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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

von

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Die Jagd beginnt

Kaum war Sherlock halbwegs wieder auf den Beinen, gab es für ihn kein Halten mehr. Er und Watson eilten zur Loge 5. Mittlerweile war sie wieder in ihren Ausgangszustand versetzt worden. Die Sessel standen wieder auf ihren Plätzen und auch der Vorhang hing wieder dekorativ neben der Brüstung.
 

"John, du hast doch sicherlich ein Skalpell dabei", sagte Sherlock, während er einen der Sessel zur Seite schob, um den Boden darunter zu begutachten.
 

"Ja, sicher." Watson begann in seiner Arzttasche zu kramen bis er das kleine Sicherheitsetui fand und dort eines der scharfen Messer herauszog. "Aber was hast du damit vor?", fragte er.
 

"Nun frag nicht, sondern gib her. Du wirst schon sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diesen Trick unseres mysteriösen Freunds durchschaut habe", sagte Sherlock konzentriert.
 

Als Watson ihm schließlich die Klinge reichte, machte er einen langen Schnitt in den Teppich der Loge, sodass er ihn hochklappen konnte. Sofort tastete und suchte er den Boden, wo der Sessel gestanden hatte, ab. Dann lachte er laut auf. "Wusste ich es doch!", rief er triumphierend. "Das ist clever aber nicht clever genug", sagte er und deutete auf zwei Astlöcher, deren Mitte herausgebohrt worden war.
 

"Los John, steck‘ deine Finger in die kleinen Löcher und du wirst sehen, was ich meine."
 

"Das hört sich auf mehr als nur auf eine Weise falsch an." Watson seufzte und ging auf die Knie. Er zögerte einen Moment, bevor er dann seinen Finger durch eines der Bohrlöcher steckte. "Da ist etwas", stellte er erstaunt fest.
 

"Natürlich. So veranstaltet er es. Das was du da fühlst, mein Freund, ist ein Holzstab, gerade lang genug um den Sessel soweit zu kippen, dass er umfällt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dann eine Konstruktion mit Draht und Federn folgt, die ihm erlaubt sie von irgendwo hier zu betätigen", erklärte der Detektiv. "Es muss hier unmittelbar in der Nähe sein, denn für seine Scherze braucht er Sichtkontakt und ich konnte seine Stimme sehr nah hören."
 

Sherlock ging zu den Wänden. "Er hat einen Geheimgang bei den Garderoben und ich bin sicher auch einen in das Zimmer von Miss Daaé." Seine Finger klopften die Tapete entlang. Enttäuscht wand er sich ab. "Kein Hohlraum", stellte er missmutig fest. Das Rätsel um diese Loge war also noch nicht gelöst.
 

"Und was hast du nun vor?", fragte Watson, der sein Skalpell wieder einsammelte, das Sherlock einfach unachtsam auf den Boden geworfen hatte.
 

Sherlock hielt die Hände vor seinem Gesicht gefaltet und dachte nach. "Es bleibt alles beim Alten", sagte er schließlich. "Du gehst zurück ins Hotel und ich werde die heutige Nacht in der Oper verbringen."
 

Sherlock hatte schnell erfahren, dass die Schließer im zweiten Untergeschoss schliefen und so begab er sich auch dorthin. Der Keller war nachts noch finsterer. Dennoch konnte er in den Ecken die Umrisse von den Körpern der Männer ausmachen. Er wählte einen Schlafplatz nah der Treppe, die alle Stockwerke miteinander verband. Wenn etwas Ungewöhnliches vor sich ging, dann würde er es hier als Erster bemerken. Er breitete die mitgebrachte Decke auf den Boden aus und legte sich hin. Den Kopf bettete er auf dem alten Reisekoffer, weniger weil es bequemer war, sondern um ihn im Dunkeln nicht suchen zu müssen.
 

Nachdem er nun auch langsam zur Ruhe gekommen war, konnte er in der Stille um sich herum das leise Gemurmel der anderen Untermieter der Oper hören. Leider lag er zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen.
 

