Zum Inhalt der Seite

Crystal Riders

Reanimation
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Momentaufnahmen

Jet – Momentaufnahmen
 

Skyrim OST CD 2 Track 01 Frostfall
 

Die Zeit rund um Weihnachten ist eine der merkwürdigsten Perioden auf dem Internat. Zum einen begegnete man vielen niedergeschlagenen Gesichtern, hörte Weinen und Worte des Trostes von den Wänden widerhallen, zum anderen bewegte sich eine Woge der Ausgelassenheit von Gangart zu Gestik. So als hätte jemand die Gemüter gespalten. Und es war in gewisser Hinsicht nur nachvollziehbar.

Dieser Gedanke kam mir wie jedes Jahr aufs Neue, als ich die meterlangen Vorhänge beiseiteschob, um einen Blick auf die reich gefüllte Straße tief unter meinen Füßen werfen zu können. Greller Lichterschmuck schlängelte sich von Tür zu Tür, Kunstschnee wurde durch die Luft gewirbelt, umgoss die Gesichter der Menschen, die mit prall gefüllten Einkaufstüten durch die Geschäfte zogen. Ein sich seit Jahrzehnten wiederholendes Phänomen, Weihnachtsgeschenke auf den letzten Drücker zu besorgen. Seufzend schmiss ich den Vorhang wieder zu.

Dieses Quäntchen an Alltagswahnsinn schmeckte weit weniger nach Normalität, als man sich vorstellen konnte, wenn man, wie die meisten zu Crystal Ridern gewordenen Jugendlichen, nicht von heute auf morgen ohne auskommen musste. Ich wusste, dass nahezu jeder auf dem Internat sich im Geheimen wünschte, nur ein einziges Mal wieder an der Hand der Eltern durch Einkaufspassagen geschleift zu werden, wieder in einem immer gleichen Trott mit der ganzen Familie an einem Tisch zu sitzen, auch wenn oftmals bloß stures Schweigen herrschte und man sich nur gegenseitig mit Geschenken belud, weil es angeblich Tradition war. Ihnen fehlte der interne Wettstreit um die pompöseste Weihnachtsdekoration in der Nachbarschaft ebenso wie das Auslöffeln der Plätzchenteigreste oder das Schmücken des Baums. Denn das ist es, was letzten Endes Familie ausmacht; die Gratwanderung zwischen fischblütiger Unverträglichkeit und endlos tiefer Verbundenheit. Wertschätzung entsteht nur, wo es Licht und Schatten gibt.

Familie…

Mit einem erneuten Seufzer trat ich von der Fensterfront zurück und ließ die Decke, die ich mir über die Schultern gelegt hatte, herunterfallen.

Und leider zeigte sich genau hier der fatale Punkt des Verlusts. Denn Menschen sind die meiste Zeit ihres Lebens darauf gepolt, ausschließlich das Schlechte zu sehen. Man mag es Realitätssinn nennen oder Pessimismus oder eine simple Lebenseinstellung, das Ergebnis ist letztendlich dasselbe: Das Gute rückte erst in Augenhöhe, wenn es von hier auf jetzt nicht mehr da war und selbst die längsten Arme und kräftigsten Hände es nicht festhalten konnten.

„Und vermutlich“, flüsterte ich plötzlich in die Stille, ohne es vorgehabt zu haben, „ist genau das der Grund, dass du so viel von diesen Dingen verstehst, Jetstone.“
 

Loreena McKennitt – Snow
 

Der Grund, weshalb dennoch Überschwang auf die Launen abfärbte, war die Art des Internats, Weihnachten zu feiern. Nichts wurde aufgezwungen, weder Feierlust noch Trübsal. Jade hatte ein Händchen dafür, so viel steht fest; es gelang ihr, Menschen glücklich zu machen, die dem Glück mehrmals am Tag abschworen.

