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Creepypasta Extra 3: Last Judgement

Die Thule-Verschwörung
von

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Aufs Ganze

Als Anthony Harveys Zimmer betrat, fand er kaum persönliche Dinge vor, höchstens Kleidung und einen E-Book Reader, auf welchem sich unzählige klassische literarische Werke in deutscher, englischer und französischer Sprache befanden. Auch fand er ein Fotoalbum, wo sich Bilder von ihm und Chris befanden. Es waren Fotos aus unbeschwerter Zeit, als beide noch fröhlich gelacht und auf der Bühne ihre Rollen gespielt hatten. Die neuesten Fotos waren ohne Chris, dafür aber war nun Johnny auf ihnen zu sehen. Auf einem lag Harvey schlafend im Bett und ihm war mit einem schwarzen Filzstift ins Gesicht gemalt worden, während er auf einem anderen Bild auf den Rücken lag und mit Akupunturnadeln bearbeitet worden war. Nur bildeten diese den etwas zweideutigen Satz „Got Nailed by Johnny“. Da musste selbst Anthony lachen. Zwar sah Harvey nicht gerade begeistert auf den Fotos aus, aber dass er diese Fotos ins Album geklebt hatte, sprach dafür, dass er sich gerne von Johnny veralbern ließ. Ansonsten fand er einen diversen Haufen Filme, die Harvey sich wohl gerne ansah. Angefangen von „Titanic“ über „A Million Dollar Baby“ bis hin zu „Forrest Gump“, „Schindlers Liste“ und „Green Mile“. Offenbar war er nicht nur ein Schauspieler und Liebhaber der klassischen Literatur, sondern sammelte wohl auch gerne bewegende Filme. Geschmack hatte der Kerl jedenfalls, aber das war es nicht, wonach Anthony suchte. Er brauchte ein Indiz dafür, dass dieser Harvey ein schmutziges Geheimnis hatte. Unter dem Bett fand er eine Tasche, an der mehrere Buttons mit diversen Sprüchen hingen. Sie sah aus, als würde sie einem Jugendlichen gehören und nicht einem Psychologen und Schauspieler. War das vielleicht Johnnys Tasche? Offenbar hatte Harvey seine Sachen auch mitgenommen, aus welchem Grund auch immer. Neugierig öffnete Anthony sie und holte einen Schnellhefter heraus, in welchem sich Listen befanden. Es waren Namen von Polizisten und Priestern mitsamt Anschrift und außerdem stand dort geschrieben, was für Verbrechen sie begangen hatten. Anthony war verwirrt und fragte sich, wieso Johnny solche Listen anfertigte und warum die Verbrechen vermerkt waren. Der Konstrukteur begann sich die Namen einzuprägen, dann legte er den Schnellhefter wieder in die Tasche und schob sie unters Bett, wo sie zuvor gelegen hatte. Schnell verließ er das Zimmer, bevor er noch gesehen wurde, gab die Schlüsselkarte an der Rezeption ab und borgte sich den Laptop eines anderen Hotelgastes, der ihn mit ein wenig „Überzeugungskunst“ Anthony gab. Er wollte die Namen auf der Liste überprüfen, denn ihn beschlich ein merkwürdiges Gefühl, was diesen Harvey betraf. Und der Schauer überkam ihn, als er herausfand, dass fast alle diese Personen tot waren. Sie alle waren gehäutet und dann regelrecht abgeschlachtet worden. Wiederum waren andere von ihnen noch am Leben. Was hatte das zu bedeuten und warum waren Johnny und Harvey im Besitz solcher Listen? Ein Online-Zeitungsartikel berichtete von einem Serienmörder, der auch international aktiv war. Er wurde „The Skinner“ genannt. Von ihm hatte Anthony bereits einiges gehört. In seinem Manifest prangerte er die korrupten Politiker, Polizisten und Justizbehörden und kriminellen Machenschaften der Priester und des Vatikans an. Er bezeichnete sich selbst als Demaskierer, der mit seiner grausamen und brutalen Art die ganze Welt erschüttern wollte, um die vorherrschenden Zustände zu ändern. Wenn Anthony über Harveys Worte nachdachte, schien es langsam ein Gesamtbild zu ergeben. „…ich bin lediglich ein Mann mit einer Idee und einem Ziel. Und um diese Idee umzusetzen, bin ich gezwungen, entsprechende Mittel einzusetzen, um den Leuten meine Idee zu vermitteln und für mein Ziel zu gewinnen.“ Konnte es etwa sein, dass Harvey der Skinner war? Hatte er etwa diese 35 Menschen bei lebendigem Leibe gehäutet und sie dann auf solch bestialische Art und Weise massakriert? Es musste so sein, da sprachen einfach zu viele Indizien dafür. Doch wie sollte er jetzt mit diesem Wissen weiterverfahren? Er musste die anderen darüber in Kenntnis setzen und beratschlagen, was sie tun sollten und ob sie ihm überhaupt vertrauen konnten. Anthony rief Vincent, Viola, Evan, Sally, Amara und Thomas zusammen und traf sich mit ihnen in Hannahs Krankenzimmer, wo sie ungestört waren und letztere gleichzeitig im Auge behalten konnten. Zuerst waren sie verwundert, warum Anthony so schnell ein Treffen einberufen hatte, ohne Harvey und Christine hinzuzuziehen. Schließlich erzählte er ihnen von der Liste, die er gefunden hatte und dass die meisten von ihnen Opfer des Skinners geworden waren. „Ich gehe davon aus, dass Harvey der Skinner ist, der insgesamt 35 Menschen zuerst die Haut abgezogen und sie dann auf besonders brutale Art und Weise umgebracht hat. Da das nicht nur mich allein betrifft, will ich eure Meinung dazu hören.“

