Zum Inhalt der Seite

Crystal Riders

Reanimation
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Auf Leben und Tod

Jet – Auf Leben und Tod
 

Unbreakable Soundtrack – Unbreakable
 

„Du bist ein Dummkopf, wenn du diese Gelegenheit nicht ergreifst! Siehst du nicht, wie das hier läuft? Diese Menschen reden von Freiheit, aber sie halten uns wie Tiere in Käfigen! Wir Crystal Rider sind für sie nichts anderes als Monster oder Spielzeuge! Das ist kein Leben, wenn sie uns in Zwangsjacken stecken, uns „entschärfen“, mit der Abmachung, danach eigenverantwortlich leben zu können, nur um uns dann genauso anzuketten wie schon zuvor! Warum verstehst du das nicht?! Du wirst nur benutzt!“

Er schreit, dann stürzt er, das kraftvolle Licht weicht aus seinen vielschichtig grünen Augen und ich trete einen Schritt zurück. Asphaltsplitter kratzen unter meinen Füßen. Der Geruch von verbrannter Erde liegt schwer in der Luft. Ich hebe den Kopf, um zu wittern. Es ist kaum noch Lärm zu hören, die Menschen haben sich bereits in Sicherheit gebracht. Und die Rider…

Ein Ton erregt meine Aufmerksamkeit. Ein dumpfes Schleifen, dann Rufe. Ich fange an, zu laufen.

Von einem umgestürzten Mast fliegen Funken empor, dicker Qualm versperrt mir die Sicht, aber es ist nicht notwendig, etwas zu sehen, mein Instinkt führt mich. Die Trümmerhaufen ringsum verblassen wieder, die Welt wird unscharf und bedeutungslos. Und dann erreiche ich sie.

„Lass meine Tochter in Ruhe, ich flehe dich an!“, schreit jemand. Das Echo verwirrt mich und ich verliere kurzzeitig die Orientierung.

„BITTE, STOPP!“ Ein Schlag, ein darauffolgender Aufprall und dann ein Keuchen. Ein Todeskampfkeuchen. Danach undeutliche Schreie von einer weit höheren Stimme. Ich drehe mich nach links und lausche. Durch den Rauch hindurch erkenne ich eine Zahl von Schemen. Dann durchdringt wieder der stotternde Atem die Stille, gefolgt von einem zähen, schmerzhaften Husten. Mit wenigen Schritten bin ich am Ort des Geschehens. Die hohe Stimme kreischt: „Dad! Dad, nein! Bitte, nein!“

Es ist ein Mädchen, zierlich, fast zerbrechlich. Verstärkt dadurch, dass der Mann, der sie an den Armen festhält, groß und schlangenhaft ist. Seine faulig gelben Augen blitzen auf, als er die Kleine herumreißt und ihren Blick auf sich zieht. Es dauert kaum einen vollständigen Herzschlag, da lässt er sie wieder los und sie fällt zu Boden. Ihr schmaler Körper zuckt heftig, ihr Atem flimmert und kratzt. Mit angstvoll weiter Pupille, versucht sie, sich vorwärts zu ziehen, auf den Mann zu, der einige Meter entfernt liegt und nach Luft ringt wie ein Ertrinkender.

Der Schlangenmann wird auf mich aufmerksam und geht sofort in den Angriff über. Das Mädchen und der Mann hielten meinen Fokus fest, sodass ich verzögert reagiere. Seine Gabe trifft mich und ich greife mir impulsiv an die Kehle. Es fühlt sich an, als würde man langsam erwürgt werden. Aber der eigentliche Schmerz kommt nicht von dort, er sitzt viel tiefer, in der Brust. Die Lungen.

„Du bist wie ich“, zischt der Mann und verpasst mir einen Tritt gegen die Schläfen. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich zu Boden gesunken bin. Die Stiche in der Lunge sind unerträglich, aber der Virus fängt bereits an, die Verletzungen auszumerzen. „Du bist genauso wie ich!“

Seine Worte sind klar und schneidend, aber ohne Belang. Ich nutze den Schwung, in den sein Tritt mich befördert hat, stütze die Hände hinter mir auf dem Stein und stoße mich kraftvoll ab, um zurück auf die Beine springen zu können.