„Jetstone!“, riss mich die herbe Stimme von Mrs. Capella aus meinem Gedankengang. „Ich sagte doch, die roten Kugeln mit den weißen Punkten sollen näher zur Spitze des Baumes, die roten mit grünen Punkten entlang der vierten Lichtkette!“ Ich warf den Kopf in den Nacken, damit sie mein Augenverdrehen nicht sehen konnte und unterdrückte den Impuls, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie mir nun schon zum fünften Mal etwas anderes über die Position der Kugeln erzählte. Am Ende würden sie schon richtig sitzen, da ich, obgleich viele mir das nicht zutrauten, auch einen Blick für harmonischen Farbabgleich besaß. Aber was erwartete ich eigentlich anderes von der Hauslehrerin der Perlen? Oder eher, was erwartete ich eigentlich von mir selbst, mich an einem Internat freiwillig zur Mithilfe beim Aufbau der Dekoration zu melden, an der es Menschen gab, die Gegenstände durch bloße Gedankenkraft zur Spitze des Baumes befördern oder sich wie flinke Geckos die Wände entlang bis zur Decke hangeln konnten? Wie im Reflex wandte ich bei diesen Fragen den Kopf zur Seite und ließ die Augen im Raum umherschweifen. Ein Großteil der Perlen war anwesend, Capella hatte sie samt und sonders zusammengetrommelt, um die Aula für heute Abend auf Vordermann zu bringen. Denn interessanterweise verliefen die Gaben von Perlen stark überwiegend in Richtung Kunst und Gestaltung.

„Jet?“, hörte ich jemanden rufen, als ich die letzte Kugel aufgehängt hatte und mich daran machte, von der Leiter zu klettern. Von einem der Banketttische aus kam Mira mir entgegengelaufen, eine Perle mit Feueraffinität. Affinitäten unterschieden sich von Kontrollen in der Hinsicht, dass das jeweilige Element nicht beherrscht, dafür aber eigens erzeugt werden konnte.

„Was ist?“, erwiderte ich, streifte die Jacke von den Schultern und knöpfte im gleichen Atemzug einige Knöpfe meines Hemdes auf; der Balanceakt in Nähe der Wärme der Deckenlampen machte sich bemerkbar.

„Na ja…“, sagte sie gedehnt, legte den Entkerner beiseite und ließ ihre Hand auf meinen Arm sinken. „Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du dir für heute Abend schon eine Tanzpartnerin ausgesucht hast…“

„Ich tanze nicht“, kam es wie aus der Pistole geschossen, während ich mir eine Wasserflasche vom Tresen schnappte und ihr dabei den Arm entzog.

„Ach, komm schon“, säuselte sie, schlängelte sich flugs an mir vorbei und trat mir in den Weg. „Das sagst du doch nur so.“ Damit hob sie beide Arme, legte sie auf meine Schultern und drängte ihren Körper an meinen, wobei ihr Blick an meinem Kinn hängen blieb. „Als ob im Gedränge überhaupt noch jemand auf die Etikette achtet…“ Langsam ließ sie ihre Hände über meine Schultern zur Brust hin fallen und in dem Moment, in dem ihre langen, aufgeklebten Fingernägel über den Punkt strichen, an dem der übliche, dumpfe Schmerz saß, zuckten meine Brauen heftig zusammen, ehe ich schlagartig beide Hände hob, um ihre Arme von mir zu weisen. Ohne ein weiteres Wort drehte ich ab und wollte in die entgegengesetzte Richtung davongehen, aber Mira ließ nicht locker. Auf ein Neues tänzelte sie an mir vorbei und verharrte störrisch auf einem Punkt meiner Route.

„Ich lasse mich nicht einfach so abservieren“, schnappte sie und stemmte beide Hände in die Hüften. Ihre Augen sprühten Funken; wortwörtlich. „Ist es wegen dieser Kleinen? Dieser Crystal?“ Bei Erwähnung ihres Namens, drückte ich ungewollt zu und vernahm nur am Rande, wie das Plastik meiner Wasserflasche knirschend nachgab, als ich den Mund öffnete.

