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1945

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wow, ich habe es doch noch geschafft ein neues Kapitel zu veröffentlichen bevor das letzte Update ein volles Jahr her ist ...
Ich habe leider ewig lange an diesem Kapitel fest gehangen - der Prozess war mühsam und zäh und ich bin froh dass es nun endlich fertig ist. Dieses Projekt ist auf keinem Fall vorbei - es wird ganz gewiss weiter gehen, egal wie lange es dauert!
Ich hoffe dieses Kapitel macht euch beim Lesen mehr Spaß als es mir beim Schreiben bereitete! Komplett anzeigen

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VI - Leichenschmaus

Leichenschmaus

 

Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu sein. - Schopenhauer

 

Die Landschaft rauschte hinterm Wagenfenster vorbei.

 

Sie redeten nicht miteinander aus dem einfachen Grund, dass Russland kein Gespräch begonnen hatte. Und Gilbert würde ganz sicher nicht darauf bestehen, die Stille zu brechen. Russlands Worte hallten immer noch in seinem Kopf nach: „Ich lass dich nicht sterben. Das verspreche ich.“ – Und mit jeder Minute, der sie ihrem Ziel näher kamen, steigerte sich Gilberts Nervosität. Er hatte so viele Fragen – Wird Ludwig da sein? Wo werden unsere Grenzen gezogen? – Doch stellen würde er sie nicht. Sein Hals war wie zugeschnürt.

 

Normalerweise redete Russland liebend gern, ganz gleichgültig wie unangenehm (und Gilbert war sich sicher, dass der Russe das immer merkte) es Preußen war. Doch heute wirkte selbst die größere Nation neben ihm auf der Rückbank angespannt. Sein Lächeln, das ihm sonst wie ins Gesicht gemeißelt schien, war an diesem Tag noch maskenhafter als sonst. Dabei hatte Gilbert erwartet, dass er an diesem Tag ganz besonders selbstgefällig sein würde – es ging doch schließlich darum, ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Und Ludwig auch, wie er mit einem schweren Schlucken geistig nachschob wie eine leidige Fußnote. Er musste sich stets daran erinnern, dass er ja eigentlich nicht alleine war. Er und sein Bruder waren weiterhin eins – nur eben zwei Teile des Ganzen. Das Gefühl des Alleinseins hatte sich bei Gilbert sehr schnell eingestellt seitdem er beim Russen leben musste.

 

Er wagte nicht darauf zu hoffen, dass Russlands Verbündete ihn aus seinem Gewahrsam befreien würden. Die Möglichkeit bestand natürlich, zumal Gilbert über die genauen diplomatischen und machtpolitischen Vorgänge keine Kenntnis besaß. Alles was er wusste war, dass Russland nicht nur ihn wollte sondern auch Ludwig. Und das war eine Aussicht, die Gilbert noch fürchterlicher fand als die Vision der nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte unter Russlands Herrschaft. Es war wie ein Warten im Fegefeuer – die Unwissenheit darüber, welche Hölle ihn erwarten würde und wer sie mit ihm betreten würde nagte an Gilbert Tag und Nacht. Und dennoch: Je näher sie den Tagen der Entscheidung auch kamen desto mehr fürchtete Gilbert sie. Gefangen in einer gleichgültigen Ödnis, einer Zwischenstation zwischen zwei zweifellos bedeutsamen historischen Meilensteinen. Das Damoklesschwert über ihm schwebend, die drohende Enthauptung stets vor Augen. Es gab kein Szenario in Gilberts Vorstellungskraft in dem all dies glimpflich für ihn ausgehen könnte.

 

Sein rechtes Auge, oder besser gesagt das was davon übrig geblieben war, juckte elendig unter der Kompresse. Genervt schob er einen Finger unter die Augenklappe bevor er sich eines Besseren besann und es bleiben ließ. Es würde nichts bringen.

 

„Es ist witzig, dass gerade dein rechtes Auge solchen Schaden nahm, “ sprach Ivan amüsiert. „Das hat doch mit Sicherheit eine tiefere Bedeutung, nicht wahr?“

 

Gilbert spürte sofort wie ihm die Hitze in die Wangen stieg.