Er ist kurzweilig irritiert, ich zögere nicht, erfasse seinen Vipernblick und will es zu Ende bringen, aber etwas stoppt mich. Mein Herz schlägt durchdringend auf, zieht mich in die entgegengesetzte Richtung. Aber…

„D…ad…!“, bringt das Mädchen zwischen grauenhaft verzerrten Atemzügen hervor. Sie stirbt. Der Mann vor ihr auch. Was geht hier vor sich? Eine Hand schießt hervor und ich kann gerade noch ausweichen. Der Rider versucht noch einmal, seine Gabe anzuwenden, aber ich bin schneller. Ein Herz reißt entzwei, Kristall bricht wie Glas, seine Augen verlieren das Licht.

Und ich wache auf.
 

Two Steps from Hell - Eternal Sorrow
 

Meine Sinne schalten um und die Eindrücke brechen so zahlreich auf mich ein, dass ich fürs Erste nicht in der Lage bin, zu reagieren. Überall ist Staub und Qualm, Häuser brennen, Straßen wurden zerstört, aufgerissen wie dünne Papierbögen.

Ein Geräusch, das sich anfangs undefinierbar von denen der Sirenen, des Feuers und Wasserplätschern von geplatzten Leitungen unterscheidet, lässt mich herumfahren, dann spüre ich, wie sich eine Hand um den Stoff meiner Hose klammert.

„Bi…tte…“, röchelt ein Mann mit einer großen Brille auf der Nase zu meinen Füßen und seine Hand zittert so heftig, dass ihm der Saum wieder entgleitet. Ich gehe sofort in die Knie.

„Was ist mit Euch?!“, stoße ich panisch hervor und lasse meine Hände, unschlüssig, was ich tun könnte, in der Luft hängen. Die Art, wie er atmet, ist nicht normal. Er ist dabei, zu ersticken!

„Ich habe… von dir… gehört…“, kommt es kaum verständlich inmitten von Hustenanfällen und Keuchen hervor. Mühselig greift er nach meiner Hand und weist mit dem Kopf in eine Richtung. Als ich seiner Weisung nachschaue, entdecke ich ein Mädchen, das mir, ebenso wie der Mann, merkwürdig vertraut vorkommt und plötzlich kehrt die Erinnerung zurück.

„Nein…“, presse ich fahrig hervor. „Nein, das darf doch nicht…!“ Der Crystal Rider mit den Schlangenaugen, das Würgen in meiner Kehle, der Druck auf meiner Lunge!

„Rette… sie…“ Zitternd sehe ich wieder zu dem Mann herunter, seine Augen verschwinden hinter einer Front aus Tränen. „Ich… bitte dich… rette… meine Crystal… rette meine… Tochter…“

„Aber…“, rufe ich und umschlinge die Hand, die er nach mir ausgestreckt hatte und die nun kraftlos in meiner liegt. „Ihr…“

„Versprich… es mir… versprich, dass… du sie… retten wirst… Jason.“

„Nicht!“, platze ich hervor, aber es ist zu spät. Seine Augen werden trüb, stumpf… das Licht verglüht. Und mit ihm sein Atem. Obwohl sich mein Körper so anfühlt, als wäre er aus Blei, hebe ich hastig den Blick. Das Mädchen, Crystal, hat alles mitangesehen, aber außer den Tränen, die an ihrem seitlich liegenden Gesicht herabfließen und auf dem Asphalt eine Spur malen, kann sie sich nicht rühren. Sie zuckt immer noch, aber es wird schwächer. Es ist der Todeskampf. Sie versucht, zu atmen, aber es gelingt ihr nicht.

Ein Laut windet sich aus ihrer Kehle frei, er ist schwer zu erfassen, schneidet sich jedoch durch mich hindurch wie eine glühende Sense. Denn es klingt, als würde in dieser Sekunde alle Luft aus ihrem Körper gepresst werden und der letzte Atemzug ist somit ihre Seele.

Es klingt, als würde sie vor meinen Augen sterben.
 

Heavy Rain - Painful Memories (Vi-Key Project Demo Remix)
 

Ich bin sofort auf den Beinen und greife, ohne nachzudenken, in meine Tasche. Der Rider fiel sie kurz nach ihrem Vater an, vielleicht eine Minute später, aber eher weniger. Das heißt, ihr bleibt noch ein Augenblick länger. Er muss genügen. Er muss einfach!