„Jet!“, kam mir da jedoch eine muntere Stimme zuvor. „Mensch, endlich finde ich dich!“ Wie aus heiterem Himmel landete ein zierlicher Arm auf meinem Rücken, glitt tiefer, hakte sich in meinen ein und dann drang der wohl bekannte Geruch von Tiefseepflanzen und Zitronen an meine Nase. Innerlich atmete ich auf.

„Was treibst du hier?“, fuhr Moon überschwänglich fort. „Ich dachte, du putzt dich schon mal für die Party heute Abend raus.“ Noch beim Sprechen, drehte sie sich mit mir im Schlepptau um und übertönte Miras Schnauben in unserem Rücken mit einem ausladenden Seufzer.

„Danke“, murmelte ich in ihre Richtung, woraufhin sie mir nur einmal durch die Haare wuschelte, als sei ich der Jüngere von uns beiden.

Ich achtete nicht darauf, wo wir hingingen, bis Moon abrupt stehenblieb und sich kurz zu vergewissern schien, dass niemand in der Nähe war. Dann veränderte sich ihre Miene wie im Schalterprinzip und mit ihr verdunkelte sich das Regenbogenblau ihrer Augen. Das hatte für gewöhnlich nichts Gutes zu bedeuten.

„Dafür, dass ich dich vor diesem Perlmuttkloß gerettet hab, bist du mir was schuldig, oder?“ Eigentlich war es keine Frage, aber Moons Prinzipen gaben vor, zumindest so zu tun, als spiele sie fair. Ich zuckte nur die Schultern.

„Sehr schön“, zwitscherte sie und ihre Iris blich dezent auf. „Dann sei doch so gut, mich in dein großes Geheimnis einzuweihen; was hat Crystal dir getan, dass sie in deinem Radius jegliche Existenzberichtigung verliert?“

Ich hatte es geahnt, aber tatsächlich damit konfrontiert zu werden, fühlte sich doch erdrückender an als angenommen. Als würde mir unvermittelt bewusst werden, dass die Wände stetig näher kamen. Und dann fing Moon auch noch an, wie im Film mit der Fußspitze auf dem Boden herumzutrommeln, während sie mich abwartend musterte.

„Ich… bin nur vorsichtig“, erwiderte ich schließlich, ihrem Blick ausweichend.

„Weshalb?“, knüpfte sie nahtlos an. „Wirkt sie auf dich wie ein gefräßiger Piranha?“

„Im Gegenteil“, gab ich zu und drehte mich halb von ihr weg, wofür sie geradewegs ein Seufzen übrig hatte.

„Wovor hast du dann Angst?“ Beim letzten Wort schien irgendwo tief in meinem Inneren etwas aufzuschlagen, zu zerfallen, seinen giftigen Atem freizusetzen…

„Angst?“, wiederholte ich tonlos und ohne die Lippen zu bewegen und Moon gab mit einem Mal ihre Kreuzverhörhaltung auf und griff stattdessen sanft nach meiner Hand.

„Ich weiß nicht, ob es das ist, Jet, aber eins weiß ich ganz genau…“ Ihre Stimme wurde mit jeder Silbe leiser. Es schien ihr wirklich zuzusetzen und das erlebte ich bei Moon zum ersten Mal. Sie musste das Mädchen offenbar auf Anhieb ins Herz geschlossen haben. „Du tust ihr damit ganz schön weh.“ Ein trauriges Lächeln folgte noch, dann ließ sie meine Hand los und tappte auf ihren bloßen Füßen davon.
 

Normand Corbeil – Piano Suite
 

„Was ist los? Wovor hast du Angst, J?“
 

Ich aß nicht zu Mittag. Schlug die Zeit mit Schweigen tot. Wartete auf alles und auf nichts.

Die Luft hatte merklich an Temperatur abgenommen, mittlerweile biss die Kälte in meine Wangen, als brenne sie Eiskristalle auf die Haut und mein Atem zeichnete neblige Schlieren.

