsehen gesehen." Neru starrte ihn an und sagte nichts, während Evoli noch ein paar Zentimeter zu wachsen schien. Ein lockeres Gespräch über das Rennen entspann sich zwischen den dreien, während sich in Richtung nach Hause liefen. Neru wunderte sich. War sein Vater gestern nicht noch so sauer auf ihn gewesen? Hätte er nicht furchtbar enttäuscht von ihm und Evoli sein sollen? Doch nun plauderte er über das Rennen, als wäre es eine wirklich tolle Sache und, als ob er wirklich stolz darauf wäre, dass er mit Evoli gewonnen hatte. "Ich will noch viel stärker werden", erklärte Evoli stolz, doch die von ihr offenbar gewünschte Antwort blieb aus. Stattdessen zog Yamato seine Stirn in Falten. "Inwiefern?", fragte er zurück. Seine Stimme war immernoch ruhig, dennoch konnte man sich den Eindruck nicht verkneifen, dass noch mehr dahinter steckte. "Ich hab viel trainiert und irgendwann bin ich stärker als Texomon", erklärte Evoli mit stolz geschwellter Brust weiter. "Und was hast du dann davon?", fragte Yamato weiter und brachte Neru, der etwas hatte einwerfen wollen, mit einem Blick zum Schweigen. "Dann kann mich niemand mehr rumschubsen. Du weißt, wie das früher gewesen ist", fuhr Evoli ein wenig gekränkt fort. Yamato nickte. "aber ich erinnere mich auch, was ich dir damals schon einmal gesagt habe." Evoli legte den Kopf schief. "Dass ich stärker werden würde?", fragte sie. "Ich sagte damals, dass du auf deine Weise stärker werden würdest wie die anderen. Aber Kraft ist nicht die Stärke die ich gemeint habe." Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Die Worte seines Vaters gaben nicht nur Evoli, die sich ein wenig zurückfallen ließ, zu denken. Sondern auch Neru, der jetzt neben ihr lief. 'Was für eine Stärke könnte er denn meinen?', fragte sie Neru in Gedanken, ihren vorherigen Streit vergessend. "Man kann auch mit dem Kopf stark sein", flüsterte Neru ihr zu. "Oder schnell", erwiderte Evoli und sie warfen sich einen schnellen Blick zu, in dem viel mehr Wärme lag als die ganze Zeit. "Das sind genau die Sachen, die ich hören wollte", erwiderte Yamato feierlich, "Ich bedaure, dir das sagen zu müssen", erklärte Yamato mit ernstem Ton, "Du wirst nie so stark werden können wie Texomon, es sei denn, du legst ihn schlafen und verhinderst, dass auch er stärker wird. Eine solche Entwicklung liegt überhaupt nicht in euren Genen." "Aber jedes Pokemon kann stark werden", protestierte Neru. "Ja, kann es, aber glaubst du wirklich, dass ein Rattfratz so stark werden kann wie ein Despotar?" "Naja..." Neru zuckte die Achseln. "Also. Evoli hat andere Stärken, so, wie auch ein Rattfratz Stärken hat. Rattfratz kann seine Talente so weit ausbauen, dass er ein Despotar besiegen kann, doch wird das niemals an seiner tatsächlichen Muskelkraft liegen." "Sondern an Taktik", erwiderte Neru hoffnungsvoll. "Oder Agilität!", erklärte Evoli. "Eben an der Nutzung von seinen Talenten. Und jetzt will ich nichts mehr von dem Unfug hören, von wegen so stark werden zu wollen wie Texomon. Sieh ein, wo dein Platz ist." Damit schloss Yamato das Gespräch und schweigend und grübelnd gingen sie nach Hause.

"Weißt du was, Evoli?", sagte Neru am nächsten Morgen, "Ich glaube, mein Vater ist wirklich stolz darauf, dass wir dieses Rennen gewonnen haben." Evoli legte wieder mal auf ihre ganz spezielle Weise den Kopf schief, während sie das nagelneue Geschirr umrundete und es von allen Seiten in Augenschein nahm. "Auf jeden Fall ist es von besserer Qualität als das, was wir geliehen haben", stellte sie fest, "Das ist sehr freundlich von Yamato." Neru zuckte die Achseln. "Ja, das ist es", erwiderte er und streckte sich im Sand aus. Sie lagen draußen in der kleinen Bucht vor ihrem Haus. Hohe Felsen schlossen die kleine Bucht von den Seiten ein, doch darin befand sich ein wunderschöner, weißer Sandstrand mit Kokospalmen, zwischen denen Neru schon häufig Hängematten aufgespannt hatte. Doch noch vor gar nicht langer Zeit war dieser Ort Schauplatz eines schrecklichen Kampfes gewesen. Als Neru die Augen schloss, sah er wieder die beiden kämpfenden Meerespokemon vor sich. Kaum zu glauben, dass diese beiden Freunde gewesen sein sollten. "Wollen wir ein paar Schritte gehen?", fragte Neru und versuchte angestrengt, an dem Surfbrett vorbeizusehen, das ihm Vater geschenkt hatte. Auf der Unterseite gab es, wie Neru gleich gesehen hatte, mehrere Schrauben, an denen man, laut Nerus Vater, Rollen befestigen und das Surfbrett so in ein Skateboard verwandeln konnte. Doch das letzte Mal, das Neru auf einem solchen Brett gestanden hatte, war noch keine 24 Stunden her und die Schmerzen, die er im ganzen Körper verspürt hatte, als das Rennen endlich vorbei gewesen war, hatten, wenn auch nicht direkt Spuren, so zumindest das Gefühl hinterlassen, so bald nicht mehr auf ein Surfbrett steigen zu wollen. Evoli schloss ihre Untersuchung der Surfausrüstung ab und ging mit ihm hinunter zum Wasser. Stumm schaute Neru auf das Meer hinaus. Die Wellen waren seicht und der Wind nicht besonders stark. Die Sonne schien fröhlich von einem blauen Himmel herunter, alles in allem also ein wunderschöner Tag. "Warum hast du den Kampf eigentlich wirklich ausgefochten?", fragte Neru mit einem Seufzen, während er den Blick nicht von der Weite des Meeres abwenden konnte. Auch Evoli seufzte, sie hatten diese Debatte schon ein paar Mal begonnen, doch diesmal hatte sich Neru in den Kopf gesetzt, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Auch Evoli hatte dieselben Antworten inzwischen satt, so fragte sie: "Was ist denn eigentlich so schlimm daran? Wir kämpfen doch dauernd in irgendwelchen Arenen gegen irgendwelche Pokemon." "Ja, aber ihr seid Freunde! Wie kann man sich unter Freunden so etwas antun?" Evoli legte den Kopf schief. "Es muss sein", erklärte sie in versöhnlichem Tonfall. "Ich glaube, du hast da ein falsches Bild von uns Pokemon", stellte sie fest, "Es ist nichts schlimmes, zu kämpfen. Wie, wenn nicht so, sollten wir unsere Rudelstruktur festlegen?" Neru starrte sie an. "Rudelstruktur?" Das klang eher nach Wölfen oder ähnlichem als nach, ja, als nach was eigentlich? "Wir sind Pokemon", stellte Evoli fest, "In unserem Fall Iramon, doch das ändert nichts daran, dass wir uns ganz normal verhalten und auch ganz normal unsere Rangstreitigkeiten ausfechten. Ich geb ja zu, ich hätte ihn nicht anstacheln und damit herausfordern sollen, aber der Kampf an sich war eine vollkommen logische und normale Sache, auch wenn ich wünschte, er hätte mir nicht ganz so arg die Leviten gelesen." Damit ließ sie ihren Kopf zu ihrem Schwanz herumschwenken, an dem seit der fürchterlichen Aquaknarre ein paar Haare fehlten. "Aber..." Neru stand der Mund offen. So hatte er über die Sache noch gar nicht nachgedacht. Was hatte sein Vater gesagt? 'Du hast noch überhaupt nichts verstanden?' - Und vielleicht hatte er damit Recht, nur Recht in anderer Hinsicht. Wieder ließ Neru den Blick über das Meer schweifen. Schon irgendwie merkwürdig, dachte er bei sich, Immer dann, wenn ich etwas falsch mache, sitze ich am Meer und grüble darüber nach. Das war damals in der Wasserarena auch nicht anders.

Evoli spürte, dass er ihre Worte verstanden hatte. "Was sind das eigentlich für komische Steine", fragte sie und beschnüffelte ein besonders merkwürdig geformtes Exemplar, das vor ihnen im Sand lag. Neru beugte sich zu ihr hinunter und hob es auf. "Das ist eine Koralle", erklärte er, "Sag bloß, du hast bei deinen Reisen als Aquana keine gesehen? Wir sind doch über eine ganze Korallenbank hinweggerast, als wir das Rennen gefahren sind." Bei der Erwähnung des Rennens glühten Evolis Augen auf. Die Tatsache, dass sie das Rennen gewonnen hatte, machte ihr immernoch großen Spaß und seitdem ließ sie praktisch keine Gelegenheit aus, danach zu fragen, wann sie denn wieder hinausfahren würden. "Ich hab die Steine gesehen", erklärte sie, "Aber die waren viel zu schnell vorbei, alsdass ich sie hätte näher sehen können." Neru bedachte sie mit einem Seitenblick. "Du bist gefahren wie eine gesengte Sau", kommentierte er trocken und fing sich dafür eine Ladung Sand ein, die er mit gleicher Münze konterte. Schon bald tobten die beiden ausgelassen über den Strand, bewarfen sich mit Sand oder spritzen sich gegenseitig mit dem salzigen Meerwasser nass. Irgendwie war es gut, dass er heute einmal Zeit mit seinem Iramon alleine hatte, dachte Neru irgendwann zwischen einer Ladung Sand und einer gut gezielten Spritzattacke. Nerina war heute morgen schon früh mir ihrem, von Vater gegebenen Geschenk - Neru wusste nicht, was sie da für ein Bündel mit sich davon getragen hatte - in die Berge gegangen, angeblich um den Weg zur Höhle zu finden. Neru hatte es vorgezogen, sich nach der langen Nacht erst einmal richtig auszuruhen und dann Evoli nach dem Kampf vom gestrigen Tag eine kleine Erholung zu gönnen. "Du hast also noch nie Korallen gesehen?", fragte Neru wieder und Evoli nickte bestätigend. "Wenn du magst, können wir hinausfahren und sie uns ansehen", erklärte er begeistert, "Natürlich nur, wenn du nicht wieder wie eine gesengte..." Bei diesen Worten stockte er, denn Evolis Schwanz zuckte schon wieder unheilverkündend. "Ich werde ganz vorsichtig sein, Zuckerpüppchen", erwiderte sie mit einem leisen Keckern und dann fing auch schon ihr Fell an, blau zu leuchten. Keine Sekunde später stand Aquana mit ihrem langen Schwanz und ihrer ebenmäßigen blauen Haut vor ihm und reckte ihre Glieder zufrieden in der Sonne. "Ich mag zwar nicht so stark sein wie Texomon", erklärte sie, "Aber Spaß macht es doch, nicht mehr so klein zu sein." Neru konnte sie nur zu gut verstehen. Laut dem, was er erfahren hatte, wurde sie in Evolis Gestalt von den anderen nur herumgescheucht und herumgeschubst. "Solange sie dir nicht zu Kopf steigt", erklärte er. Doch Aquana schüttelte das Argument schon mit einer Bewegung ihrer Schwanzflosse ab. "Glaubst du, ich will noch mal zerquetscht werden?", fragte sie bissig und Neru schluckte hastig seine Argumente hinunter. Evoli schien ihre Sache daraus gelernt zu haben, auch wenn sie versuchte, wo sie nur konnte, darüber hinweg zu täuschen.

Nachdem Neru seine Kleider gegen Badesachen eingetauscht und Aquana ihr Geschirr angelegt hatte, fuhren sie zusammen hinaus. Das Brett, das ihm sein Vater geschenkt hatte, war in der Tat viel besser als das, das er zuvor benutzt hatte. Wie Butter glitt er nun durch die Wellen hindurch, konnte problemlos das Gleichgewicht halten und er begann, richtigen Spaß am Fahren zu entwickeln, was vielleicht nicht nur an der tollen Ausrüstung, sondern vielmehr an der Tatsache lag, dass Aquana sich diesmal wirklich, wie sie versprochen hatte, mit dem Tempo zurückhielt. Es dauerte nicht lange, da war die schöne Fahrt schon wieder zu Ende und das erste Mal mit einem leichten Bedauern ließ sich Neru in das kühle Wasser gleiten und setzte seine Taucherbrille auf. "Wozu ist das denn gut?", fragte Aquana verdutzt, als sie die übergroße Brille musterte, während Neru ihre Bauchriemen löste, so dass sie aus dem Geschirr herausschwimmen konnte. "Das ist eine Brille, mit der ich auch unter Wasser sehen kann." "Du klingst komisch", gluckste Aquana und Neru kitzelte in gespieltem Ärger ihren Bauch. Lachend schoss sie davon und Neru wurde zum ersten Mal bewusst, wie viel schneller ein Pokemon gegenüber einem Menschen im Wasser war, während er verzweifelt versuchte, sie einzuholen. Während er hinter ihr her schwamm, warf er noch schnell die Seile des Brettes über einen Felsen, um ihr dann zu folgen. Schon kurze Zeit später schwammen sie Seite an Seite und genossen den Ausblick auf die vielen unterschiedlichen Formen und Farben der Korallen. Kleine Fische schwammen zwischen den einzelnen Korallen, die mal wie ein Teppich aus Tentakeln, dann wieder wie große Kissen aussahen. Sie waren viel härter und stabiler als sie aussahen. Zwischen ihnen konnte man in tiefe Spalten blicken, in denen sich blaue Seesterne verbargen und die Reste von abgestorbenen Ästen herumlagen. Große Seegurken lagen an den Rändern des Riffes auf dem sandigen Boden herum und wirkten wie unförmige Baumstämme, die irgendjemand hier vergessen hatte. "Es ist wunderschön", erklang es in Nerus Kopf und Neru nickte. Nach einer Weile hielt er sich an Aquana fest und gemeinsam trieben sie wie Flugzeuge über die fremden Welt hinweg, in der man auf diese Weise Büsche und Bäume, große Täler und tiefe Schluchten erkennen konnten. Natürlich war er mit Nerina schon häufiger hier gewesen und war mit ihr über den Korallen geschnorchelt. Das blieb nicht aus, wenn man direkt am Strand wohnte, doch fühlte Neru eine große Freude dabei, seinem kleinen Iramon - Obwohl Aquana gar nicht mehr klein war - diese Schönheit der Natur zu zeigen. "Was ist denn das?", hörte Neru wieder eine Frage in seinem Kopf. Er sah in die Richtung, in die Aquanas Schwanflosse deutete und tauchte auf. "Das ist ein altes Schiffswrack", erklärte er geheimnisvoll, "Es sank vor über 30 Jahren hier vor der Küste." "Und seitdem liegt es dort unten?", fragte Aquana fasziniert. "Ja, seitdem liegt es hier. Wer weiß, aus welchem Grund es damals sank", fuhr Neru fort, "Vielleicht hatte es ja schätze geladen." "Schätze?" Aquana wurde ganz aufgeregt und begann, mit ihrer Schwanzflosse zu wedeln. "Vielleicht liegen ja immernoch Schätze darin?", fragte sie aufgeregt, "Komm Neru, lass uns runtertauchen." "Langsam, langsam!" Die Sache lief eindeutig in eine Richtung, die Neru gar nicht so gut fand. Er war auch schon mit Nerina über dem Schiff geschwommen und sie hatten sich Geschichten darüber ausgedacht, was wohl in seinem Inneren verborgen sein könnte, doch hatten sie nie den Mut besessen, wirklich einmal hinunter oder sogar hinein zu tauchen. "Ich war noch nie dort unten", erklärte er zurückhaltend. "Dann wird es Zeit", entgegnete Aquana. "Ich kann unter Wasser nicht atmen", erklärte Neru, "Länger als zwei Minuten kann ich nicht tauchen." "Dann müssen wir nur immer nach zwei Minuten wieder hier oben sein", erwiderte Aquana, "Ich bring dich in nur zehn Sekunden ins Innere." "Das müssen wir erstmal langsam ausprobieren", erwiderte Neru. Doch es klang verlockend. Vielleicht fanden sie in dem alten Schiffswrack wirklich noch etwas besonderes. "Am besten hälst du dich auf meinem Rücken fest", erklärte sie. Gesagt, getan - und schon starteten sie zu ihrem ersten Tauchgang. Zunächst schwammen sie nur einmal um das Schiffswrack herum und Neru war überrascht, wie schnell sie nach unten und wieder nach oben kamen. Er fühlte sich wie auf dem Rücken eines Vogels, der durch die Lüfte schoss, nur befanden sie sich etwa sechs Meter unter der Wasseroberfläche. Neru vergaß vor lauter Staunen völlig, dass er auch noch atmen musste und stellte erst fest, dass etwas nicht stimmte, als er schon fast Wasser einatmete. Rasch kniff er der ebenso beeindruckt aussehenden Aquana in die Flanke und sie schossen wie der Korken aus einer Sektflasche nach oben. Neru holte röchelnd Luft. "Das war klasse", erklärte er immernoch nach Atem ringend, "So nah bin ich dem Wrack noch nie gewesen." "Hast du den Riss im Rumpf gesehen?" "Ja", erwiderte Neru aufgeregt, "Da können wir rein schwimmen. Meinst du, du bringst mich genauso schnell wieder daraus, wie gerade eben hier hoch?" "Ich werd mein bestes tun, auch wenn du mir ein bisschen Vorwarnung geben solltest." Neru nickte. "Es ist riskant", erklärte er, "Normalerweise soll man so etwas nur mit kompletter Taucherausrüstung oder ähnlichem machen." "Aber ich bin doch sowas wie deine Taucherausrüstung", erklärte sie stolz, "Keine Sorge, ich passe auf dich auf." "Na gut..." Neru biss die Zähne zusammen und versuchte, das Kribbeln in seiner Magengegend zu ignorieren. Was würden sie wohl im Inneren des Schiffes finden? Doch es hatte keinen Zweck, lange darüber nachzudenken. Neru hielt sich wieder an Aquanas kräftigen Schultern fest und nach wenigen Sekunden sollte er die Antwort auf seine Fragen bekommen.