Ich reiße den Verschluss der Phiole ab und will ihn ihr einflößen, aber sie hat keine Kraft mehr. Ihre Lippen zittern zu heftig, wenn ich es auf diese Weise versuche, laufe ich Gefahr, dass die Flüssigkeit verschüttet wird, bevor sie ihren Rachen erreichen kann. Mir bleibt nur eins. Mit einem Arm umschließe ich ihren Körper und hebe sie so hoch, dass ihr Kopf einigermaßen gerade liegt. Dann schütte ich den Inhalt der Phiole auf meine Zunge, beuge mich eilig herab und lege meine Lippen auf ihre. Mein Atem rauscht in sie hinein, schenkt ihr noch eine Sekunde mehr, die Sekunde, die ich brauche, um ihre Lippen mit meinen weit genug auseinanderzudrücken, um ihr das Sekret mit dem Virus einzuträufeln.

Als ich mich wieder von ihr löse, wird es unversehens still. Die Geräusche wurden verschluckt, die Welt erblindet. Crystals Körper kommt zur Ruhe, aber es liegt nicht daran, dass der Virus sie verwandelt…

„Was…?“, hauche ich verwirrt und beuge mich vorwärts, um mein Ohr auf ihre Brust zu legen. Ihr Herz schlägt, erst schnell, wird jedoch zusehends langsamer, bis der Rhythmus wieder in natürlicher Geschwindigkeit spielt. Das ergibt keinen Sinn. Sie wurde infiziert, müsste sich in einen Rider verwandeln. Aber es scheint eher, als ob…

Ganz langsam hebe ich den Kopf von ihrer Brust und es dämmert mir allmählich, während ich dabei zusehe, wie sich ihr Brustkorb beständig hebt und senkt.

Das Dröhnen einer Sirene klingelt mir in den Ohren. Sie ist sehr nah. Gleich wird es hier von Sanitätern und Polizisten wimmeln. Ich lasse Crystals Körper achtsam auf den Boden zurückgleiten, dann streiche ich noch einmal über ihre Wange und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Schlaf gut…“, flüstere ich, komme wieder auf die Beine und bin weg, bevor der Krankenwagen um die Kurve gerast kommen kann.
 

Worlds Most Emotional Music Ever: We used to live (feat. IDrM)
 

Ihre Augen waren voller Zweifel, aber ich wusste, dass sie mir glaubte und ich dachte unwillig an all die Momente zurück, in denen ich bereits versucht hatte, es ihr zu sagen und erkannte, dass, wenn sie mich nicht gestellt hätte, dieser hier auch zu einem solchen geworden wäre.

Wie feige konnte ein Mensch nur sein? Hier ging es nicht um mich, sondern um sie. Sie hatte von Anfang an ein Recht darauf gehabt, die Wahrheit über den Umbruch ihres Lebens zu erfahren und ich hatte sie ihr nicht gewährt. Aus reinem, egoistischem Selbstschutz. Und selbst jetzt noch, pochte in mir das Bedürfnis, alles Gesagte für eine Lüge zu erklären und zu vergessen, dass es jemals ausgesprochen worden war. Verabscheuenswert.

„Aber…“, erwiderte sie nach schier endloser Stille. „Wenn du mich vor zwei Jahren zu einem Crystal Rider gemacht hast, warum… wurde ich es dann erst jetzt?“

„Das Koma“, versetzte ich schwach und richtete den Blick zu Boden. „Der Schock hat deine Erinnerung verdunkelt und dich in einen Wachschlaf geworfen. Der Virus muss sich in dir zurückgezogen haben. Er hat deinen Körper am Leben gehalten, genauso wie vor kurzem, sodass man deine Lungen wiederherstellen konnte.“ Ich machte eine kurze Pause, in der ich daran zurückdachte, wie ich das Krankenhaus an manchen Tagen bis zu fünfmal umrundet hatte, jedoch nie hineingegangen war. „Als du wieder aufgewacht bist, war er schon so weit in dich versunken, dass er Zeit brauchte, um wieder aufzutauen und mit der Wandlung zu beginnen. Nichtsdestotrotz war er da. Ist dir nichts aufgefallen, nichts ungewöhnlich vorgekommen, seitdem du aus dem Koma erwacht bist?“ Ihre Miene verriet mir direkt, dass ich ins Schwarze getroffen hatte und sie antwortete mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen.

„Ich hatte keinen einzigen Fehltag in der Schule und wurde auch sonst nie krank. Und kein Tier wollte mehr in meiner Nähe sein. Vögel flogen davon, Hunde haben mich angeknurrt, Katzen gefaucht…“ Ich nickte.

„Und warum…“, setzte sie mit tränenrauer Stimme an, „warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?“ Obwohl ihre Worte so leise waren, zuckte ich zusammen, als hätte sie geschrien.