Dennoch harrte ich in derselben Position aus, ein Knie angezogen, die Arme darauf ruhend, das Kinn hineingebettet und starrte auf die kahlen Baumskelette, hinter denen sich ein steinweißer Himmel erstreckte. Wie eine unendlich weite Marmorwand, meterdick und kratzerlos. Nach einer Weile senkte ich die Augen etwas ab, bis sie auf Höhe des Obsidians waren, den ich in einer Hand hin- und herdrehte.

„Frostfänger…“, wisperte ich in den Ärmel. Dass er, ebenso wie Crystals Stein, eine Herzform besaß, war mir nie aufgefallen, weil er an der rechten Seite gesplittert war, was ihn eher wie ein glattgegriffenes Plektrum aussehen ließ. Der Bruch stach aufgrund der flockenartigen Einschlüsse allerdings nicht ins Auge, sie ließen ihn heil aussehen. Ganz.

Vollständig.
 

„Manchmal bist du wie ein Elefant, der sich gleichmütig zwischen Löwen stellt, aber Panik bekommt, wenn er eine Maus sieht.“
 

Vom oberen Steinrund des Pavillons hingen blätterlose Weinranken, die mich unweigerlich wieder an den Efeu denken ließen. Es war dasselbe Grundprinzip hier. Die zart gewachsene Pflanze, die den massiv gebauten Stein umschloss und beschützte. Sollte es nicht andersrum sein? Wieso fing immer der Teil eines Ganzen den Sturm ab, den der andere so viel besser hätte verkraften können? Und da wusste ich es auf einmal.

Mit einem leisen, freudlosen Lachen schloss ich die Faust um den Edelstein und vergrub das Gesicht gänzlich in den Armen, damit die Welt für einen Augenblick verschwand.

„Weil dieser Teil nicht in der Lage ist, sich von der Stelle zu bewegen…“

Wie gerufen läutete es. Der Ball hatte offiziell begonnen. Ich biss die Zähne aufeinander, lehnte mich ein wenig vor und ging in Gedanken eine Reihe von Erinnerungsbildern durch, bis ich bei diesem einen ankam, das sich seit kurzem in meinem Bewusstsein verankert hatte.

Es waren Crystals Tränen. Wenn sie weinte, schien alles andere an ihr stillzustehen und keine Funktion, keinen Zweck, mehr zu erfüllen. Es war, als wäre in ihr ein zweites Ich eingeschlossen, das voller Schmerz unaufhörlich nach Hilfe schrie. Aber es drang nichts davon hinaus, mit Ausnahme der Tränen. Und so wie ich diese Tatsachen abzählte, dämmerte mir, wieso es mir jedes Mal wieder so vorkam, als würden die emotionsreichen Ausdrücke in ihrem Gesicht und die orkanstarken Augen nicht mit ihrem Körper übereinstimmen.

Weil beides permanent miteinander kämpfte.

Ruckartig hob ich den Kopf aus den Armen, sprang von der niedrigen Mauer des Pavillons und rauschte durch die Allee auf die Aula zu.
 

„Du bist kein Feigling, J. Du bist nur sensibler, als du dir eingestehen willst.“
 

Paul McCartney - Simply having a wonderful Christmas Time
 

Erst als ich den Hintereingang zum Ballsaal schon fast erreicht hatte, fiel mir wieder ein, dass ich seit meiner Beihilfe zum Aufbau keinen Kleiderwechsel mehr vorgenommen hatte. Und mit einem Blick an mir herab, bestätigte sich der Verdacht, dass ich alles andere als adäquat angezogen war.

Im Kopf verschiedene Vorgehensweisen überschlagend, wandte ich mich halb zur Tür, als eine fröhliche Stimme laut wurde.

„Hey, Kollege, da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du lässt mich mal wieder eiskalt hängen.“ Unweit des Durchgangs stand Amber mit einem, sein Gesicht dominierendem, Grinsen. Verwirrt sah ich mich um.