Das Innere des Schiffes war sehr interessant. In der Nähe des Risses in der Außenwand hatten sich Korallen breitgemacht und waren in das Schiffsinnere vorgedrungen, doch im Inneren war alles immernoch so, wie es zu der Zeit gewesen hatte sein müssen, als das alte Schiff sank. Es handelte sich dabei um eine Ketsch, deren zwei Hauptmasten schon vor langer Zeit gebrochen waren. Fische lebten jetzt in ihre Inneren und Neru konnte Plankton erkennen. "Schon beeindruckend, oder?", fragte Aquana, die auch unter Wasser reden konnte und Neru nickte, dann deutete er einen der Gänge hinunter und sie schwammen zu einer der Türen, die sie Mühsam öffneten. Auch hier im Inneren hatte sich nicht viel verändert. Klar hatten das Salz und die Fische ihren Teil dazu beigetragen, doch konnte man trotzdem noch erkennen, dass es sich um einen Lagerraum gehandelt haben musste. Große, halb vermoderte Kisten standen herum, hier und da mit Korallen und Seegras bewachsen. Sie brauchten einige Tauchgänge, um das Innere des Schiffes zu erkunden, doch im Laderaum fanden sie nichts mehr, das es sich gelohnt hätte, mitzunehmen. Wahrscheinlich waren Plünderer hier, schon kurz, nachdem das Schiff sank und hatten alles von Wert mitgenommen, doch Aquana ließ sich nicht entmutigen. "Vielleicht haben sie nicht überall nachgesehen", erwiderte sie und sie tauchten wieder hinab. In einer Kammer, die wie Neru vermutete einst vom Kapitän des Schiffes bewohnt worden war, denn sie war mit Abstand die prächtigste, fanden sie unter dem ehemaligen Bett eine kleine, rostige Truhe. Neru konnte sie kaum bewegen und sie brauchten drei weitere Tauchgänge, weil Neru bei Anstrengung einfach viel zu schnell die Luft ausging. Doch unter Zuhilfenahme des Geschirrs gelang es ihnen, die Truhe zu bergen und unter Aquanas Bauch festzubinden. "Es ist schon Wahnsinn, wie unangetastet das Schiff aussieht", stellte Neru fest. Die letzte Stunde waren sie immer nur kurz zum Luftholen an die Oberfläche gekommen und Neru hatte nicht oft die Möglichkeit gehabt, zu sprechen, so schnell wollten sie wieder hinunter in das Innere des Schiffes. "Ich meine, manche Räume sehen aus, als könnten sie noch immer bewohnt sein und der betreffende Besitzer könnte jeden Moment wieder hereinkommen." Aquana nickte zustimmend. "Aber manche Sachen sehen auch schon ziemlich verfault aus", erwiderte sie. "Ja, aber nicht so sehr, wie ich es nach 30 Jahren erwarten würde", erwiderte Neru, "Ich hab mich tierisch vor dem Krabby erschreckt, weißt du noch?" "Da sind ganz viele Blubberblasen aus dir rausgekommen und wir mussten schnell auftauchen, gell?", keckernd warf sie sich auf die Seite, sodass Neru die Truhe an ihrem Bauch befestigen konnte. "Wir sollten unseren Schatz so schnell wir können ans Ufer bringen", meinte er, "Sonst geht er am Ende noch verloren." Aquana nickte und kurz darauf waren sie auch wieder auf dem Weg zurück zum Strand.

Während sie fuhren, erklärte Aquana ihm, wie sie gedachte, die Truhe, die ihr offenbar gut zu gefallen schien, zu putzen und zu polieren. "Da können wir dann unsere Orden reintun", meinte sie stolz. Neru verkniff sich die Antwort, dass man Orden ja eigentlich tragen sollte, und freute sich stattdessen mit ihr über diesen schönen Fund. Es dämmerte bereits, als sie ziemlich müde den Strand erreichten und Neru die kleine Kiste - Sie war kaum so lang wie sein Unterarm - von Aquanas Bauch löste und sie wieder von dem Geschirr befreite. Aquana leuchtete wieder blau auf und es stand wieder Evoli da, die ganz aufgeregt um ihren Fund herumlief. "Ist sie nicht wunderschön?", fragte sie ganz hingebungsvoll, "Morgen müssen wir sie putzen! Das bisschen Rost kriegen wir schon runter, oder?" "Schauen wir mal", erwiderte Neru, "Ich muss mich auf jeden Fall bei Vater für das tolle Brett bedanken. Es geht viel leichter und macht viel mehr spaß", fügte er noch hinzu und gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Hause.
 

>>>Nerina<<<
 

"Unglaublich", stellte Texomon fasziniert fest, "Das ganze Land sieht aus, wie diese furchtbar leckeren Kekse von deiner Mutter, als sie noch im Ofen waren! Oh, das macht hungrig! Könnte ich noch einen davon haben?" "Du bist schon den ganzen Tag am Mampfen", protestierte Nerina und kniff ihm warnend in die Seite, "Pass auf, dass du nicht zu dick wirst, sonst müssen wir dich ja bald Pikachu nennen!" "Ich stocke nur meine Fettschicht auf, damit ich die Eisarena besser schaffe", murrte er grinsend und griff geräuschvoll in die offene Keksdose, die Nerina ihm unter die Nase hielt. Während er kaute, ließ sie den Blick schweifen. Trotz seiner offenkundigen Bemühungen, möglichst alles Spritzteiggebäck alleine aufzuessen, bis Evoli dahinterkam, wie gut es schmeckte, hatte Texomon recht. Die Landschaft am Fuß des zerklüfteten Lavahaufens, auf dem sie nun saßen, sah tatsächlich irgendwie geschmolzen aus. Dutzende von Vulkane hatten es im Laufe der Zeit immer und immer wieder mit roter, glühender Lava überflutet und die Gesteinsschichten so oft neu aufgeschmolzen, dass sie mit der Zeit begonnen hatten, glatt und verlaufen auszusehen. Kein Hälmchen Grün war darauf zu sehen, kein Leben, abgesehen von ein paar Feurigel, die sich faul auf den warmen Steinen sonnten. "Es ist Lavagestein", erklärte sie nachdenklich und kostete nun selbst einen von Mutters berühmten Keksen, "Weißt du, die Erde ist nur hier oben fest und kalt, aber tief unter unseren Füßen ist sie heiß und flüssig und manchmal bricht ein Stückchen ihrer Haut auf und dann kommt heißes, flüssiges Gestein heraus und bildet all diese lustigen Formen, bevor es erkaltet." "Das heißt, wenn ein Vulkan ausbricht, blutet die Erde", sinnierte Texomon, "Und das dort unten ist der Schorf..." "Ja", entgegnete Nerina verblüfft ob dieser Analogie, "Aber es kann jeder Zeit wieder flüssig werden, wenn man es heiß macht." "Echt, Stein kann schmelzen?" Begeistert sprang Texomon auf die Füße und visierte gefährlich einen mittelgroßen Findling. Nerina hielt ihn mit einer raschen Geste zurück. "Schon, aber dazu braucht man sehr, sehr viel Hitze... Ein Glurak könnte das vielleicht schaffen, aber..." Rasch biss sie sich auf die Zunge. Mutter hatte ihr eingeschärft, den Kampf zwischen den beiden Iramon fürs Erste nicht anzusprechen und Texomon war heute morgen plötzlich wieder wie früher gewesen. Ausgelassen hatte er durch ihren Garten getobt, gleich drei Frühstückseier verdrückt und war genauso lebensfroh und ausgeglichen gewesen, wie eh und je. Es hatte Nerina gewundert, ihn so zu sehen, doch natürlich hatte sie sich gefreut und bis jetzt tunlichst vermieden, das Feuer-Thema anzuschneiden. Doch Texomon zuckte nur gut gelaunt mit den Ohren. "Naja, ist vielleicht wirklich ein bisschen groß, der Felsen... Aber guck mal, was ich für einen Feuertrick gelernt habe!" Aufgeregt schlug er den Schwanz über die Schulter und bließ eine winzige, goldene Flamme auf dessen Spitze. "Sieht doch fast aus, wie bei Glutexo, oder?", fragte er aufgeregt und die Flamme erlosch. Nerina wusste nicht, ob sie lachen oder sich schämen sollte. Sie hatte gestern rasch alle Bilder von den Wänden genommen und auch sonst die Spuren ihres Feuerwahns zu verwischen versucht, aber als sie heute morgen aufgewacht war, hatte sie auf unergründliche Weise das unter dem Bett versteckte Plüsch-Vulnona in ihrem Arm wieder gefunden und Texomon hatte sogar darauf bestanden, das abgewetzte Plüschtier hierher mitzunehmen. "Du, Texomon", begann sie langsam, "Also, dass ich dich mit dem Feuer immer so sehr gestriezt habe, das tut mir leid. Ich war nur so unglaublich stolz darauf, dass du Feuerspeien kannst - naja, weil niemand mehr ein Pokemon hat, das das kann und ich wollte dir ein bisschen die Angst davor nehmen. Aber das war falsch und ich hätte dich nicht so sehr drängen sollen. Aber ich will kein Feuerpokemon, Texomon! Kein Glumanda oder Feurigel oder all das. Ich hab schon das beste Pokemon, das man sich wünschen kann. Bitte vergib mir, dass ich das nicht so gesehen habe. Aber ab jetzt musst du kein Feuer mehr machen, wenn du nicht willst. Ich..." "Nerina?" Verblüfft sah Nerina zu ihm auf und stockte. Aus einem kleinen Bröckchen Vulkanasche in seinen Krallen tropfte flüssiges Metall auf eine Steintafel in seiner anderen Hand. Gebannt beobachtete sie, wie Texomon das Bröckchen vorsichtig hin und her bewegte, wie ein Kind, das mit dem tropfenden Wachs einer Kerze malte. Als ihm das Metall ausging, warf er den Brocken weg, nahm einen anderen in die Hand und bließ eine lange, starke aber gleichzeitig sanfte Flamme darauf, bis auch aus diesem Brocken kleine Metalltropfen zu fließen begannen und er langsam seine Arbeit fortsetzte. Dann warf er erneut den Brocken fort und spie eine kleine Aquaknarre auf die Steintafel, die sofort in einer zischenden Dampfsäule zerstob. Texomon lachte, ja, es schüttelte seinen ganzen, schlanken Körper vor Lachen, bis Nerina unwillkürlich mit einfallen musste. "Hups!", prustete er schließlich, "Na, das ging vielleicht ab! Hee, so funktioniert das also! Das ist ja lustig! Oh, das nächste Mal, wenn wir in einer Höhle sind, mach ich uns ein Dampfbad! Ungefähr so, schau!" und begeistert formte er eine weitere, selbst für seine Verhältnisse hohe Wassersäule und pustete eine Stichflamme hinein, sodass die Säule sich unnatürlich in die Länge zog und ihr unteres Ende über den Boden davonlief, während das obere verdampfte und als kleines Wölkchen dem makellos blauen Himmel über Zinobia zustrebte. "Du kannst ja Wolken machen!", kicherte Nerina amüsiert, "Na, wenn wir wieder mal 'nen Regenschauer brauchen..." "Dann steigt heißes Wasser also auf", sinnierte Texomon nachdenklich und Nerina nickte. "Alles, was heiß wird, wird leicht. So funktionieren auch Heißluftballons. Man macht die Luft in ihnen heiß und dann kann man fliegen." "Echt!" Aufgeregt hüpfte Texomon auf der Stelle, "Dann lass uns ganz schnell einen Ballon bauen! Dann können wir uns unten dran hängen und fliegen! Da würden Neru und Evoli aber ganz schön dumm aus der Wäsche gucken!" "Die würden vor Neid platzen!", sprang Nerina auf den Zug mit auf, "Stell dir vor, wir könnten über alle Täler einfach so wegfliegen und könnten schonmal 'ne Runde Kekse essen, bis sie kommen!" "Kekse!", rief Texomon begeistert aus, "Oh, euch hätte ich fast vergessen..." Übermütig griff er erneut in die Box. "Weischt du", fuhr er mit vollem Mund fort, "Auch Keksche macht man mit Feuer! Ich glaub, man kann viel, viel mehr mit Feuer machen, als ich dachte! Gute Sachen! Ach a propos... Schau mal, der ist für dich!" Mit einem stolzen Zwinkern hob er endlich seine bemalte Steintafel in die Höhe. Das Wasser der Aquaknarre hatte das noch halbflüssige Metall verwaschen und rund und glatt geschmirgelt, sodass das Bild darauf tatsächlich äußerst professionell aussah. Vorsichtig nahm Nerina es entgegen und hielt es ins Licht. "Ein Glutexo!", stieß sie überrascht aus, "Den hast du aber super getroffen! Ich wusste ja gar nicht, dass du so gut malen kannst! Aber wieso...?" "Nur, um dir zu sagen, dass ich das Feuer jetzt mag, Nerina", entgegnete Texomon feierlich, "Und, um uns beide daran zu erinnern, dass wir uns nie wieder wegen sowas streiten wollen!" "Oh Texomon", rief Nerina gerührt aus und schlang die Arme um ihn, "Nein, nie, nie wieder wollen wir uns so sehr streiten! Ich hatte solche Angst, du würdest..." "Ich hab mich überfordert gefühlt", nuschelte Texomon in ihr T-Shirt, "Aber das ist kein Grund, so patzig zu werden oder das Feuer komplett abzulehnen. Das war irgendwie feige." "Na, dann komm, du alte Pflaume! Gehen wir die Welt erobern!" Aufmunternd drückte sie ihn noch einmal an sich, dann steckte sie das Glutexo-Bild vorsichtig in die Seitentasche ihres Rucksackes und gemeinsam gingen sie weiter, geradewegs hinab ins Herz der Vulkanebene...

"Dann ist das also dieses besagte Lamm?", fragte Texomon enttäuscht, als sie nach schier endlosem Klettern endlich auf einem kleinen Felsvorsprung am Rande eines halb eingestürzten Kraters standen. Die Vulkanebene war schwer zu durchqueren gewesen und stundenlang waren sie zwischen brusthohen, rauen Felsen herumgeklettert, bis Nerina sich endlich wieder der Richtung entsonnen hatte, in der sie das gezeichnete Lamm vermutete. "Es muss irgendwo sein, wo wir selten waren", hatte sie gegrübelt, "Und an einem Ort, der mir irgendwie interessant erschienen sein muss..." Instinktiv hatte sie den Weg zum Meer eingeschlagen, war über weitere gefühlte zehntausend Felsen gestiegen, während der Wind ihr um die Ohren geheult hatte. Zunächst war Texomon wie ein übermütiges Fukano um sie herumgesprungen, hatte komplizierte, weite Sprünge von Felsspitze auf Felsspitze ausprobiert und dabei immer wieder übermütig Feuer gespieen, sodass er manchmal wie ein äußerst tieffliegender Komet ausgesehen hatte. Ein, zweimal hatte er ein paar Feurigel verjagt, die Nerina zu nahe gekommen waren und einmal sogar ein ganzes Wasserloch in Dampf verwandelt. Aber mit den Stunden war auch er müde geworden und immer braver neben ihr hergetrottet. Nun ließ er sich erschöpft auf den harten Boden sinken. "Sieht ja nicht so eindrucksvoll aus..." "Naja... Irgendwie hatte ich es auch etwas prächtiger in Erinnerung", gestand Nerina seufzend, hockte sich neben ihn und leerte in einem einzigen Schluck ihre Trinkflasche, "Damals war es gerade morgen, denke ich und die Sonne fiel darauf. Aber es ist doch ein Lamm, oder?" "Hmpf", machte Texomon skeptisch. Nun, in der hereinbrechenden Dämmerung, wirkten die Zeichnungen an der gegenüberliegenden Kraterwand verwaschen und unscharf. Um ehrlich zu sein, hätten sie beinahe jedes, vierbeinige Tier darstellen können. "Aber der Rest käme hin", versuchte Texomon rasch, sie zu trösten, "Wenn man da drüben steht, fällt in den Morgenstunden im Sommer Licht darauf und es ist an einer Kraterwand, also im Herzen des Vulkans. Auch von kleinen Feuerpokemon dürfte es da unten nur so wimmeln und auch das Meer kann man sehen." "Nur wo ist nur dieses Labor...", warf Nerina seufzend ein und suchte angestrengt die dämmrige Landschaft ab, "Wenn man das Labor nicht sehen kann, ist alles für die Katz gewesen..." "Vielleicht sieht man es ja nur von dort aus?", fragte Texomon eifrig, "Komm, lass uns hingehen!" Müde standen sie erneut auf und auf Händen und Knien rutschte Nerina langsam den steilen Berghang hinab. Einige Male musste Texomon sie sogar auffangen und seine scharfen Klauen hinterließen schmerzhafte Punkte auf ihren nackten Armen. Zu allem Unglück löste sich etwa auf halbem Weg eine Gerölllawine unter ihren Füßen, sodass Nerina und Texomon in einem einzigen Knäuel aus Armen und Beinen zu Tal kullerten. Eine kleine Gruppe Magby stob schnatternd auseinander, als Nerina mit einem Aufschrei in ihre Mitte plumpste, Texomon auf ihrer Brust landete und sie beide in eine erschrockene Wasserwolke hüllte. "Puh... Unten!", kommentierte er, während Nerina mühsam aufstand und sich den schmerzenden Rücken rieb. "Autsch. Na das war ja mal 'ne Bruchlandung." Texomon machte ein kleinlautes Geräusch. "Wie gut, dass Evoli nicht hier ist", murmelte er gespielt verlegen, "Sonst würde die noch völlig zu Unrecht behaupten, ich würde genauso schlecht auf dich aufpassen, wie sie auf Neru..." "Naja... Halb so wild. Was zählt, ist die Mission - wobei ich auch gegen ein paar trockene Kleider nichts einzuwenden hätte..."

Inzwischen war es am Grund des Kraters vollends dunkel geworden und so beschlossen sie, den Aufstieg lieber erst am nächsten Tag zu riskieren. Nerina fand zwischen ein paar größeren Lavafelsen eine vielversprechende Höhle, in der sie ihr Swag aufschlug und Texomon erhitzte einen anderen Felsbrocken sanft auf ein paar Dutzend Grad, sodass Nerina ihre nassen Kleider ausziehen und darüber trocknen konnte. Dann füllte er ihren Topf mit Aquaknarrenwasser, zertrümmerte einen Felsen mit seinem Doppelkick und schichtete daraus einen natürlichen Ofen auf, den er so lange von außen anpustete, bis das Wasser im Topf zu blubbern begann. 'Oh, du bist ja richtig nützlich', wollte Nerina gerade sagen, da ertönte plötzlich ein ohrenbetäubender Knall und als sich der Staub gelegt hatte, musste sie stirnrunzelnd feststellen, dass zwei der Ofensteine kurzerhand explodiert waren. Erschrocken starrte Texomon auf die handvoll Kieselsteine. "Uups, was war denn das? Ist ja komisch", brummte er verdrießlich. Nerina zuckte mit den Schultern. "Ich glaub, ich hab mal gehört, dass sie explodieren, wenn man sie zu stark erhitzt... Wegen irgendwelchen Gasen. Also, welche Geschmacksrichtung von Staubsuppe magst du?"