Es dauerte dann jedoch nicht mehr als zulange, vielleicht gerade einmal eine knappe Stunde, bevor Erik an sein Werk ging.
 

Aus dem dritten Stockwerk drangen Schleifgeräusche über die Treppe nach oben, so als ob jemand etwas schweres über den Boden zog. Sofort waren Sherlocks Sinne hellwach. So leise wie möglich erhob er sich von seiner Decke und öffnete den Koffer. Behutsam zog er eine Blendlampe hervor und entzündete den ölgetränkten Docht mit einem Streichholz. Kurz schob er die Blendabdeckung der Lampe zur Seite um mit dem Licht nach der Treppe zu leuchten. Kaum hatte er sie entdeckt, verdeckte er das Licht wieder um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Mit der freien Hand griff er nach seinem Koffer und tastete sich dann behutsam in Richtung der Treppe vor. Die Angst sich in den tieferen Geschossen zu verlaufen, war völlig aus seinen Gedanken verschwunden.
 

Auch im dritten Untergeschoss war alles stockfinster, doch da die Geräusche sehr nah waren, wagte Sherlock nicht, die kleine Blendklappe von der Laterne anzuheben. Stattdessen beschränkte er sich darauf dem Schleifen nachzugehen und sich dabei an den vielen Dekorationen und Bühnenrequisiten entlang zu tasten.
 

Plötzlich stolperte er fast über etwas das am Boden lag. Nur sein Geschick und seine Intuition verhinderten, dass er fiel und Lärm verursachte. Was immer es war, fühlte sich weich unter seinen Füßen an. Kurz setzte der Detektiv den Koffer und fühlte nach dieser Stolperfalle. Es war eines der Abdecklaken, die zum Schutz über den Dekorationen lagen. Dann hörte er wieder das Schleifen von etwas und vor ihm im Dunkeln bewegte sich etwas Großes. Schnell presste er sich dicht an die Kulisse hinter sich.
 

Ein Baum einer Waldkulisse schien zum Leben erwacht zu sein. Das Konstrukt aus Holz, Pappmaché und Farbe hatte sich nach vorne geneigt und seine Wurzeln schleiften über den staubigen Boden. Sherlock nahm sich einen Moment, um das seltsame Gebilde zu begutachten. Dann hielt er die Laterne nach vorne und schob die Blende zur Seite.
 

Der Schein traf einen Totenkopf, oder besser einen dürren Mann, der eine Totenkopfmaske trug. Der plötzliche grelle Schein blendete und überraschte ihn. Der falsche Baum rutschte ihm von der Schulter und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Der Mann riss seinen Mantel hoch und verdeckte damit sein Gesicht gegen das Licht.
 

"Der Herr Phantom nehme ich an!", sagte Sherlock und machte einen Schritt über die Abdeckplane hinweg und auf den Mann zu.
 

Erik war im ersten Moment von dem hellen Lichtschein so geblendet, dass er gar nichts sah. Schützend hielt er den Umhang weiterhin vor seine Augen, bis sie sich an den hellen Schein gewöhnt hatten. "Wer sind sie?", presste er wütend hinter den Zähnen hervor. Welcher Narr würde es wagen, ihn hier in seiner eigenen Oper so herauszufordern? Langsam konnte er nun den schwarzen Stoff wieder senken.
 

"Wir haben uns schon vorhin einmal gesehen", sagte Sherlock und zog bereits ein paar Handschellen hervor, während er die Leuchte weiterhin wie eine Waffe auf den Mann richtete.
 

Erik erkannte nun die Umrisse des Mannes aus seiner Loge und er hörte auch das leise Klicken der Handschellen. "Sind sie ein Polizist oder ein Privatschnüffler?", fragte er und wich leicht ein wenig zurück. Nur ein weiterer Mensch, der ihn wie ein Tier jagte, um ihn in einen Käfig zu stecken oder zu töten. Aber mittlerweile hatte er ja selbst Methoden, um mit solchen Störenfrieden umzugehen. Während Holmes ihm weiterfolgte, begann er die feine Drahtschlinge von seinem Gürtel zu lösen. Der weite Umhang verdeckte dabei die Bewegungen seiner Hand.
 