„Wieso stehst du denn am Hintereingang?“ Er wies nur zwinkernd an die Decke, wo ich einen, mit knallroten Schleifen geschmückten, Mistelzweig erkennen konnte, der im Zugwind bedenklich schwankte. Ich war in dem Moment nicht fähig, abzuwägen, ob ich Amber die Verrücktheit, ihn eigenhändig dort befestigt zu haben, zutraute oder nicht.

„Man weiß nie, wann sich mal eine hübsche Dame dazu entschließt, frische Luft schnappen zu gehen“, raunte er mir mit einem Stoß gegen die Schulter zu, aber ich sah, wie seine Augen dabei für den Bruchteil einer Sekunde nach rechts wippten und konnte dann auch den Grund dafür ausmachen. Nahe dem größten Banketttisch, der von der Tür aus genau im Blickkegel lag, stand Moon, die in ihrem viellagigen, meergrünen Kleid wie ein schillernder Zierfisch aussah. Und dann fehlte nicht mehr viel bis zum Fall des Groschens, weshalb Amber in Wirklichkeit hier Hundewache hielt. Jedoch gelang es mir nicht, etwas dazu zu sagen, da ich plötzlich eine zweite Gestalt neben Moon entdeckte, die durch ihr langes, weinfarbenes Kleid in völligen Kontrast zu ihr fiel.

„Eigentlich müsste ich dir ja jetzt auch einen Schmatzer verpassen“, kicherte Amber mich aus meinen Gedanken und ich drückte ihn wie im Reflex ein Stück von mir weg.

„Denk nicht mal dran.“ Er krauste nur mit einem gespielt enttäuschten „Pah!“ die Nase, dann zupfte er an meinem Jackenärmel herum.

„So ganz ausgehfein wirkst du auf mich ja nicht.“ Sein Blick huschte hinüber zum Saal und dummerweise zögerte ich eine Sekunde zu lang, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder von Crystal löste, was mich augenblicklich verriet. Ambers Lächeln fuhr auf Höchstleistungen.

„Ach, so läuft der Hase also“, bemerkte er, dann kam wie aus dem Nichts ein braunes Kaninchen aus dem Saal geflitzt, sprang im Zickzack zwischen uns hindurch und löste sich wieder auf. „Oh-oh, dann müssen wir aber zusehen, dass wir auf die Schnelle noch was zusammenschustern.“ Gleich darauf erschienen in seinen offenen Händen eine Zange und ein Hammer, was er mit einem Stirnrunzeln quittierte, ehe er beides auf dem Boden ablegte, nach meinem Arm griff und mich Richtung Haupthaus zog. „Vielleicht nicht unbedingt so, aber lass Mama Amber das mal machen!“ Und als bei diesen Worten schließlich kurzzeitig eine Spitzenschürze um seinen Körper lag und seine Haare zur voluminösen Dauerwelle auswuchsen, schüttelte ich bloß lächelnd den Kopf und ließ mich widerspruchlos mitschleifen.
 

Two steps from hell - Northern Pastures
 

Jade hatte ihre Ansprache gerade beendet, als der Auftakt der Tanzliederserie eingespielt wurde und die ersten Paare aufs Parkett lockte. Etappenweise verlor das Lichtermeer im Saal dezent an Helligkeit, bis die Anwesenden in einem Pool aus farbiger Glut zu schweben schienen. Von meiner Position im Schatten der Empore konnte ich Crystals überraschten Blick sehen, der zu einem verzückten Lächeln wurde, als winzige Eiskristalle aus Seidenfasern von der Decke rieselten und im Spiel der Scheinwerfer glitzerten. Ich fragte mich, woran sie dachte. So kurz vor Weihnachten, dem Familienfest schlechthin, zu einem Crystal Rider zu werden, musste sich verstörend, wenn nicht Furcht einflößend, anfühlen.

Ich griff mit beiden Händen in den Nacken und zog meine Haare zu einem Zopf zusammen. Ich konnte mich daran erinnern, das jemals getan zu haben, aber konnte es schaden, Amber wenigstens diesen einen Gefallen zu tun, wo ich schon beim Tragen einer Krawatte davongekommen war? Wie durch Gedankenübertragung, erschien Genannter hinter Moon und forderte die, sichtbar vor den Kopf gestoßene Frau, zum Tanz auf – das Versprechen hatte ich ihm abgenommen, allerdings war ich nicht darauf gefasst gewesen, dass er es mit derartiger Bravour erfüllen würde. An Amber war eben doch noch nicht Hopfen und Malz verloren.

Mit einem tiefen Atemzug setzte ich mich in Bewegung.

„Und mit wem tanzt du?“, vernahm ich mein Stichwort, während Ambers Blick auf der Suche nach mir herumwanderte.

„Mit niemandem“, erwiderte Crystal ihm verhalten, „ich mag auch nicht so gerne tanzen.“

„Wenn du willst, könnte ich mit dir tanzen“, fiel ich ein, als sowohl Amber als auch Moon auf mich aufmerksam geworden waren, nur Crystal wirbelte perplex herum und als ihre großen Augen vor mir aufleuchteten, breitete sich ohne Widerwillen ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, was sie offenbar vollends aus dem Konzept brachte.

„Heiliges Kanonenrohr“, platzte es aus Moon heraus, die weiterhin Ambers Hand umfasst hielt. „Hat irgendwer ‘ne Kamera im Strumpf versteckt? Wir müssen das hier mindestens auf Bild festhalten!“ Amber verfiel ohne Verzug in selbstverliebtes Gelächter.

„Ha! Weidet eure Augen, Ladys! Das ist MEIN Werk!“ Dabei ließ er seine Hand durch die Luft kreisen, als präsentiere er den beiden ein kostspieliges Gemälde.

„Ich gebe zu, ich bin beeindruckt“, räumte Moon ein und nickte Amber anerkennend zu. „Und das Ganze ohne einschneidende Unfälle zu bauen, alle Achtung.“

„Ja, da kannst du mal sehen, wie… Halt, was hast du gerade gesagt?“

„Dass wir eigentlich tanzen wollten“, lenkte sie gekonnt um und packte Amber bei den Hüften. „Komm schon, Dickerchen, die spielen grad einen super Song!“ Mit einem letzten Zwinkern in meine Richtung, hakte sie sich bei ihm ein und stolzierte auf die Tanzfläche zu, Amber strauchelte mit der Desorientiertheit eines Goldfisches hinterher.

„Ey, warte, wie hast du mich genannt? Wer stopft sich denn hier tagtäglich den Bauch mit Thunfisch voll? Und dann auch noch konsequent von meinem Teller! Warum holst du dir eigentlich nie selbst was?“

„Gute Freunde schenken dir Essen, beste Freunde essen dein Essen“, wies sie fachmännisch an. „Ist doch so, Amberlinchen.“ Allmählich wurden die zwei von den anderen Paaren verdeckt und Ambers letzte Antwort drang gerade noch so zu uns durch.

„Nenn mich nicht so, sonst gibt es gleich wieder ein Unglück!“

Dann übertönte sie die Musik. Ein neues Stück hatte eingesetzt und noch während ich mich fragte, was Crystal wohl für einen Musikgeschmack besaß, trafen sich unsere Blicke.
 

Trading Yesterday - Shattered (MTT Version)
 

Verstohlen senkte sie den Kopf wieder und nestelte an einem ihrer weiten Ärmel herum. Der Schnitt war unverkennbar, es war eins von Jades Lieblingskleidern.

„Ich… kann wirklich überhaupt nicht tanzen…“, stieß sie heiser hervor. „Außerdem sind da noch andere, die bestimmt viel lieber mit dir tanzen würden.“ Dabei huschte ihre Konzentration kurzzeitig zu einem der Banketttische und als ich der Richtung nachsah, konnte ich Mira erkennen, die uns mit verschränkten Armen beobachtete. Als ich mich wieder Crystal zuwenden wollte, machte sie Anstalten, sich umzudrehen. Impulsiv griff ich nach vorn und hielt sie am Arm zurück, wobei ein Kribbeln, wie ein Stromstoß, durch meinen ganzen Körper zischte.