"Nerina! Nerina! Dort!", rief Texomon ihr aufgeregt entgegen und fuchtelte wild mit den Armen. Genervt stieß Nerina ein wildes Knurren aus. Sie hatte gerade erst die ersten paar Meter des Aufstiegs hinter sich gebracht, während ihr Iramon sich seiner Verwandtschaft zu den kleinen, flinken Eidechsen erinnert zu haben schien und behände über die schroffen Felsen hinaufgeklettert war. Nun hockte er bereits seit einer gefühlten Ewigkeit auf dem schmalen Felssims an den Füßen des Lammes, die Arme um die Knie geschlungen und mit aufgeregt zuckendem Schwanz. Ärgerlich stemmte Nerina sich weiter in die Höhe, hangelte mit schmerzenden Händen über die scharfkantigen Steine und kam schließlich keuchend neben ihm zu sitzen. "Ufff... Das... war... steil", stöhnte sie außer Atem, doch Texomon ließ ihr keine Zeit zum Entspannen. "Dort drüben, Nerina! Schau doch!" Nun selbst aufgeregt folgte sie seinem Blick auf ein kleines, unnatürlich in der Morgensonne glänzendes, zerschmolzenes Etwas. Es lag auf der jenseitigen Seite des Kraters, versteckt unter einigen, hervorragenden Felsbrocken, die es von oben vor neugierigen Blicken schützten. "Es ist nicht direkt das Labor", begann Nerina langsam, "Soweit ich weiß liegt das ein Stückchen weiter südlich. Aber es ist definitiv aus Metall und es sieht wie ein von Menschen gemachtes Ding aus..." "Das sollten wir uns angucken!", rief Texomon und sprang begeistert auf. Noch ehe Nerina ihn zurückhalten konnte, war er bereits im Schatten des Kraters verschwunden. Kopfschüttelnd warf Nerina ihm einen Blick hinterher. "Ich hoffe wirklich", brummte sie, während sie ihm mühsam folgte, "Deine nächste Evotation kann fliegen! Das Geklettere macht mich noch wahnsinnig!"

Doch auch bei näherer Betrachtung wollte der geschmolzene Metallklotz sein Geheimnis nicht preisgeben. Rätselhaft und auf übelkeitserregende Weise missgebildet ruhte er zwischen den grauen Felsen und glänzte munter in der Sonne. "Ich kann keinen Eingang finden", verkündete Texomon nachdenklich, nachdem er einige Male darum herum gewandert, darunter hindurchgekrochen und sogar darauf geklettert war, um, Nerinas mahnenden Blick zum Trotz, die Klauen in jede Ritze zu schieben. Doch all seine Bemühungen waren erfolglos geblieben. "Wir sollten am besten ein paar Photos schießen", schlug Nerina nach einer weiteren Weile der Tatlosigkeit schulterzuckend vor, "Und die dann Vater und Neru zeigen. Vielleicht haben die ja eine Ahnung, was wir da gefunden haben..."
 

>>>Neru<<<
 

"Aufwachen, Evoli!" Mit einem Kraulen hinter ihren langen, braunen Ohren weckte Neru sein Iramon aus dem Tiefschlaf. Es war vollkommen untypisch für Evoli, so lange zu schlafen, doch die Aufregung des vorherigen Tages und die Folgen der Rangstreitigkeiten forderten doch ihren Tribut und Evoli hob verschlafen den Kopf. "Ist es schon morgen?", fragte sie mit perplexem Ton, während sie in das helle Sonnenlicht, das durch Nerus Fenster schien, blinzelte. Sie war am Abend beim Abendessen, als sie und Neru eigentlich ganz aufgeregt von ihrem Fund im Schiffswrack erzählen wollten, eingeschlafen. Neru war auch müde gewesen nach dem langen Schwimmen und der zuvor durchnächtigten Nacht, so hatte er sich zu ihr gelegt. Verwirrt sah Evoli sich in dem Zimmer um. "Wo bin ich?", fragte sie schon ein wenig mutiger. Neru sah sich ebenso verwirrt um. Am Fenster stand sein Schreibtisch mit dem Computer darauf, einige Pokemonmagazine über die Starter lagen noch auf ihm verstreut. An den Wänden hingen Bilder von Duellen und unterschiedlichen Pokemon. Unter Anderem ein Glurak im Flug, eine schemenhafte Zeichnung eines Mew, die wahrscheinlich nicht von einem echten Foto, sondern eher aus einer kreativen Feder stammte. Der Boden war mit einem Teppich belegt, dessen Farbe man durch vieles mit dreckigen Schuhen darüber laufen nur noch erahnen konnte. "In meinem Zimmer", erklärte er, "Du bist gestern am Tisch eingeschlafen." Evoli sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an und schaffte es dabei, ein wenig beschämt auszusehen. "Komm", rief Neru, um die peinliche Stimmung zu vertreiben, "Lass uns frühstücken gehen!"

Evoli genoss das Frühstück, die Kekse, die Nerus Mutter gebacken hatte, mundeten ihr anscheinend sehr gut und Neru konnte gar nicht so schnell zusehen, wie die Kekse aus der Dose verschwanden. Der Vormittag verflog schnell, da sie angestrengt versuchten, die erbeutete Schatzkiste des gestrigen Tages zu reinigen und zu öffnen. Nachdem sie eine ganze Weile geschrubbt hatten, hatte Neru eine Inschrift auf der Kiste entdeckt. 'Die Sonne der Hoffnung', stand in verwischten Lettern auf dem Deckel der Kiste und so sehr Neru sich auch anstrengte, er konnte die Kiste nicht öffnen. Nachdem über Nacht das Wasser aus ihr herausgesickert war, war sie nun bedeutend leichter, doch als Neru mit Brechstangen zu Werke gehen wollte, um den widerspenstigen Deckel zu lösen, legte Evoli Veto ein. "Mir gefällt sie so, wie sie ist", erklärte sie und sah mit Stolz auf die Kiste hinab, "Du machst sie so nur kaputt." "Auch wieder wahr", gab Neru kleinbei. Die Kiste war wirklich schön anzusehen. Goldene und bronzefarbene Verzierungen zierten sie, wenn der Rost ihnen nicht schon zu Leibe gerückt war. Eine kleine Ecke war abgeplatzt. Aber im Gesamten sah sie sehr schön aus und Neru verstand Evolis Erhaltungstrieb. Immerhin war es ihre Kiste. Ohne ihre Hilfe hätte er sie nie bergen können. Als am Nachmittag Nerina zurückkehrte, war ihre Miene versteinert. "Übermorgen ist es soweit", erklärte sie, "Und das Lamm, das ich gefunden habe, befindet sich nicht in der Nähe des Labors." Neru sah sie bestürzt an. Sie hatten sich im Garten auf die Liegen gelegt und Mutter hatte ihnen einen großen Krug Limonade mit Eiswürfeln herausgebracht. Wenn diese Sorgen nicht wären, dachte Neru, wären das bestimmt die schönsten Ferien meines Lebens. "Das einzige, was ich gefunden habe, ist dieser Metallklotz." Sie gab Neru die Kamera. Stirnrunzelnd betrachtete er das unförmige, metallene Gebilde. "Es gibt keinen Eingang darin", erklärte Texomon, der zusammen mit Evoli gerade dabei war, einen Weg zum Boden des Limonadenkruges zu erschließen. "Es muss ja nur ein Ort sein, an dem Menschen böse gewesen sind", erklärte er, "Vielleicht gibt es mehrere Orte von der Sorte, wir hätten auch ewig am Labor suchen können." "Habt ihr etwas herausgefunden?", fragte eine Stimme und Neru und Nerina wirbelten herum. Ihr Vater stand hinter ihnen. "Wir haben das hier", erklärte Neru und gab ihm die Kamera. Yamato runzelte die Stirn und beugte sich über die Fotografie. "Das hab ich schon mal gesehen", murmelte er und ohne ein weiteres Wort begann er, in Richtung des Hauses davonzulaufen. Neru und Nerina folgten ihm aufgeregt und auch die beiden Iramon lösten sich widerstrebend von ihrer Mission Limonadenkrug und folgten ihnen ins Haus. In Vaters Arbeitszimmer angekommen begann Vater, einige seiner Bücher durchzublättern. Auf den Titeln standen vielversprechende Namen wie: 'Die Geschichte der Zinoberinseln'. Alle sahen gespannt zu Nerus Vater auf, sodass niemand bemerkte, wie Tabsel, die Hauskatze, erschien. Freudig schmiegte sie sich an Evoli, die leider überhaupt keinen Sinn für Schmusen in dem Sinne zeigte und sie mehrfach wegschubste - Beim letzten Mal offensichtlich mit ein wenig mehr Nachdruck, denn die Katze fuhr herum, fauchte und sträubte ihr Fell und verpasste Evoli dann einen Kratzer quer über die Nase. Neru hob Evoli auf, die sich ziemlich über das kleine, pelzige Ding beschwerte. "Man darf sie eben nicht ärgern", erklärte Neru gut gelaunt, während er Evolis Nase vorsichtig mit einem Taschentuch abtupfte. "Wenn, dann hat sie mich geärgert!" "Nun, dann sollte man erstrecht vorsichtig sein." "Sie mag zwar kein Pokemon sein, aber Krallen hat sie dennoch", fügte Yamato hinzu, während Texomon sein Lachen hinter Nerinas Rücken versteckte, die ebenfalls belustigt drein sah. Evoli hob verschnupft den Kopf und ignorierte die beiden hochmütig. "Hast du was gefunden?", fragte Neru seinen Vater und schüttelte gegenüber dem Verhalten der anderen den Kopf. Yamato nickte. "Wisst ihr, vor langer Zeit, als die Insel hier noch nicht bewohnt war, sind häufig Pokemontrainer hier herübergekommen, um hier besonders seltene Feuerpokemon zu jagen. Nun, wie das immer ist, einige von ihnen übertrieben es. Sie errichteten einen Stützpunkt, von dem aus sie Pokemon jagten, einfingen und verschifften. Moralisch war das natürlich nicht haltbar. Nun, eine Legende erzählt davon, dass Lavados, der legendäre Vogel des Feuers, herabgestoßen sei, und ihre schönen Gebäude, sie bestanden sogar schon aus Metall, damit die Feuerpokemon sie nicht angreifen konnten, komplett vernichtet und zusammengeschmolzen hätte. Der Legende nach war das die Rache für rücksichtsloses Jagen und Verschleppen von Pokemon. Könnte das der Ort sein, nach dem ihr sucht?" Neru und Nerina sahen sich an. "Du bist spitze, Nerina", rief er dann aus und riss die Arme in die Höhe, "Ihr habt es geschafft, ihr habt den Ort gefunden." "Scheint zumindest so", erklärte Yamato, "Was ist mit dem Lamm, von dem das Lied erzählt?" "Ich hab es gesehen", bestätigte Nerina. "Übermorgen gegen Mittag müsste es sich dann öffnen", erklärte Neru und Yamato nickte. Als Nerina und Neru wenig später wieder draußen auf ihren Liegen lagen, erzählte Neru ihr voller Stolz, wie er und Aquana das Schiffswrack erkundet hatten. "Und du warst tatsächlich drinnen?", vergewisserte sich Nerina, die den beiden Iramon zusah, wie sie sich im Garten jagten. "Nicht nur das", erklärte Neru, "Wir haben sogar das hier gefunden." Neru zog die Truhe unter seiner Liege hervor und reichte sie Nerina. "Was ist darin?", fragte Nerina und besah die Truhe ein wenig ausführlicher, "Die Sonne der Hoffnung?" "Ich hab keine Ahnung", erklärte Neru, "Wir haben sie bisher noch nicht aufbekommen." Nerina nickte. "Evoli hat einen ziemlichen Narren an ihr gefressen." "So?", fragte sie halb lachend, "Evoli mag Truhen?" "Es tut mir leid, was ich damals gesagt habe", griff Neru nach einiger Zeit ein Thema auf, das ihm schon länger auf der Seele lag. Zwar sah es so aus, als würden sich alle wieder gut miteinander verstehen. Auch die beiden Iramon zeigten keine Spur von Wut oder Verletztheit und spielten ausgelassener als je zuvor miteinander, doch hatte Neru immernoch das Gefühl mitverantwortlich dafür gewesen zu sein, dass sie vor ein paar Tagen aufeinander losgegegangen waren. "Was genau meinst du?", fragte Nerina verwirrt. "Weißt du noch, dass ich gesagt habe, dass Evoli sich nicht richtig entwickelt, weil Texomon zu stark ist?" Nerina nickte. "Wahrscheinlich war ich einfach nur eifersüchtig. Eifersüchtig darauf, dass ihr beide ein so gutes und erfolgreiches Team seid." Nerina strahlte ihn an. "Das hab ich mir schon damals gedacht", erklärte sie großmütig, "Schön, dass du es auch endlich einsiehst." Neru klappte der Mund auf. Er war es gewöhnt, von seiner Schwester übertrumpft zu werden. Auch, dass sie vor allen anderen spürte, was ihn beschäftigte, kannte er bereits, aber dass sie ihn so leicht durchschaut hatte, noch dazu vor ihm selbst... "Komm schon, Bruderherz", erklärte sie immernoch lachend. "Vergiss die Sache. Es ist alles wieder in bester Ordnung. Texomon ist wie immer, Evoli wird immer selbstbewusster. Das Rätsel ist gelöst. Besser kann es doch gar nicht laufen." Neru nickte und lächelte dankbar.

'Besser kann es doch gar nicht laufen?' Ein wenig irritiert dachte er an diesen Ausspruch zurück. Sie wanderten jetzt schon seit Stunden durch Geröll und an messerscharfen Felsklippen vorbei, kletterten Vorsprünge hinauf und enge Schluchten wieder hinunter. Texomon schien den Ausflug zu genießen. Freudig sprang er vorneweg von einem Stein zum anderen und auch die schwierigsten Aufstiege waren für ihn kein Problem. Er saß immer schon oben, wenn sie sich schnaufend über die Kante zogen. Evoli tat sich auch sichtlich leichter als die Menschen, doch sie eilte nicht so weit voraus, sondern hielt sich bei Neru, was jedoch nicht an Neru selbst zu liegen schien. Neru hegte insgeheim den Verdacht, dass sie nur auf ihre Truhe aufpassen wollte. Irgendwie konnte sie sich überhaupt nicht mehr von ihrem Anblick lösen, ganz so, als zöge diese Truhe sie magisch an. Nach einer Ewigkeit, so kam es Neru vor, erreichten sie tatsächlich die Höhle und im schwachen Licht der untergehenden Sonne konnte er das Lamm an der Felswand ausmachen. Gestern hatte er noch so schön im Garten bei einem Glas Limo gelegen. Jetzt taten ihm die Schultern und der Rücken weh. Die beiden Iramon schienen gar nicht müde zu sein. "Was glaubst du denn, was du wirst?", hörte Neru die interessierte Stimme von Evoli. "Och, keine Ahnung. Vielleicht ein großer Drache, ein Glurak, vielleicht." Evoli besah ihn prüfend. "Das könnte hinkommen." Neru hörte nicht mehr länger zu. Er streckte seine Glieder am Feuer aus und sah Nerina zu, die in ihrem Reisbrei herumrührte. "Ich bin ganz schön geschafft", brummte er ein wenig verstimmt und Nerina sah ihn mit einem mitfühlenden Blick an. Natürlich musste es ihr genauso gehen, hatte sie nicht dieselbe Kletterpartie hinter sich wie er?

Der nächste Tag begann spät. Erst um zehn Uhr schien das Licht der Sonne in ihre kleine Höhle und aufgeregt beobachteten alle, wie die Sonne ihre Strahlen langsam weiter über die Felswand gleiten ließ. "Es ist schon halb zwölf", erklärte Neru irgendwann. "Wann geht denn das blöde Ding endlich auf?", fragte Texomon, "Ich meine, wir warten hier schon seit Stunden." "Erst seit einer Stunde", versetzte Neru und Nerina versuchte, Texomon zur Geduld zu überreden. Doch die Tür bewegte sich auch in der nächsten Stunde nicht und irgendwann begann ihr Hunger über die Anspannung zu siegen. Texomon hatte schon gestern das Feuer entfacht und seine Flamme war lang und kräftig, als er auch an diesem Tag ihr Lagerfeuer wieder neu entfachte. Doch ein ruhiges Essen wurde es leider nicht. Immer wieder starrten sie angespannt zum Lamm hinüber. Keiner sprach die Frage laut aus, doch in den Gesichtern konnte man sie deutlich erkennen: 'Sind wir zu spät gekommen? Sind wir am falschen Lamm?' Um zwei Uhr schließlich begann es, unheilverkündend im Stein zu knacken. Texomon, der vor der Wand ein Nickerchen gemacht hatte, sprang erschrocken auf und Evoli wich von ihrer Truhe zurück. Einige Steine in der Wand lösten sich und fielen zu Boden. "Na, wer sagt's denn?", erklang eine Stimme hinter Neru. Doch es war kein Iramon oder Nerina gewesen, die die Worte ausgesprochen hatte. Erschrocken fuhr er wie die anderen herum. Hinter ihnen standen zwei Pokemontrainer. Sie waren an ihren Gürteln mit Pokebällen eindeutig zu identifizieren. Der Mann - Er hatte ein gelangweiltes Gesicht. - hob einen Stein vom Boden auf und betrachtete ihn prüfend. "Ihr wart schlau, Kinderchen", erklärte er, als handelte es sich dabei um seine feste Überzeugung, "Doch Gringo will nicht, dass ein Feuerstein gefunden wird. Deswegen können wir es nicht zulassen, dass ihr dort hineingeht." Der Tunnel, der sich am Lamm gebildet hatte, stand jetzt wie ein schwarzes Loch offen, doch die Sonne wanderte unerbittlich weiter. Eine ganze Weile starrten alle das Loch an. Texomon wurde ganz unruhig und begab sich in Kampfstellung. Neru wusste nicht, was er sagen sollte. War denn jetzt alles für die Katz gewesen? Würden Gringos Leute sie hier so nahe am Ziel noch aufhalten? "Nerina!", rief er, "Evoli und ich halten sie auf. Geh." Nerina schaute ihrem Bruder fassungslos ins Gesicht, doch seine Miene war steinhart. Die beiden unbekannten Trainer schienen von der Entwicklung der Ereignisse nicht eben erbaut und griffen zu ihren Pokebällen, doch noch bevor sie sie warfen hatte Nerina eine Entscheidung gefällt und war mit Texomon in der Höhle verschwunden, während Evoli blau zu leuchten anfing.
 

