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Leben und Tod

von

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Ortus ist die Stadt der Ruhelosen.

Die Stadt, die meine Eltern zum Leben gewählt hat.

Die Stadt, die sie nicht verlassen wollen.

Die Stadt, in der ich nicht leben durfte.

Doch dies ist meine Geschichte.
 

Der Tag begann und endete wie jeder andere seit jenem schicksalhaftem Tag, an dem Gott uns verließ.

Es war ein Sonntag gewesen, ein Sonntag wie jeder andere der nun über 500 Sonntage, die ich erlebt hatte. Nein, das ist eine Lüge. An einem Sonntag verließ Gott uns. Ich wusste nicht, das etwas wirklich anders war. Doch vor zwei Jahren passierte das, was mich einen kleinen Teil der Wahrheit verstehen ließ.

Ich und meine Eltern hatten in einem kleinem Dorf gelebt. Wir lebten unser glückliches Leben, jedenfalls schien es so. Doch der Schein trog. Gott hatte uns den Tod geraubt, jedoch konnte ich mit meinem kleinem Kinderverstand nicht einmal die Tragweite dessen erfassen, was hier vor sich ging.

So verstrichen also zwei weitere, glückliche Jahre. Doch dann passierte es. Der erste Dorfbewohner starb in einem Unfall, eigentlich hätte er sich nicht mehr bewegen dürfen. Doch er tat es. Er bewegte sich mit seiner schweren Verletzung, entsetzt hatte er sein ganzes Gesicht verzerrt. Blut, überall roch es nach dieser roten Flüssigkeit! Mit groteskem Gesichtsausdruck wandelte er mit der blutenden Wunde herum, fragte mit einer verzweifelten Stimme um Hilfe.

Blut. Soviel Blut.

Kurze Zeit später kam eine unbekannte Frau in unser Dorf. Sie hatte eine wunderschön in der Sonne glänzende Schaufel mitgehabt, sodass ich für einen kurzen Augenblick meine Angst vergaß. Sie grub mit eben dieser Schaufel ein Loch in die Wiese neben dem Dorf. Ich wusste nicht warum sie das tat, also hockte ich mich in den Schatten einiger angrenzender Bäume und beobachtete sie. Als dann die Dorfbewohner kamen, war ich vollkommen verwirrt. Sie trugen einen Holzkasten herbei und legten ihn in das Loch. Dann schüttete die Frau Erde drauf.

Jeder weinte.

Was war passiert?

Schnell schlich sich ein Gedanke in meinen Verstand, doch ehe ich ihn fassen konnte, liefen meine Eltern zu mir. Sie kamen aus dem Dorf. Tränen blinzelten in ihren Augen. Mutter nahm mich in den Arm, Vater trug einen Koffer. Dann eilten sie aus dem Dorf hinaus, ohne das jemand ihr Fehlen merkte.

Dies war meine Vergangenheit, an die ich tagtäglich zurückdachte, wenn ich auf einem der Dächer Ortus' meiner Wege ging. Sie wollten hier leben und waren dafür gestorben. Ich habe mich mit aller Kraft gewehrt, doch nun bin ich allein. Das Leben ihrer kleinen Tochter war ihnen damals wohl nicht so wichtig wie ihr eigenes.

Aber das machte heute auch nichts mehr.

Wirkliche Sorgen machte ich mir nicht, worüber auch?

Überall um mich herum waren Tote, und die wenigen Lebenden waren hier nicht lange. Was sollte ich tun? Eigentlich hätte auch ich schon längst das Weite suchen sollen, Ortus ist kein Ort für Lebende.

Doch wohin sollte ich gehen?

Die Nacht brach schon ein und legte ihren dunklen Mantel über die Stadt.

Ich beschloss, es für heute zu lassen und in die Herberge zu gehen, in der ich schon seit einigen Jahre ausharre. Mit kleinen, wohl gewählten Schritten hüpfte ich mehr als dass ich ging über das Dach. Es hatte rote Ziegel, die im abendlichem Licht blutrot wirkten.

Wann würde ich wohl einen Ort finden, an dem ich bleiben kann?

Die Frage schoss mir durch den Kopf, obwohl die Antwort so einfach war.

Ja, das war sie wirklich. Ich musste doch einfach nur...

Sterben.

Eisig umklammerte etwas mein Herz, ein Griff, der sich nicht lösen wollte, doch ebenso wahr und falsch war wie die Wahrheit, an die ich glauben wollte. Ich konnte es all die Jahre nicht abschütteln, doch, was wäre, wenn es nicht mehr da wäre? Ich wusste nicht, wie ich leben sollte, ohne diese erdrückende Finsternis in dieser eigentlich hellen Stadt, die mich am Boden hielt.

Ich wusste es wirklich nicht.
 

„Abend“, begrüßte ich die Wirtin der Herberge, die mich nun viele Jahre in ihrem Haus duldete. Sie selbst war eine Ruhelose, doch sie mochte es scheinbar, einem Kind, also mir, beim Wachsen zuzusehen. Das war aber wahrscheinlich der einzige Grund, weshalb ich noch hierbleiben durfte.

Ich vermisste sie.

Das wurde mir unweigerlich bewusst, als ich die Wirtin sah. Freundlich lächelte sie mich an, ihre grauen Haare hatte sie sorgfältig zu einem Zopf gebunden. Sie ähnelte leicht einer Dorfbewohnerin, die mir immer Geschichten erzählt hatte. Dabei hatte meine Mutter mich im Arm gehalten, ich erinnerte mich noch gut an ihren Blumenduft. Und Vaters Hand, die ich gehalten hatte...

Ich vermisste sie.

Mir wurde bewusst, wie sehr ich darunter litt, keine Eltern mehr zu haben. Wie sehr ich ihre Nähe misste, ein großes Loch klaffte in meinem Herzen auf, welches zuvor noch von Emotionslosigkeit zugehalten wurde.

Ich stürmte auf mein Zimmer, machte mich ganz klein und weinte. Wimmerte. Zog meine Beine noch näher an meinen Körper, zwang meine Arme, mich selbst noch fester zu umschließen.

Die Tränen hörten nicht auf zu fließen, sie hörten nicht auf. Hörten nicht auf. Nicht. Auf.

Gefühle, die so gegensätzlich waren, zerrissen mich. Gefühle, deren Existenz ich in mir nie gekannt hatte. Nie gemerkt hatte.

Schluchzend, weinend. Klagend, schreiend, flüsternd.

Ich wusste nicht, was mich gerade beseelte, so sehr in seinen Bann nahm, dass ich einen derartigen Ausbruch hatte.

Bilder einer möglichen Vergangenheit flossen in meinen Gedanken an mir vorbei. Ich versuchte sie zu greifen, doch meine Hand floss einfach durch diese schattenhaften Wesen hindurch, die doch nur Trugbilder waren.

Wieso griff der Schmerz gerade jetzt so um sich? Wieso rissen die alten Wunden wieder auf?

Ich wusste, es gibt keine Hoffnung. Nicht wirklich.

Nur eine düstere Ahnung einer Zukunft, die ich niemals ändern kann.

Sanft legte sich ein Schleier über meinen Körper, ganz zart und leicht nur.

Meine von Fieber hervorgerufenen Emotionen ebbten langsam wieder ab, meine von Fieber erweckten Träume wurden nun Wirklichkeit, meine von Fieber erhitzte Stirn prallte gegen die Wand. Doch ich spürte nichts außer ein dumpfes Geräusch. Es klang unwirklich und ich wurde schläfrig, müde.

Das Ende ist wohl für mich gekommen.

Lebe Wohl, Leben.

Hallo, Tod.



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