Sherlocks Mundwinkel zuckte leicht. "Detektiv und hier, um diesen Spuk in Zukunft zu unterbinden." Er sah, dass sein Gegner irgendetwas unter seinem Umhang hervor holen wollte und rechnete daher mit einem Angriff. Er schätzte seinen Gegner nicht als jemanden ein, der Pistolen benutzte, daher nahm er eine Nahkampfwaffe an. Vielleicht ein Messer oder einen Degen von den Requisiten. Seine Vorsicht sorgte dafür, dass er sich gerade noch nach hinten fallen ließ, als etwas Silbriges in Richtung seines Halses flog.
 

Das Drahtlasso verfehlte nur knapp Sherlocks Hals, allerdings fiel bei diesem Ausweichmanöver die Lampe zu Boden. Das metallene Gefäß hielt zwar dem Aufprall stand, dafür rollte es zur Seite und der Lichtstrahl richtete sich in eine andere Richtung. Noch bevor Sherlock sich wieder richtig aufrichten konnte, bekam er einen kräftigen Kinnhaken.
 

Erik knurrte laut und drückte Sherlock auf den Boden. Trotz seiner dürren Gestalt hatte er eine erstaunliche Kraft. "Dann haben diese beiden Idioten es also gewagt, jemanden zu engagieren!" Seine Hände legten sich fest um Sherlocks Hals und drückten kräftig zu. "Bedauerlich für sie, dass durch so einen Auftrag ihr Leben enden wird! Sie hätten auf all die Gerüchte rund um das Phantom hören und sich fernhalten sollen."
 

Sherlock spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Er nahm seine Kraft zusammen und rammte sein Knie in Eriks Magen. Das Phantom keuchte auf und sein Griff lockerte sich, was Sherlock die Chance gab, ihn von sich herunter zu stoßen.
 

Eriks Blick war schmerzverzerrt, als er sich wieder aufrappelte. Mit einer eleganten Bewegung zog er sein Lasso zurück, das bisher noch nach dem fehlgeschlagenen Wurf auf dem Boden gelegen hatte.
 

"Ich habe sie in Miss Daaés Zimmer singen gehört", sagte Sherlock und rieb sich den Hals. Sein Gegner war stark und er sollte es nicht unbedingt auf einen Nahkampf ankommen lassen. Vorsichtshalber hielt er seine Hand vor den Hals, um die Drahtschlinge im Notfall aufhalten zu können.
 

"Lauschen ist eine schlechte Angewohnheit, Monsieur", entgegnete Erik und die beiden begannen einander im Halbdunkeln zu umkreisen.
 

"Nun, eine die wir teilen, wenn man den Direktoren glauben darf", entgegnete Sherlock ruhig. "Aber ich frage mich, was einen Sänger dazu bringt Geist zu spielen. Sollte so jemand nicht lieber auf der Bühne stehen? Ich bezweifele sehr, dass sie mit ihrer Stimme dort keinen Erfolg hätten."
 

"Zu liebenswürdig, Monsieur." Eriks Augen verengten sich. "Aber ich verzichte lieber darauf, mich unnötig zur Schau zu stellen." Wenig Interesse hatte er mit Sherlock nun ein Gespräch über Kunst zu halten.
 

"Zur Schau stellen?" Das war eine merkwürdige Formulierung in diesem Zusammenhang... Allerdings hatte Sherlock gerade keine Zeit sich darüber Gedanken gemacht, denn Erik griff erneut an.
 

Dieses Mal konnte Sherlock dem Schlag ausweichen, der auf seinen Kopf zielte. Geschickt ging er in die Hocke und rammte seinen Oberkörper gegen die Brust des Angreifers. Seine Hände krallten sich dabei in den schwarzen Umhang und er schob das Phantom ein paar Schritte vor sich her, bis sie gegen den Baumstamm der Kulisse stießen.
 