>>>Nerina<<<
 

"Hoffentlich werden sie da draußen alleine klarkommen", murmelte Texomon düster, während er Nerina half, die schwere Steinplatte, die den Eingang verborgen hatte, wieder an Ort und Stelle zu schieben, damit keiner der Angreifer ihnen versehentlich folgte, "Es gefällt mir gar nicht, sie mit diesen zwei Typen allein zu lassen!" "Mir auch nicht", gab Nerina durch zusammengebissene Zähne zurück, "Aber es muss sein! Wenn wir diesen Augenblick verpassen, waren all unsere Bemühungen umsonst! Dann kriegen wir den Feuerstein frühestens nächstes Jahr und jetzt, wo diese zwei Typen aufgetaucht sind und uns sicher allesamt an Gringo verpetzen werden, haben wir kein Jahr mehr Zeit, da bin ich mir sicher!" Texomon zögerte immernoch am Türspalt und versuchte, im aufgewirbelten Aschestaub draußen etwas zu erkennen. Sanft aber bestimmt nahm Nerina ihn bei der Krallenhand. "Neru und Evoli kämpfen da draußen für uns, Texomon", sagte sie eindringlich, "Sie kämpfen, weil sie glauben, dass wir es schaffen können! Lass uns sie nicht enttäuschen." Kurz wackelte Texomon nachdenklich mit den Ohren, dann nickte er entschlossen. "Ja, du hast recht, Nerina", sagte er fest, "Lass uns gehen und den Stein retten - Für uns, für sie und für die Welt!" Damit wandte er sich endlich vom Eingang ab und Hand in Hand liefen sie in die Dunkelheit des breiten Korridors hinein, der sich bis in die ewige Finsternis zu erstrecken schien. Es roch nach Asche, heißen Steinen und den schwefeligen Hinterlassenschaften von Feuerpokemon und eine seltsame Wärme waberte um sie herum, körperlos, kaum zu greifen, zu beschreiben oder gar richtig zu spüren. Es war mehr ein Gefühl, das Gefühl, von heißem Dunst umgeben zu sein, als wandere man an einem warmen Sommertag durch hohes Gras. Doch hier unten schien der Dunst auf merkwürdige Weise lebendig, beinahe so, als habe die Hitze selbst Gestalt angenommen. Nerina schauderte. Die Höhle war ihr unheimlich, vor allem, weil sie so riesig war. Ihr Boden war annähernd eben, übersäht mit hüfthohen, scharfkantigen Lavafelsen, und darüber spannte sich ein annähernd perfektes Halbrund, als habe man eine Röhre in den Berg getrieben und dann in der Mitte den Boden eingezogen. Was eigentlich jedoch ein prächtiger Anblick hätte sein sollen, wirkte auf Nerina eher feindlich. Wände und Decke waren rau und zerklüftet, als habe jemand ziellos Steine daraus hervorgeschlagen und in den entstandenen Nischen und Spalten tanzten kleine, boshafte Schatten, die immer näher und näher rückten, bis das wenige Licht vom Türspalt völlig versiegte. Seufzend kramte Nerina nun doch eine ihrer fünf Kerzen aus dem Rucksack, die sie mitgebracht hatte und Texomon entzündete sie mit einer nervösen Stichflamme,, die beinahe ihren Ärmel verkohlt hätte. "Tschuldige", murmelte er verlegen, "Dieser Ort, er ist..." "Er macht einem Angst, nicht wahr?", fragte Nerina leise und eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken, "Er sieht so unwirklich aus, so, als... als sei er nicht für Menschen bestimmt." "Ich bin mir sicher, dass er das auch nicht ist", entgegnete Texomon ungewohnt leise zischelnd, während sie im Licht der Kerze weiterwanderten, "Es ist eine Vulkanhöhle. Magmar und Glurak sollen sich hier wohlfühlen... Ich ja eigentlich auch", fügte er rasch und eher kleinlaut hinzu, "Aber sie wäre mir dennoch bedeutend lieber, wenn sie mit Wasser gefüllt wäre..." Irgendwo in der Dunkelheit knackte etwas, dann erscholl das Geräusch trippelnder Füße. Erschrocken blieb Nerina stehen, spähte alarmiert in die betreffende Richtung, doch der flackernde Kerzenschein reichte nicht bis hin zur fernen Tunnelwand und was auch immer dort gekrabbelt war, blieb unsichtbar. "Nun, es war nicht sehr groß, denke ich", versuchte Texomon ihr Mut zu machen, "Sicher bloß ein Feurigel. Die kriechen hier schließlich in allen Ritzen herum..." Dennoch versuchten alle beide, noch leiser aufzutreten und zu verhindern, dass ihre Schritte zu laut in dem riesenhaften Tunnel nachhallten. Immer wieder hielt Nerina Ausschau nach den versprochenen Flammenstößen und Feuerwalzen, doch nichts dergleichen geschah. Die Höhle schien zu warten... Atemlos und voller höhnischer Geduld, wie die angespannte Feder einer Mäusefalle...

"Da kommen wir nicht weiter", flüsterte Texomon plötzlich und blieb so abrupt stehen, dass Nerina beinahe mit ihm zusammengeprallt wäre. Wortlos deutete er nach vorn. Am zitternden, äußeren Ende des Lichtkreises ragte eine Mauer vor ihnen auf, glatt, ebenmäßig und scheinbar von Menschenhand errichtet, denn sie bestand aus großen, dunklen und ebenmäßig behauenen Steinquadern. Erschrocken starrten sie auf die glatten Steine. Wenn sie ein Eigenleben besessen hätten, dachte Nerina zornig, hätten sie sicher hämisch gegrinst. "Eine Sackgasse", sagte sie stattdessen laut, "Wir müssen irgendwo falsch gelaufen sein. Schließlich habe ich auch nichts von Feuerwalzen und so gesehen. Vielleicht gibt es ja irgendwo eine Abzweigung..." Doch Texomon schüttelte entschieden die langen Ohren. "Nein", sagte er mit einer Stimme, die Nerina einen Schritt zurückweichen ließ, "Nein, es gab keine Abzweigung, Nerina und wenn, dann ist sie für uns unerreichbar." "Wie kommst du darauf?", fragte Nerina überrascht, während Texomon bereits damit begonnen hatte, die gigantischen Felsen nach einem verborgenen Hebel oder losen Stein abzuklopfen. "Nun, weil Blaze es gesagt hat", entgegnete das Dracheniramon mit seltsamer Bestimmtheit und dafür ohne aufzusehen, "In dem Gedicht heißt es doch: 'Der Weg führt nie zurück.' Hier gibt es keine geheimen Abzweigungen. Man muss immer geradeaus hindurchlaufen. Außerdem erinnert mich die Mauer sehr an die in Dews Eistal. Auch da mussten wir eine Wand öffnen." "Ja, du hast recht", entgegnete Nerina nachdenklich nach einem Augenblick des Schweigens, "Und auch dort war sie nicht mit herkömmlichen Mitteln zu öffnen..." Während Texomon fortfuhr, an Steinen zu rütteln oder die Klauen in Spalten zu bohren, schritt sie langsam an dem seltsamen Bauwerk entlang, betrachtete jedes Detail sorgfältig im Licht der Kerze. Irgendwo hier, das sagte ihr ihr Gefühl ganz eindeutig, musste ein Durchgang sein, das Stück Wand, das man aufbrechen konnte, wenn... wenn man die Macht des Feuers verstand, genau wie man die Felsen mit der Macht des Wassers hatte sprengen können. Aufgeregt hielt Nerina den Atem an, während die Kerzenflamme über schwarzen Felsen wanderte, schwarzer, harter, unnachgiebiger Fels, den seine Erbauer von weit her geholt haben mussten, denn im Land der Vulkane waren Steine grau - grau und porös, genau wie... "Texomon!", stieß sie plötzlich leise aber aufgeregt hervor, "Texomon, welche Farbe hat der Stein, dort wo du stehst?" "Grau", erwiderte Texomon verwundert vom anderen Ende der Mauer, "Wie überall." "Nein, eben nicht wie überall!" Aufgeregt wandte sie sich um und rannte, so schnell sie ihre Beine tragen konnten, hinüber zu ihrem Iramon, das sie verwundert anstarrte. "Aber...", begann er, während Nerina aufgeregt den Kerzenschein über die Mauer wandern ließ. "Ein grauer Kreis!", rief sie begeistert, "Na, wer sagt’s denn! Schau, Texomon, er reicht nicht bis auf den Boden und er ist perfekt rund! Der ganze Rest der Mauer ist schwarz! Das kann kein Zufall sein!" "Tatsache Du hast recht!" Nun trat auch Texomon näher, schnüffelte an den unterschiedlichen Steinen und nickte. "Ja, das ist der Eingang", sagte er dann zögernd, "Aber wie sollen wir ihn öffnen? Bei Dew gab es einen Wasserstrahl, aber wir haben bloß eine Kerze..." "Es geht hier nicht um die Feuerstärke", vermutete Nerina langsam, "Wenigstens nicht so sehr. Man muss etwas wissen, um ihn zu öffnen, irgendwas über Feuer und Stein. Vielleicht kann man ihn ja aufschmelzen..." "Oder explodieren lassen!", fiel Texomon aufgeregt mit ein, "Wie den einen Stein, den ich neulich unten im Krater zerlegt habe! Beim Suppekochen, weißt du noch?" "Wäre gut möglich", erwiderte Nerina langsam, "Immerhin war es dieselbe Art Stein und warum sollte es nicht auch hier funktionieren." "Im Zweifelsfall geht sicher auch nicht viel kaputt...", entgegnete Texomon entschlossen und brachte sich in Positur, "Geh mal ein paar Schritte zurück, Nerina!" Rasch gehorchte sie ihrem Iramon und hielt angespannt die Luft an, während sie wartete. Texomon holte tief Luft, fixierte einen für Nerina unsichtbaren Punkt in der Mitte des Kreises und bließ eine gigantische Flammenzunge in die Dunkelheit. Die Steine schienen zu ächzen, zu stöhnen und auf unheilvolle Weise zu flüstern, doch nichts geschah. "Na sowas", brummte Texomon, schoss eine weitere Flammenzunge und eine nächste, bis der ganze Steinkreis rot zu glühen schien, doch immernoch wollte er nicht nachgeben. Vielleicht ist der Stein einfach zu dick, dachte Nerina verzweifelt, vielleicht braucht man den Flammenwurf eines Glurak, um sie zu sprengen! Doch dann erinnerte sie sich abermals an die Felswand in Dews Tal. Nicht die tatsächliche Stärke des Wassers war es gewesen, die sie aufgesprengt hatte, sondern die Temperaturunterschiede und plötzlich wusste sie, was zu tun war. "Texomon!", rief sie eilig über das Prasseln seiner Flammen, "Ziele immer auf den gleichen Punkt! Du musst die Steine unregelmäßig erhitzen, das wird sie brechen!" Texomon zögerte kurz, dann formte er mit den Händen einen Trichter vor der Schnauze und schickte eine einzelne, glühendrote Stichflamme auf einen Punkt in der Mitte des Kreises. Einige Herzschläge lang schien alles in Zeitlupe zu gehen. Ganz langsam griff die Flamme nach dem ächzenden Felsen und eine einzelne Stelle darauf glühte strahlendrot auf. Dann schien die Szenerie für einen langen, quälenden Augenblick erstarrt, bevor eine mächtige Explosion sie beide von den Füßen riss. Mit einem Aufschrei kullerte Nerina über rassiermesserscharfe Felsen, Texomon instinktiv an die Brust gepresst, während glühendheiße Asche auf sie hinabregnete und dutzende qualmender Löcher in ihre Kleidung brannte. Texomon schüttelte verdutzt die Ohren. "Puh, na das ging ja mal ab", murmelte er überrascht von seiner eigenen, durchschlagenden Wirkung und half Nerina wieder auf die Füße. Vorsichtig schlichen sie sich wieder näher. Der graue Kreis war komplett verschwunden, stattdessen lag nur noch ein großer Haufen qualmender Kieselsteine am Fuß des Durchgangs und von dahinter fiel helles, rotes Licht in die große, schwarze Höhle um sie herum, ergoss sich in einem hellen, wabernden Streifen über den Boden des Tunnels und beleuchtete den Weg, den sie gekommen waren. "Na, wer sagt’s denn!", rief Nerina begeistert, während Texomon argwöhnisch die Ohren stellte. "Irgendetwas ist aber trotzdem anders", murmelte er vor sich hin, "Ich höre ein fernes Rumpeln, wie von diesen Dingern, die ihr Zug nennt... Vielleicht schickt er uns ja einen fahrbaren Untersatz?", fragte Texomon hoffnungsvoll. "Oder er fährt die Vorrichtung für die Feuerwalzen hoch", brummte Nerina finster, "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie immer brennen!" Wie zur Bestätigung ihrer Worte sprang plötzlich eine grelle Stichflamme aus dem Boden, keine zwei Schritte jenseits des Durchganges. Kurz wogte sie hin und her, wie eine Blume im leichten Wind, dann begann sie, im hypnotisierenden Rhythmus eines unhörbaren Herzens hin und her zu schwanken, sodass sie mal die eine, mal die andere Seite des nun eher schmalen Ganges versperrte. Hinter ihr tauchten weitere Flammensäulen auf, alle wogten hin und her, wie im Takt einer unhörbaren Musik. "Wie zum Henker sollen wir da durch kommen?", wisperte Nerina nach einer kleinen Weile, in der sie nur stumm dagestanden und den Tanz der Flammensäulen beobachtet hatten, "Es sind so viele und sie scheinen keine Lücke freizulassen. Ein kleines Feurigel kann sicher zwischen ihnen hindurchschlüpfen, aber wir beiden sind viel zu leicht angreifbar." "Vielleicht kann man sie löschen?", fragte Texomon hoffnungsvoll, doch seine Aquaknarre verdampfte nur wirkungslos, während die Feuersäule nicht einmal flackerte. "Sie müssen schrecklich heiß sein", stieß er erschrocken hervor und wich einen Schritt zurück. Nerina überlegte. Wasser war das Element der Freude gewesen, das Element, in dem man sich treiben ließ, wie Texomon gesagt hatte. Neru hatte die Prüfung erst nach zähem Ringen bestanden, weil er versucht hatte, dem Wasser seinen eigenen Willen aufzuzwingen, statt sich in ihm treiben zu lassen. Texomons intuitives Wissen hatte ihn und Nerina vor einem solchen Schicksal bewahrt, doch nun schien auch er ratlos zu sein... "Was macht das Feuer aus...?", murmelte sie geistesabwesend, während sie in die tanzenden Flammen starrte, "Es kann nicht das Treibenlassen sein, wie beim Wasser. Feuer muss man bezwingen, es kontrollieren..." "Aber bezwungenes Feuer ist kaltes Feuer", erwiderte Texomon scharf, "Und kaltes Feuer, das ist der Blitz. Er ist emotionslos, zielt genau und kennt keine Abweichungen von seiner Bahn. Feuer ist anders. Feuer lebt und atmet. Es..." "Es braucht Emotion", fuhr Nerina nachdenklich fort, "Mut, Freude, Energie... Feuer ist mehr als blindwütige Zerstörung! Es ist Freude, Tatendrang! Leben! Und es kann wunderschön sein!" Vorsichtig trat sie einen Schritt näher an die prasselnde Feuersäule heran. Beißende Hitze schlug ihr ins Gesicht, doch es war kaum schlimmer, als an einem kühlen Wintertag zu nahe an den Ofen gerutscht zu sein. Kurz verharrte sie reglos, dann streckte sie blitzschnell eine Hand an der Hauptflamme vorbei. Es war warm, ja, aber sie verbrannte sich nicht. Wie sie als kleines Kind durch die Flamme einer Kerze gegriffen hatte. "Ich glaube, wir müssen nur den unmittelbaren Hauptflammen ausweichen", sagte sie begeistert, "Die anderen Feuerschlieren um sie herum sind dünn, wie eine Kerzenflamme. Aber wir müssen sehr, sehr schnell sein... Texomon?" Verblüfft stellte Nerina fest, dass ihr Iramon ihr gar nicht zusah. Stattdessen starrte er immernoch auf die Flammen, wippte selbst im Takt mit, als lausche er der unhörbaren Sinfonie ihres Tanzes. Fasziniert beobachtete sie, wie er beinahe von selbst zu tanzen begann. "Was ist los...?", fragte sie unsicher, doch Texomon presste rasch einen Finger auf die Schnauze. "Pscht!", zischte er aufgeregt, "Konzentrier dich auf die roten Flammensäulen, nur auf die roten, dann kannst du es spüren..." Gebannt folgte Nerina seinem Rat, betrachtete den stummen Reigen und fühlte plötzlich, wie eine Art reiner Begeisterung sie durchfloss, reiner Freude und Energie... Vorsichtig griff sie nach Texomons Hand und begann ebenfalls, sich im intuitiven Rhythmus zu wiegen. Es war nicht so, dass sie die Melodie hören konnte, sie spürte sie mehr, spürte sie wie eine Erinnerung, die sie zuvor noch nie gehabt hatte. "Lass uns hindurchtanzen!", sagte sie schließlich leise, "Wenn wir in ihrem Takt tanzen, wird uns nichts geschehen!"

Es war ein komisches Gefühl, durch einen wogenden Wald aus lodernden Feuersäulen zu tanzen, die einen jederzeit verschlingen konnten, doch Angst, das hatte Nerina bereits nach den ersten unsicheren Schritten durch die dünnen Flammenwände festgestellt, verschloss die inneren Ohren und die stumme Musik erstarb, sodass sie ihre Furcht niederrang. Fr1nde war der Schlüssel, dachte sie, Begeisterung! So verdrängte Nerina all das, was sie über Vernunft gelernt hatte, griff fester nach Texomons warmer Krallenhand und begann leise mitzusummen. Sie bewegten sich schnell, schnell genug, um durch die dünnen Kerzenflammen zu gehen und doch bekam ihr zunächst plumper Tanz mit der Zeit eine unerwartete Grazie, schien sich selbstständig zu machen, bis sie ausgelassen und lachend durch die Höhle tollten, hin und herwogten, wie die Flammen selbst, ein Teil von ihnen wurden, wie zwei kleine Feuergeister. Nerina spürte, wie die Flammen an ihren Ohren zu knistern begannen, freundliche Worte zu raunen schienen und ihre Energie durchflutete ihren Körper, verhalf ihr zu ungewöhnlicher Schnelligkeit und sie war beinahe enttäuscht, als das Flammenmeer sie unbeschadet an seinem jenseitigen Ufer ausspie... Ganz plötzlich traten die Wände zurück und Nerina und Texomon stolperten eine etwa hüfthohe Stufe hinunter und fanden sich in weichem, warmem Sand. Für eine ganze Weile blieben sie stumm liegen, lauschten dem Klang des eigenen Herzens, das langsam den Rhythmus der Flammen verlor und wieder in normaler Geschwindigkeit zu klopfen begann. Im gleichen Maße schwand auch die seltsame, fremde Energie aus ihren Körpern, als zwängten sich die freien Feuergeister zurück in ihre engen, plumpen Hüllen aus Fleisch und Blut. "Das war... schön!", hauchte Nerina wie verzaubert und Texomon nickte. Seine Augen reflektierten immernoch den fernen Feuerschein und hätte Nerina nicht gewusst, dass ihr Iramon nicht weinen konnte, sie hätte schwören mögen, dass sie glänzten. "Feuer ist nicht nur Kampf und Macht und praktische Dinge", sagte Texomon leise, "Es ist vorallem eines... Leben. Es ist genauso Leben wie das Wasser - oh und man kann in ihm genauso gut frei sein. Es ist nicht Ruhe, wie das Meer, aber es ist die Wärme der Sonne, die einen stark macht." Glücklich legte Nerina einen Arm um ihn und drückte ihn ganz fest an sich. "Und es ist Freundschaft und Liebe, ebenso sehr wie Mut und Kraft. Komm, Texomon! Lass uns schnell gehen, damit wir Neru und Evoli an unserem Feuer teilhaben lassen können!"

