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Das Herz der Hölle

von

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Morgenstund

Es war unnötig, Michael wieder aufzuwecken, da dieser von alleine die Augen aufriss und sich hastig an die Kehle griff; Raphaels Kopf war ein Stück nach vorne gesackt und ruhte so mit dem Kinn an seiner Brust, als er die hektischen Bewegungen neben sich bemerkte und aus dem kurzen Schlaf hochschreckte. Sein Rücken tat weh und der Boden hatte seinen Hintern ziemlich kalt werden lassen, die Position war nicht gut für den von weichen Federkernmatratzen verwöhnten Engel. Eine Hand hatte gegen sein Knie geschlagen, deswegen orientierte er sich wieder im Flugschiff und blickte dann auf das rote Gesicht des noch immer in den Decken liegenden Feuerengels.
 

„Mika-Chan!“
 

Hektisch glitt er auf die Knie und fasste nach den umherwühlenden Händen, damit er einen schnellen Überblick bekommen würde, doch strampelnde Beine machten es ihm schwerer als notwendig.
 

„Beruhig dich, ich helf dir ja!“
 

Dass er nicht noch die Flügel ausbreitete und dem angeborenen Fluchtinstinkt nachgab, war dann Raphaels ganz persönliches Glück. Erstickte Geräusche kamen vom Rothaarigen, dessen Gesichtsfarbe schlimmer und schlimmer wurde. Einen schnellen Atemstoß schickte er ihm in die Lungen, das beruhigte Michael jedoch kaum, er verfiel nur noch mehr in Panik und wand sich unter Raphael, der nun breitbeinig über ihm kniete und den Brustkorb möglichst abtastete, während Michaels Hände sich nach Hilfe suchend um seine Oberarme schlossen und dort einschneidende Abdrücke mit den langen Fingernägeln hinterließen. Hyperventilieren, das konnten sie wirklich nicht gebrauchen.
 

Als er den Grund für die Atemnot gefunden hatte, war es eigentlich ganz leicht und nachdem er seine Hand über der Brust des Kleineren hatte wirken lassen, atmete dieser hastig ein und aus, hustete etwas und schloss unter Schmerzen die Augen, während Raphael sich erledigt setzte – sprich auf Michaels Schoß und einen Teil seines Bauches zur Ruhe kam.
 

„Was war das“, krächzte der Betroffene unter ihm und behielt die Augen noch zu, während Raphael sich über die Stirn wischte.
 

„Deine Nervenbahnen werden lahm gelegt, die Muskulatur versagt. Deine Lunge kann so nicht arbeiten.“
 

Michael öffnete die Augen; sie waren ungesund gerötet und er schien endlos müde, dennoch beugte er sich auf den Unterarmen etwas hoch und blickte zu Raphael empor, der noch auf ihm saß.
 

„Wenn ich unterwegs verrecke, bereitest du dem ein Ende, klar? Ich will nicht wie irgendein Penner an meiner eigenen Kotze ersticken. Guck mich nicht so an, sonst pump ich mir selber alles in den Arm, was du in deinem Koffer mitschleppst.“
 

„Ich werde – verzeih den Vergleich – einen Teufel tun. Du hältst hübsch durch und wir ziehen dich wieder hoch.“
 

„Ach sei doch mal realistisch.“
 

Matt und nicht im Geringsten daran interessiert, dass der Blonde weiterhin auf ihm hockte, sank Michael wieder in sein provisorisches Krankenlager, rieb sich über die schweißnasse Stirn und schob alle Haare weg, die ihn irgendwie stören könnten. Raphael musste zugeben, dass er wie im fiebernden Endstadium schwitzte und ehrlich gesagt auch so aussah.
 