Erik stolperte zuerst und kippte nach hinten, da aber Holmes sich in seine Kleidung gekrallt hatte, wurde dieser mitgezogen. Die beiden landeten grob auf dem Boden und rangelten dort weiter miteinander. Mit Fäusten und Tritten versuchten sie, einander zu überwältigen.
 

Erik gelang es schließlich, Sherlock Holmes mit einem Schlag gegen den Kopf, der ihm ein ansehnliches Veilchen verpasste, von sich zu stoßen. Schnell rollte er sich zur Seite und richtete sich wieder auf. Er keuchte erschöpft und wischte sich von seiner aufgesprungenen Lippe heruntergetropftes Blut vom Kinn. Seine Maske hing nun bereits ein wenig schief. Instinktiv schob er sie zu Recht und sah dann zu Holmes. Allerdings versetzte ihm das, was er dort sah, einen kleinen Schrecken. Zitternd strich er über seinen Kopf und fühlte nur den Schädel mit den drei dünnen, blass-gelben Strähnen.
 

Sherlock blickte auf die Perücke mit dem dunklen Haar, die er seinem Gegner vom Kopf gerissen hatte und nun in seiner Hand hielt. Dann sah er zurück zu Erik. "Ich denke das hier gehört ihnen", meinte er und winkte leicht mit der Perücke. "Meinen sie nicht, dass wir aufhören könnten uns zu prügeln? Sie sollten sich lieber gleich ergeben." Er konnte sich gerade noch unter einen neuen Schlag hinweg ducken. "Nein? Wirklich bedauerlich.“
 

"Genug gespielt!", knurrte Erik. Er nutzte einen kurzen Moment in dem der Detektiv nicht mehr mit der Drahtschlinge rechnete und schlang diese um dessen Hals. Sofort zog er den dünnen Draht zu.
 

Sherlocks Finger gingen sofort zu der Schlinge um seinen Hals, aber solange der Draht so fest gezogen war, dass er schon in die Haut einschnitt, konnte er ihn nicht lösen. Schnell blieb ihm die Luft weg und sein Blick trübte sich. Er riss den Mund auf, doch er brachte keinen Ton hervor. Seine Beine wurden schwach und er sank auf die Knie.
 

"Adieu, Monsieur Detektiv", sagte Erik kalt.
 

"ERIK!" Eine neue Stimme trat zum Geschehen hinzu. Sherlock bekam sie nur noch leise mit, bevor er sein Bewusstsein verlor.
 

~
 

Die Kissen unter seinem Kopf fühlen sich so herrlich weich an, dafür brannte Sherlocks Hals wie Feuer. "John...", keuchte er heiser ohne die Augen zu öffnen. "Mach mir einen Tee..."
 

Nadir sah zu dem Mann, der auf seinen Sofa lag. "Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Aber... John ist nicht hier", sagte er ruhig. Er nahm die Teekanne mit dem persischen Tee und goss eine weitere Tasse voll.
 

Sofort als er die fremde Stimme hörte, öffnete Sherlock die Augen und setzte sich auf. Verwirrt blickte er auf den Perser vor sich und ließ dann seinen Blick durch das Zimmer gleiten. Ein Sofa mit verschiedenen Kissen, die mit Ornamenten bestickt waren. Ein persischer Teppich auf dem Boden. Ein Kaffeetisch, daneben ein Sessel. An der einen Wand ein großes Wohnzimmerregal mit verschiedenen Bildern. An einer anderen Wand ein großes Fenster, darunter eine alte Truhe in der wohl noch andere Dinge aufbewahrt wurden. Die Möbel waren gut gepflegt, aber das täuschte nicht über ihr Alter hinweg. Wahrscheinlich war der Mann einmal sehr wohlhabend gewesen, aber es nun aus irgendeinen Grund nicht mehr. "Sie haben mich gerettet. Warum?", war dann seine erste Frage an Nadir.
 