Sie folgten dem Gang eine Weile lang unbehelligt, bis sie an eine neuerliche Wand stießen, eine andersartige diesmal, nicht glatt und undurchdringlich, sondern eher natürlichen Ursprungs, so, als sei an dieser Stelle einst die Decke eingestürzt. Der Gang selbst wand sich an den großen Felsbrocken vorbei steil in die Tiefe und durch ein großes Loch in der Decke fiel schwaches Licht. "Ob wir wohl rauf müssen... oder runter?", fragte Nerina zögernd. Texomon zuckte mit dem Schwanz. "Der Gang führt nach unten", kommentierte er nachdenklich, ging einige Schritte in den Tunnel hinein und hielt dann inne. "Es riecht merkwürdig", kommentierte er zögernd, "Aber das kommt vielleicht von dem Fukano..." "Welchem Fukano?", fragte Nerina alarmiert und trat rasch hinter ihn. Im schwachen Licht erkannte sie tatsächlich ein Fukano. Zusammengerollt lag es am Boden der Höhle und schien zu schlafen. Als Texomon vorsichtig näher trat, hob es nicht einmal den Kopf. "Ob es tot ist...?", fragte er zweifelnd, beugte sich vor und stupste das reglose Wesen mit einem Krallenfinger an, "Es scheint nicht verwundet zu sein oder so... Oh... Entschuldige...", fügte er noch rasch hinzu, als er aus Versehen ein kleines Büschel Fell herausriss in der Bemühung, es auf den Rücken zu drehen. Fukano regte sich immernoch nicht, doch nichts an seinem Körper sah tot oder verfault aus. Es schien lediglich zu schlafen, ja, sogar sein Brustkorb hob und senkte sich ganz leicht. Texomon gähnte und hockte sich neben es. "Ach, irgendwie kann ich dich verstehen", murmelte er und ließ den Kopf auf Fukanos Brust sinken. Nerina hatte das Gefühl, dass das Blut in ihren Adern gefror. "Texomon!", rief sie eindringlich, "Texomon, steh auf! Es muss Giftgas dort unten sein! Bei Vulkanen ist das manchmal! Komm her!" Doch Texomons Augen sahen nur müde und friedlich zu ihr auf. "Giftgas?", fragte er abwesend, "Ja... Ja, schon möglich..." "Texomon! Komm weg da!" Verzweifelt lief sie zu ihm, versuchte, ihn hochzuheben, doch Texomon war einfach zu schwer. Schlaff hing sein weicher Körper in ihren Armen und unwillige Augen sahen sie an. "Warum kannst du mich nicht schlafen lassen?" "Mach eine Flamme!", verlangte Nerina scharf. Texomon gähnte. Aufgebracht packte Nerina ihn an den Schultern und schüttelte ihn. "Mach eine Flamme! Los!" "Mhm", machte Texomon, ohne zu reagieren. Zorn flammte in Nerina auf, der Zorn der Verzweiflung und instinktiv griff sie auf etwas zurück, dass Vater ihr einst beigebracht hatte, eine vage Erinnerung ihrer Kindheit. Pokemon haben einen Urinstinkt, den Befehlen ihres Trainers zu gehorchen, hatte er gesagt, die Namen der Attacken schlafen in ihren Genen... "Texomon! Glut!", befahl sie fest und tatsächlich hob Texomon den Kopf und bließ eine winzige Flamme. Sie löste sich von seiner Schnauze, stieg bis auf Brusthöhe auf und flackerte dann völlig unbeeindruckt von ihrem Erzeuger vor Nerinas Gesicht. Verblüfft riss Texomon die Augen auf. "Wie... kann.... das sein?", fragte er und richtete sich schwerfällig auf. "Geh dorthin, wo sie wieder normal brennen!", zischte Nerina, "Schnell! Ich hole Fukano!" Während Texomon davonwankte, holte sie tief Luft, beugte sich zu dem reglosen Fukano hinunter und packte es an den Flanken. Mehr schleifte sie es über den rauen Boden, als es zu tragen und einige Male musste sie innehalten und nach Luft schnappen, ehe sie den schweren Körper schließlich neben Texomon auf dem Boden ablegte. Der kleine Drache lehnte schwer atmend an der Felswand, die Augen halb geschlossen. "Was zur Hölle", stieß er müde hervor. Nerina hockte sich neben ihn und streichelte beruhigend über seinen Kopf, bis sich sein Atem beruhigte. "Giftgas", sagte sie erneut, "Es ist schwerer als Luft, darum hab ich es nicht abgekriegt und Feuer brennt in ihm nicht." "Es macht müde", murmelte Texomon, als erwache er aus einem langen Schlaf, "Wie wenn man Blei in den Gliedern hätte..." Nerina nickte schwer. Blaze' Fallen waren in der Tat nicht nur dafür gemacht, Unbefugte zu verjagen. Offensichtlich waren sie durchaus auch dafür entwickelt worden, um zu töten...
 

>>>Neru<<<
 

Neru und Aquana bauten sich schützend vor dem Eingang zur Höhle auf. "Das wird hart", flüsterte Neru seinem Iramon zu, "Versuch nicht, sie zu besiegen. Wir müssen nur irgendwie diesen Eingang verteidigen." Aquana nickte kaum merklich und ließ dabei ihre Gegner nicht aus dem Auge. Ein großes Schillok stand vor ihr und als ob das noch nicht genug wäre, stand neben ihm ein Bisaknosp. "Zwei gegen einen ist aber nicht gerade fair", erklärte Neru hochmütig. Es ging nicht darum, irgendwelche Kampfbedinungen auszuhandeln, doch je länger er sie ablenken konnte, desto besser. Viel Glück, Nerina!, schickte er ihr einen letzten gedanklichen Gruß hinterher. Dann fokussierte er die beiden Trainer gegenüber. "Och je! Bekommen wir jetzt etwa doch noch Angst, Kleiner?" "Ich hab keine Angst", erwiderte Neru sofort. "Und ich heiße Neru, wie heißt ihr denn?" Er versuchte, so viel Freundlichkeit in seine Stimme zu legen wie möglich, auch wenn er innerlich eine Heidenangst hatte. Aquana saß neben ihm, gespannt wie eine Feder, ihren langen Schwanz mit der Flosse hoch erhoben, so, als könne sie jeden Augenblick losschlagen. "Ich bin Rita", erklärte die Frau hochmütig. "Und mein Name ist Augusto", erklärte der Mann. Allmählich gingen Neru die Ideen aus. "Und wie seit ihr uns auf die Schliche gekommen?" Rita sah ihn verwirrt an, doch Neru hatte sich Mühe gegeben, so zu klingen, als würde ihn diese Frage wirklich beschäftigen. "Nun ja..." Sie stockte und sah sich nach ihrem Partner um. Aus den Augenwinkeln konnte Neru die Sonnenstrahlen sehen. Sie schoben sich langsam immer höher über das Lamm hinweg. "Wir haben unsere Spione überall", erklärte der Mann langsam, "Aber jetzt geh zur Seite! Wir müssen das Mädchen erwischen, bevor es den Feuerstein erreicht." Neru war unsicher. Er musste den Kampf unter allen Umständen so lange wie möglich hinauszögern. Bitte, Sonne! Zieh weiter!, flehte er innerlich. "Seid ihr denn sicher, dass ihr sie noch erwischen könnt?", fragte er und trat mit großer Geste einen Schritt auf die Seite und machte damit den Zugang frei. Sie starrten ihn an. "Was wisst ihr denn über diesen Ort?", fragte er. Vielleicht hatten sie das Lied und die Legende ja gar nicht gehört. "Naja, nun..." Der Mann schien nun ebenfalls verwirrt. Damit, dass Neru den Zugang jetzt so bereitwillig öffnete, hatte er nicht gerechnet. Doch Aquana ebenso wenig. 'Was denkst du dir denn?', fragte sie, 'Warum gibst du ihnen den Weg frei?' Neru winkte unauffällig mit einer Hand hinter dem Rücken und versuchte, ihre Worte zu ignorieren. Noch waren die beiden abgelenkt. "Habt ihr das Lied gehört?", fragte er, "Ich würde da nicht reingehen, ohne die ganzen Verse zu kennen." In Nerus Kopf stellte er sich einen großen Fleischbrocken vor, den er einem Krokodil hinhielt. Er war es nicht gewöhnt, mit Leuten auf diese Weise zu verfahren, eine klare Aussage war ihm normalerweise lieber. Doch er hatte keine Ahnung, was die beiden noch alles für Pokemon im Petto hatten, da war es besser, Nerina so viel Zeit wie möglich zu beschaffen. Rita, das Krokodil in Nerus Vorstellungen, schnappte unüberhörbar nach dem Köder. "Erzähl uns die Verse", fuhr sie Neru an. Offenbar war es ihr auch nicht recht, so lange vor dem Eingang zu warten. Doch Nerus Worte hatten eine leichte Furcht in ihr geweckt, das hörte er an ihrer Stimme. Der Mann schien jedoch enthaltsamer zu sein oder schon gefrühstückt zu haben, denn er erwiderte: "Kinder müssen sich da vielleicht davor fürchten. Ich sage, wir räumen ihn aus der Bahn und schnappen uns die Göre." "Der Tunnel wurde von Blaze, dem Feuerarenaleiter entworfen", erklärte Neru mit hoch erhobenem Kopf, "Er wurde dazu entworfen, nicht Eingeweihte davon abzuhalten, ihn zu betreten. Man erzählt sich, schon viele große Trainer wären auf dem Weg zum Feuerstein verschwunden und keiner von ihnen hätte je das Tageslicht wiedergesehen." Er sprach langsam und versuchte, so viel Dramatik in seine Rede zu legen, wie möglich. Aquana starrte ihn an, auch Rita und Augusto wussten nicht, was sie sagen sollten. "Kindermärchen!", winkte Augusto ab. "Aber was, wenn er doch Recht hat?", fragte Rita ein wenig ängstlicher. Neru war Rita eindeutig sympatischer als Augusto. "Nun, das Lied darf eigentlich nicht weitererzählt werden, aber wenn das richtige Angebot käme, könnten wir ja einen Handel abschließen." "Einen Handel?" Augusto lachte höhnisch auf. "Wie wäre es mit: Wir zerquetschen dich wie eine Fliege, wenn du das Lied nicht sofort ausspuckst?" Neru wurde ganz weiß im Gesicht und sein Puls, der schon die ganze Zeit raste, drohte ihm die Brust zu zerreißen. "Wenn ihr mich zerquetscht, kann ich aber nichts mehr sagen", erklärte er und er sprach dabei viel mutiger, als er sich fühlte. Augusto schien nicht auf solche Argumente gefasst zu sein. Wenn er normalerweise vor Leuten erschien, waren die angemessen beeindruckt und oder verängstigt und hatten keine Probleme mehr damit, von dem überzeugt zu werden, was Augusto wollte. Neru wechselte das Schema, damit konnte man immer gut Lehrer aus der Reserve bringen. "Kommt schon", sagte er fast mit weinerlichem Tonfall, "Ich bin doch noch ein Kind, ich hab nicht vor, an diesem Berg hier zu verenden." Rita sah Augusto mitfühlend an. "Können wir ihn nicht gehen lassen? Unser Auftrag lautete nur, sie von dem Feuerstein abzuhalten." Augusto legte die Stirn in Falten und schüttelte unmerklich den Kopf. Er sagte jedoch: "Na klar. Wie wäre es damit, Junge: Wenn du uns das Lied vorsingst, erklären wir uns bereit, dich und dein Iramon gehen zu lassen. Das einzige, was wir wollen, ist der schöne Anhänger, den du um den Hals hängen hast." Neru schluckte. Dass die beiden so schnell auf einen Handel eingehen würden, hatte er nicht erwartet. "Aber der ist von meiner verstorbenen Großmutter. Ich würde ihn nur ungern weggeben." "Nun, unter anderen Umständen", erwiderte Rita und sie klang dabei überhaupt nicht mehr mitfühlend, "Werden wir wohl das mit der Fliege wieder aufgreifen müssen." "Okay, Okay." Neru holte tief Luft und versuchte, so viel an Kreativität aufzubringen wie er konnte. "Oh, Gedächtnis!", stieß er aus und bedachte dabei Aquana mit einem hilfesuchenden Blick, "Lass mich nicht im Stich!" Dann begann er stockend und langsam, als müsse er sich an jede Zeile erinnern: "Der Stein des Feuers werd ich genannt - doch hat sich schon mancher die Finger... ääh..." 'Verbrannt', hörte er in seinem Kopf. "Verbrannt", sagte Neru stolz und fuhr dann fort: "Auf der fernen Insel liege ich versteckt - dessen Feuer ..." Oh Mann, wie mache ich weiter?, überlegte er fieberhaft. "... wurden schon einmal geweckt." In diesem Sinne ackerte er sich durch die nächsten Strophen seines selbst erfundenen Gedichts. Aquana half ihm, wann immer er mit seinen Reimen ins Stocken kam. Schweiß rann Neru von der Stirn und er begann, am ganzen Leib zu zittern. Wie lange würde es wohl dauern, bis die beiden den Betrug herausgefunden hatten? Doch noch schrieb Rita die Zeilen mit fliegenden Fingern auf ihrem Pokedex mit. "Dort oben, wo die Sonne trohnt - der Ort, an dem das Pokemon geklont - In einer Höhle voll von Bitterkeit - sich der Zugang zu dem Labyrinth verschweigt. In der Sonne stärkster Kraft - ist auch dieses Rätsel geschafft - denn im Zyklus von zwei Mal im Jahr - Sieht man den Zugang in der Höhle klar. Die Höhle liegt versteckt im Berg - geschaffen hier in diesem Zwerg, - der dreien kleiner Bruder im Ring - der die Sterne am Eingang einfing. Geschützt von einem Flammenmeer - und Feuerrädern und sehr viel mehr - liege ich im Dunst von Rauch verborgen - Bald werde ich aus dem Loch gehoben. Ist des Kriegers Herzen gut - Und seine Taten auch voll Mut - Findet er den rechten Weg - und kommt sich selbst nicht ins Geheg. Der Weg ist steinig bis zum End - doch du, Krieger, bist behend - brichst nicht ab den Weg zum Stein - wird er auch bald bei dir sein. Der Weg, der führet nur nach vorn - denn sonst schürst du nur den Zorn - Der Berg selbst erkennt die Herzen - und kann dir bereiten große Schmerzen."

'Das klang gar nicht schlecht', vernahm er Aquanas bewundernde Worte in seinem Geist. Stirnrunzelnd steckten die beiden die Köpfe zusammen. Eine enorme Zeitspanne war schon vergangen und Schillok wie auch Bisaknosp hatten es sich auf dem Boden gemütlich gemacht. Unauffällig versuchte Neru, hinter sich zu schielen, um zu sehen, wie weit die Sonne schon wäre und entdeckte zu seiner unendlichen Freude, dass sie nur noch mit ein paar kleinen Strahlen das Lamm berührte. Es war jetzt nur noch eine Frage von wenigen Minuten, bis sich der Zugang schließen würde, jedenfalls hoffte Neru das. Was würde nur geschehen, wenn der Zugang offen blieb? Nicht aufgeben!, ermahnte er sich im Stillen. "Was bedeuten diese Zeilen?", rief ihm Rita zu, die in all dem, was Neru sich nun aus den Fingern gesaugt hatte, versuchte, irgendetwas zu finden, mit dem sie weiterkommen konnten. Neru dachte nach. "An welcher Stelle hängt ihr denn?", fragte er stockend. "Naja, das mit dem geklonten Pokemon zum Beispiel?", fragte sie und Neru atmete erleichtert auf. In der Schule hatte er einmal ein Referat zu dem geheimen Labor in dem Mewtwo geklont worden war, halten müssen. So räusperte er sich und stellte sich vor, er stünde wieder in seiner Klasse. "Nun ja, vor langer Zeit..." Er warf sich dabei in die Brust, doch dann stockte er. Hinter ihm grollte es und langsam begann sich der Zugang, zu schließen. "Der Kerl wollte uns nur ablenken!", grollte Rita, "Bisaknosp! Rankenhieb!" Der Zugang hatte sich hinter Nerus Rücken schon fast verschlossen. "Weg hier!", schrie er Aquana zu, die versuchte, so schnell wie möglich den Ranken zu entkommen. "Schillok! Aquaknarre!", befahl Augusto und der Wasserstoß traf Neru frontal in die Brust, "Das büßt du uns!" In ihren Augen lag ein Ausdruck voller Hass und Zorn. Neru wusste, was ihnen blühen würde, wenn sie diesen Irren in die Hände geraten würden. Aquana sprang hinter ihn und fing ihn auf, bevor er an der Wand hinter ihm aufschlagen konnte, während das Bisaknosp alles, was es konnte, hinter ihnen her schickte. Ein Rasierblatt streifte Nerus Gesicht und er spürte einen heftigen Schmerz in seiner Backe auflodern. "Wir müssen hier raus!", keuchte er, während er sich das Blut, das ihm über die Wange lief, abwischte. Aquana leuchtete wieder blau auf und Evoli duckte sich unter einem weiteren Hagel von Rasierblättern weg. "Renn! Neru!", erklärte sie, während sie kurz verharrte und sich konzentrierte. Aus ihr heraus sprangen fünf weitere Evolis, die in unterschiedliche Richtungen davonrannten, zwei davon begleiteten Neru, während die andern Scheinangriffe auf die beiden Pokemon abfeuerten. Schon fast hatte Neru die Kannte erreicht und damit begonnen, hinauf zu klettern, als sich eine Hand um seinen Knöchel schloss. Evoli hing knapp über ihm und gab mit einem Seufzen ihre Trugbilder auf. Neru begann, sich Vorwürfe darüber zu machen, dass er diese Fähigkeit nicht länger mit ihr trainiert hatte, doch nun hatte er dringendere Probleme. "Lass mich los!", keifte er den Mann an und trat mit aller Kraft mit seinem anderen Fuß auf dessen Hand. Ein Schmerzensschrei war zu hören und dann kletterten Neru und Evoli so schnell sie konnten die Felswand empor. "Wir müssen Kämpfen!", erklärte Evoli fest, während sie sich hinter einen Felsen duckten. "Kämpfen?", fragte Neru und sah sich um.. Das Plateau, über das sie gestern noch geklettert waren, war zwar felsig und rau, doch konnte man auf ihm nicht entkommen, vorallem dann nicht, wenn eine Horde Pokemon hinter einem her war. Ein Tauboss stieg aus dem Vulkankrater auf und Neru konnte erkennen, dass Rita und Augusto auf dessen Rücken saßen und ihn von dort oben feindselig beobachteten. "Keine Chance auf Flucht!", erklärte er, "Hoffentlich kommt Nerina bald. Dann können wir es diesen Großmäulern zeigen."
 

>>>Nerina<<<
 

"Tja, dann bleibt uns wohl nur der Weg durch die Decke", seufzte Texomon nach einer Weile und stand vorsichtig auf. Er wankte immernoch leicht und nach der Bewegung zu schließen, mit der er seine Stirn massierte, hatte er ziemliche Kopfschmerzen. "Geht's dir gut?", fragte Nerina besorgt, doch Texomon schnaubte nur abwehrend. "Es geht schon wieder", brummte er, "So ein Schlag auf den Kopf ist nichts, was mich lange schlafenlegt..." Allein der Protest in seinen Worten verriet, dass das Giftgas ihm immernoch mehr zu schaffen machte, als ihm lieb war, doch Nerina ließ es fürs Erste dabei bewenden. Texomon hielt als Pokemon viele, schwere Verletzungen, Verbrennungen und Vergiftungen ohne nennenswerten Schaden aus und er selbst würde wohl wissen, was er sich zumuten konnte. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die schroffen Felsen vor ihnen. "Sie sehen nicht aus, als ob man da hochklettern könnte", überlegte sie laut, "Und außerdem haben wir auch noch Fukano dabei. Das kann ich unmöglich bei sowas tragen. Ich meine, mit einem Seil vielleicht, aber wie sollen wir das da hochbringen?" "Haben wir denn eins?", fragte Texomon, nun wieder mit etwas mehr Enthusiasmus. Nerina nickte und zerrte die starke Leine aus ihrem Rucksack. "Ich könnte versuchen, sie zu werfen", schlug sie vor, doch das Ende der Leine erwies sich als überaus schlechtes Wurfgeschoss und selbst, als sie es um einen faustgroßen Lavastein knoteten, erreichte es nicht einmal die Hälfte der erforderlichen Höhe. "Ich kann versuchen, da rauf zu klettern und es mitnehmen!", schlug Texomon vor und knotete sich das Seil um den Bauch. Doch nach zwei Metern gab auch er auf. Zuviel Geröll löste sich unter seinen Klauen und schlussendlich rollte er in einer enormen Lawine aus Staub und Sand auf den Boden zurück. "Hm... So geht es nicht", meinte er gedehnt, blieb am Boden hocken und starrte die Wand an, ohne sie zu sehen, "Man müsste fliegen... Ja, fliegen!" Begeistert stellte er die Ohren auf. "Hast du nicht gesagt, mit heißer Luft könnte man fliegen, Nerina?" Nerina runzelte die Stirn. "Ja, schon, aber... Man bräuchte einen Heißluftballon, einen ziemlich großen, um..." "Was ist das hier?", unterbrach sie Texomon eifrig und kramte in ihrem offenen Rucksack. Einige Male ertönte das alarmierende Geräusch von zerreißendem Stoff, dann zerrte er die große, wasserdichte Plane hervor, auf der Nerina sonst immer ihr Swag aufbaute und die sie als Notfall-Wetterschutz mitgebracht hatte. "Die ist doch sicher groß und luftdicht genug, ich meine, sie muss schließlich nur mein Gewicht tragen... Wie geht das mit dem Ballon?" Neugierig geworden hockte Nerina sich neben ihn und betrachtete die Plane nachdenklich. "Sie ist aus Plastik", sagte sie langsam, "Wir könnten sie an zwei Seiten zusammenkleben, sodass eine Art Ballon entsteht. Wenn du ganz vorsichtig das Plastik hier anschmelzen könntest..." Es wurde ein gutes Stück Arbeit, bis Texomons schwächer werdendes Feuer die Ränder der Plane einigermaßen zufriedenstellend verschweißt hatten, doch als er schließlich den Kopf hineinsteckte und vorsichtig die Luft zu erhitzen begann, bekam das merkwürdige Gefährt tatsächlich Auftrieb, entschlüpfte seinem Kopf und machte einen sanften Sprung in die Höhe, ehe es schlaff vor seine Füße plumpste. Texomon schnalzte mit einem seltsamen Doppelklicken mit der gespaltenen Zunge. "Super", sagte er stolz, "Dann binden wir mich am besten gut daran fest. Ich bringe das Ding nach oben, mach die Schnur los und werf dir ein Ende runter. Du bindest es Fukano um den Bauch und ich versuche, ihn hochzuziehen. Wenn das geklappt hat, kommst du, einverstanden?" "Bist du nicht schon etwas zu müde für soviel Feuer?", fragte Nerina besorgt und Texomon ließ schicksalsergeben die Arme sinken. "Ich fürchte, danach bin ich erstmal fertig mit Feuer, aber es muss ja schließlich nochmal sein!" Mit zitternden Fingern band Nerina ihm erneut die Leine um die Brust und befestigte sie in den Ösen am Rand der Plane, dann sah sie ängstlich dabei zu, wie Texomon tatsächlich schwankend vom Boden abhob, winzige Feuerschübe aus den Nüstern blasend. Für einige schreckliche Sekunden schien es, als gäbe der Ballon unter seinem Gewicht nach, doch dann schwebte er sanft dem hellen Fleck an der Decke entgegen. "Ich fliege!", rief er zwischen zwei Flammenstößen und riskierte einen Sturz von einem knappen Meter, ehe er sich wieder fing. Nerina kicherte nervös. "Ist ungewohnt, dich so weit oben zu sehen!", rief sie zu ihm hinauf, "Wie ein Engelchen!" Texomons Flamme schlug Funken vor Empörung und er hustete, doch er ließ sich nicht dazu verleiten, zu antworten. Kurze Zeit später verschwanden seine Füße über dem Rand des Loches. Für einige Minuten herrschte Schweigen, dann tauchte sein Kopf über dem Rand auf, eingerahmt von warmem, goldenen Licht. "Ich hab das Seil um einen Felsen gewickelt!", rief er zu ihr hinab, "Hier! Fang!" Rasch wickelte Nerina das Ende der Leine um den immernoch schlafenden Leib des Fukano, dann gab sie Texomon bescheid, zu ziehen. Mit einem erstickten Laut schlug er die Krallen in den Boden, doch Fukano war zu schwer. "Binde einen Stein an das andere Ende!", rief Nerina ihrem Iramon zu, "Dann kann der Fukano hochziehen!" "Okay!", machte Texomon schlicht. Sein Kopf verschwand hinter der Kante und kurz darauf erschien ein Lavabrocken von der Größe eines Fußballes. Ohne weitere Vorwarnung glitt er in die Tiefe und mit einem erstickten Jaulen hob Fukano vom Boden ab, sauste ungebremst nach oben und stolperte dort in Texomons ausgestreckte Arme. Nerina hörte, wie Fukano ihm das Gesicht abschleckte. "Äh! Lass das!", zischelte Texomons gequälte Stimme wie zur Bestätigung, "Geh zu deinem Rudel! Ich muss Nerina retten!" Doch als Nerina einige Minuten später mit zerschrammten Händen und zerrissenen Hosen ebenfalls bei im ankam, stand Fukano immernoch hinter ihm, wedelte mit dem Schwanz und kläffte freudig, als es sie wiedererkannte. "Schon gut, schon gut!", lachte sie nervös, als es auf sie zulief, "Du brauchst mich nicht gleich wieder über die Kante werfen!" Mit zittrigen Fingern löste sie das Seil von ihrem Bauch, das sie beim Klettern mithilfe eines weiteren Gegenzug-Steins unterstützt hatte und knotete es an einer Felsnase fest - für den Fall, dass sie den Weg doch noch einmal zurückkehren mussten. "Kommt... Endspurt - wenigstens hoffe ich das..."

Der Gang, dem sie nun folgten, lag scheinbar dichter unter der Erdoberfläche, denn immerwieder war seine Decke von winzigen Spalten und Rissen durchzogen, durch die das goldene Licht der Sonne fiel und auch die Luft war deutlich angenehmer und der Boden schien geebnet worden zu sein. Alles deutete also darauf hin, dass sie sich dem Ende ihrer Suche näherten. Fukano trottete mit noch immer benommen gesenktem Kopf hinter Nerina her und winselte jedes Mal kläglich, wenn Texomon es mit einem strengen Blick bedachte. Doch auch ihr Iramon sah nicht gut aus. Müde schleifte sein Schwanz hinter ihm her, er ließ die langen Ohren hängen und die sonst so frische, gelbe Zeichnung in seinem Gesicht wirkte fahl und ungesund zitronenfarben. Tröstend drückte sie seine Schulter. "Ich bin mir sicher, es ist nicht mehr weit!", sagte sie gerade leise, da hob Fukano plötzlich witternd die Schnauze, zwängte sich an ihnen vorbei und trabte mit wedelndem Schwanz vorneweg, ein schlanker, vierbeiniger Schatten strebte ihm aus der Dunkelheit entgegen. "Noch ein Fukano", flüsterte Texomon, als er und Nerina gleichzeitig stehenblieben, "Und da kommen noch mehr!" Inzwischen hatte sich ein ganzes Rudel der Feuerhunde jaulend und bellend am Ende des Ganges postiert, Köpfe und Schwänze hoch erhoben und ihre Zähne glänzten weiß im schummrigen Halbdunkel. "Sie sehen nicht aus, als ob sie uns durchlassen würden", murmelte Texomon grimmig, "Ob wir sie bekämpfen müssen?" "Ich weiß nicht..." Nerina machte eine hilflose Geste, "Sie sehen nicht aggressiv aus, solange wir dort nicht hineingehen und das da hinten könnte ihre Höhle sein. Es wäre nicht richtig, sie in ihrem eigenen Revier zu schlagen..." "Aber wohin sollen wir sonst?", wisperte Texomon zurück und trat vorsichtig einige Schritte näher an die Verteidiger heran. Das Jaulen der Fukano ging in warnendes Knurren über. "Hee! Was soll das, ihr Fukano?", rief er ihnen zu, "Wir wollen doch nur den Stein, mehr nicht!" Eins der Fukano, Nerina glaubte dasjenige zu erkennen, das sie gerettet hatten, trat vor, knurrte einige Male seinen Namen und trottete dann zu einer Nische in der Wand. Als Nerina und Texomon ihm folgten, sahen sie, dass diese hinaus in eine gewaltige Halle führte, einen Kuppelsaal von bizarrer Schönheit, von dem überall breite Gänge und Korridore abzweigten. "Fukano sagt, dass das hier früher mal ihr Revier war", flüsterte Texomon in ihr Ohr, "Aber ein Magmar hat sie hierher vertrieben. Sie würden gerne wieder nach Hause, aber es ist zu stark..." "Ist in ihrem Revier denn der Feuerstein?", fragte Nerina hastig, "Irgendein Ding von hohem Wert, das ein Mensch dort versteckt hat." "Ja", übersetzte Texomon kurz darauf Fukanos knappe Antwort, "Auf einer Insel im glühenden Tal, am Ende einer Brücke. Wenn wir für sie Magmar besiegen, bringen sie uns hin."

"Ich hoffe, du übernimmst dich nicht", brummte Nerina besorgt, als Texomon kurz darauf hinaus in den Kuppelsaal trat und einen furchterregenden Brüller ausstieß, der zweifelsohne Magmar auf den Plan rufen würde. Texomon warf ihr nur einen hilflosen Blick zu. "Ich hatte mir fast gedacht, dass Blaze seinen Arena-Kampf nachholt", seufzte er, "Aber mit einem großen, plumpen Magmar werde ich schon fertig, ich muss nur... Oh uaaaarg!" Mitten im Satz wurde er von zwei mächtigen Pranken von den Beinen gerissen. Mit einem erschrockenen Aufschrei sauste er durch die Luft, überkugelte sich einige Male und kam knurrend wieder auf die Beine. Magmar stand inmitten der Halle und grinste, soweit sein Entengesicht einen solchen Ausdruck zuließ. Dampf strömte aus seinen Stacheln und seine kleinen Augen zwinkerten voller Boshaftigkeit. Langsam schritt es auf Texomon zu, der ihm gerade einmal bis zur Hüfte reichte. "Pah! Komm nur her!", fauchte Texomon zornig, dann rannte er selbst Magmar entgegen, holte aus und rammte ihm seinen Doppelkick in die Magengegend. Magmar hustete Stichflammen, doch Texomon gelang es, sich darunter wegzuducken. Im nächsten Augenblick sprang er, schlug die Klauen in Magmars Schultern und spie ihm seine Aquaknarre ins Gesicht. Magmar stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und mit einem einzigen Schlag seines mächtigen Armes beförderte er Texomon ohne Federlesens bis ans gegenüberliegende Ende der Halle, wo er mit einem unguten Klatschen an die Wand knallte. Benommen richtete er sich auf und hustete scheppernd. "Texomon!", schrie Nerina ängstlich, "Geht es dir gut?" "Hab mich schon besser gefühlt", brummte Texomon, während er mit langen, etwas wackeligen Sätzen näherkam, "Aber jetzt kann er was erleben!" "Willst du Seedraking werden?", rief Nerina und umklammerte das Amulett, "Du könntest den Hallenboden fluten und -" "Zu gefährlich!", versetzte Texomon düster, "Bin müde." Ohne weitere Erklärung sprang er wieder auf Magmar zu, machte aber im letzten Moment einen Sprung zur Seite, sodass er dessen schlagenden Klauen auswich und begann stattdessen, wie wild um Magmar herumzurennen. Das Feuerpokemon knurrte unheilverkündend und spie ihm eine Flammenzunge nach der anderen nach, bis es schließlich aussah, als renne Texomon an einer feurigen Longe. "Texomon!", rief Nerina, als er an ihr vorbeihastete, "Bleib stehen und spring ihn von hinten an!" Texomon nickte unmerklich, dann duckte er sich, wirbelte mitten im Lauf herum und schoss auf Magmar zu, das sich träge noch einige Schritte weiter drehte, ehe es sein Gewicht zum Stillstand brachte. Mit einem wilden Fauchen sprang Texomon auf Magmars Rücken und grub die Klauen in die ungeschützte Stelle zwischen seinen Schulterstacheln. Für kurze Zeit verschwand er in Dampfschwaden, dann perlte Wasser über Magmars Kopf - viel Wasser. Es sah aus, als trage er einen kleinen Springbrunnen mit sich spazieren. Brüllend wedelte Magmar mit den Ärmchen, versuchte das Wasser fortzuwischen und ging langsam in die Knie, als das feindliche Element an seinen Kräften zehrte. Nerina wollte schon jubeln, da schien in Magmars Kopf ein seltsamer Notfall-Prozess stattzufinden. Mit dem Ausdruck des Denkers grinste er, dann ließ er sich auf den Rücken fallen. Texomon quietschte schmerzhaft auf, als sich die Stacheln in seinen Bauch bohrten. Kurz verschwand er vollends unter dem Körper des größeren Pokemon, dann war er plötzlich wieder da. Tiefe Kratzer glänzten rot auf seiner blauen und gelben Haut und er sah insgesamt recht schwarz und verkohlt aus, doch seine Augen glühten wie schwarze Diamanten. "Doppelkick!", rief er, holte aus und trat Magmar mit beiden Füßen ins Gesicht. Mit einem schmerzhaften Grunzen sank das Feuerpokemon zurück, rollte sich aus Texomons Reichweite und wandte sich zur Flucht. Kaum war es hinter dem nächsten, großen Torbogen verschwunden, als Texomon zusammenbrach...

Die Brücke lag tief im Herzen eines schier endlosen Systems aus Tunnels und Höhlen, Grotten und Hallen und nach einer Weile begann Nerina, sich zu fragen, ob sie inzwischen unter einem ganz anderen Teil der Zinoberinsel wanderten. Andererseits spielte es keine Rolle. Müde grub sie die Finger in das Nackenfell des Fukano, auf dessen Rücken sie saß und ließ zu, dass es sie trug, wohin auch immer es wollte. Sie war müde. Sie konnte nicht weitergehen und Texomon war nach dem harten Kampf zu müde gewesen, aufzustehen. Nun lag er quer über dem Rücken eines anderen Fukano, hob gelegentlich den Kopf und blinzelte müde in die Finsternis. Sie hatten es in stummem Einvernehmen aufgegeben, sich den Weg zu merken und starrten mit müden, blicklosen Augen auf schroffe Felsen, Säulen, Ärker und Nischen. Längst hatte Nerina jegliches Zeitgefühl verloren, als die Fukano plötzlich stehen blieben. "In der nächsten Halle beginnt die Brücke", übersetzte Texomon, während er träge zu Boden krabbelte, "Die Brücke über glühendes Gestein. Die Fukano glauben, dass sie einstürzen wird, sobald wir drüben sind." "Verstehe...", murmelte Nerina seufzend, "Dann hoffe ich, dass du ein großes Feuerpokemon wirst..." "Im Moment fühl ich mich eher nach Feurigel", seufzte Texomon, bevor sie sich bei den Fukano bedankten und dicht beisammen durch den schattigen Durchgang auf die Brücke traten. Sie war schmal und aus einem seltsamen, glatten Material gefertigt worden, auf dem Nerinas Füße immer wieder abglitten. Der Stein viele Meter unter ihnen leuchtete rot und gewaltige Hitze strahlte von ihm ab, umschloss sie vollständig und machte das Atmen beinahe unmöglich. Texomon schien die Temperaturen besser wegzustecken, doch Nerina geriet immer häufiger ins Husten. Heiße Luft biss in ihre Lunge und mehrere Male wurde ihr kurz schwarz vor Augen. Das letzte Stück der Brücke ließ sie sich schlichtweg hinabrutschen, landete schmerzhaft mit den Knien auf hartem Stein und blinzelte in das grelle, rotgoldene Licht. In der Mitte der Insel stand eine Art steinernen Altars und darauf ruhte eine steinerne Kugel, in deren Mitte etwas hell leuchtete, wie ein Stück gefangener Glut. Im selben Augenblick ertönte hinter ihr ein Knirschen und als sie erschrocken herumfuhr, sah sie, wie die merkwürdige Brücke in sich zusammenstürzte. Die Trümmer schlugen auf dem harten Stein auf, begannen zu brodeln - und schmolzen davon, wie Butter auf Toastbrot. "Die wäre hin", murmelte Nerina, inzwischen schon jenseits von Furcht oder Verzweiflung. Texomon nickte stumm, trat zum Altar und berührte vorsichtig die Kugel. "Sie ist von allen Seiten verschlossen", sagte er düster, "Wir müssen sie irgendwie aufbrechen..." Entnervt warf er die Kugel auf den Boden, doch nichts geschah. Gerade wollte er ihr mit einem kleinen Felsen zu Leibe rücken, als Nerina schwach nach oben deutete. "Texomon, schau mal", flüsterte sie müde, "Dort an der Decke, ist das nicht ein Spiegel?" Texomon folgte ihrem Blick und prallte erschrocken zurück. "Da bin ich", keuchte er heiser, "Aber ich sehe aus, wie ein Geist... Ganz weiß und grau..." "Es ist ein Mondspiegel", versetzte Nerina kraftlos, "Und weißt du noch, wie es in dem Gedicht hieß? 'Der Mond, der schien einst hell auf mich, nun ist der Himmel leer'?" "Das heißt, dass wir den Spiegel zum scheinen bringen müssen...", stellte Texomon resigniert fest. Nerina nickte. "Oh, Texomon, könntest du noch eine Flamme machen? Eine einzige?" "Ich werd's versuchen." Langsam hob Texomon die Kugel auf, trat unten den Spiegel und schloss die Augen. Eine einzelne, klägliche Flamme flackerte aus seinen Nüstern, ihr Schein kaum heller als das dumpfe, wummernde Rot. "Kräftiger, Texomon!", rief Nerina hoffnungsvoll, "Du schaffst es!" Texomon holte erneut Luft, erbebte kurz und nieste. Die Stichflamme war kurz, aber hell und der Spiegel schickte einen leuchtenden, silbernen Mond zurück. Die steinerne Kugel zersprang in tausend Fetzen und der Feuerstein rollte träge davon und blieb genau vor Nerinas Füßen liegen. Langsam hob sie ihn auf. "Bist du bereit?" Texomon nickte mit zusammengebissenen Zähnen und Nerina setzte den Stein in ihre Brosche. Im nächsten Augenblick entwuchs der Mitte der Brosche eine Woge goldenen Lichts. Sie erfasste Texomon, schien ihn vollkommen zu verschlingen - und als sich das goldene Licht in einem Feuerwerk roter Sterne verlor, da stand nicht mehr ihr Iramon vor ihr, sondern ein großes, stattliches Geschöpf, mit flammender Mähne und großen, treuen, braunen Augen. "Und? Was bin ich?", fragte es und versuchte irritiert, sich aufzurichten, doch die Erde zog es unweigerlich auf seine vier Pfoten zurück. "Bin ich ein Glurak? Aber wo sind meine Flügel?" "Du bist kein Glurak", erwiderte Nerina, immernoch stumm vor Staunen, dann lief sie auf es zu und grub voller unbändiger Freude ihre Hände in sein weiches, rotes Fell. "Lass uns gehen - Arkani!"

Arkani stieß ein zustimmendes Heulen aus und kauerte sich nieder, bis Nerina auf seinen Rücken geklettert war, dann trabte es los. Den glühenden Stein überwand es in nur wenigen, federnden Sätzen und ließ die Fukanos auseinanderspritzen, als es wie ein leuchtender Komet auf sie zugeschossen kam. Die nächsten Minuten vergingen wie im Traum. Mit langen, mächtigen Schritten jagte Arkani durch die Dunkelheit, seine langen Beine trugen es problemlos über Steine und Stufen. Als sie den Saal erreichten, in dem Texomon gegen Magmar gekämpft hatte, stieß Arkani eine kräftige Flammenzunge aus und ein Teil des Daches stürzte ein. Ohne zu zögern sprang Arkani über die Trümmer, hinein ins helle, silbrige Licht des Vollmonds. Wie ein geisterhafter Feuerreiter flog Nerina über die nächtlichen Vulkanebenen dahin, eine Gruppe kleiner Schatten folgte ihnen.
 

>>>Neru<<<
 

"Das war's!" Neru ließ sich auf den Boden sinken. "Egal, wohin wir auch gehen, sie finden uns." Evoli ließ für einen Moment die Ohren hängen. "Aber wir geben nicht auf", erwiderte sie trotzig und ließ ihren Blick über die zerklüftete Ebene schweifen, die so wenig Schutz und Versteckmöglichkeiten bot, wie es ein Landstrich nur tun konnte. Dann ließ sie den Blick hinauf zum Himmel gleiten. Über ihnen flog Tauboss mit Augusto und Rita auf dem Rücken und ging langsam tiefer. Keine zehn Sekunden später standen die beiden auf dem Boden und blickten höhnisch zu Neru und Evoli hinüber. Augusto rieb sich das Handgelenk. "Das Spiel ist aus", erklärte Rita mit eiskalter Stimme. Neru schluckte. Was sollte er jetzt auch noch sagen? Seine List, die beiden davon abzuhalten, Nerina in den Tunnel zum Feuerstein zu folgen, war erfolgreich gewesen. Doch jetzt war der ganze Schwindel aufgeflogen und die beiden schienen nicht unbedingt gute Verlierer zu sein. "Gringo wird sich über einen Gefangenen freuen", meinte Augusto mit einem Lächeln und Rita lachte herzlich auf. "Das gibt eine Gehaltserhöhung." Im selben Moment griffen die beiden zu ihren Pokebällen und das Bisaknosp und das Schillok erschienen wieder. Evoli besah sich ihre beiden Gegner aus zusammengekniffenen Augen und spähte auch zu dem Tauboss hinüber, das wie unbeteiligt hinter Rita und Augusto auf dem Boden saß und sein Gefieder putzte. "Ich hasse diese Momente der Ruhe vor dem Sturm", ließ Augusto vernehmen und Neru musste innerlich zugeben, dass es ihm genauso ging. Doch machte es keinen Spaß, auf einen solchen Kampf zu warten. Als Augusto Schillok eine erste Attacke befahl, glühte Evoli für einen Moment blau auf und fing die Attacke, die auf Neru gezielt war, geschickt mit ihrem Körper ab. Noch im Sprung wandte sie den Kopf zu den beiden um und schoss ebenfalls einen Strahl komprimierten Wassers auf die beiden ab, dem sie erschrocken auswichen. Die nächste Attacke kam von Bisaknosp, das seine Rasierblätter wie Klingen durch die Luft sausen ließ und Neru spürte den Schnitt auf seiner Wange wieder heftig pochen. Rasch gingen sie hinter einem Felsen in Deckung. 'Das kann ja heiter werden', flüsterte er. Doch im nächsten Moment durchflutete ihn Zorn. Es konnte doch nicht sein, dass diese Typen ihn hier auf diesem Plateau nun erwischten. "Wir müssen versuchen, zwischen den Felsen zu entkommen!", raunte er, "Vielleicht könntest du wieder ein paar Doppelgänger von dir erzeugen?" Aquana verwandelte sich wieder zurück in Evoli und schickte ihre Doppelgänger aus, während sie und Neru versuchten, sich hinter den Felsen von den beiden wegzutasten. Ganz vorsichtig, um ja keinen überflüssigen Laut von sich zu geben oder zu erzeugen, schlichen sie von Felsen zu Felsen und von Schlucht zu Schlucht. "Das sind alles nur Doppelgänger", schrie da Rita, "Los, Habitak! Such die beiden, die können noch nicht weit sein." Das war für Neru und Evoli das Stichwort. So schnell und leise sie konnten, rannten sie zwischen den Felsen hindurch, doch es war alles vergebens. Nach nur wenigen Sekunden hatte Habitak sie gefunden und ging in den Angriff über. Evoli wurde wieder zu Aquana. Nur um Haaresbreite verfehlte Habitak sie und erhob sich erneut in die Lüfte, um einen weiteren Angriff zu starten. "Wir müssen ihn da runter holen", erklärte Neru, "Bevor er die anderen holen kann." Diesmal hatte Habitak es auf ihn abgesehen und mit einem Schrei wie von einer riesigen Krähe stürzte es sich auf Neru. Neru hob schützend die Arme vors Gesicht und sprang zur Seite, doch kurz bevor Habitak ihn erreichen konnte, traf es eine mächtige Wassersäule und schmetterte es gegen die nächste Felswand. "Da seid ihr ja!" Ritas Stimme klang viel näher und bevor Neru sich auch nur richtig nach ihr umsehen konnte, zischten schon wieder die Rasierblätter zwischen den Felsen hindurch. So schnell er konnte warf er sich hinter einen Felsen, während Aquana mit einem Ruckzuckhieb in den Frontalangriff überging. Als Wassertyp hatte sie keine Chance gegen das Pflanzenpokemon, doch schaffte sie es, es aus dem Gleichgewicht zu bringen und als Evoli zu Neru zurückzukehren. Ein blutiger Schnitt zog sich über ihre Seite und sie keuchte. Langsam spähte Neru um den Felsen herum, doch sowohl das Bisaknosp als auch Rita waren verschwunden. "Sie sind weg", erklärte Neru verwundert. "Sind sie nicht", erklang genau hinter ihm die Stimme von Augusto. Ein Wasserstrahl schleuderte Neru gegen den Felsen und Schmerz zuckte seine Wirbelsäule empor. Schützend warf sich Evoli über ihn und versuchte, sie beide in einem Sandwirbel verschwinden zu lassen, doch eine leichte Aquaknarre, die schon eher wie ein Sprühnebel aussah, ließ den ganzen aufgewühlten Staub zu Boden gleiten. Wo sind wir da nur hineingeraten?, fragte sich Neru. Es war einfach nicht fair, zwei gegen einen und dann auch noch Elementvorteil. "Tja, das Leben ist nicht fair", erklärte Augusto, als ob er Nerus Gedanken gelesen hätte und Schillok begab sich in Kampfpositur. Als es seinen Körper durchstreckte, um eine weitere Attacke abzufeuern, duckte sich Neru darunter durch und zusammen mit Evoli sprang er so schnell er konnte um den Felsen herum, wo ihn schon ein Hagel von Rankenhieben erwartete. Das letzte, was Neru sehen konnte, waren die grünen Ranken, die überall um sie herum auf sie einschlugen und ein großes Netz, das sich wie in Zeitlupe über sie niedersenkte.

Als Neru wieder zu sich kam - Ein merkwürdiges, nasses Objekt wischte ihm über die Nase - fand er sich auf dem Boden zusammengekauert wieder. Es war bitterkalt und sein ganzer Körper fühlte sich an, als bestünde er aus einem einzigen blauen Flecken. Evoli kauerte neben ihm und schleckte ihm das Gesicht ab. 'Endlich bist du wach, aber lass dir nichts anmerken', hörte er ihre Stimme in seinem Geist. Der Mond stand bereits hoch am Himmel und Neru verstand im ersten Moment gar nicht, wie der da hin gekommen war. "Wie lange war ich weg?", raunte er, so leise er konnte. 'Ein paar Stunden, die Sonne ist gerade erst untergegangen', erklärte Evoli, 'Wie geht es dir?' "Prachtvoll", wisperte Neru zurück mit einem unüberhörbar sarkastischen Unterton, "Was ist passiert?" 'Sie haben uns matt gesetzt.' Erst jetzt bemerkte Neru das Netz, das sie komplett umschloss und somit jede Bewegung unmöglich machte. In der Nähe brannte ein Feuer und Rita und Augusto saßen in seiner Nähe, wärmten sich die Finger und bedachten das Netz immer wieder mit prüfenden Blicken. Allmählich kehrten Nerus Lebensgeister zurück. "Warum sind wir noch hier?", fragte er und stellte sich weiter schlafend. 'Ich glaube, sie warten noch auf Nerina, obwohl sie schon längst hätte erscheinen müssen.' "Was? Sie war noch nicht hier?", erschrocken wollte Neru sich schon aufrichten, besann sich dann jedoch eines besseren. "Wir müssen hier raus", erklärte er. Evoli nickte. 'Das Seil ist zu hart, ich habe die ganze Zeit versucht, einen Faden zu zerschneiden oder zu zerbeißen, aber sie gehen und gehen nicht durch.' Neru nickte unauffällig. Um nichts in der Welt wollte er die Entführer darauf aufmerksam machen, dass er wieder bei Bewusstsein war. Ganz langsam wanderte seine Hand in die Hosentasche und zog sein Taschenmesser hervor. "Versuchen wir es mal damit." Evoli legte sich so in Positur, dass Neru mit einem Arm damit beginnen konnte, an den Fäden herumzusägen. Doch hatte er nicht den richtigen Winkel und all seine Muskeln brannten wie Feuer. Dennoch gaben sie nicht auf. Faden um Faden wurde gekappt. Evoli verharrte ganz still und als Neru die Fäden nicht mehr erreichen konnte, gab er ihr mit seinem Körper Deckung, während sie damit begann, die Fäden über das Messer zu rubbeln, das sie mit den Hinterbeinen festhielt. Neru hatte jedes Zeitgefühl verloren. Während er wartete und nicht sehen konnte, was Evoli hinter seinem Rücken tat, machte er sich Sorgen um Nerina. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Wie konnte es denn möglich sein, dass sie immernoch nicht wieder da war? War ihr etwas passiert? Oder war sie an einem ganz anderen Ort der Zinoberinsel herausgekommen? 'Ich hab’s!', vernahm Neru die freudige und feierliche Stimme in seinem Kopf. "Es kommt jetzt vorallem darauf an, dass wir schnell sind", wisperte er ihr zu, "Wenn sie gerade nicht hinsehen, schaffen wir uns durch das Loch und verstecken uns hinter einem der Felsen. In der Dunkelheit sollte es viel schwerer sein, uns zu finden und anzugreifen." Evoli nickte. Langsam und ohne Verdacht zu erwecken, schoben sie sich auf das Loch im Netz zu.

"Ich werde mal nach unserem Gefangenen sehen", erklärte da Augusto und Neru sah panikerfüllt, wie er aufstand. 'Tu so, als wärst du ohnmächtig', hörte er die Stimme von Evoli in seinem Kopf, während sie sich leise wie ein Windhauch auf das Loch im Netz fallen ließ und es so gut wie möglich unter ihrem Körper verbarg. Neru schloss die Augen und wartete. Er hörte die Schritte von Augusto, als er zum Netz herüberkam. Neru spürte einen leichten Tritt gegen seine Beine. "Der ist immer noch weg. Dein Bisaknosp hat ihn fast erledigt", beschwerte er sich, während er zurück zu Rita ging. "Ach, der schläft nur. Morgen ist der wieder quietschfidel, wirst sehen. Wo bleibt nur diese Göre?" "Vielleicht ist sie ja im Labyrinth draufgegangen?", mutmaßte Augusto. Neru und Evoli machten sich, sobald sich Augusto wieder gesetzt hatte, wieder an ihren Ausbruch. 'Jetzt!', rief Evoli in seinen Gedanken und so schnell er konnte schob sich Neru zwischen den Fäden durch. Doch in eben diesem Augenblick sah Rita zu ihm hinüber. "Hast du nicht gesagt, der schläft noch? Bisaknosp! Rasierblatt!" Neru riss seinen Rucksack vor den Körper, bevor die gefährlichen Blätter ihn erreichen konnten und wie durch Zufall glitt die Schatzkiste, die er und Evoli vor wenigen Tagen im Schiffswrack gefunden hatten, aus dem Seitennetz hervor und wurde frontal von einem der Blätter getroffen. In einem Regen aus Splittern zerbarst sie und ein kleiner, grüner Stein fiel zu Boden. "Evoli!", rief Neru. 'Hab ihn schon!', erklang die Antwort in seinem Kopf, während ein dunkler Schatten vor ihm zwischen den Felsen hindurchsauste. Kurz darauf befanden sie sich wieder auf der Flucht. "So geht es nicht!", rief Augusto, "Aquaknarre, los!" Eine Wassersäule traf Evolis Rücken. Zuerst dachte Neru, er könne denselben Schmerz sehen, den Evoli fühlte, doch dann bemerkte er, dass nicht rote Blitze, sondern grüne vor seinen Augen aufloderten. Doch das Licht kam nicht vom Schmerz, sondern Evoli begann, grün zu leuchten. Sprachlos starrten alle auf das Pokemon, das in eben diesem Moment eine Evolution vollzog und sogar Rita und Augusto stellten die Angriffe ein. Neru konnte in dem grünen Licht zwar die Umrisse seines Evolis erkennen, doch war es größer und seine Beine viel länger. Sein Schwanz sah auf einmal viel dünner und zugleich dicker aus, bis Neru aufging, dass Evoli sowohl an den Beinen als auch am Schwan und auf dem Kopf Blätter gewachsen waren. Der grüne Schein lichtete sich und im nächsten Augenblick schossen Rasierblätter genau auf Schillok zu. Dieses fiel, zu verdutzt, um auszuweichen. Es wurde frontal getroffen, förmlich von den Blättern massakriert und brach zusammen. Noch während es zu Boden ging, hörten sie ein langes Heulen, das von vielen weiteren helleren, heulenden Stimmen begleitet wurde. Ein riesiger Wolf oder Hund sprang in einer roten Feuersäule über einen der Felsen und er wurde von einem guten Dutzend weiterer Schemen begleitet. Auf seinem Rücken konnte Neru eine Gestalt ausmachen, doch er erkannte Nerina erst, als sie neben dem Feuer vom Rücken des gigantischen Hundes stieg. Das ist kein Hund!, schoss es Neru plötzlich durch den Kopf, während er die lange Mähne und das orange-schwarz gestreifte Fell genauer in Augenschein nahm. Der Kopf des Wesens war stolz erhoben und der lange, buschige Schwanz ließ keinen Zweifel mehr daran zu. Vor Neru stand ein riesiges und wunderschönes Arkani, das just in diesem Augenblick damit begann, Bisaknosp aufs Korn zu nehmen und ihm gigantische Flammensäulen entgegenwarf.
 

>>>Nerina<<<
 

Gedämpftes Sonnenlicht fiel durch die zugezogenen Gardinen und irgendwo draußen sangen Vögel. Verschlafen streckte Nerina sich auf der weichen Matratze aus, rollte sich behaglich auf den Rücken und zuckte zusammen, als ihre Schulter reklamierte. Überrascht hob sie nun doch den Kopf, blinzelte müde um sich und ließ sich beruhigt zurück in die Kissen sinken. Dann war es also doch kein Traum gewesen, dachte sie noch halb im Schlaf, dann haben wir es doch noch geschafft - nur wie? Alle Erinnerungen seit jenem Augenblick, da sie auf Arkanis Rücken geklettert war, waren verwischt wie lang vergangene Erinnerungen oder ein Traum. Düster erinnerte sie sich daran, wie Arkani mit ihr auf dem Rücken durch das unterirdische Gebiet der Fukano gelaufen war, wie sie ausgebrochen und endlich wieder ins Freie gelangt waren. Arkani war gerannt, ja, beinahe geflogen, so schnell, dass Nerina nicht einmal mehr seine Beine hatte erkennen können. Er hatte Neru und Evoli schon von weitem gewittert und wie ein feuriger Komet waren Arkani und das Fukano-Rudel, das ihm blindlings zu folgen schien, in das Lager der Entführer gerast. Nerina hatte kaum genug Zeit gehabt, die Szene zu begreifen, da hatte Arkani auch schon das Wache haltende Bisaknosp zu Asche verbrannt. Neru hatte ihnen begeistert zugewinkt, ein Wesen an seiner Seite, das Nerina noch nie zuvor gesehen hatte. Doch die Entführer hatten nicht so einfach aufgegeben. In Sekundenschnelle hatten sie acht weitere Pokemon auf Arkani und Nerus seltsamen Begleiter losgelassen. Von Arkanis Rücken aus hatte Nerina ein Sandan erkannt und ein Rettan, zwei Knofensa und ein Sterndu. Mit dem Geheul eines jagenden Wolfsrudels hatten die Fukano sich positioniert, während Arkani mit feurig peitschendem Schweif in die Gruppe der Feinde gefahren war. Wie es ihm gelungen war, Sterndu und Sandan vom Rest zu trennen, war Nerina ein Rätsel geblieben, doch dann war plötzlich alles ganz schnell gegangen. "Mach Rasierblatt!", hatte Neru dem seltsamen Pokemon zugerufen und im Handumdrehen hatte das Pflanzen-Evoli, denn um ein solches schien es sich zu handeln, das Wasserpokemon niedergemäht und rang mit dem Sandan, während die Fukano die übrigen Feinde attackiert, sie auseinandergetrieben und irgendwo im felsigen Gelände in Einzelkämpfe verwickelt hatten. Sie hatten perfekt zusammengearbeitet und bald schon hatten die beiden Trainer die Übersicht verloren. Als Arkani sich ihnen mit finalistischem Knurren zugewandt hatte, da hatte sie wohl die Panik gepackt und sie hatten ihren letzten Trumpf ausgespielt: Ein Tauboss, auf dessen Rücken sie geflüchtet waren, ihre Pokemon im Stich lassend. "Bist du in Ordnung?", hatte Nerina ihren Bruder gefragt, nachdem auch das letzte Geheul in der Ferne verstummt war, "Und wen hast du da dabei?" "Erklär ich dir später", hatte Neru geächzt und das Pflanzen-Evoli angestoßen. "Werd wieder Evoli, dann kann Arkani uns leichter tragen!" Doch das Pflanzenwesen hatte nicht reagiert, sodass er es schlussendlich einfach gepackt und quer über Arkanis breiten Rücken geworfen hatte, ehe er selbst zu ihnen heraufgeklettert war. Arkanis Schritte waren immer langsamer und schwerfälliger geworden, während er mit seiner schweren Fracht durch das nächtliche Vulkanland getrottet war und Nerina fand es höchst erstaunlich, dass er bis zum Grundstück ihrer Eltern durchgehalten hatte, ehe er schwer geseufzt und sich ins weiche Gras hatte fallen lassen. Wenigstens hatte er noch den Anstand besessen, wieder zu Texomon zu werden, ehe er das Bewusstsein verloren hatte, sodass Nerina ihn mit Mutters Hilfe hier herauftragen und auf das Bett legen konnte. An diesem Punkt riss Nerinas Erinnerung jäh ab. Vermutlich hatte sie sich gerade daneben fallen lassen und war auf der Stelle eingeschlafen...