„Wenn wir ankommen, kannst du das Zeug auch nicht direkt identifizieren und als ob du jedes erdenkliche Gegengift rumfliegen hast. Ich verreck an dem Scheiß, basta. Wenn Uriel meine Seele zu Luzifer durchlässt, trete ich ihm trotzdem in den Arsch, sag ihm das.“
 

„Mika-Chan wir haben Möglichkeiten, außerdem sind ein paar deiner Jungs vorgeflogen und bringen das verdammte Vieh ins Labor, wegen dem du hier liegst. Ich hätte dich ja gern mit ihnen weggeschickt aber der Transport wäre nicht wirklich besser gewesen als das hier.“
 

„Hab schon Schlimmeres überstanden.“
 

„Jaaaah“, meinte Raphael und versuchte sich an einem schwachen Grinsen, als er endlich wieder zur Seite glitt und neben dem Rothaarigen Platz bezog; er wollte die Beine strecken und legte sich deswegen neben Michael, schaute jedoch an die Decke.
 

„Offener Brustkorb, abgeschnittener Flügel, hin und wieder eine Hand weniger als die Natur es eigentlich vorgesehen hat…“
 

„Richtig“, schloss das Daueropfer seine Krankenakte wieder und atmete einmal etwas lauter aus, als Raphael es gutheißen könnte. Besorgt drehte er sich auf die Seite und ließ wieder seine Hand über Michaels Brustkorb wandern, schickte wieder eine Salve der Heilung in ihn hinein. Das konnte er bis zum Ende machen, natürlich. Aber es würden mehr und mehr Faktoren hinzukommen, er war der Engel der Heilung, nicht etwa unerschöpflicher Vergiftungslösungen.
 

„Hey“, murmelte er leise, denn gerade wusste er nicht, ob sein Freund wieder schlief oder nur erneut die Augen geschlossen hatte.
 

„Hm…?“
 

„In einer Woche bei mir, denk dran. Durchhalten, okay?“
 

„Deswegen nehm‘ ich dich nie mit… du bist so weinerlich.“
 

Raphael nickte und suchte einmal nach der schweißnassen Hand des Rothaarigen, nahm diese in die eigene und fuhr ihm über die kalte, unangenehm blasse Haut.
 

-
 

Die letzten Stunden waren für beide eine Tortur gewesen, aber immerhin hatten die eingeatmeten Dämpfe bisher keine Wirkung auf den Rest der Mannschaft, wovon Raphael sich selber vergewissert hatte. Inzwischen waren die Decken fleckig von Blut und Schweiß, erbrochen hatte der Rothaarige sich auch, allerdings war von vornherein nichts im Magen, was den dröhnenden Schmerz im Kopf nur verschlimmert hatte. Raphael selber war müde, regelrecht platt und erledigt, aber sie befanden sich im unmittelbaren Landeanflug vor dem Krankenhaus.

Die Trennwand wurde aufgezogen und Michael – zum Glück, wie Raphael fand – hatte gerade erneut einen kurzen Anfall von Bewusstlosigkeit, sodass er ihn aus den Decken fischen und sich auf die Arme laden konnte. Inzwischen war seine rechte Gesichtshälfte von blauen Aderrissen durchzogen und am Arm war es bis zum Ellenbogen nach unten gewandert, über den Brustkorb breitete sich der Rest aus. Alles in allem ein furchtbarer Anblick, da die Haut um all die blauen Farbtöne ungesund weiß schimmerte.

Der Soldat mit den kleinen Augen trat heran und Raphael ließ sich bereitwillig den Feuerengel aus den Armen nehmen. Kein falscher Stolz würde ihn dazu verleiten lassen, seine letzten Kraftreserven aufzubrauchen und ihn zu tragen, wenn dort ein muskulöser junger Mann stand, der ganz offensichtlich bester Dinge war.
 

Die hintere Ladeluke öffnete sich und ein Stab von Ärzten, Schwestern und Pflegern stand bereit, sie in Empfang zu nehmen. Raphael winkte unwirsch mit der Hand ab, als man ihn selber zur Seite ziehen wollte und eilte dem Soldaten mit Michael im Arm voraus, lotste diesen so zielstrebig durch die Gänge. Er hatte genaue Anweisungen durchgegeben und wusste, welchen Raum er nun aufzusuchen hatte. Dieses Krankenhaus hatte sich in sein Selbst gebrannt, er würde blind jede Kachel benennen können. Das war sein Zuhause.
 

„Drauf da“, wies er den für ihn namenlosen Soldaten an und desinfizierte sich noch einmal schnell die Hände und Unterarme am Waschbecken, als bereits zwei Kollegen den Raum betraten und routiniert begannen, Michael aus seinem Oberteil zu schneiden. Das war nicht das erste Shirt, welches ihnen zum Opfer fiel und auch wenn der Rotschopf bei Zeiten ein Lieblingsstück zu verschmerzen hatte, rettete ihm das meistens seinen unverschämten Hintern.
 

Raphael fiel gerade dem Segen anheim, nicht der einzige Heiler des Himmels zu sein und lehnte sich kurz an das Waschbecken hinter sich; er brauchte Schlaf, das ständige Heilen im Flugschiff hatte ihn an seine Grenzen gebracht und wenn er nicht wieder in etwas Ähnlichem wie nach der Sache mit Barbiel landen wollte, musste er sich wohl oder über am Riemen reißen.
 

„Herr Doktor…“
 

Ein Neuling, der bestimmt schon seit fünf Jahren hier arbeitete, dem er aber bisher nicht viel Beachtung geschenkt hatte, hielt eine kleine Phiole zwischen den Fingern, während der ältere Kollege – wie hieß er noch gleich? – wie zuvor Raphael selbst den Körper des bewusstlosen Soldaten abtastete.
 

„Die Bradykardie begann vor etwa einer Stunde, seit dem waren kurze Ohnmachtsanfälle von Zeit zu Zeit gegeben. Erbrechen und erhöhte Drüsenfunktion, Kopfschmerzen und schlechte Sehqualität“, ratterte er die Informationen der letzten Stunden herunter und überschlug dann noch einmal, ob er etwas vergessen hatte, nahm dann endlich die Phiole zur Hand und kramte in einer Schublade nach einem Zugang.
 

„Er dehydriert“, fiel es ihm dann doch wieder ein. Das war nicht seine Art, Raphael kam bestens selber mit seinen Patienten zurecht und Michael hatte ihm zudem deutlich zu verstehen gegeben, dass, sollte er jemals aus einer Ohnmacht aufwachen und ein anderes Gesicht als das des Blonden würde auf ihn heruntersehen, er verdammt unangenehm werden könnte. Dennoch waren es seine Kollegen – oder viel mehr Angestellten – und sie hatten in wirklich kurzer Zeit die Akten nach Gegengiften gewälzt; die ein oder andere Nachtschicht hatte ihm auf dem Weg in dieses Zimmer ebenfalls entgegen geblickt.
 

Als er Michaels Hand wieder in seine nahm, hätte er direkt einen Toten berühren können – das Ergebnis wäre mit Ausnahme der Leichenstarre dasselbe gewesen. Die schlaffen Finger lagen kraftlos zwischen den seinen, er war eiskalt und vollkommen farblos.

Raphael biss sich auf die Zunge, dann schmeckte er unverwechselbar und beruhigend sein eigenes Blut und schob die dicke Nadel in die dunkel verfärbte Ader auf dem Handrücken. Der Kollege aus dem Labor klebte schnell ein Pflaster über den Plastikaufsatz und dann konnte Raphael das Gegengift in den Zugang geben. Dabei ruhte sein Blick auf Michaels regungslosem Gesicht, wobei er meinte, eine Bewegung hinter den geschlossenen Lidern ausmachen zu können aber das war vermutlich ein aus Wunschdenken und Erschöpfung gepaarter Traum. Er brauchte Schlaf, aber vorher musste er Gewissheit haben.

Michael würde ihn in der Luft zerreißen, wenn er sich im Krankenhaus wiederfand aber wenn man Raphael nur ein paar Stunden ausruhen ließ, konnte er sich ihm gerne stellen, von daher sagte er nichts dazu, dass eines der Krankenbetten herangefahren und der Rotschopf bis auf die Unterwäsche entkleidet wurde, ehe sie ihn hineinhoben. Es war ein Segen, dass ihre Körper schnell auf die meisten, positiven Ersatzstoffe reagierten, dennoch wollte Raphael die ersten zwanzig Minuten bei ihm verbringen und sicher gehen, dass Michael nicht doch über die Klippe sprang.
 

Deswegen trottete er schließlich langsam neben dem Bett her und zupfte hin und wieder an der dünnen Decke, die seinem Freund – und dessen wurde er sich in solchen Momenten immer wieder bewusst, zwischen ihnen bestand eine wie auch immer geartete Beziehung, keine angeborene Zwecksgemeinschaft – bis zu den Achseln hochgezogen wurde. Nur, weil sie ihm ein weiteres Gift gespritzt hatten – denn nichts anderes steckte hinter dem Begriff „Gegengift“ hieß das nicht, dass er nun unbedingt darauf anschlug. Zur Not setzte Raphael den nächstbesten Heiler neben ihn und zwang ihn mit dem weiterzumachen, wo sein Körper gerade versagte. Er war so müde…
 

Es ging alles ziemlich schnell, der Puls des roten Teufels piepte wenige Minuten später beruhigend konstant mit Hilfe der Maschine, an die man ihn angeschlossen hatte; diese primitiven Metho9den waren nicht Raphaels Fall aber wie gesagt – falscher Stolz. Er hatte sich einen Stuhl herangezogen und wollte dort ausruhen, als man ihn an seinen eigenen Zustand erinnerte und kurz durchleuchtete. Das war unnötig, er kannte seinen Körper und wusste, dass die eingeatmeten Dämpfe keine Probleme verursachen würden, dennoch ließ er sich wehrlos abführen.
 

Als Raphael wieder zurückke4hrte, erlaubte er sich ein leises Gähnen, seine Schritte gingen schlurfend und aus einer romantischen Überzeugung raus wollte er nun nicht neben Michael am Krankenbett einschlafen, dennoch bezog er Stellung auf seinem Stuhl. Das weiche Polster war ein Segen und die konstanten Töne waren beruhigender als jede Diagnose auf dem Papier. Einige Zeit beobachtete er den so jung aussehenden Engel, verschränkte dabei die Arme vor der Brust und glitt dessen Körper mit den Augen ab, gähnte wieder leise. Dass er sich stets um ihn sorgen musste, war schon ein kleines Ärgernis aber er tat es ja gerne. Nein, das war gelogen.

Raphael setzte nicht gern seine Gesundheit auf dem Spiel und rannte dem Kurzen nach wie eine Amme, er hasste es eigentlich sogar. Dennoch fühlte er sich… verantwortlich? Schuldig? Hatte er etwa irgendwie die Rolle des älteren Bruders übernommen, der sich ja doch nie wirklich gesorgt hatte?

Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen; Sex unter Geschwistern, sie hatten nie viel übrig für solche Tabus. Setsuna und Sara hatten sich auch großer Hilfe erfreut, wo der meist gelegene, gesunde Menschenverstand doch von Inzest und ethischen Werten sprechen würde.
 

Er beugte sich vor, als Michael sich schwerfällig auf die Seite gedreht hatte und dadurch für ein Verrutschen der Decke sorgte. Behutsam zupfte Raphael wieder alles zurecht, ließ dann einen Finger langsam über das Tattoo auf der Wange gleiten, wobei er beim Kopf des Tieres stoppte, sachte mit dem Daumen drüber wischte. Tattoowierte Gesichter waren furchtbar und falsch, wie er eigentlich fand. Es verbarg immer etwas von einer Person, auch wenn es nur der schmale, schlanke Hals des Drachen war, vor dem er sich vor all den vielen Jahren so erschrocken hatte.
 

Die Erinnerung daran war ausgeprägter, als sie wegen einer Banalität hätte sein sollen. Zwar war ein Michael ohne Tattoo inzwischen schlichtweg undenkbar, dennoch gab es einmal die Zeit, in der es eben nicht so war. Und plötzlich lief er an ihm vorbei, das blau-lila schimmernde Ding knapp unterhalb der gelben Augen. Ob Michael bewusst eine Art Komplementärkontrast gewählt hatte oder ihn das ewige Grün der Echsen einfach genervt hatte, wusste Raphael nicht zu sagen, doch inzwischen wollte er dieses Vieh nicht mehr missen.

Seufzend ließ Raphael seine Handfläche auf der kalten Wange ruhe, dann keimte ein nachhaltiger Moment ihres nächtlichen Abenteuers auf und er beugte sich vor, um die Lippen auf die Haut vor sich zu drücken und dann seine Stirn an Michaels zu lehnen, ihm noch einmal durch die Haare zu wuscheln und dann selber wieder auf dem Stuhl zu sitzen.
 

„Du bist anstrengend und nervig, Mika-Chan.“
 

Und trotzdem würde er immer wieder für ihn in die Bresche springen, einfach weil er es auch wert war.
 

-
 

Raphael erwachte wieder mit schmerzendem Rücken, der Stuhl hatte ihm im Endeffekt doch nicht so gut getan und gerade bereute er die Entscheidung, nicht doch aufgestanden zu sein und im Bereitschaftsraum ausgeruht zu haben. Oder gleich nach Hause zu gehen, doch das könnte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Es piepte noch immer konstant im Raum, inzwischen war es wieder dunkel geworden – eine furchtbar klischeehafte Szene, wie er fand. Idealerweise würde er nun aufstehen und ein leeres Bett vorfinden oder mindestens eine Blutlache unter diesem, doch neben ihm schlief der Feuerengel friedlich und blutlos. Insofern er es bei den schlechten Lichtverhältnissen beurteilen konnte, hatten sich all die vielen Aderrisse zum Teil zurückgezogen – es leben die Astralkräfte! – und Michaels Atem hatte sich auch von einem Flattern in tiefe, ruhige Züge verwandelt. Dennoch erhob sich der Blonde, streckte den Rücken durch und trat dann einen Schritt näher, um sich das Übel noch einmal anzusehen.
 

Die Stiche am Hals waren noch immer nicht verheilt, was ihn irgendwie nervte, doch darum könnte er sich auch später noch kümmern. Vorsichtig ließ er die Hand nach vorne rutschen und berührte Michaels Stirn; nicht mehr so kalt wie zuvor und das übermäßige Schwitzen hatte auch endlich aufgehört. Alles in Allem schlief er einfach und ruhte aus, eventuelle Folgeschäden könnte Raphael erst später ausmachen. Er könnte sich nun auch zu ihm legen und sich hingebungsvoll anschmiegen, aber die Szenen eines schlechten Krankenhausfilms glitten ihm durch den Kopf und so war es wirklich der Bereitschaftsraum, den er zum endgültigen Nachtlager auswählen würde.
 

„Schlaf gut“, murmelte er dem Patienten noch leise zu, dann machte er kehrt und verließ endlich den Raum, ließ die Tür leise ins Schloss fallen.

Die Betten im Bereitschaftsraum waren nun auch nicht das, was er seinem Rücken sonst gönnte aber eine Aufwertung zum Stuhl, dem Flugschiff oder gar der Hängematte alle mal. Wobei, so unbequem war es in dem Ding zwischen den Bäumen nicht gewesen, es hatte ihm sogar ziemlich gefallen. Sex war so eine Sache und in einem Bett mit sicherer Matratze vermutlich noch besser gewesen, doch eigentlich konnte er sich nicht großartig beschweren. Erinnerungen keimten auf, bei denen Raphael selber schmunzeln musste. Die Stimme des Rothaarigen glitt ihm durch den Kopf; nicht so laut wie sonst, angenehm leise und vor allem Geräusche, die er sonst nicht von ihm kannte.

Nicht unter den Bedingungen.

Dazu kam das Gefühl an den Händen, seine Hüften festgehalten zu haben – das Insekt blendete Raphael großzügig aus, auch wenn er gerade daran erinnert wurde, seit zwei Tagen nicht geduscht zu haben – und das federleichte Gewicht auf dem Schoß.
 

Seufzend drückte er die Nase in das geruchslose Kissen und schloss die Augen, tastete noch einmal zur Sicherheit nach dem Bewusstsein des anderen Elementares und schlief dann mit der beruhigenden Gewissheit ein, dass dieser sich auf dem Weg der Besserung befand – erneut.
 

-
 

„Wie fühlst du dich?“
 

Er rechnete mit einer frechen Antwort, allerdings erntete Raphael nur einen verkniffenen Gesichtsausdruck und böse zusammengezogene Augenbrauen, während Michael – aufrecht im Bett sitzend – auf das Tablett mit dem Frühstück herunter sah, welches man ihm angedreht hatte.

Im Laufe der Nacht hatten sie ihn mit Elektrolyten vollgepumpt und wenn der beratungsresistente Engel dieses eine Mal auf Raphael hören würde, konnten sie dem Flüssigkeitsmangel immerhin entgegentreten.
 

„Guck nicht so grantig, das war eine ganz harmlose Frage.“
 

„Gut, ich geh gleich“, murrte es hinter einer Wasserflasche und einer Schale ungesüßter Früchte. Raphael ließ die Augen rasch über die Auswahl gleiten und stellte dann mit nicht wenig Erleichterung fest, dass sich das verhasste Obst nicht unter dem Angebot befand und so lehnte er sich selber bloß im Stuhl zurück – geduscht und umgezogen, er fühlte sich hervorragend.
 

„Vorher darf ich dich noch einmal durchchecken, eigentlich wäre es mir sogar lieber, wenn du noch eine Nacht zur Beobachtung bleibst.“
 

„Jaaaaaa… nein. Vergiss es. Durchchecken, geschenkt. Danach will ich nach Hause.“
 

Die Wasserflasche wurde weggeschoben, die Früchte keines Blickes gewürdigt. Das war einfach nicht sein Ding, sie hatten sich nicht in einem unfairen Kampf auf Leben und Tod wehren müssen.

Raphael würde sie notfalls unter Körpereinsatz in ihn reinzwängen und genau der Gedanke schien auch Michael gerade gekommen zu sein, der pikiert ein Stück Apfel zwischen die Finger nahm und seinen ganzen Frust darauf ablud.
 

„Hast du Schmerzen? Iss auf“, setzte Raphael seine persönliche Visite fort und bediente sich bei den Früchten, da Michael eh nur scheinheilig auf ein, zwei Stücken herumkauen würde. Er schob ihm ja jetzt schon die Schale hin und schaute böse auf, als Raphael diese mit der Hand stoppte und wieder zu ihm rückte.
 

„Nein“, kam es pragmatisch, dann steckte er sich das Stückchen Apfel in den Mund und kaute genervt.
 

„Das Gift war nicht selten, aber effektiv“, murmelte der Blonde und nahm sich eine halbe Kirsche, während Michael möglichst viel Abstand zum Obst aufzubauen versuchte und den Oberkörper nach hinten drückte, kaum dass Raphael aufgestanden war und neben ihm Stellung bezog. Dieses Arzt-Patientending war absolut nicht Michaels Fall, deswegen suchte er ihn meist alleine auf und nicht wie üblich mit einem Stab von Assistenten und Krankenschwestern, die sich dann alle vor dem Bett postierten und zu ihm herunterblickten. Wenn Raphael sich nun also erhob, wurde es auf irgendeine Art und Weise unangenehm für den kleinen Engel, der ihn misstrauisch ansah und zur Vorsicht noch nach etwas Birne angelte.
 

„Ich weiß nur nicht, was das Ganze sollte. Hast du dir mal wieder neue Feinde gemacht?“
 

„Brauch ich nicht, dann werden die alten nur eifersüchtig.“
 

Ein mattes Schmunzeln glitt über die Züge des Heilers, ehe er wieder in die Schale langte und selber ein Stück Apfel aß, dann schob er plötzlich das zweite, mit aufgenommene Stück zwischen Michaels Lippen und nahm gerade noch rechtzeitig die Finger weg, ehe er ihn um ein paar Kuppen erleichtern würde.

Die Schale fischte er sich auch schnell hoch, da diese sonst zum Wurfgeschoss umfunktioniert worden wäre und glitt auch einen Schritt nach hinten, aß dann in aller Ruhe die andere Hälfte der Kirsche.
 

„Du sollst auf mich hören, verdammte Scheiße. Ich bin dein fürsorgender, besorgter Arzt also mach gefälligst, was ich dir sage.“
 

Langsam stellte er die Schale wieder ab und wie zu erwarten verschränkte der andere bockig die Arme vor der Brust, beobachtete Raphael allerdings genau, während dieser sich wieder auf den Stuhl setzte. Mürrisch griff Michael nach der Schale, schob sich drei Fruchtstücke zwischen die Lippen und rang deutlich mit sich, Raphael nun zu beschmeißen. Lebensmittelverschwendung war allerdings gar nicht Michaels Fall, also würde er nun doch die Schale leeren und ihn dann mit dem Porzellan attackieren.
 

„Ich frage mich, warum dich alle tot sehen wollen“, schloss das Zielobjekt in aller Ruhe wieder zu ihrem vorherigen Gesprächsthema auf und erntete damit ein Schnaufen. Raphael rollte mit den Augen und zuckte die Schultern.
 

„Ich weiß, dass viele Dämonen einen persönlichen Rachegrund haben und andere dadurch einige Vorteile, schneller hier eindringen zu können. Aber findest du nicht, dass der ganze Mist etwas abgekatert aussah? Ich meine… man schickt dich speziell in dieses Gebiet, ausgerechnet das giftigste Vieh attackiert dich, dein Feuer hat nichts gebracht…“
 

„Klar“, murrte Michael und stöhnte dann entsetzt, da er noch nicht einmal den Boden der Schale sehen konnte.
 

„Wär nicht das erste Mal, dass der Hohe Rat mich ausknipsen will. Und ich glaube auch nicht, dass du im Plan mit drin warst aber da war es ja wohl schon zu spät, alles abzublasen.“
 

Er schabte sich eine Handvoll Früchte heraus und breitete diese dann auf dem Serviertablett aus, damit die Masse nicht so erschlagend war und er schön brav alles nacheinander essen konnte. Ein schrecklich kindisches Verhalten, aber Hauptsache, er aß das Zeug.
 

„Erschreckender Weise wäre das nicht mal so verwerflich“, murmelte Raphael, doch ob diese Antwort ihn glücklich machen würde? So ganz konnte er sich noch nicht damit anfreunden, doch Michael schien der kleine Mordanschlag nicht weiter zu stören und endlich sah er ein Ende in Hinblick auf sein Frühstück. Würde er ihn nicht wirklich genau beobachten, wäre Raphael das leichte Zögern entgangen, mit dem die Schale wieder in seine Richtung geschoben wurde, so gab er den Widerstand dann aber auf, nahm noch ein paar Stücke raus und legte sie ihm vor, ehe er selber den Rest an sich nahm. Einfach nur um ihn zu boykottieren verweigerte der Rotschopf dann die Aufnahme der letzten Früchte, was mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen wurde.
 

„Ach ja“, fing er plötzlich an und schraubte die Wasserflasche auf, nahm einen kleinen Schluck.
 

„In einer Woche, ne. Bei mir. Ich will nicht immer zu dir latschen, deine Lampen kotzen mich an.“
 

„Kann nicht jeder dekoratives Neonlicht haben“, schoss Raphael kühl zurück und wunderte sich dann doch, dass Michael wirklich wieder auf das Thema zu sprechen kam.
 

„Hatten wir nicht festgestellt, dass ich die nötigen Sachen dafür zuhause habe?“
 

„Dann bring sie halt mit, mir doch egal. Ich geh jetzt.“
 

Raphael beobachtete, wie der andere die Beine aus dem Bett schwang und auf die Füße kam, dabei einen prüfenden Blick an sich herabwarf und dann wieder nach oben blickte.
 