„Ich wollte es, Crystal“, antwortete ich erschöpft. Es fühlte sich an, als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen und ich wünschte mir mehr denn je, einfach umdrehen und weglaufen zu können. „Ich wollte es die ganze Zeit, aber…“

„Aber was?“, fiel sie heftig ein und kam auf mich zu. Ihre Augen ein Inferno aus Farben und Lichtbruch.

„Ich konnte es nicht!“, entgegnete ich ebenso aufgebracht. „Ich wusste, der Virus würde aktiviert werden, sobald die übernächste Wintersonnenwende anbricht – ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet, Crystal! Kein Tag ist verstrichen, an dem ich nicht daran gedacht habe!“ Meine Schultern verloren an Stabilität. „Aber als ich dich dann sah, da… brachte ich es einfach nicht über mich.“

„Also hast du mich gerettet“, flüsterte sie mit einem bitteren Lachen und die Tränen quollen aus ihren Augen, wurden vom Saum ihres Oberteils aufgesogen, „und ihn sterben lassen.“

Die plötzliche Wut überrumpelte mich, sodass ich sie nicht untergraben konnte, bevor sie von meinen Reflexen Besitz ergriff.

„Versteh doch, dass ich keine andere Wahl hatte! Für ihn war es zu spät…“

„Und du glaubst, dass du darüber so leicht urteilen kannst?“, knüpfte sie an, als hätte sie meine Worte einfach überhört. Ruckartig trat nach vorn und packte sie bei den Schultern, fixierte ihren Blick und suchte nach etwas, woran ich mich festhalten konnte, um jetzt nicht den Verstand zu verlieren.

„Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich sterben lassen?“, knurrte ich. Und in dem Moment fand ich etwas, aber es war nicht, was ich erhofft hatte. Es war das Gegenteil.

„Ja, das wäre es vielleicht tatsächlich…“
 

Two Steps from Hell – Tree of Forgiveness
 

„Das meinst du nicht ernst…“, stieß ich hervor, ohne die Lippen zu bewegen. Crystal hob bloß die Hände und wischte die Tränen von ihren Wangen, als wären sie Schmutz.

„Dann kennst du mich schlecht.“ Das war alles. Sie ging an mir vorbei und ich ließ sie gewähren, den Blick leichenstarr auf die Fensterfront gerichtet, hinter der die Wolken in Nachmittagslicht getaucht wurden.

Die Tür öffnete sich und eine fremde Stimme erklang. Sie musste zu dem Jungen gehören, der hinter ihr gestanden hatte. Ich verstand nicht, was er sagte, aber Crystals Erwiderung darauf schon, obwohl sie vermutlich viel leiser war.

„Du hattest Recht, Tony, man kann ihm nicht vertrauen…“ Ich schloss halb die Augen. Die schnellen Schritte im Hausflur verrieten, dass sie gegangen war und es dauerte nicht lange, ehe der Junge, Tony, hereinkam und sich vor mir aufbaute, als müsste er sich beherrschen, mich nicht hier und jetzt in der Luft zu zerreißen.

„Du bist mutig“, bemerkte ich ausdruckslos. „Du stellst dich in den Blick eines Riders, der dich innerhalb einer Sekunde töten könnte.“

„Hast du das auch mit ihrem Vater gemacht?!“, brüllte er und ich musste lachen. Es kratzte schmerzhaft in der Kehle.

„Nochmal die Kurzfassung für dich. Ich habe ihren Vater nicht getötet, sondern den Crystal Rider, der es getan hat. Und Crystal wäre genauso sein Opfer geworden, hätte ich den Virus nicht auf sie übertragen. Zufrieden? Dann lass mich jetzt allein.“

„Vergiss es!“, zischte er und packte meinen Kragen. „Du lügst doch wie gedruckt!“ Langsam hob ich die Hand und riss seinen Arm mit knapper Geste von mir los.

„Glaub meinetwegen, was du willst. Es spielt jetzt eh keine Rolle mehr…“ Damit trat ich an ihm vorbei und ging hinüber zum Fenster, aber er ließ nicht locker.

„Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber ich bin nicht blind! Ich kann es sehr wohl erkennen, wenn meiner besten Freundin gerade das Herz gebrochen wurde!“

„Das Herz gebrochen…“, wiederholte ich lautlos und wieder setzte das Gefühl des Zorns mit Verzögerung ein, denn mein Körper hatte längst reagiert. „Wer von uns beiden hat sie denn zuerst im Stich gelassen? Wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, nachdem sie sich verwandelt hatte?“ Ich kam auf ihn zu und blieb erst stehen, als nur ein halber Meter zwischen uns lag. „Ich war unehrlich zu ihr, das gebe ich zu, aber ich habe nicht vor, sie jemals ans Messer zu lief…“ Ich hielt abrupt inne, ließ von Tony ab und sah hinauf in eine der Zimmerecken, wo ein blinkendes, rotes Licht die Kamera verriet. „…oh nein…“

„Was ist?“, fragte er misstrauisch. Meine Gesichtszüge entglitten und der Erkenntnis rieselte in meine Glieder wie heißer Regen.

„Crystal!“, war alles, was ich noch hervorbringen konnte, dann stieß ich Tony zur Seite und hetzte Hals über Kopf aus dem Apartment.
 

The Devil Wears Prada - Louder than Thunder
 

In den Straßen scharten sich Menschenmengen, die jedes Durchkommen zur Strapaze machten. Geistesgegenwärtig hatte ich mir Kontaktlinsen auf die Augen gedrückt und drängelte mich rücksichtslos an Fäuste schwingenden Männern und keifenden Frauen vorbei.

„Crystal!“, schrie ich verzweifelt gegen den Großstadtlärm an. „Crystal, wo bist du?!“ Allmählich wurde mir schwindlig, ich stoppte und sah mich rastlos um, aber außer einer Flut von Passanten, die stur in den Strom einfloss, ließ sie nichts erkennen. Kein langes, braunes Haar, keine violette Jacke. Verdammt!

Ich rannte um Haaresbreite eine Gruppe von Businessmännern um, als ich auf die Seitenstraße zuhielt, in der ich eine Telefonzelle erspäht hatte. Fluchend sammelten sie ihre Papiere auf, als ich schon die Tür der Zelle aufriss und in meiner Jackentasche kramte. Die Geldstücke fielen fast aus meinen zitternden Fingern, aber es gelang mir, genügend in den Schlitz zu pressen, dann wählte ich, so konzentriert wie möglich, die Nummer. Jade ging nach dem ersten Klingeln ran.

„Jade, ist Crystal auf dem Internat?!“, rief ich, bevor sie auch nur zu ihrem Begrüßungsvortrag ansetzen konnte. „Bitte, du musst dich beeilen!“ Sie stellte keine Fragen, wofür ich ihr unendlich dankbar war und an dem leisen Klimpern hörte ich, dass sie das Telefon auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Es dauerte nicht mal eine volle Minute, aber es erschien mir wie Stunden, bis sie wiederkehrte.

„Sie ist nicht im Krankenzimmer, auch nicht im Unterricht, den sie jetzt hätte oder in ihrem Zimmer. Aber vielleicht ist sie im Park…“

„Nein!“, schnitt ich ihr hysterisch das Wort ab. „Jade, ich glaube, sie… verdammte Scheiße!“ Wütend knallte ich den Hörer zurück auf die Gabel, ohne Jade irgendwas erklärt zu haben, aber dafür war jetzt einfach keine Zeit mehr. Crystal war nicht im Park, sie war nicht in Sicherheit. Woher auch immer ich dieses Wissen nahm, mein Instinkt täuschte mich nie.

Ich schlug die Fäuste gegen die Plexiglasscheibe, dann den Kopf und sank etwas in mich zusammen. Mein Magen fühlte sich an, als drehte jemand Messer darin und da fiel es mir auf einmal ein.

„Der Hafen…!“ Ohne zu zögern, verließ ich die Telefonzelle und rannte so schnell wie ich konnte westwärts. Die Eingebung war zusammenhangslos und ich hatte keine Ahnung, woher sie gekommen war, aber etwas sagte mir, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.

Als die salzige Luft in meine Lungen schwappte und die Docks in Sichtweite gerieten, hätte es mich beinahe von den Füßen geworfen. Dieser suppige Geruch, die fleckige Schwärze der Mauern, das Kreischen der Möwen… Es war, als wäre ich direkt in eine Erinnerung gelaufen. Eine Erinnerung, die ich überhaupt nicht einsortieren konnte.

Ich schüttelte die Irritation hektisch ab und fokussierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Es war beunruhigend still, nur das Wasser wurde träge gegen die Grenzen des Hafenbeckens geworfen und ein paar Möwen zankten sich um die Überreste eines Hamburgers. Ich hatte die Beklommenheit nicht vollständig abstreifen können, wie mir nach einigen Schritten in das Labyrinth der Docks klar wurde und da erklang unvermittelt das Klappern von mehreren Schuhpaaren in meinem Rücken. Und als ich herumwirbelte, traf mich das Déjà-vu wie eine Kanonenkugel. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Männern war an der Hafenlichtung erschienen, sie hätten Klone sein können, sogar ihre Bewegungen waren identisch. Und voller gefährlicher Präzision.