„Halt dich geschlossen, “ zischte er, sich selbst zur Ruhe ermahnend. Er wusste dass es Russland Spaß machte, ihn zu provozieren bis er eine gewünschte Reaktion zeigte – sei es Zorn, Bitterkeit oder noch etwas anderes. „Du machst doch nichts ohne Kalkül.“

 

Blitzschnell holte Russland aus und hielt Gilberts Kinn in seinem leider wohlbekannten eisernen Griff. Die Fingerkuppen gruben sich schmerzhaft in Gilberts Haut, als wüsste der andere ganz genau wo und wie er ihn anfassen musste, um es so schmerzhaft wie möglich zu machen. Er zwang Gilbert, ihm in die Augen zu schauen als er leise sprach: „Und du solltest auf deine Wortwahl achten. Sonst wasche ich dir deinen Mund mit einem großen Stück Seife aus.“

Gilbert wusste, dass Russland keine leeren Versprechungen machte. Er schluckte seine Wut und Verzweiflung die in ihm tobten herunter und senkte seinen Blick in einer Geste der Unterwürdigkeit. Er atmete angestrengt.

 

Russland drückte noch einmal feste zu und entlockte Gilbert ein kleines Geräusch des Schmerzes, was ihn anscheinend milde stimmte bevor er ihn wieder los lies.

 

Gilbert schwieg für den Rest der Autofahrt.

 

-*-

 

Allianzen hielten nur so lange bis ein Konflikt vorüber war. Ivan war das klar, und er hatte stets versucht, seine Erwartungen auf einem niedrigen Niveau zu halten. Und dennoch … die Spannungen zwischen ihm, England und vor allem Amerika waren mit der Zeit spürbar intensiver geworden. Es zehrte an seinen Reserven, sich nach einem solchen verheerenden Krieg noch an anderen Fronten behaupten zu müssen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der zweite große Krieg war vorüber und dem folgend taten sich sogleich neue Brandherde auf. Einfluss in Europa war die Währung in der sich die Zukunft erkaufen ließ, und der letzte Zankapfel (für den Moment) waren die beiden Deutschen.

 

Er merkte, dass er fahrig war, ungeduldig und – er befürchtete – berechenbarer als sonst. Das war natürlich eine denkbar schlechte Ausgangsposition für Verhandlungen. Der Druck. der auf ihm lastete, war enorm. Stalin saß ihm schon seit Wochen, nein, Monaten im Nacken und diktierte ihm von Konzepten zur Entnazifizierung der von ihm besetzten Zone bis zur geplanten Bewirtschaftung eben dieser alles bis ins kleinste Detail.

 

Warum genau er den Preußen mit sich auf die Potsdamer Konferenz nehmen sollte, war ihm schleierhaft geblieben – es war eine Anweisung Stalins gewesen, also hatte er lieber davon abgesehen nachzufragen. Es war nicht so als hätte die Nation ein Recht auf Mitsprache oder, noch absurder, Mitbestimmung. Am ehesten erahnte Ivan in dieser Geste eine Erniedrigung des Besiegten, eine öffentliche Schmähung im kleinen Rahmen. Lasst den Russen seine Eroberung vorführen, lasst ihn zeigen, dass das einst so große und mächtige Preußen nun nach seiner Pfeife tanzte. Die vagen Vorgaben seines Vorgesetzten stellten Ivan vor die unangenehme Situation, sich eine Strategie überlegen zu müssen, wie er am besten mit der anderen Nation umgehen sollte. Vorerst bestand diese darin, ihn an der kurzen Leine zu halten wie einen Schoßhund und ihn mal mehr Mal weniger hart zu bestrafen, wenn er etwas sagte oder tat, das seinem Herrchen missfiel. Auch wenn diese Handhabe recht wirksam war so bedauerte Ivan jedes Mal aufs Neue, Preußen so zurecht weisen zu müssen. Es hatte eins eine Zeit gegeben da hätte er bei der Vorstellung die stolze Nation zu demütigen, zu verletzen und zu drangsalieren genossen. Doch inzwischen war er müde und des ständigen Kämpfens überdrüssig. Die Zäsur des größten Krieges den er bis dato miterleben musste hatte ihre Spuren hinterlassen. Wonach sich Ivan am meisten sehnte war das Einkehren von Stabilität und Ruhe innerhalb seiner eigenen Reihen. 

 

Dabei spürte Ivan in jeder Interaktion mit dem Osten dessen Widerwillen, den stillen Protest, der in jedem seiner Worte und Gesten mitschwang. Selbst ohne darüber zu reden war es Ivan klar, dass der Osten Deutschlands noch immer in Wirklichkeit durch und durch Preußen war, auch wenn ihm ein Großteil seiner Grundlage entzogen wurde – nicht nur geografisch sondern auch ideologisch. Es faszinierte Ivan, dass die andere Nation immer noch im Stande war eine solche innere Stärke zu mobilisieren, gebrochen und geschwächt wie er war. All das sprach für das ungeheure Ausmaß an Stolz und Kühnheit, die ihn einst ausgemacht hatten und es in einem geringeren Ausmaß immer noch taten. Es war nie sein Ziel, Gilbert seines Geists zu berauben, ganz im Gegenteil – genau das war etwas, was Ivan stets bewundert hatte und was den anderen so attraktiv erscheinen ließ. Ivan wollte lediglich, dass die berühmte preußische Loyalität ihm gelten würde. Ihm und auch einer gemeinsamen Sache. Irgendwann ...