„Wo sind meine Sachen?“
 

„Bis auf dein Oberteil da im Schrank.“
 

Genervtes Augenrollen, dann schlenderte er an Raphael vorbei und zog die Schranktüren auf, fischte die über Nacht frisch gewaschene Hose heraus und blickte dann irritiert auf seine Stiefel. Raphael sah es förmlich hinter der Stirn arbeiten, ob das tatsächlich Michaels Stiefel waren. Due Kruste aus Schmutz und Schlamm fehlte und er sah sich mit geputztem Leder konfrontiert. Da hatte es ein Azubi besonders gut gemeint und sein ganzes Herzblut in die Reinigung gesteckt, was jedoch nur zu einem verständnislosen Kopfschütteln führte, dann zog er sich an und machte danach deutlich, dass der freie Oberkörper ihn keines Wegs störte.
 

Raphael nahm den Rücken des Rotschopfs ins Visier, dann verließ ihn der nächste Satz einfach ganz frei und ohne überhaupt richtig nachzudenken: „Ich hätt grad wirklich Lust, dich von hinten zu nehmen.“
 

Michael stoppte in seiner Bewegung – morgendliches Dehnen, er war ja nicht blöd – dann drehte er sich sichtlich verwirrt zu Raphael um, der über seine eigene Aussage erschrocken war.
 

„Wie war das?“
 

„Gute Frage, vergiss es einfach. Ist mir so rausgerutscht.“
 

Ein kritischer Blick, dann wandte sich der andere wieder ab und streckte die Arme in die Luft, kratzte sich anschließend am Hals – und zuckte zusammen, als er die Stiche berührte. Das war immerhin ein Moment, mit dem der Blonde wieder umgehen konnte und so trat er an ihn heran, legte seine Hand an den Hals und ließ endlich diese unansehnlichen Löcher verschwinden. In der letzten Nacht lagen die Prioritäten woanders, da hatte er keine Zeit für kleine Wunden. Jetzt allerdings war es in Ordnung und wenn er nur die Hand wieder wegnehmen würde, könnte Michael auch gehen. Unpraktischer Weise stand er wirklich dicht hinter diesem und atmete den Geruch der Haare ein; es war nicht angenehm, er hatte nun einmal geschwitzt wie ein verrückter aber wie immer war da etwas Rauch und frische Luft, die sich stets vor ihm zu verstecken versuchte, allerdings an seinen Körper gebunden war, damit er überhaupt funktionierte.
 

„Wenn deine Hose stramm wird, sagst du Bescheid?“
 

Das war der Moment, in dem Raphael aus seiner Starre erwachte und von ihm abrückte, ein leises „Tzz“ vernehmen ließ und sich nun beherrschte, ihm nicht peinlich berührt den Rücken zuzudrehen.
 

Michael schüttelte den Kopf – Mika-Chan, er musste bei Mika-Chan bleiben. Michael war zu erwachsen – und verließ dann das Zimmer endgültig. Klar, er ging eben, wie es ihm passte, sollte er nur. Raphael selber ließ sich entnervt auf seinem Stuhl sinken und überdachte die Aussage noch einmal; ihm hatte der Anblick des schlanken Rückens gefallen, ja. Natürlich war da ein gewisser Attraktivitätsfaktor, er könnte nie aus reiner Geilheit mit jemandem schlafen. Aussehen spielte eine nicht unwichtige Rolle und auch, wenn er Michael nie als Sexobjekt betrachtet hatte, waren dort unumstößlich hübsche Züge vorhanden. Klar, was erwartete man auch von Luzifers kleinem Bruder?
 

Dazu kam die kleine Statur, die Raphael gedanklich gerne mit dem Begriff „zierlich“ versah, dies aber niemals laut aussprechen würde. Er hing am Leben, wirklich.
 

Es war ja nicht so, dass er seinen Körper nicht auswendig kannte; niemand hatte so oft auf dem OP-Tisch gelegen wie der Rothaarige und doch machte ihn der Anblick der nackten Beine bei Zeiten verrückt. Nun war es der Rücken, der es ihm angetan hatte. Raphael ächzte; er brauchte ein neues Hobby, Michael als Solches alleine war einfach nicht gut für ihn.



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