Aber bevor ich irgendetwas sagen, geschweige denn bewegen konnte, traf mich ein Schlag gegen den Hinterkopf, wie eine Abrissbirne. Die Docks kippten zur Seite, ich spürte einen Blutfaden, der sich rechts und links von meinem Ohr hinabschlängelte und blinzelte angestrengt gegen die Ohnmacht an.

„Wenn Ihr so freundlich wärt, uns zu begleiten, Mr. Snow?“, hörte ich einen der Männer durch die dröhnenden Gewitter in meinem Schädel hindurch. Doch jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, erwies sich als Tropfen auf dem heißen Stein. Während ich von kräftigen Armen hochgezerrt und fortgeschleift wurde, verschwamm die ruppige Melodie des Hafens und die grauen Steine wurden durch farblose Stille ersetzt.
 

Two Steps from Hell - A Growing Feeling
 

Ich kannte… diesen Duft. Eine unverkennbare Note, holzig, fast harzig und voll von sorgfältig übertünchter Angst. Das Blitzen von Skalpellen schwirrte darin, als hätte man sie frisch geschliffen. Selbst der schrille Lampenschein schien mit in diesen Geruch hineingesirrt zu sein. Penetrante Sterilität. Es war widerwärtig.

Ein Stöhnen bahnte sich den Weg aus meiner Kehle empor, als der Schmerz hinter den Augen mich aus der Betäubung zog. Dass er immer noch spürbar, wenngleich die Wunde längst narbenlos ausgeblichen war, konnte nur bedeuten, dass sie mir mit Magnetkugeln in den Kopf geschossen hatten. Es fühlte sich, als hätte mir jemand Korkenzieher in die Schädeldecke gerammt und würde sie nun nach und nach wieder herausdrehen.

„Jetstone“, erklang eine leise Stimme mit aufgebügelt vertrauensseligem Unterton, irgendwo in einem Radius von zwei Metern, allerdings fiel es mir schwer, die Richtung zu bestimmen. „Wie überaus erfreulich, dich wohlauf zu sehen.“

„Wer seid Ihr?“, warf ich blind in den Raum. Noch waren die Schmerzen zu stark, um die Augen aufzubekommen, aber ein Geräusch brachte meine Sinne zum Zittern. Ein schweres, metallisches Rasseln. Im selben Moment, in dem ich es mit dem ziehenden Gefühl an den Handgelenken in Verbindung brachte, fing die namenlose Stimme an, gedämpft in sich hineinzulachen. Und etwas daran kam mir so frappierend bekannt vor, dass ich trotz der Qualen die Lider auffliegen ließ und wie vorhergesehen, die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht aufzuschreien.

„Du darfst mich Drake nennen.“ Innerhalb der nächsten Sekunden, schlug meine Aufmerksamkeit mehrere Haken, benannte Sichtbares, flocht Kontexte und setzte die schummrige Kulisse zu einem sinnvollen Abriss zusammen. Und einem schockierenden.

Ich wurde wie eine Marionette auf den Beinen gehalten, die Fäden waren in dem Fall jedoch Licht fangende Ketten. Als ich die Beine anspannte, zischte krampfgleicher Schmerz durch meine Glieder, aber ich konnte mich mit einigen, zähen Atemzügen schließlich auf die tauben Füße hieven und die Arme, die bis eben noch mein gesamtes Körpergewicht getragen hatten, endlich entlasten.

„Was wird das hier?!“, knirschte ich dem Mann – Drake – zu. Etwas an seiner geraden, um ein Haar hölzern steifen, Haltung, den alterslosen, asiatischen Gesichtszügen und den dazu völlig unpassenden, blassblauen Augen befremdete mich, aber ich war mir sicher, ihm nie zuvor begegnet zu sein.

„Eine kleine Lektion in Demut“, erwiderte er und lächelte. Hätte sein Tonfall der Miene nicht auf ganzer Linie widersprochen, hätte ihm die Freundlichkeit womöglich sogar abgenommen. Ehe ich mich versah, hob er die Hand und schnippte. Sofort sprang ein Paar von Lichtstrahlern an und blendete mich so sehr, dass ich im Zurückweichen die Ketten klirren hörte.