Evan, der noch nie etwas von diesem Serienmörder gehört hatte, enthielt sich seines Urteils. Auch die anderen waren sich nicht sicher. Schließlich war Sally die Erste, die eine klare Entscheidung traf und auch deutliche Worte fand. „Mag sein, dass Harvey ein Serienmörder ist, aber wir sollten eines nicht vergessen: Ich habe noch mehr angerichtet und sicherlich hundertmal mehr Menschen umgebracht. Wenn also jemand ausgeschlossen werden sollte, dann ich. So wie ich das sehe, tötet Harvey böse Menschen auf diese Weise, weil er in der Welt etwas verändern will. Im Grunde tut er fast das Gleiche wie Christine und wenn wir in Betracht ziehen, dass er uns geholfen hat, Belphegors Uhr zu finden und er auch Amara das Leben gerettet hat, hat er zumindest eine Chance verdient. Und außerdem scheint er nicht boshaft zu sein. Jedenfalls hat er weder der Öffentlichkeit preisgegeben, dass ich hinter Happy Sally stecke, oder dass ihr Konstrukteure seid. Auch hat er deine Verwandtschaft zu Dr. Helmstedter nicht an die große Glocke gehängt. Ich jedenfalls bin bereit, ihm eine Chance zu geben.“ Und diese Worte schienen auch die anderen zu überzeugen. Viola konnte zwar keinen richtigen Entschluss treffen, aber Vincent war auch der Meinung, man dürfe nicht einfach so über ihn urteilen. Amara brauchte eine Bedenkzeit, aber schließlich schloss sie sich Sally an. Immerhin hatte sie selbst auch schlimme Dinge getan und man hatte ihr diese verziehen. Hannah war der Überzeugung, dass Harvey ein guter Mensch sei und man ihm vertrauen sollte. Nun war Thomas an der Reihe, seine Meinung kundzutun und seine Meinung war Anthony besonders wichtig. Thomas war aufgrund seiner jahrelangen Ausbildung zum Auftragskiller ein pragmatischer Denker, der alles aus einer ganz anderen Perspektive betrachten konnte. Meist war er es, der die vernünftigsten Entscheidungen traf, ohne sich von seinen Emotionen leiten zu lassen. „Sie hat Recht“, sagte er schließlich. „Er ist zwar ein Mörder, aber Sally hat weitaus mehr Menschen auf ähnlich grausame Art und Weise getötet. Schuldige und Unschuldige. Für sein Handeln hatte er einen für viele Menschen nachvollziehbaren Grund. Und Christine sagte, er sei ein Mensch mit guten Absichten. Ich kenne sie seit mehr als fünfzig Jahren und weiß deshalb, dass sie niemals leichtfertig ein solches Urteil fällt.“ Anthony nickte bedächtig, als er das hörte. Zwei Enthaltungen, eine Befürwortung und vier Stimmen für eine Chance. Es war also ein eindeutiges Ergebnis und so erklärte er sich einverstanden, dass sie Harvey die Chance geben sollten, seine Geheimnisse zu erklären. Während Amara bei Hannah blieb und die anderen beiden Kinder in Evans Galerie verschwanden, gingen Vincent, Sally, Anthony und Thomas los, um Harvey zur Rede zu stellen. Dieser befand sich auf dem Dach des Hotels, saß direkt am Rand und betrachtete den wolkenverhangenen Himmel. Christine saß neben ihm und die beiden schienen miteinander zu reden. Als sie die anderen bemerkten, standen sie auf und kamen auf sie zu. „Gibt es irgendetwas Neues?“