Nadir hätte mit einer Frage wie 'Wo bin ich' oder 'Wer sind sie' gerechnet und dass nun so etwas kam, überraschte ihn. "Ich habe sie bewusstlos gefunden", log er, "Und da so spät niemand mehr in der Oper war, habe ich sie in meine bescheidene Wohnung gebracht."
 

"Beleidigen sie mich nicht durch solche offensichtlichen Lügen. Sie haben ihn Erik gerufen, also kennen sie das Phantom persönlich. Ich hatte so etwas bei ihnen schon vermutet. Aber sie haben ihn von seinem Vorhaben, mich zu töten, abgehalten. Deshalb halte ich sie nicht für einen einfachen Komplizen. Sie durchstreifen die Oper, aber nicht um ihn zu helfen... sondern es scheint mir eher, um ihn zu suchen und ihn im Auge zu behalten. Ihre Haltung... Zuerst hätte ich sie für jemanden mit militärischer Ausbildung gehalten. Aber dann ist mir das alte Abzeichen an ihrer Kleidung aufgefallen. Sie waren Polizist... und wie es hier aussieht, in einer hohen Position, bis irgendetwas geschehen ist. Daher verstößt es gegen ihren Gerechtigkeitssinn ihn einfach morden zu lassen. Allerdings wollen sie ihn nicht einfach ausliefern... Er ist also ein Freund von ihnen. Eine Verwandtschaft schließe ich aus, da er eine europäische Abstammung hat", schlussfolgerte Sherlock. "Und ihre versteifte Haltung und die zitternde Faust zeigen mir, dass ich mit allem vollständig Recht habe."
 

Nadir stellte seine Teetasse auf dem Tisch ab. Man sah ihm an, dass er über Holmes' Erkenntnisse nicht erfreut war. "Ich nehme an, dass sie Detektiv sind", zog er daraus seine eigene Schlussfolgerung. "Sie haben sich hier auf einen gefährlichen Auftrag eingelassen." Er seufzte und strich sich über den Bart. "Ja, ich kenne Erik. Er und ich haben uns in Persien kennen gelernt und sind Freunde. Er ist ein großes Genie... leider hat er eine große Abscheu gegen die menschliche Spezies, sonst könnte er soviel Gutes schaffen."
 

"Dass er über ein gewisses Talent verfügt, habe ich bereits festgestellt." Sherlock griff nun nach der zweiten Teetasse und tat einen Schluck. Dann strich er sich leicht über seinen Hals. Dort wo sich der Draht zugezogen hatte, tat die Haut noch immer furchtbar weh. "Mich interessiert vielmehr, warum er sich als Phantom verkleidet und in der Oper spukt. Ich muss verstehen, was ihn antreibt um ihn aufhalten zu können."
 

Nadir biss sich auf die Lippen. "Was würden sie mit ihm tun, wenn sie ihn aufhalten?", fragte er und musterte Holmes.
 

Sherlock stutzte kurz. "Die Polizei wird sich seiner Annehmen. Was dann geschieht, hängt davon ab, was er noch alles anstellt, bis es soweit ist. Buquet ist bereits tot."
 

"Buquet... das war ein Unfall", sagte Nadir. "Zumindest hat er mir das versichert. Der Unglückliche muss ihm in einen seiner Gänge gefolgt und dabei in eine Falle geraten sein. Erik war bei seinem Tod gar nicht anwesend."
 

"Das ändert nichts daran, dass er daran eine wesentliche Mitschuld trägt, selbst wenn es nur fahrlässige Tötung war." Sherlock fixierte Nadir mit den Augen. "Sie wollen ihn aufhalten und ihm dennoch helfen und schützen. Das bringt sie in einen Gewissenskonflikt. Sie müssen sich entscheiden, aber ich versichere ihnen, wenn dieses Verhalten an Eriks Geisteszustand liegt, dann werde ich dafür sorgen, dass er entsprechende Hilfe bekommt."
 

"Eingesperrt zu werden... in einem Gefängnis oder einer anderen Einrichtung, wäre sein Tod", meinte Nadir bekümmert.
 