Unten klirrte Frühstücksgeschirr und Nerinas Magen meldete mit einer solchen Heftigkeit sein Interesse an, dass sie sich nur noch einmal räkelte und dann aufstand. Ganz leise tappte sie durch das dunkle Zimmer zum Schrank, warf sich Trainingshosen und ein frisches Hemd über und schlich nach draußen, um den schlafenden Texomon nicht zu wecken. Auf leisen Sohlen huschte sie ins Bad, warf ihrem Spiegelbild einen erschrockenen Blick zu und beschloss spontan, dass das Frühstück sicher schon vorbei wäre, bis sie all den Ruß aus ihrem zerzausten Haar gebürstet hatte.

"Guten Morgen!", rief sie ausgelassen, als sie auf die Veranda gelaufen kam, blieb dann aber überrascht stehen. Am anderen Ende des großen Tisches saßen zwei Gäste, der Junge lächelte Nerina freundlich wennauch distanziert zu, das Mädchen hob nur kurz den Blick von der Zeitung, die sie gerade las. Auf den Fließen hinter ihnen dösten ein Nidoran und ein Taubsi im warmen Sonnenschein. "Oh, hallo Sipho und Ella", begrüßte Nerina ihre beiden Trainerkollegen mit einem müden Lächeln und fügte etwas plump hinzu: "Wie geht's? Was macht ihr hier?" "Schlechte Neuigkeiten", erwiderte Ella düster, als Nerina sich auf ihren altvertrauten Stuhl hatte fallen lassen und reichte ihr die Zeitung herüber. Nerinas Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und ihr wurde ganz schwindelig vor Schrecken. Das Bild auf der Titelseite zeigte sie selbst mit Texomon, offenbar eine Fotografie vor der Arena von Azuria. Daneben prangte Neru, wie er mit Aquana durch die Ziellinie des Wasserski-Wettbewerbes sauste. Außerdem entdeckte sie ein weiteres Bild von ihm mit Evoli, sowie eine riesige Aufnahme von Seedraking in Dews Arena. Auch Ella mit einem gewaltigen, überdimensionierten Kramurx und Sipho mit Nidoran waren abgedruckt worden. Darüber standen in dicken, kursiven Buchstaben ihre Namen mit dem Vermerk: 'Dringend gesucht.' "Was hat das zu bedeuten?", rief sie aus, nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, "Ob Dew uns verraten hat - oder Misty? Aber wieso...?" "Offenbar sind es ein paar Trainer gewesen, die uns verpetzt haben", sagte Sipho schulternzuckend, "Womit genau es angefangen hat, wissen wir nicht, aber dann kamen immer mehr und mehr Hinweise dazu. Gestern schon lief hier in Zinobia eine riesige Suchaktion nach euch, um zu verhindern, dass ihr den Feuerstein bekommt." "Gringo hat sofort das Notfall-Programm aufgerufen", erzählte Ella weiter und begann mit fliegenden Fingern, eine der Orangen zu massakrieren, "Stell dir vor, er hat die Psycho und Drachenarena in Kanto und Johto schließen lassen, zusammen mit Eis, Stahl, Geist und Unlicht, versteht sich. Hier in dem Artikel schreibt er, dass ab so fort in Kanto nur die fünf Grundarenen Felsen, Wasser, Elektro, Pflanze und Gift und in Johto die zusätzlichen Arenen für Käfer, Flug und Kampf zur Verfügung stehen. Diese insgesamt acht Arenen sollen zukünftig für die Vereinigte Liga qualifizieren." "Aber...", hauchte Nerina entsetzt, "Aber die Arenaleiter, die sind doch noch..." Sipho ließ traurig die Schultern hängen. "Niemand weiß, wo sie sind", sagte er leise, "Wie vom Erdboden verschluckt..." "Aber ... Aber Texomon hat sich nur durch diese elende Feuerprüfung gekämpft, um seine natürliche Entwicklung bei Drache zu bekommen ... und ohne Psiana sind wir auch geliefert!", protestierte Nerina kraftlos. Sipho und Ella tauschten einen langen Blick, dann sagte Ella scharf: "Nun, wie es aussieht, hat sich die Debatte mit Psiana sowieso erledigt." "Was soll das heißen?", rief Nerina erschrocken und sprang auf, "Was ist denn mit Neru, wo steckt der überhaupt?" "Morgen Nerina", entgegnete ihr Bruder müde und löste sich von der Ecke, an der er so reglos gelehnt hatte, dass Nerina ihn gar nicht bemerkt hatte. Er sah furchtbar mitgenommen aus. Große, blaue und grüne Flecken pflasterten seine Arme und Beine und unter einem frischen Pflaster an seiner Wange rann immernoch Blut hervor. Erschrocken lief sie ihm entgegen, doch Neru wich zurück und senkte kraftlos den Kopf. "Wir sind raus", sagte er müde und ohne ihren Blick zu erwidern, "Evoli hat im Eifer des Gefechts einen Blattstein verschluckt und ist zu Folipurba geworden. Vater sagt, er kennt so eine Entwicklung aus Eden. Jetzt kann sie sich nicht mehr zurückverwandeln und auch Aquana klappt nicht mehr... Wir haben es den ganzen Morgen versucht, aber..." "Oh Neru, das... das ist ja schrecklich!", stieß Nerina schockiert hervor, "Aber wie... Was sagt Vater dazu? Kann man da gar nichts machen?" Müde schüttelte Neru den Kopf. "Er hat ihr ein Mittel gegeben, bei dem sie normalerweise Steine wieder ausspucken, aber es hat nicht gewirkt. Er sagt zwar, es besteht die Chance, dass Evoli wieder sie selbst wird, wenn wir die Pflanzen-Prüfung schaffen, aber ich soll mir keine zu großen Hoffnungen machen... Oh, wer hätte denn ahnen können, dass sie bei einem Blattstein so reagiert? Ich hatte noch nie von einer Pflanzen-Entwicklung bei Evoli gehört!" Tränen verschleierten plötzlich seinen Blick und ruckartig wandte er sich ab und stapfte durch den Garten davon.

Nerina folgte ihm, Ella und Sipho zurücklassend. Schweigend liefen sie zwischen den hohen Walnussbäumen hindurch, in denen sie als Kinder ihre Baumhäuser gebaut hatten bis an den Rand des Gartenteiches, in dem die Quapsel spielten. Erschöpft ließ Neru sich ins weiche Gras fallen und schweigend setzte Nerina sich neben ihn. Eine ganze Weile lang beobachteten sie die spielenden Quapsel, dann sagte Neru leise: "Ich hätte so gerne weiter mitgemacht - aber ich hab es versiebt - und mein Evoli sehe ich vielleicht nie wieder..." Tröstend legte Nerina ihm eine Hand auf den Arm. "Auch wenn sie jetzt ein bisschen blättrig ist", sagte sie sanft, "Sie ist immernoch dein Evoli, Neru! Und wer weiß, vielleicht klappt es ja doch noch mit der Pflanzen-Arena! Wir sollten so schnell wie möglich hingehen und es herausfinden!" Doch Neru ließ nur die Schultern hängen. "Wie gesagt", begann er langsam, "Vater meinte, ich soll mir bei Pflanze nicht zu viele Hoffnungen machen. Das Problem ist, dass es für Folipurba ja nicht mehr darum geht, ein Pflanzenpokemon zu werden, denn das ist sie ja schon. Eigentlich müsste sie stattdessen eine Normal-Prüfung ablegen, damit sie sich mit viel Glück wieder an Evoli erinnert... Und die einzige Arena, die Normal-Pokemon behandelt, ist nur für Mitglieder des Team Rocket reserviert..." "Aber warum kann Vater dir den Stein denn nicht einfach geben?", fragte Nerina aufgebracht, "Er, Lind und Eich haben sie doch entwickelt!" "Weil ein Iramon auch für die Evotation bereit sein muss", entgegnete Neru hitzig, "Weil sie sterben können, wenn man sie in eine Form zwingt, die ihrem Wesen zu sehr widerspricht. Darum ja auch all die Prüfungen..." Eine Weile lang starrten sie beide stumm auf den kleinen Gartenteich, dann fuhr Neru düster fort: "Und es gibt noch weitere, schlechte Neuigkeiten. Bevor du gekommen bist, hat Vater uns erzählt, dass Eich, Lind und er noch etwas über die Iramon herausgefunden haben. Weißt du, sie... Sie schaffen doch nicht mehr als drei Evotationen. Da jeder von uns - euch - schon zwei hat, müssen wir uns gut überlegen, welche dritte Form am praktischsten wäre... Außerdem sind wir ja jetzt gesucht und stehen außerdem unter Zeitdruck. Offenbar hat Gringo Mews Aufenthaltsort herausgefunden und plant Ende Juli eine Expedition dorthin. Vater und die Professoren meinen, wir müssen Gringo vorher besiegen - und das lässt uns nur noch vier Wochen. Jetzt müssen wir gut geplant vorgehen... Aber er wollte auf dich warten, ehe wir das alles besprechen. Er holt grade nochmal Brötchen." "Ich kann es einfach nicht fassen", stieß Nerina resigniert aus, griff nach Nerus Hand und drückte sie so fest, dass er schmerzhaft die Luft einsog, "Nur noch eine einzige freie Evotation, keine Drachen- oder Psychoarena mehr, Verfolger und dann auch noch Zeitdruck? Und ich dachte schon, wir hätten gestern was geleistet!" "Oh, das hast du auch", sagte Neru mit einem bitteren Lächeln, "Dein Arkani ist wunderschön und ziemlich stark!" Nerina nickte, doch sie konnte sich kaum noch über ihren Erfolg freuen angesichts der Misere, in der ihr Bruder nun steckte. "Es ging nur, weil ihr uns den Rücken freigehalten habt", sagte sie leise und voller Bedauern, "Es tut mir ja so leid, Neru, ich..." Sie stockte abrupt, als Neru einen Finger an die Lippen hob. Gebannt folgte sie seinem Blick zum anderen Ufer des Teiches. Etwas regte sich im hohen Schilf auf der anderen Seite, ein schemenhafter Schatten... Mit einem einzigen Blick wussten die Zwillinge, was zu tun war. Zu oft hatten sie nervige Klassenkameraden, spionierende Schülerpaten oder lauschende Eltern mit demselben Trick in die Flucht geschlagen. Laut fuhr Nerina fort: "Tja, das ist wirklich zu bitter, Neru! Aber ich bin mir sicher, wir kriegen genug Geld zusammen für ein Neues..." "Es ist aber nicht wie das Alte!", fauchte Neru sofort zurück und sprang hitzig auf, "Und es ist deine Schuld!" "Aber es war doch keine Absicht..." Während sie stritten, waren sie nun beide aufgestanden und hatten sich langsam voneinander entfernt, bis sie genau die richtigen Positionen am Ufer bezogen hatten. Nun wechselten sie einen raschen Blick. Neru hob einen Stein vom Boden auf und schüttelte ihn drohend. "Ich hätte gute Lust, zu werfen!", verkündete er harsch. Nerina bleckte angriffslustig die Zähne und hob einen langen Ast auf. "Komm doch her, wenn du dich traust!", rief sie. Neru nickte. "Kannste haben!" Dann rannten sie los, stürzten beide in einer einzigen, simultanen Bewegung auf die Stelle zu, wo sich der Schatten bewegt hatte. Krachend zerbrach das Schilf, dann ertönte ein gedämpfter Aufschrei, als Nerina dem Lauscher auf den Rücken sprang, während Neru ihm drohend den Stein unter die Nase hielt. "Wer zum Teufel bist du und was hast du hier verloren?", herrschte er den Jungen an und Zornesröte schoss ihm in die Wangen, als dieser den Kopf hob, um seinen Blick zu erwidern. "Mando!", fauchte er, "Nicht genug, dass du uns an sie verpetzt hast! Jetzt wolltest du uns auch noch selbst gefangen nehmen oder was? Woher wusstest du, wo wir wohnen?" "Ist kaum ein Geheimnis, dass ihr Yamatos Kinder seid", sagte Mando niedergeschlagen, "Vor allem nicht, wenn man Zugriff auf die Datenbank von Team Rocket hat." Mit blankgewischter Miene fingerte er einen eleganten, silberblauen Pokedex mit Gringos Siegel aus der Brusttasche und hielt ihn Neru unter die Nase. Nerina schluckte hart. "Du... Du bist vom Team Rocket?", stieß sie außer Atem vor Schrecken hervor, "Dann hast also wirklich du uns verraten?" Eine ganze Weile lang sah Mando sie einfach nur an, dann schüttelte er ernst den Kopf, befreite sich aus ihren kraftlos gewordenen Händen und richtete sich vollends auf. "Ja, ich bin vom Team Rocket", sagte er, ohne nennenswerte Begeisterung, "Ist sozusagen Geburtsrecht... Gringo ist mein Vater."

Schockiert wichen Neru und Nerina vor ihm zurück, plötzlich nicht sicher, was sie tun sollten. Seine Worte hatten beide getroffen, wie ein gut platzierter Tritt in den Magen. Alles war schief gegangen. Sie waren entdeckt, sie waren alle hier - und Gringos Sturmtruppen warteten bestimmt schon überall in den Hecken entlang der Grundstücksgrenze. Für einen Augenblick überkam Nerina der Wunsch, Mando einfach rückwärts in den Gartenteich zu stoßen, doch resigniert entspannte sie ihre Muskeln wieder. Was sollte es bringen, ihn nun noch einmal zu demütigen? Sie wollte lieber in Würde verlieren... "Aber ich hab euch nicht verraten", sagte Mando nach einigen Augenblicken des dumpfen Schweigens, "Weil... Nunja, was ich euch damals erzählt habe, wisst ihr, das war nicht gelogen. Es gab wirklich eine Menge Streit zwischen mir und Gringo. Natürlich wollte er, dass ich ein Trainer werde, aber nach seinen Prinzipien. Darum bin ich weggelaufen. Ich bin nach Eden gegangen, unter falschem Namen, natürlich und habe dort mein Geckarbor bekommen. Als die Liga dann vorüber war, da dachte ich, ich schaue mal wieder hier vorbei. Ich hatte seit damals vor zwei Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen und ich dachte... naja, dass sich vielleicht die Dinge zum besseren gewendet hätten, dass jemand ihn besiegt hätte. Aber ich musste feststellen, dass dem nicht so war. Als ich euch dann traf, da begriff ich, dass die Forscher es geschafft haben mussten, neue Iramon zu entwickeln und ich hoffte inständig, dass ihr es schaffen würdet, diesen Wahnsinn zu beenden - und Snobilikat zu befreien. Ich weiß, es muss für euch sehr seltsam klingen, aber sie war mein Mauzi. Ich hab sie mit der Flasche großgezogen. Es bricht mir jedes Mal das Herz, wenn ich im Fernsehen mit ansehen muss, wie er sie zu Grunde richtet..." Er brach ab, sah hilfesuchend zwischen ihren versteinerten Gesichtern hin und her und fuhr hastig fort: "Dann sah ich im Fernsehen, dass sie euch hier vermuten, auf Zinobia und dass ihr tatsächlich Iramon besitzt. Ich wollte unbedingt helfen, also loggte ich mich wieder in die Zentrale ein. Den Pokedex hatte ich ja noch und ich war selbst verwundert, dass Gringo ihn nicht gesperrt hat. Jedenfalls konnte ich auf ihre Daten zugreifen und auch die ein oder andere falsche Fährte legen. Grade suchen sie euch zum Beispiel bei eurem Onkel an der Nordnebelbucht. Aber das wird sie kaum lange beschäftigen. Ich bin gekommen, um euch zu warnen..." "Und dazu kriechst du im Gebüsch herum?", fragte Neru skeptisch. Mando zuckte die Schultern. "Das hatte ich gar nicht vor", beteuerte er, "Aber dann hab ich euch reden gehört und wollte nicht reinplatzen..." "Und das Gartentor hast du auch nicht gefunden?", fragte Nerina sarkastisch. Mando sah sie mit großen, dunklen Augen hilflos an. "Die Stadtseite war zu gefährlich", erklärte er, "Und die Strandseite... Nun, Yamato hat eine ganze Truppe Pokemon da unten postiert und ich glaube nicht, dass die nur als Alarmanlage gedacht waren... Wie auch immer, ich bin gekommen, um euch zu helfen! Ich kann ihre Datenbank auslesen und euch sagen, wo sie sich aufhalten. Ich hab Zugang zu praktisch jeder von ihren Einrichtungen - und ich will Gringo genauso besiegen, wie ihr." "Und woher sollen wir wissen, dass du wirklich auf unserer Seite bist?", fragte Nerina scharf. Zum ersten Mal an diesem Tag schlich sich wieder ein winziges Lächeln in Mandos Augen. "Hätte ich euch verpetzt", sagte er fest, "Hätten sie euch nicht erst gestern gejagt. Ich wusste, dass ihr nach Safira wolltet - mit euren Iramon und ich habe sie lange genug gesehen, um ein Fahndungsplakat zu malen." Neru gab ein unwilliges Brummen von sich, während es nun an Nerina war, hilfesuchend zu ihrem Bruder hinüberzusehen. "Wo er recht hat, hat er recht", knurrte sie durch zusammengebissene Zähne, "Und vielleicht könnte er dir tatsächlich weiterhelfen." Eine Weile lang starrte Neru auf den schlammigen Boden, verschiedene Emotionen rangen auf seinem Gesicht miteinander, dann zuckte er mit den Schultern, warf endlich den Stein fort und drehte Mando im Polizeigriff die Arme auf den Rücken. "Wir bringen dich zum Haus", verkündete er kühl, "Vater soll entscheiden, ob wir dir trauen sollten oder nicht."



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