Und als ich wieder aufsah, wurde das Blut in meinen Adern zu einem Eisfluss und mein Kopf zu einem Hexenkessel aus Bruchstücken donnerlauter Panik
 

Beyond Two Souls OST - Main Menu Theme
 

„Crystal!“, hörte ich mich hervorstoßen, lange bevor das Bild vor meinen Augen eine Bedeutung gefunden hatte. Einige Meter vor mir begann eine raumausfüllende Glasfront und ich erkannte fast sofort, dass es sich um einen Einwegspiegel handelte und ich befand mich auf der reflektierenden Seite. Und auf der anderen, von der aus man das Dahinterliegende nicht sehen konnte, stand ein einzelner Stuhl. Darauf gefesselt und mit panisch umherhuschenden, von Tränen umsponnenen Augen, Crystal.

Augenblicklich warf ich mich gegen die Ketten, die Handschellen schellten bohrend gegen die Knochen und schnitten in die Haut, aber es tat sich nichts; mein Kraftaufwand schadete mir nur selbst.

„Was habt ihr getan?!“, brüllte ich und fuhr hiebschnell zu Drake herum. „Lasst sie gehen, sofort! Sie hat nichts damit zu tun, lasst sie frei!“ Drake wartete, bis mein Widerstand geringfügig abflaute, damit der Kettenlärm ihn nicht mehr übertönte.

„Versuch nicht, mich zum Narren zu halten“, sagte er mit dieser abstrusen Neutralität, die nicht im Geringsten zu seiner Präsenz passte, noch zu dieser Szene hier. Ich spürte, wie etwas in mir aufzusteigen begann, wie ein erwachendes Feuer. Meine Gabe. Es war das erste Mal, dass ich willentlich das Verlangen verspürte, sie einzusetzen und das warf mich weit mehr aus der Bahn, als ich geglaubt hatte. Aber dieser Mann vor mir… er rief einen Zorn in mir wach, der sich mit Worten nicht umreißen ließ, so als würde man gegen ein Monster aus seiner Kindheit ankämpfen, das gar nicht existierte.

So gut es eben ging, zwang ich mir Fassung auf, ballte nur die Hände zu Fäusten und Drakes Finger glitten seelenruhig in die Hosentaschen seines Anzugs.

„Es ist oftmals ratsamer, sich einer vorgebenden Funktion zu fügen. Ein Uhrwerk würde nicht lange laufen, wenn seine Einzelteile nur täten, was sie wollten, da musst du mir zustimmen, nicht?“

„Was wollt Ihr?“, knurrte ich ungehalten. Im Augenwinkel erkannte ich, dass Crystals Handgelenke von Striemen gezeichnet waren, als hätte sie sich mit aller Macht gegen die Fesseln gewehrt. Allein die Tatsache, dass sie sie so gewissenlos entführt und in Ketten gelegt hatten, durchtrennte alle Sicherungen in meinem Kopf. Crystal Rider hin oder her, sie war immer noch ein neunzehnjähriges Mädchen und nicht aus Stein. Drakes abgeklärter Singsang zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Ich will nur, dass du dich daran erinnerst, wo dein Platz ist und wem du untergeben bist, Jetstone.“ Noch während mein Name fiel, schnippte er ein weiteres Mal und es war, als könnte ich meinen eigenen Herzschlag hören, laut und alles überschallend wie ein schluckendes Echo, als ich herumschnellte und Crystals Augen traf, die sich kaum wahrnehmbar weiteten. Binnen eines Sekundenbruchteils holte mich die Erkenntnis ein, dass ihre Ketten keine gewöhnlichen waren und mit der Erinnerung daran, wofür sie genutzt wurden, öffnete ich den Mund zu einem Flehen, es nicht zu tun.

Aber da fing sie schon an, zu schreien.

„Aufhören! Bitte! STOPP!!!“ Der Schmerz an den Handgelenken wurde zu einem unbedeutenden Hintergrundgeräusch, alles, worauf ich mich konzentrieren konnte, war Crystals Körper, der sich im Wirken des Schocks, den die Ketten über ihre Haut jagten, unnatürlich bog und zuckte, während sie sich vor Schmerz die Stimme aus der Seele schrie.

Hitze schoss mir in die Augen und ihr Anblick verschwamm leicht.

