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Schillern

von

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Prolog

Es wehte ein eiskalter Wind über die Esplanade, auf der es bei Nacht noch kälter war, als bei Tage, wenn die Menschen sie vereinnahmten. Aber jetzt war es ruhig, keine Menschenseele weit und breit. Und doch lief jemand durch die Gassen, vielleicht weil er Sehnsucht hatte, vielleicht weil ihn etwas anderes antrieb…
 

Über allen Gipfeln

Ist Ruh‘,
 

In allen Wipfeln

Spürest du
 

Kaum einen Hauch…
 

Die Straßen Weimars lagen voller Schnee. Es hatte in der Nacht noch geschneit und jeder Stein, jeder Strauch war mit einer puderweißen Watteschicht überzogen.

Während die Hausbesitzer ihren Eingang freifegten, schoben die braunen Wollhandschuhe einen ganz privaten Haufen Schnee zusammen.

Der Junge, der diese Handschuhe trug, richtete sich auf und formte eine Schneekugel in seinen Händen. Der Wind spielte mit seinen kurzen hellbraunen Haaren und verstrubbelte sie, doch er ließ sich nicht ablenken. Sorgfältig bearbeitete er den Schnee, fast wie eine liebende Mutter betrachtete er die formbare Kugel.

Er liebte das Weiß, diese enorme Leuchtkraft – Reflexion, wie ihm sein Vater erklärt hatte.

Der Schnee knirschte hinter ihm, und er drehte sich um.

„Karl.“

Überrascht sah er den kleinen Jungen an, das Gesicht fast so weiß wie der Schnee, eingerahmt durch dunkle Locken. Die blauen Augen leuchteten in der Reflexionskraft des Bodens, und auf den rosigen Lippen lag ein seichtes Lächeln.

„Hallo, August.“

„Was tust du hier?“, fragte der Größere, die Kugel in seinen Händen vergessen.

„Mutter hat mich geschickt.“, antwortete Karl.

Der Blonde nickte, er verstand, und blickte seinen Freund mit einfühlsamen tiefbraunen Augen an.

„Nein!“, rief da der Lockenkopf, der ebenso erahnte, was der Ältere nun dachte. „Vater stirbt nicht! Vater kann nicht sterben!“

August seufzte und nahm den anderen sanft am Arm. „Jeder Mensch muss einmal sterben, und den Zeitpunkt kann sich niemand heraussuchen, Kleiner.“

Da musste Karl grinsen, sodass man seine schneeweißen Zähne sah. Mit diesem Grinsen zog er August an der Schulter zu sich hinunter und stellte sich auf die Zehenspitzen.

„Aber mein Vater“, flüsterte er dem Größeren ins Ohr, sodass es dort durch den Atem warm wurde, „ist kein Mensch. Vater ist ein Vampir.“

August war zunächst baff, dann unterdrückte er ein Lachen; er wollte dem Kleinen nicht auch noch seine letzte Hoffnung nehmen, denn dass Karls Vater, dass Schiller schwer krank war, sein Zustand beunruhigender als sonst schon immer – denn Schiller war oft, ständig krank – konnte man nicht leugnen…

„Dann kann er natürlich nicht sterben.“, meinte er dennoch lächelnd und ließ die Kugel fallen, um seinen Freund in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken.

Eine Schneeflocke fiel Karl auf die Wange.

Ja, fast so weiß wie Schnee.
 

Die Vögelein schweigen im Walde…
 

Der Schnee, der vor Monaten gefallen war, war schon lange geschmolzen, und die Esplanade war ohne ihren weißen Überzug wieder stockdunkel bei Nacht.

Die Schritte, die man im Schnee hätte sehen können, würden unentdeckt am nächsten Tag bleiben.

So wusste niemand, dass er alleine gekommen, aber in Begleitung gegangen war. Nur der Mond, der voll am Himmel stand, war Zeuge, aber der würde dieses Geheimnis wohlbehütet mit ins Grab nehmen.
 

Warte nur, balde
 

Ruhest du auch.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Gedicht ist von Goethe. Komplett anzeigen

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