 

„Wir sind bald da“, kommentierte Ivan und bemühte, sich seine Gedanken und Kräfte zu sammeln. „Fünfzehn Minuten.“

 

Preußen zuckte zusammen und erwachte aus seinem leichten Schlaf. Ivan bemerkte wie sein Atem kurz stockte, von einem tiefen regelmäßigen Ein und Aus zu einem desorientierten Stottern wechselte. Er schien kurzzeitig wie benommen, bevor er realisierte wo er war und in welcher Situation er sich befand. Ivan schmunzelte und verkniff sich ein Schmunzeln. Es waren diese kleinen Momente … Für einen kurzen Moment konnte er Preußen so schutzlos und ehrlich wie sonst nie sehen. Würde Ivan dies aber nur mit einer Silbe kommentieren, wäre der Waffenstillstand zwischen den beiden mit Sicherheit jäh zu Ende.

 

-*-

 

Der Frieden währte natürlich nicht lange. Kaum angekommen machte Preußen unmissverständlich klar, dass er keine Hilfestellungen seitens Russland annehmen würde, schon gar nicht, wenn irgendwer ihn dabei sehen könnte. Mit einer Mischung aus stiller Frustration und Mitleid war Ivan gezwungen, Gilbert dabei zuzuschauen, wie er mit seinen Krücken den Weg zum Schloss Cecilienhof bestritt.

 

Die oberen Querbalken der Krücken bohrten sich in die Oberarme der schmächtigen Nation und der Schweiß stand dem blassen Preußen bereits nach wenigen Metern auf der Stirn.

 

Es war eine überaus unangenehme, langwierige Prozedur wie in Zeitlupe neben dem Preußen herzugehen, während dieser mühsam den Weg zum Schloss entlang humpelte. Für ihn musste es ein regelrechter Kraftakt sein.

 

„Du wolltest den Rollstuhl nicht mitnehmen“, erinnerte Ivan ihn in einem bemüht neutralen Ton. Das hätte er sich sparen können, denn Preußen würde ihn anfahren ganz egal was oder wie er etwas gesagt hätte.

 

Er zischte zwischen angestrengten Atemzügen: „Ich bin … kein … Invalide!“

 

Russland sparte sich jeden Kommentar. Die Minuten zogen sich ins schier Unerträgliche.

Plötzlich vernahm er einen überraschten Laut und das vage Geräusch, wie etwas über den Boden rutschte – reflexartig wandte er sich zu Preußen und griff ihm mit beiden Armen um den Oberkörper um ihn davon abzuhalten, zu Boden zu fallen. Die Krücke fiel klappernd zu Boden.

Preußen keuchte in seinen Armen, und Ivan brauchte ein paar Momente, um zu realisieren was gerade passiert war. Die andere Nation war völlig verausgabt, was ihn beunruhigte – er wusste, dass er vom Krieg gebeutelt war, aber das ganze Ausmaß des Schadens offenbarte sich erst nach und nach. Der Fakt, dass Ivan ihm Königsberg genommen hatte, war sicherlich auch nicht unwichtig …

 

„Es … geht schon …“

 

Ivan blinzelte. „Offensichtlich nicht. Ich werde dich tragen“

 

„Was!?“

 

Bevor Preußen protestieren konnte, umfasste Ivan seinen drahtigen Torso mit beiden starken Armen und hob ihn hoch. Die andere Krücke fiel ebenfalls zu Boden, und Ivan hievte ihn über seine linke Schulter. Da die andere Nation dieses Mal nicht bewusstlos war und einigermaßen Körperspannung halten konnte, war es Ivan ein leichtes, ihn so zu tragen. Ohne lange zu zögern schritt er voran und machte sich auf den Weg zum Eingang des Schlosses, den kläglich protestierenden Preußen über seiner Schulter nicht weiter beachtend. Der andere versuchte erfolglos, sich aus Ivans Griff hinaus zu winden wie eine Maus zwischen den Pfoten einer Katze.

 

„Wenn du dich wie ein Kind verhältst wirst du auch wie eines behandelt werden.“

 

„Du … !!“

 

„Ach, guten Tag Russland. Und … die sowjetisch besetzte Zone, nehme ich an?“

 

-*-

 

Gilbert kannte diese Stimme – auch wenn er der anderen Nation gerade nur mit seinem Hinterteil zugewandt war, wusste er genau, wer sie gerade entdeckt hatte. Diese jugendliche, selbstgefällige und unangenehm laute Stimme …

 

Es war Amerika. Gilbert schluckte, und verfluchte seine mehr als missliche Lage innerlich. Er, eine einst stolze Nation mit langer und ruhmreicher Tradition, wurde nun wie ein Sack Kartoffeln mit dem Hintern voran zum Bankett der Siegermächte getragen. Die Scham schnitt durch Gilberts Brust wie ein Messer.

 

Er bemerkte erst, dass er abgesetzt wurde, als sich die Welt um ihn herum verschob – alles drehte sich kurz, dann stand er unmittelbar vor Russlands mit verschiedenen Orden dekorierten Brust. Russlands Hände hielten ihn an den Schultern fest, und Gilbert nahm wahr, dass um ihn herum geredet wurde – doch durch das Klingeln in seinen Ohren konnte er nicht genau hören was gesagt wurde. Das Fiepen wurde weniger, und langsam kam Gilbert wieder zu Sinnen. Er schüttelte ein wenig den Kopf und drehte sich um. Das einzige was ihm blieb war zu hoffen, dass dieser peinliche Moment schnell vorüber gehen würde. Er nickte Amerika zu, und der anderen Nation, die unmittelbar neben ihm stand – England, mit einem Gesicht das nach Magengeschwür aussah.

 

„Hallo“, murmelte Gilbert und fühlte sich in diesem Moment absolut unbeholfen. Wie grüßte man andere mit denen man mehrere Jahre lang im Krieg war, nicht nur militärisch sondern auch ideologisch? Er räusperte sich. Amerikas Lächeln war breit und falsch, und seine durchdringenden blauen Augen musterten Gilbert von Kopf bis Fuß. England rümpfte die Nase, seine Abneigung so einfach zu lesen wie ein Kinderbuch. Manche Dinge würden sich wohl nie ändern.

 

Es würde ein langer, ein verdammt langer Tag werden.

 

-*-

 

Ludwigs Blick als er Gilbert das erste Mal sah, würde er wohl nie vergessen.  So bestürzt, so desillusioniert, hatte er seinen Bruder noch nie gesehen. Als sei etwas in diesem Moment in ihm zerbrochen. Am anderen Ende des Raums schluckte Gilbert den Kloß der seinen Hals zusammenschnürte herunter und rang sich zu einem Lächeln in Ludwigs Richtung durch. Der andere schien sogleich entspannter – die Schultern sackten ein wenig herab, und er nickte Gilbert ebenso mit einem angestrengten kleinem Lächeln zu.

 

Er spürte Russlands Blick auf seinem Hinterkopf die ganze Zeit, und ignorierte es so gut es ging. Er nahm seinen Platz direkt neben ihm ein und das Treffen begann.

Die nächsten Stunden konnten er und Ludwig nicht miteinander reden, nur verstohlene Blicke austauschen während die Siegermächte Beratungen anstellten.  War es ihm zuerst noch möglich gewesen, den Gesprächen zu folgen, drifteten seine Gedanken irgendwo zwischen Grenzziehung und Planbewirtschaftung ab. War es sein Aussehen gewesen, das Ludwig so erschrocken hatte? Er war sich dessen bewusst, dass alleine sein offensichtlich beschädigtes Auge schon einiges über seinen Zustand aussagte, nicht zu schweigen von seiner sehr begrenzten Belastungsfähigkeit. Wie lange er noch auf Krücken gehen musste war nicht abzusehen – seine Muskeln wollten und wollten schlichtweg nicht kräftiger werden, und so fühlte er sich auf seinen eigenen zwei Beinen nach wie vor wie ein Pferd, das versuchte auf Streichhölzern zu laufen. Wie sollte er auch heilen, wenn er nicht einmal eine Hauptstadt besaß?

 

Er nippte nachdenklich an seinem Glas Wasser, während die Gespräche anschwollen, an Fahrt gewannen und wieder abklangen wie ein Crescendo, das wieder ins Piano überging und zurück. Ludwig sah selbst schlecht aus - seine Haut war blass und die Ringe unter seinen Augen waren dunkel genug um an Ruß zu erinnern. Ruß an den Häuserwänden der zerbombten Wohnhäuser in Köln, Bochum, Stuttgart, ...

 

Gilbert wollte mit Ludwig reden - natürlich wollte er das! Doch gleichzeitig wusste er immer weniger was er seinem Bruder sagen sollte, wenn sie miteinander sprechen könnten. Es lag so vieles unausgesprochen zwischen ihnen, Tatsachen die stets präsent gewesen waren doch von keinem von beiden beim Namen genannt wurden. Die Rolle der preußischen Generäle in der Opposition gegenüber dem Mann, den sie später ihren Führer nannten als eine Opposition noch möglich war, Ludwigs allzu vorschnelle Begeisterung für den Österreicher, der mit der Vision eines vereinten Deutschlands unter seiner Riege das Land zu fesseln vermochte. Man durfte nie vergessen, wie jung, wie unsagbar jung, Ludwig nach wie vor war. Trotz seines erwachsenen Auftretens und seiner stoischen und abgeklärten Ausstrahlung. In vielen Dingen zeigte es sich doch, die Unerfahrenheit, die Unberührtheit der jungen Nation. Im Nachhinein war es nur allzu offensichtlich, dass die beiden Brüder zwar eine Nation gewesen waren, doch  längst nicht Eins. Es ging dabei nicht um Schuld - wer sich wessen schuldig bekennen musste war immerhin Sache der Siegermächte. Und Gilbert hatte den leisen Verdacht, dass ihm als „älterer Bruder“ eine besonders tragende Rolle an dem was passiert war zugeschrieben werden würde …

 

-*-

 

„Hey. Du siehst aus wie Scheiße.”

 

Ludwig stand auf, kurz verdattert, und setzte dann ein schiefes Lächeln auf.

 

„Du hast auch schon besser ausgesehen.“

 

Mit etwas Mühe trottete Gilbert mitsamt seiner Krücken zu dem Sessel neben Ludwigs. Der warme Schein des Kamins konnte fast darüber hinweg täuschen wie abgekämpft und fahl die Haut seines kleinen Bruder in Wirklichkeit war.

 

„Man tut was man kann …“, murmelte Gilbert und ließ sich in den Sessel fallen. Er versuchte, nicht zu angestrengt zu atmen – Ludwig musste ja nicht mehr von seinem Zustand mitbekommen als unvermeidbar war.

 

Stille legte sich über die beiden, begleitet von dem steten Knistern des Kamins. Es war eigentlich ein gemütlicher, heimeliger Raum. Für Gilbert nach so langer Zeit in Russlands Haus sogar ein Hauch von Luxus. Doch wie befürchtet wusste Gilbert nicht so recht wie er das Gespräch mit seinem Bruder beginnen sollte – und dieser natürlich genau so wenig, unbeholfen wie er war in solchen Situationen. Der Apfel fiel halt nicht weit vom Stamm …

 

Ludwig brach das Schweigen mit einem Räuspern. „Wie ist es dir- …“, begann er zögernd, brach dann aber ab, weil er wohl selber merkte, was für ein holpriger Gesprächsbeginn eine Frage nach dem Befinden sein würde. Was sagt man schon zu jemandem, den man wahrscheinlich für tot gehalten hatte, von dem man wusste, dass er mehr oder weniger in Gefangenschaft lebte? Nachdem er mit seinem Bruder die Welt in Brand gesetzt hatte?

 

„Du wolltest mich allen Ernstes fragen, wie es mir ergangen ist?“, spottete Gilbert, jedoch ohne Boshaftigkeit. Er lachte kurz, und hoffte damit die Situation ausreichend zu überspielen. Ludwig lachte nervös und kratzte sich am Nacken. Immer noch so einfach zu lesen …

Sie sprachen nicht viel, aber sagten viel – mit jedem Moment wurde die Atmosphäre entspannter, wohliger. Ludwig legte seine Unbeholfenheit immer mehr ab und versuchte so vorsichtig wie möglich zu fragen, auch wenn die Themen zugegebener Maßen heikel waren – und das war noch eine wohlwollende Umschreibung.

 

„Stimmt es, dass du …“

 

Schon wieder brach Ludwig ab. Gilbert zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

 

„ … dass er dir Königsberg genommen hat? Ich meine … so …“

 

Er hatte geahnt, dass Ludwig es wissen wollen würde. Das Thema war ihm unangenehm, es hatte etwas merkwürdig Intimes.

 

„Ja, es stimmt. Es ist nicht mehr da.“

 

Ludwig starrte seinen Bruder einen Moment an, und ließ seinen Blick über dessen Brust wandern, als hoffte er dort irgendein Indiz für das zu finden, das dort nicht mehr war.

 

„Aber ich bin noch hier. Ich nehme an, dass er sich damit für Stalingrad bedanken wollte. Unter anderem …“

 

Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Gilbert konnte sich vieles herleiten. Seine Erinnerungen an die Zeit kurz bevor er für viele Monate in den Schlaf fiel waren kaum vorhanden, außer ein vages Gefühl von Unwohlsein beim Gedanken an Schnee. Als würde zu viel Kälte eine Erinnerung in ihm herauf beschwören – nichts handfestes, aber eine Ahnung von schier endloser Einsamkeit und dem Gefühl, den eigenen Körper bereits verlassen zu haben.

 

„Du trägst dein Eisernes Kreuz nicht mehr?“

 

Ludwig schaute auf, und fasste sich wie in Gedanken verloren an seinen Hals, den er sich prompt erneut anfing in einer nervösen Geste zu reiben. Seine Augen glitten zu Boden, Gilberts Blick vermeidend.

 

„Nein … zu viele Erinnerungen.“

 

Gilbert schluckte.

 

Erneut, Stille.

 

-*-

 

Ivan gähnte hinter vorgehaltener Hand, als er die letzten Zeilen auf der Schreibmaschine tippte. Es war anstrengend genug, um diese Tageszeit überhaupt noch wach zu sein – einen Rapport auf Deutsch zu tippen zehrte selbst nach dem dritten Wodka noch spürbar an seinen Nerven. Just in diesem Moment ging die Tür auf.

 

„Ah, Osten! Wie geht es deinem Bruder?“, fragte er in betont gefälligem Tonfall.

 

„Was machst du in meinem Zimmer?“

 

„So unhöflich …“, seufzte Ivan und beendete seinen letzten Satz auf der Maschine, bevor er das Blatt hinauszog und zu den anderen legte. Natürlich hatte es Kalkül, dass er sich in das von Gilbert bezogene Zimmer gesetzt hatte. Er wollte ihn wissen lassen, dass er sehr wohl wusste was er tat, mit wem er sich traf und eine gute Vorstellung davon hatte, über was er redete.

 

„Ich habe die wichtigsten Punkte der Besprechungen zusammengefasst und würde sie gerne mit dir durchgehen. Setz’ dich doch.“

 

Preußen blieb wie angewurzelt stehen.

 

„Was. Machst du. In meinem Zimmer.“

 

„Du hast zwei Augen im Kopf. Wonach sieht es aus?“

 

„Du willst mich einschüchtern, ist es das?“

 

Ivan faltete seine Hände übereinander. Er merkte wie er ungeduldig wurde – der Tag war bereits lang und er drohte noch länger zu werden. „Ich muss für klare Fronten sorgen, Osten. Das ist es, was Siegermächte tun.“

 

Der Preuße lachte zynisch; „Und den Arsch hinhalten ist was Besiegte tun, richtig!?“, seine Stimme wurde zunehmend hässlich und schrill. Ivan spürte, dass er verzweifelt wurde. War das Gespräch mit seinem Bruder nicht so gut verlaufen wie er gehofft hatte? Er stand auf, tat aber keinen Schritt in die Richtung des anderen. Er wollte nicht mehr einschüchtern als nötig war. Eine Eskalation war das letzte, was Ivan jetzt wünschte.

 

Wenn der andere nur wüsste, wie kindisch er sich gerade verhielt, würde er sich wahrscheinlich schämen. Dieses Verhalten war ihm nicht würdig, und es schmerzte Ivan ein wenig die andere Nation so zu sehen. Ivan realisierte, dass es nichts gab was er sagen könnte um, die Situation zu entschärfen – also ließ er es sein. Stattdessen griff er unter den Schreibtisch und holte eine Flasche Wodka hervor.  Aus seiner Manteltasche holte er zwei kleine Gläser. Preußen beobachtete ihn dabei lediglich stumm.

Ivan stellte zwei Schnappsgläser vor sich auf den Schreibtisch und goss ein.

 

„Trägst du immer Schnappsgläser bei dir?“, fragte die andere Nation ungläubig.

 

Ivan zuckte mit den Schultern. „Nicht, wenn ich alleine bin.“

 

Er schob ein Glas in Preußens Richtung und prostete ihm ohne groß zu warten zu; „Nastrovje.“

Der Wodka ging runter als sei er wirklich nur ein Wässerchen. Es brachte die bekannte, wohlige Wärme mit sich, zumindest für kurze Zeit. Besser als nichts. Ivan war gespannt, ob sich seine Taktik bezahlt machen würde. Es verlangte ihm viel ab, in Preußens Gegenwart so ruhig und besonnen zu bleiben, wenn seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren von stundenlangen Verhandlungen mit anderen Nationen, von denen er genau wusste, dass der einzige, den sie mehr hassten als Nazi-Deutschland, Ivan selbst war.

 

Preußen nahm ein Glas an sich und ließ sich langsam auf einem der Stühle nieder. Er musterte das Getränk skeptisch. Ivan hatte nicht erwartet, dass der andere tatsächlich mit ihm trinken würde. Nun war sein Interesse geweckt. Die Aufmerksamkeit des anderen schien zu wandern, bis er tief in Gedanken versunken schien. Worüber nur hatte er mit dem Westen geredet?

Schließlich nippte Gilbert an dem Wodka, verzog sein Gesicht etwas, und trank das Glas dann in einem Schluck aus. Er versuchte, nicht zu stark zu husten.

Ivan konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Niedlich.

 

„Ich habe diesem Gör geholfen, seine Soldaten auf die Reihe zu kriegen. Ich habe ihm geholfen, sich von England loszumachen.“

 

Ach. Es geht um Amerika.

 

„Und so zahlt der Drecksack es mir heim.“

 

Ivan schwieg. Er wusste um die Meinung des Amerikaners – er sah in Preußen den militaristischen Teil Deutschlands, einen unheilvollen Einfluss auf seinen Bruder. Er hatte vermutet, dass Preußen ihm diese Information nicht abkaufen würde, wäre sie von Ivan gekommen. Wenn es nach Amerika ginge, wäre Preußen nicht in Ivans Hände gefallen sondern wäre nach dem Sieg restlos liquidiert worden – blieb nur die Frage, wem der Grund und Boden zugesprochen werden sollte. Ihn zu einer russischen Exklave zu machen war Amerika noch mehr zuwider gewesen, und so hatte die Situation in einem Patt geendet.

 

„Du hast davon gewusst, oder?“

 

Ertappt! Ivan lächelte mild. „So ist es. Aber ich ging davon aus, dass du es mir nicht glauben würdest. Immerhin käme die Information ja von mir.

 

Gilbert zog eine Grimasse. „Touché.“

 

Diese Art von Information eignete sich vorzüglich, Stimmung gegen den Westen zu machen – genau deshalb hatte Ivan sie für sich behalten. Er wollte bei seinem Ostdeutschen nicht den Eindruck erwecken, dass er ihn manipulieren wollte – denn das wollte er wahrlich nicht.

Denn was nützte schon erzwungene Loyalität? Was für einen Wert hatte eine aus Misstrauen und Argwohn geborene Freundschaft? Aber wenn der andere von einer anderen Quelle von Amerikas Haltung ihm gegenüber erfuhr, würde Ivan sich sicherlich nicht beschweren.

Es gab nichts, das Russland sich mehr wünschte, als ein ehrliches Band zwischen ihm und Ostdeutschland. Die Voraussetzungen für dessen Entstehung waren denkbar schlecht, und das wusste Ivan.  Immerhin hielt er den Preußen quasi an einer politischen Hundeleine.

 

Er goss sich einen weiteren Schluck Wodka ein, und der anderen Nation ebenfalls als er Ivan wortlos das kleine Glas hinstellte.

 

„Dem Blag würde ich allzu gerne sein Lächeln aus dem Gesicht wischen. Mit meiner Faust.“

 

Ivan lächelte Osten an und hob sein Glas.

 

„Darauf lass uns trinken!“

 

-*-

 

Die Nacht sollte Gilbert keine Ruhe bringen. Er rollte sich im Bett hin und her, zerwühlte die schweißnassen Laken und stöhnte angestrengt.

 

Er träumte viel.

 

Der warme Felsen unter seinem Körper grub sich unangenehm in seinen Rücken hinein. Die Ketten um seine Handgelenke waren von der sengenden Sonne so erhitzt, dass sie seine Haut darunter zu verbrennen schienen.

 

Ludwig saß nicht weit entfernt, und weinte. Rein äußerlich wirkte er wie Gilbert ihn nun kannte, körperlich groß gewachsen – nur die Stimme mit der er kläglich schluchzte war die eines Kindes.

 

Die Sonne verdunkelte sich kurz – ein schriller Schrei schnitt die heiße Luft entzwei. Gilbert schaute in den Himmel, und sah einen Schatten über seinem Kopf vorüber ziehen. Dann sah er den Adler – die Adler? Nein, es war nur einer. Aber er hatte zwei Köpfe. Er prangte vor ihm, faltete seine mächtigen Flügel an seinen Körper und musterte Gilbert mit seinen zwei grausamen, gleichgültigen Augenpaaren. Blankes Entsetzen und Angst schossen durch Gilberts Körper. Er verkrampfte sich augenblicklich als der Adler näher kam, und versuchte vergeblich, sich von dem riesigen Tier weg zu drehen.