„Bitte, ich tue alles, was ihr wollt! Aber hört damit auf, lasst sie in Ruhe!“ Dass ich dabei war, ihn unentwegt anzuflehen, drang nur in abgehackten Stößen zu mir durch, meine Konzentration war in tausend Teile zersprungen, die von immer neuen Sturmböen gepeitscht wurden, wenn ein weiterer Magnetschock ihren Körper erschütterte.

Ihre Schreie verendeten in Schluchzern, so gebrochen, so voller Angst vor der nächsten Welle… Und egal, mit viel Heftigkeit ich an den Fesseln zerrte, sie ratschten nur über meinen Puls, rissen ihn mehrfach auf und brachen schließlich sogar den Knochen, aber das war nichts im Vergleich zu den Qualen, die sie gerade durchstand.

„DU MISTKERL!“, grollte ich in den Schatten, in dem ich Drake vermutete. „Lass sie in Ruhe oder ich bring dich um!!!“ Sein süffisantes Lachen perlte aus der Dunkelheit.

„Du kannst mich nicht töten, Jetstone. Du kennst den bedauerlichen Nachteil deiner Gabe.“ Ich biss unsanft die Zähne zusammen, als Crystal wieder schrie und wurde mir der zahllosen, fast glühenden Tränen bewusst, die von meinem zitternden Kiefer heruntertropften. Dasselbe konnte ich auf ihrem Gesicht sehen.

„Ich flehe Euch an…“, brachte ich dann hervor und wäre wohl zusammengebrochen, hätten die Ketten mich nicht aufrecht gehalten. „Macht mit mir, was ihr wollt, aber lasst sie da raus. Bitte! Ich gebe auf!“ Die Wut hatte mich verlassen, alle Energie war aufgebraucht, meine Brust wurde von Schluchzern geschüttelt, aber mein Blick galt immer noch Crystal, die in diesem Moment im Stuhl zurücksank und um Atem rang.

„Auch Bluthunde winseln, wenn man sie tritt, wie es scheint“, murmelte Drake und trat aus dem Schatten. Die Schocks hatten endlich aufgehört, aber wir waren noch weit davon entfernt, außerhalb der Schussbahn zu liegen. Er trat auf mich zu und musterte meine Handgelenke, dann mein Gesicht, wobei die Wut in kurzen Schüben wieder aufgeworfen wurde. Ein Ziehen hinter der Pupille verriet mir, dass meine Gabe ebenfalls auflohen wollte. Aber das hatte keinen Zweck, denn Drake hatte das größte Geheimnis um die Killermaschine des Staates ausgesprochen und war im Recht. Ich konnte Crystal Rider mit einem Blick töten.

Aber keine Menschen.
 

Heavy Rain OST – Redemption
 

„Leider“, setzte er nach einer Weile wieder an und wandte sich von mir ab, „muss ich gestehen, dass ich noch nicht vollkommen überzeugt bin.“ Atemlos fixierte ich seine Gestalt, als er noch ein drittes Mal schnippte, woraufhin eine Reihe von Deckenlampen auf unserer Seite des Spiegels ansprang. Ich musste die Augen zusammenkneifen, riss sie aber gleich darauf wieder auf, als ich Crystals Blick begegnete. Ja, begegnete… denn sie sah mich. Die blinde Seite war verschoben worden.

Sofort versuchte sie, sich hochzudrücken, aber ihre Schultern, ihr Nacken, ihre Arme, alles bebte noch so unbarmherzig, dass sie nicht einmal den Kopf ganz heben konnte. Als ich diesmal an den Ketten zog, geschah es aus dem tiefen Wunsch heraus, meine Arme um sie zu legen und alles Menschen mögliche zu tun, um sie all das vergessen zu lassen…

„Crystal…“, flüsterte ich schwach und neue Tränen passierten meine Wimpern.

Drake drehte sich halb zu mir um und ließ seine Augen zwischen uns beiden hin und herwandern und ich bildete für den jähen Augenaufschlag ein, etwas in seiner Miene zu erkennen, das echt war. Eine weit entfernte Person, die er irgendwo tief unter all der mitleidslosen Perfektion verborgen hielt wie ein tödliches Geheimnis. Ich erkannte mich selbst darin. Aber es währte nicht lang genug, um sicher sein zu können, denn schon gab er mit der Hand ein Zeichen und eine Tür in Crystals Raum wurde geöffnet.

Ein Mann trat herein, der eine Art Sonnenbrille trug, nur dass es offensichtlich war, dass sie nicht dazu diente, um ihn vor UV-Strahlung zu schützen.

Sie sollte ihn vor Crystals und meiner Gabe schützen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück