sometime
Das Surren verschiedener Geräte hallte durch das kleine Zimmer, schlürfende Schritte erklangen aus dem Gang hinter ihm, dann wurde es still. Sein Blick verfing sich an der Wanduhr. Rhythmisch schlug der Zeiger im Minutentakt und harmonierte mit dem leisen Piepen, das die Maschine, an der die Ärzte sie angeschlossen hatten, von sich gab.
Seit Stunden saß er neben ihrem Bett, während ihn der beißende Geruch von Desinfektionsmittel wie ein dicht verschlossener Kokon einhüllte. Außer ihm war niemand hier. Er hatte Lyon gebeten niemanden vorbeikommen zu lassen. Er wusste, dass es die falsche Entscheidung gewesen war, aber was sollte er tun? Er konnte sie nicht mitnehmen. Sie, seine Tochter, würde es nicht verstehen. Es würde sie nur zerbrechen. Er schaffte es ja fast nicht einmal selbst. Seine Hand suchte einen Weg zu ihrer, umschloss sie so sanft, als wäre sie aus dünnen Eis geformt.
Eine Schwester hatte sich dazu bereit erklärt ihr regelmäßig die Haare zu machen. Heute fielen sie ihr wellig über die Schultern. Sie schaute aus, als ob sie schlafen würde, dachte er, als er die Hand hob, um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Doch er wusste, dass der Schein trog. Das hier war nur eine Farce; eine Illusion, die ihm die Maschinen gaben, die dazu befohlen worden waren, sie am Leben zu erhalten. Koste es, was es wollte.
Die Tür wurde geöffnet. Eine junge Frau kam in den Raum, in den Händen hielt sie ein Klemmbrett. Gray sah auf und beobachtete, wie die Frau an die Geräte herantrat, etwas mit ihrem roten Stift auf das Papier niederschrieb, bevor sie mit einem letzten Blick auf die Patientin die Tür hinter sich zuzog. Er hatte für diesen Auftritt nur einen abschätzigen Blick übrig. Es war immer dasselbe. Jemand kam, schrieb die Werte, die diese Klapperkiste ihr zeigte, auf und verschwand dann, ohne etwas zu sagen. Warum sie das taten? Weil sie es selbst nicht besser wussten. Keiner der Ärzte konnte ihnen etwas sagen. Die meisten hatten die Hoffnung, dass seine Frau jemals wieder die Augen aufschlug, längst aufgegeben. Es gab nur noch wenige, die das Gegenteil von sich behaupteten.
Seine Finger spielten mit dem kühlen Silber ihres Armbandes, welches sie am ersten Geburtstag ihrer Tochter eigenhändig von ihm umgebunden bekommen hatte. Das Ganze lag vier Jahre zurück. Vier Jahre, seit er Juvia das letzte Mal in ihre blauen Augen gesehen hatte. Vier gottverdammte Jahre, seitdem seine Welt auf den Kopf stand und ihn nicht mehr richtig schlafen ließ. Denn das Bedürfnis – die Sehnsucht noch ein letztes Mal ihr helles Lachen hören zu wollen, zerrte stark an seinen Nerven. Er vermisste das Gefühl ihrer weichen Lippen, vermisste das Gefühl sie sicher in seinen Armen zu wissen. Gott, er vermisste selbst den bloßen Klang ihrer Stimme. Sei sie nervig oder laut oder wütend oder sonst irgendetwas.
„Juvia ...“, flüsterte er den lieblichen Namen seiner Frau und verstärkte den Griff um ihre Hand. Was sollte er tun? Sein Herz war gebrochen. Seine Seele zu Staub zerfallen. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. „Sag mir … was ich machen soll. Seit deinem Unfall hat sich so vieles verändert. Jeder neue Tag ist wie eine Qual für mich. Und Nivia – unsere Tochter – ist doch noch so klein. Sie braucht eine Mutter. Sie braucht dich.“ Den Kopf auf das weiße Bettlaken legend, rang Gray damit die Fassung zu bewahren und atmete tief aus. Doch der Geruch des Desinfektionsmittel schlug ihm auf den Magen, sodass er das Bedürfnis bekam aus dem schlicht eingerichteten Raum zu flüchten. Er tat es nicht. Mit einem weiteren, tiefen Atemzug richtete er sich auf.
„Stell dir vor, es hat gestern zu schneien angefangen“, begann er zu erzählen und wandte den Blick zu dem beschmutzen, mit Frost überzogenen Fenster. „Nivia war ganz aus dem Häuschen. Du weißt ja, wie sehr sie den Schnee liebt ...“ Er wartete nicht auf eine Antwort, denn er wusste, dass er keine bekommen würde. Er fuhr sich durch das dunkle Haar. „Ich … habe nachgedacht, Juvia. Über uns.“ Und über das Leben, das er seit Jahren führte und das einen Keil zwischen seiner Tochter und ihm trieb. Sein linker Daumen fuhr in sanften Bewegungen über ihre kühle Handfläche. „Du kannst dir sicher vorstellen, dass mir die Entscheidung nicht leicht gefallen ist, aber …“ Er stoppte in seinem Tun und rang mit den Worten. „Ich denke nicht, dass ich noch einmal wiederkommen werde, Juvia“, sagte er mit leiser Stimme. „Das hier wird mein letzter Besuch sein.“ Er schaute ihr in das hübsche, reglose Gesicht und wusste, dass sie ihn nicht gehört hatte. Vielleicht gäbe es nie wieder die Chance dazu.
Und trotzdem wusste er, dass das Einzige, was er derzeit tun konnte, nichts anderes war als zu warten. Warten, dass Juvia irgendwann noch einmal die Augen aufmachen und ihm ihr typisches Lachen schenken würde. Aber ob das wirklich passierte? Er wusste es nicht. Sein Inneres stand in einem Zwiespalt. Er hatte schon zu lange gewartet, ohne dass Gott sein Flehen erhört und etwas gegen das Leid, das sich immer wieder durch seine Knochen fraß, unternommen hatte.
Nichtsdestotrotz trug er noch einen kleinen Teil der Hoffnung in sich, dass seine Frau eines Tages zu ihm zurückkehren würde. Dass die Ärzte, die ferner an Juvia glaubten, einen Weg fanden, um das Leuchten, das er so liebte, in ihren Augen wieder erstrahlen zu lassen. Doch bis es soweit war würde noch einiges an Zeit vergehen. Und in dieser Zeit würde er versuchen neue Kraft zu erlangen. Wenn nicht für ihn, dann für seine Tochter und Juvia.
Behutsam erhob sich Gray von seinem Platz, als der große Zeiger der Uhr Mitternacht schlug und lief um das Bett herum. Ein letztes Mal küsste er ihre vollen Lippen, während er ihre Hände ineinander verschränkte und seine kühlen Finger über ihre blasse Wange hinweg gleiten ließ.
„Sayonara, Juvia.“