 

„Bruder … du hast gesagt, du könntest nur einmal sterben ...“, wimmerte Ludwig ohne seinen Blick von Gilbert abzuwenden obwohl ihm der Rotz und die Tränen in Strömen übers Gesicht liefen. Es war ein verstörender Anblick. Ludwig schien zu wissen, was nun kam. Und auch Gilbert wurde es klar als der Adler sich über ihn beugte und seinen Schnabel mit aller Wucht in seine Brust rammte.

 

Es war kein Schmerz wie man ihn aus der Wirklichkeit kennt – es gab keine körperliche Komponente bei dieser Empfindung. Stattdessen gruben Todesangst, unbeschreibliches Grauen und absolute Ohnmacht ihre Krallen tief in Gilberts Seele und brachten ihn dazu lauter zu schreien als er es selbst je für möglich gehalten hatte. Der Adler wühlte sich zielstrebig durch seinen Brustkorb bis er das erreicht hatte wonach er gesucht hatte – und fraß Gilberts Herz. Er riss daran, verschlang es stückchenweise bis nichts mehr übrig war.

 

Nichts an dieser Qual war einmalig – es war nur ein einziges Mal in einer nie enden wollenden Reihe von Torturen die Gilbert durchleben musste. Ihm wurde schlagartig klar: Sein Herz würde ihm nachwachsen, und es würde ihm jedes Mal aufs Neue genommen werden.

Gilbert schrie, schrie bis er dachte er würde bald ohnmächtig werden – es war zu viel Schmerz, zu viel zu qualvoll –

 

-*-

 

Gilbert erschrak vor dem Geräusch seiner eigenen Schreie . Er rang nach Luft.

 

Nur ein Traum. Nur ein Traum …

 

Es dauerte, bis sich Gilbert beruhigen konnte. Langsam löste sich die Angst in ihm ein wenig auf. Es war wieder still in seinem finsteren Zimmer.

 

… nur ein Traum …

 

Das unheilvolle Gefühl einer drohenden Katastrophe wollte aber nicht vollends weichen. Was er den Tag davor bereits unterschwellig vernommen hatte, wurde ihm nun noch einmal vollends bewusst: Alles würde sich ändern. Schon wieder.

 

Und er war allein.

 

Österreich hatte sich abgewendet als der Krieg verloren war, und schon vorher hatte Italien sich zurückgezogen. Japan war auf der anderen Seite der Erde, und selber in schlechter Verfassung.

Ludwig war unter Amerikas Fittichen.

In Russlands Obhut waren mit ihm fast ausschließlich ehemalige Feinde, Nationen deren Länder er annektiert hatte, ihre Bevölkerung vertrieben, versklavt oder schlimmeres. Er war abhängig von seinem Wohlwollen. Und es zerriss Gilbert.

 

In seiner schier erdrückenden Einsamkeit sehnte sich Gilbert nach jemand anderem – es war egal, er wollte nur nicht länger alleine sein. Er gestand sich diesen Moment der Schwäche zu, in dieser schrecklichen Nacht.

Sogar über Russlands Gegenwart wäre er in diesem Moment froh gewesen.

 

Gilbert stöhnte und grummelte in die Dunkelheit: „Ich glaube, mit mir geht es wirklich zu Ende ...“

 

 

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  kawaii_kamy
2017-03-31T22:09:37+00:00 01.04.2017 00:09
Ich finde es cool, das du eingebaut hast, das Preußen Amerika geholfen hat bei seiner Unabhängigkeit. ^^ so ich lese gleich mal weiter - es ist so spannend! *-*
Von:  BB-Cute
2016-05-06T20:22:23+00:00 06.05.2016 22:22
oooooohhhh Q.Q schreib bitte schnell weiter!
das ist so toll geschrieben~ ich kann gar nicht mehr aufhören es zu lesen xD

LG BB-Cute<3
Antwort von:  wildfang
27.06.2016 20:40
Vielen lieben Dank für den Kommentar! <3 Das nächste Kapitel ist sehr wichtig und umfangreich, deswegen ist es schon längere Zeit in Arbeit - aber ich arbeite zur Zeit wieder mit viel Elan daran - ich tue alles damit es bald fertig ist!

lg <3
Antwort von:  BB-Cute
27.06.2016 22:40
sehr gut ;3 freue mich schon riesig drauf!

Grüßle BB-Cute~


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