"Viele behaupten das, aber ich habe noch nie einen erlebt, der tatsächlich an der Haft gestorben ist", erwiderte Sherlock. "Helfen sie mir ihn aufzuhalten und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um ihm die mildesten Umstände zu verschaffen, die er bekommen kann", versicherte er, um Nadir zu überzeugen.
 

Nadir seufzte leise. "Er würde wahrscheinlich trotzdem eine Kugel in den Kopf vorziehen." Er schenkte sich etwas Tee nach. "Sie wollen wissen, was ihn dazu bringt als Phantom zu spuken? Der Grund dafür ist, dass er wegen seinem Gesicht schlechte Erfahrungen mit der Menschheit gemacht hat. Das hat seinen Geist über die vergangenen Jahrzehnte seines Lebens vergiftet und nichts als Hass übrig gelassen. Ich selbst kenne nur einen kleinen Ausschnitt aus seiner Lebensgeschichte."
 

"Sein Gesicht?", fragte Holmes und lehnte sich auf den Sofa zurück. Er faltete die Hände zur typischen Denkerpose vor dem Gesicht zusammen. "Erzählen sie mir, um was für eine Entstellung es sich dabei handelt. Eine große Verletzung? Eine Brandwunde vielleicht?"
 

Nadir schüttelte den Kopf. "Über so etwas könnte man mit der Zeit hinwegsehen. Das, was sich hinter der Maske versteckt, ist weitaus schlimmer und steht in einem absoluten Gegensatz zu Eriks Stimme. So schön sein Gesang ist, so entstellt ist sein Gesicht."
 

"Kommen sie auf den Punkt. Bitte!"
 

"Es ist als ob man auf einen Totenschädel sieht, der nur von einer dünnen weißen Haut überzogen ist.", brachte es Nadir auf den angesprochen Punkt. "Dort wo die Nase sein sollte ist nur ein schwarzes Loch, die Augen liegen tief in den Augenhöhlen, die Wangen sind fahl und eingefallen. Auf seiner Stirn... ist ein Loch, durch das man direkt in den Schädel blickt."
 

Sherlocks Augen zuckten leicht. In wieweit so eine Entstellung möglich war, würde er Watson fragen müssen. Dafür war er nicht genug Mediziner. An Nadirs Haltung sah er jedoch, dass er nicht log. Die Teetasse in dessen Hand zitterte sogar, als er sich das Bild wieder vor Augen rief. "Verstehe... Erzählen sie mir mehr. Sie sagten, dass er ihr Freund sei, also haben sie sich durch seine Erscheinung nicht abschrecken lassen."
 

"Ich habe das Genie und den Mann erlebt, der hinter dem Gesicht steht", erzählte Nadir. "Erik ist unnachgiebig in seinen Hass und verschenkt sein Vertrauen nicht leichtfertig. Aber wenn er es verschenkt, dann ist er darin umso intensiver. Seine Freundschaft und was er bereit ist dafür zu tun, kennt fast keine Grenzen. Genauso wie seine Wut, wenn sein Vertrauen hintergangen wird." Nadir merkte, dass er Holmes schon wieder nicht konkret genug wurde. "Er hat mir geholfen, als mein Sohn im Sterben lag", sagte er seufzend. "Er hat sich die letzten Jahre von Rezas Leben hingebungsvoll um ihn gekümmert. Der Junge hatte eine genetische Erkrankung gegen die es keine Heilung gab. Er hat ihn in dieser Zeit öfters zum Lachen und Träumen gebracht, als ich es alleine je gekonnt hätte." Nadir stellte mit leisem Klirren die Teetasse ab.
 

Sherlock schwieg. "Es tut mir leid um ihren Sohn.", meinte er. "Dennoch muss ich sie bitten mir zu erzählen, was noch in Persien geschehen ist. Warum hat er das Land verlassen und versteckt sich nun hier?"
 

"Er musste fliehen, weil der Schah ihn tot sehen wollte", erklärte Nadir. "Erik hat für ihn den prachtvollsten Palast in der Geschichte des Landes errichtet. Ein Meisterwerk in Ästhetik wie auch in Komplexität. Durch die vielen Geheimgänge und Vorrichtungen hat er sich in Persien dadurch den Namen 'Meister der Falltüren' verdient. Aber ihn darauf zu beschränken würde der Sache nicht gerecht werden. Es gab zum Beispiel einen Raum im Inneren des Palastes von dem aus man hören konnte, was an jedem Ort des Gebäudes gesprochen oder geflüstert wurde. Der Schah war von dem Bauwerk so begeistert, dass er nie zulassen wollte, dass ein ähnliches noch einmal errichtet würde. Es sollte einmalig bleiben."
 

"Also musste der Baumeister sterben", schloss Sherlock das Thema ab. "Sie haben ihm dann geholfen zu fliehen. Sind sie gemeinsam nach Frankreich gegangen?"
 

Nadir schüttelte den Kopf. "Ich war Polizeichef und hatte die Aufgabe ihn zur Hinrichtung zu führen. Auf dem Weg dorthin half ich ihm zu entkommen. Ich selbst konnte jedoch nicht so einfach verschwinden." Er seufzte. "Man brachte mich wegen Pflicht- und Treueverletzung vor Gericht und verurteilte mich zu 6 Jahren Gefängnis. Ich wurde nur nicht hingerichtet, weil Freunde von mir eine falsche Leiche von Erik auftauchen ließen und in meinen Adern zumindest ein wenig königliches Blut fließt. Das Ganze ist nun schon 20 Jahre her. Nach meiner Haftstrafe wurde ich aus Persien verbannt. Wegen meiner Abstammung erhielt ich jedoch noch eine kleine Pension. Es reicht zum Leben. Erik habe ich erst vor etwa 2 Jahren wiedergetroffen. Wer weiß, wie lange er davor schon in reiner Einsamkeit gelebt hatte."
 

"Hmm...", murmelte Sherlock nachdenklich, "Und dann haben sie ihm ein Versprechen abgenommen, bevor er geflohen ist, nicht wahr?"
 

Nadir blickte erstaunt zu dem Detektiv. "Woher wissen sie das nun schon wieder?"
 

Sherlock zuckte mit den Schultern. "Mehr oder weniger geraten. Aber ich nahm an, dass es irgendwas gab, warum sie glauben, dass sich Erik mit seinen Taten zurückhält. Sonst hätten selbst sie schon andere Schritte ergriffen. Noch etwas Tee, bitte." Er schob sein Tasse zu Nadir hinüber.
 

Nadir blickte zu der leeren Tasse und zögerte kurz, bevor er dann nachgoss. "Ja, ich nahm ihm das Versprechen ab, niemanden mehr sinnlos zu töten."
 

Sherlock hatte da seine Zweifel. "Können sie dafür sorgen, dass ich Erik einmal persönlich kennen lerne?"
 

"Das geht nicht! Erik würde sofort merken, wenn sie sich ihm nähern. Die Oper ist sein Reich. Hier ist sein Reich."
 

"Jeder Mensch hat eine Schwäche", meinte Sherlock. "Es muss auch etwas bei ihm geben über das er sich hervorlocken lässt."
 

Nadir seufzte. "Seine Leidenschaft ist die Musik... Aber es brauchte wohl schon jemanden wie Miss Daaé, um ihn herauszulocken."
 

"Nur Gesang?", fragte Sherlock. In seinem Geist begann sich ein Plan zu entwickeln.
 

"Uhm... Er schätzt wohl Gesang am meisten, aber er spielt auch alle möglichen Instrumente."
 

Sherlock erhob sich von seinem Platz. "Ich danke ihnen. Das ist alles, was ich wissen muss." Er drehte sich zur Tür. "Keine Sorge, ich finde schon alleine heraus." Er verließ das Haus und machte sich dann auf den Weg zurück zum Hotel. Morgen würde er einmal sehen, ob er ihren Geist nicht vielleicht zu einer Geigenstunde in Gegenwart der Daaé herauslocken könnte.



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