„Allerdings“, sagte Anthony und blieb direkt vor Harvey stehen. „Ich habe da etwas Interessantes herausgefunden, was dich betrifft. Möchtest du uns vielleicht etwas erzählen?“ Christine hob die Augenbrauen, als sie das hörte und atmete laut aus. „Tja Harvey, da hast du den Salat.“ Doch dieser wirkte überhaupt nicht beunruhigt oder nervös. Nein, er war ganz entspannt und spielte, zu Anthonys Überraschung, sofort mit offenen Karten. „Ich führe ein Doppelleben. Für gewöhnlich bin ich Harvey Charles Dahmer, Schauspieler und Psychologe. Aber es gibt eine andere Seite von mir, eine Maske, die ich mir erschaffen habe und die ich zutiefst verachte und hasse: Den Skinner. Ich habe ein Monster erschaffen, um der Menschheit einen Alptraum und Schrecken zu bereiten, der sie wachrütteln soll, damit sie sich gegen das Unrecht zur Wehr setzen, das ihnen angetan wird. Unzählige Leben wurden zerstört, weil Polizisten ihre Macht und ihren Einfluss missbraucht haben, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Genauso wie sich Richter und Staatsanwälte kaufen lassen und die Gesetze mit Füßen treten. Ich war es einfach Leid, das ganze Elend mit anzusehen und selbst ertragen zu müssen. Ich habe die Kinder gesprochen, die von den Priestern vergewaltigt wurden und niemals Gerechtigkeit erfahren haben. Stattdessen wurden diese Pädophilen vom Papst in den Vatikan zurückgeholt und können unbehelligt weiter ihrer Tätigkeit nachgehen. Ich weiß, dass eine Straßendemonstration, eine Petition oder eine Kampagne überhaupt nichts bewirkt. Die Menschen interessieren sich nur für negative Schlagzeilen und deshalb kann ich ihre Aufmerksamkeit erregen, indem ich das Monster erschaffe, welches ich eigentlich nicht sein will. Indem ich genau solche Menschen jage und töte, werden auch die Polizei und das FBI versuchen, neue potentielle Opfer zu finden, um dem Skinner zuvorzukommen und werden dann endlich auf den Schmutz in den eigenen Reihen aufmerksam. Erst dann werden sie wirklich aktiv.“

„Und du glaubst dass das, was du tust, richtig ist?“ fragte nun Vincent und sah ihn genauso ernst an wie Anthony. Dennoch blieb Harvey ruhig, so als hätte er überhaupt keine Angst. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein, oder als hätte er rein gar nichts mehr zu verlieren. „Notwendigkeit bedeutet noch lange nicht, dass es auch richtig ist. Sei es moralisch oder gesetzlich gesehen. Ich weiß dass das, was ich tue, ein unverzeihliches Verbrechen ist und ich eines Tages dafür büßen werde. Der Skinner bleibt nur solange bestehen, bis ich zumindest eine Hand voll Menschen von meinen Zielen überzeugen konnte, damit sie sich auf ihre Weise gegen diese Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. Wenn man schon nicht die Vergangenheit ändern kann, dann wenigstens die Zukunft, das ist meine Sicht der Dinge. Johnny ist als mein Informant tätig und hilft mir, weil er an mein Ziel glaubt. Und außerdem vertrete ich folgenden Grundsatz: Wer nicht bereit ist, selbst getötet zu werden, der sollte auch keine anderen Menschen töten.“ Anthony betrachtete Harvey eine Weile und sah nicht das geringste Zögern in seinen Augen. Nicht den leisesten Anflug von Unsicherheit. Er war fest entschlossen, für sein Ziel, nämlich für eine bessere Welt zu kämpfen, auch wenn er dafür ein Monster erschaffen musste. Und vor allem hatte er keine Angst vor dem Tod. Aber Anthony war noch nicht so recht überzeugt. Er zog seine Pistole und richtete sie direkt auf Harveys Stirn. Zwar waren einige Meter Abstand zwischen ihnen beiden, aber auf die Entfernung konnte er ihm durchaus den Schädel wegschießen. Als Vincent das sah, wollte er eingreifen, aber Thomas, der Anthony durchschaute, hielt ihn stumm zurück. „So wie du redest, klingt das nach einem selbstverherrlichenden Psychopathen. Warum sollten wir einem wie dir vertrauen?“

„Ich habe nie verlangt, dass ihr mir vertrauen sollt. Das ist allein eure Entscheidung. Genauso wie es eure Entscheidung ist, ob ihr mich nun als einen geistesgestörten und narzisstischen Psychopathen einstuft, oder nicht.“ Entweder wusste er, dass Anthony nicht schießen würde, weil er es aus seinen unbewussten Bewegungen lesen konnte, oder er war tatsächlich bereit, hier und jetzt zu sterben. Harvey versuchte nicht einmal, seine Taten zu rechtfertigen oder sie von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen. Er pokerte hoch. „Ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode“, so ging doch dieses Zitat, oder? Entweder war es eiskalte Berechnung von Harvey, oder er meinte es wirklich so. Da er offenbar merkte, dass Anthony ein wenig unsicher geworden war, nahm er einfach ein Tuch aus seiner Jackentasche, verband sich damit die Augen und sagte „Wer der Meinung ist, ich verdiene den Tod, der soll mich entweder hier und jetzt vom Dach hinunterstoßen oder mich erschießen. Na los, ich bin bereit!“ Dieser Verrückte macht wirklich ernst, dachte Anthony und legte den Finger um den Abzug. Zwar besaß er nicht die gleiche Fähigkeit, aus den kleinen unbedachten Bewegungen seines Gegenübers seine Gefühle und Gedanken zu erraten, aber er merkte, dass Harvey wirklich bereit war, hier und jetzt sein Leben zu lassen. Er gab ihnen sozusagen sein Leben in die Hand. Was bedeutete das denn nun? Dass Harvey ein eiskalter und berechnender Killer war, der ihnen bloß etwas vorspielte, oder ein guter Mensch, der Böses tat, um die Welt zu verbessern? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ein Schuss wurde schließlich abgefeuert und zwar aus Anthonys Waffe. Die Kugel pfiff haarscharf an Harveys Kopf vorbei und selbst da zuckte rein gar nichts in seinem Gesicht. Er war tatsächlich bereit gewesen, dem Tod ins Auge zu sehen. Anthony senkte die Waffe und atmete tief durch. Harvey nahm seine Augenbinde wieder ab und irgendwie wirkte er in diesem Moment furchtbar unglücklich und leer. Eine lange Schweigepause herrschte, dann sagte er „Es ist mir egal, ob ihr mich für meine Verbrechen verachtet, mich für verrückt haltet, oder mir einfach nur misstraut. Wenn ihr meine Hilfe nicht wollt, respektiere ich das natürlich. Dann werde ich auf eigene Faust nach Johnny suchen und Thule aufhalten, solange ihr mich nicht aufhaltet.“ Und damit ging Harvey an ihnen vorbei und verließ das Dach. Christine blieb bei den anderen, sah dem Schauspieler noch hinterher und wandte sich dann an den Rest der Gruppe. „So, da habt ihr es jetzt. Und was wollt ihr nun tun? Wollt ihr ohne ihn weitermachen?“

„Also ich denke, dass wir ihm helfen sollten“, sagte Sally schließlich. „Ich bin zwar bei weitem nicht so ein neutraler Denker wie Thomas, aber ich erkenne sehr wohl, wann jemand ein falsches Spiel treibt und wann nicht. Mir tut Harvey ehrlich gesagt Leid und wenn ihr mich entschuldigt, ich gehe jetzt.“ Damit lief Sally ihm hinterher und verließ ebenfalls das Dach. Anthony wandte sich an Thomas. „Wie schätzt du ihn ein?“

„Er scheint selbst zu leiden, wenn er Menschen tötet. So wie ich das sehe, hat Christine Recht: Er ist im Grunde ein guter Mensch, der sich in seiner Hoffnungslosigkeit und in seinem Schmerz an den Wunsch klammert, dass er etwas bewegen kann und er diese Menschen nicht sinnlos umgebracht hat. Er selbst ist kein Mörder, sondern der Skinner.“

„Anthony“, sagte nun Vincent und sah seinen besten Freund eindringlich an. „Der Kerl hat in Kauf genommen, dass du ihn erschießt. Was für Beweise willst du denn noch? Schön und gut, dass er das Lesen von Mikroexpressionen beherrscht, aber mit verbundenen Augen hätte er unmöglich sehen können, ob nicht jemand bereit ist, auf ihn zu schießen. Also ich finde, wir haben es weit genug mit ihm getrieben.“ Damit ging auch Vincent und Thomas folgte ihm. Anthony blieb nun alleine mit Christine zurück und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.“

„Wenn ich dir einen persönlichen Rat geben darf, Schätzchen“, sagte die Rothaarige schließlich und klopfte ihm auf die Schulter, „dann regle es mit Harvey doch genauso wie mit Sally. Vertraue ihm als Menschen, aber nicht als Monster. Das wäre zumindest ein sehr vernünftiger Kompromiss. Ich kann dich verstehen, aber ich kenne Harvey besser als er selbst glauben würde. Er hat wirklich damit gerechnet, dass du auf ihn schießen würdest. Lass dir das alles noch mal ganz in Ruhe durch den Kopf gehen, ich werde noch mal nach Hannah und Amara sehen. Danach sollten wir uns ernsthaft zusammensetzen und besprechen, wie wir gegen Thule vorgehen sollten.“ Als dann schließlich Christine auch ging, war Anthony erst einmal alleine und lief unruhig auf und ab. Er haderte immer noch mit sich selbst und wusste nicht was er tun sollte. Einem Serienmörder vertrauen, der Menschen gesetzlich gesehen aus niederen Beweggründen tötete? Wenn er wenigstens sein Unterbewusstsein lesen könnte. Schließlich kam Anthony zu einem Entschluss. Er lief Harvey hinterher und fand ihn in seinem Zimmer. Mit gesenktem Kopf saß er auf seinem Bett und sah aus, als wollte er sich gleich die Kugel geben. „Hör mal“, sagte Anthony schließlich, als er das Zimmer betrat. „Nimm es nicht persönlich, aber ich muss anderen Leuten misstrauen, weil ich die anderen beschützen will. Vor der Regierung, vor Thule und vor Menschen, die sie ausnutzen wollen. Ich lebe schon seit fast 82 Jahren und habe den Krieg und noch vieles mehr miterlebt.“

„Das verstehe ich ja auch“, sagte Harvey schließlich, aber seine Stimme klang irgendwie kraftlos. „Die Tatsache, dass dein Halbbruder Hinrich für all das verantwortlich ist, was dir, Hannah, Thomas und Vincent zugestoßen ist, hat dich sehr geprägt. Du siehst dich in der Pflicht, immer das Richtige zu tun und die anderen zu beschützen. Auch vor einer potentiellen Gefahrenquelle wie mir.“

„Normalerweise vertraue ich Menschen erst, wenn ich hundertprozentig weiß, dass sie ehrlich sind. Und weil du Mikroexpressionen lesen kannst und zudem Psychologe und studierter Schauspieler bist, kann ich trotz allem nicht sagen, ob das auf dem Dach bloß Show war, oder nicht. Ich möchte mich gerne selbst überzeugen. Da ich dich in deinem wachen Zustand nicht lesen kann, möchte ich etwas anderes versuchen. Als gelernter Hypnotherapeut kann ich dich hypnotisieren und dein Unterbewusstsein das von Chris filtern, sodass ich uneingeschränkten Zugriff habe. Das würde bedeuten, dass ich dich vollständig steuern kann. Ich kann sogar dein Unterbewusstsein und Bewusstsein komplett umschreiben und einen ganz anderen Menschen aus dir machen. Allerdings tue ich das niemals ohne die Einwilligung desjenigen, den ich hypnotisieren will. Das würde gegen meine Prinzipien verstoßen, weil ich meine Macht niemals so missbrauchen will wie Hinrich. Ich biete dir also die Wahl an: Lässt du dich von mir hypnotisieren und auslesen, oder lehnst du ab?“

„Wenn es dir Gewissheit verschafft, dann hast du mein Einverständnis. Sag mir, was ich tun muss und ich tue es.“ Harvey musste wissen, dass Hypnose gleichzeitig bedeutete, dass er rein gar nichts spielen konnte. Er legte damit seine höchstpersönlichen Erlebnisse offen dar und rein gar nichts würde verborgen bleiben. Da er über die Fähigkeiten der Konstrukteure Bescheid wusste, war er sich auch im Klaren darüber, wozu Anthony in der Lage war. Und trotzdem erklärte er sich einverstanden, weil er offenbar auf dessen Urteil vertraute. Also führte Anthony die Hypnose durch und tatsächlich gelang es ihm, Harveys Erinnerungen zu lesen. Und was er da sah, schockierte ihn teilweise. Nicht bloß der Anblick der Leichen, sondern auch die abgespeicherten Emotionen. Er spürte selbst den unsagbaren Ekel vor dem grausamen Mord an den Opfern, er spulte die Gespräche ab und sah die Momente, in denen Harvey emotional völlig am Ende war und fruchtbare Angst davor hatte, verrückt zu werden oder zu scheitern. Auch sah er die Gespräche mit dem Polizisten, der ihm in den Kopf geschossen hatte und dass er trotz allem seine schwerkranke Tochter rettete, indem er ihr eine Niere spendete. Innere Konflikte, Verzweiflung, schöne Erinnerungen an eine glückliche Zeit mit Chris, Freundschaft und Liebe, Hass und Verachtung… wirklich alles lag vor Anthony offen und als er genug gesehen hatte, beendete er die Hypnose und ließ Harvey wieder aufwachen. Dieser sah, dass Anthony bedrückt war, er erkannte es auch ohne das Lesen der Mikroexpressionen. Eine Weile schwiegen beide, es war ein unangenehmes Schweigen. Dann fragte Harvey „Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?“

„Dass es mir Leid tut, dass ich so reagiert habe.“

„Schon gut, ich verstehe dich. Ich weiß, dass man mir aufgrund meiner Fähigkeiten nicht so einfach vertrauen kann. Aber das, was ich dir jetzt sage, ist wirklich ehrlich gemeint: Ich werde alles tun, um diesen ganzen Alptraum mit der Thule-Gesellschaft zu beenden und damit zukünftige Leben zu retten und Menschen wie euch Sicherheit geben zu können.“ Sie gingen schließlich in den Speisesaal, da es nun Mittagszeit geworden war. Viola und Evan waren inzwischen wieder zurück und auch die anderen hatten sich eingefunden, sogar Christine. Da die anderen sowohl ihn als auch Anthony zusammen sahen, glaubten sie, dass jetzt alles geklärt sei und fragten sofort nach. Der Hypnotherapeut erklärte schließlich, dass Harvey jetzt offiziell zum Team gehöre und vertrauenswürdig sei. Damit waren alle zufrieden und sogleich wurde der Neuzugang der Gruppe aufgenommen. Sie alle vertrauten auf Anthonys Urteil und waren glücklich mit seiner Entscheidung. Auch Christine war ihre Zufriedenheit anzusehen, auch wenn sie rein gar nichts dazu sagte. Angeregt unterhielten sie sich und schließlich kam Amara dazu, die von Thomas abgelöst worden war und sich mit den anderen unterhalten wollte. Die Gespräche waren ausgelassen und auch in Harvey kehrte wieder das Leben zurück. Er konnte witzige Anekdoten erzählen oder Ausschnitte aus Stücken zitieren und das mit so guter Schauspielerei, dass er jeden zum Lachen bringen konnte. Obwohl er vor wenigen Minuten aussah, als wollte er sich am liebsten aus dem Fenster stürzen, schien er sich gut berappelt zu haben. Offenbar half ihm die Schauspielerei über seinen Kummer, über das ihm erlittene Unrecht und über den Tod von Chris Dullahan hinweg. Christine, die neben Anthony saß, stieß ihm sanft in die Seite und schaute ihn mit ihren roten Augen an, in welchen ein Fegefeuer zu lodern schien. „Ich hatte zuerst echt gedacht gehabt, du würdest es ohne seine Zustimmung tun.“

„Dann wäre ich nicht besser als Hinrich.“

„Jedenfalls bin ich froh, dass ihr das endlich geklärt habt. Es hätte ja auch nicht wirklich funktioniert, wenn ihr nicht vernünftig zusammenarbeiten würdet. Um gegen Thule gewinnen zu können heißt es auch, sich gegenseitig zu vertrauen und sich auf den anderen verlassen zu können. Pristine wird eure Schwächen ausnutzen und versuchen, euch zu manipulieren oder zu ködern. Sie ist ein genauso abgebrühtes Miststück wie ich, wobei ich Böses tue, um Gutes zu bewirken, ähnlich wie Harvey. Ich allerdings tue das ganz offiziell und legal.“

„Für wen?“

„Für meinen derzeitigen Vorgesetzten.“

„Und wer wäre das?“

„Nachdem ich den Kult verließ, bin ich sozusagen konvertiert und zum wirklichen Teufel geworden. Ich bestrafe die bösen Jungs auf meine eigene bösartige und hinterhältige Weise. Du kannst mich ruhig als eine Art Staatsanwältin der höheren Instanz sehen.“ Da sie offenbar nicht so recht mit der Sprache rausrücken wollte, beließ Anthony es also bei diesen Worten, auch wenn es ihm schwer fiel, sich Christine als Staatsanwältin vorzustellen. Ausgerechnet sie, die sich ihre Freizeit mit Motocross-Rennen, Monster Truck Shows und Armwrestling vertrieb…



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