Zuerst wollte ich etwas sagen, aber als ich mich erneut ihren ausdruckshellen Augen gegenübersah, ließ ich meine Hand nur von ihrem Ellbogen hinuntergleiten, bis ich ihre kühlen Finger fand. Sie hielt den Atem an. Und mit nichts weiter als einem wortlosen Lächeln, zog ich sie sanft mit auf die Tanzfläche, was sie für wenige Augenblicke widerstandslos geschehen ließ. Erst als wir schon inmitten der anderen Paare angelangt waren, rauschender Kleiderstoff und flirrende Lichtkreise um uns herumwogten, schien ihr wieder einzufallen, dass sie eigentlich die Beine in den Bauch stellte.

„Das geht wirklich nicht“, beteuerte sie energisch und hielt mich mit beiden Händen auf Abstand, wobei sie darauf achtete, mich nicht zu berühren. „Ich hab das noch nie gemacht, ich mache mich nur zum größten Deppen!“ Ihre Wangen flammten feuerrot auf. „Und dieses Kleid… das passt doch gar nicht zu mir. Ich bin dafür nicht gemacht, ich komme mir so dumm vor… Lass uns einfach-“

„Crystal“, unterbrach ich sie und als sie fahrig innehielt, fiel mir auf, dass ich sie bisher noch nie mit ihrem Namen angesprochen hatte, außer einmal, aber da hatte sie es nicht gehört. Behutsam nahm ich ihre Hände, die noch immer vor meiner Brust in der Luft hingen, in meine, führte eine zu meiner Schulter und die andere zur Seite, ehe ich nach ihrer Taille griff und ihren schmalen Körper so nahe heranzog, dass ich den Mund an ihr Ohr senken konnte.

„Du bist wunderschön“, flüsterte ich und schloss, leicht überwältigt von ihrem Duft, die Augen. „Rede dir nichts anderes ein.“ Ihr Zittern schien in mich hineinzutönen und eine Spur aus unvermittelter Angst um sie zu hinterlassen. Es dauerte einen Herzschlag, bis ich verstand, was das bedeutete; ich wollte dieses Mädchen beschützen, vor allem und jedem, vor der ganzen Welt, wenn nötig. Unwillkürlich zog ich sie noch ein wenig näher, sodass unsere Tanzhaltung kurzweilig in eine Umarmung schmolz. Ich vernahm ihren Federflugatem an meinem Hals und bildete mir sogar ein, ihr Herz gegen meine Rippen schlagen zu spüren. Da erreichte das Lied, das uns funkenwarm wie eine pulsierende Hülle umgab, seine zweite Hälfte und ich rückte wieder ein Stück von Crystal ab.

„Na gut, auf deine Verantwortung“, seufzte sie mit wackligen Atemzügen und noch etwas starr, ob meiner plötzlichen Resolutheit.

„Auf meine Verantwortung“, stimmte ich schmunzelnd ein und setzte den ersten Schritt. Prompt trat sie mir auf den Fuß.

„Oh Gott, entschuldige!“ Ein verkniffenes Lachen nicht zurückhalten könnend, schüttelte ich den Kopf und kassierte einen Schmollmund mit verärgert geblähten Nasenflügeln ein.

„Setz einfach nur den linken Fuß nach hinten, den Rest übernehme ich“, meinte ich versöhnlich und zählte im Kopf bis zum vierten Takt, um es direkt nochmal zu versuchen. Dieses Mal gelang es Crystal, bis zur ersten Drehung im Rhythmus zu bleiben, aber in der Absicht, gegenzuführen, verkeilten sich ihre eigenen Füße und sie stolperte fluchend gegen meine Brust.

„Soll es mir irgendwas sagen, dass du so beharrlich versuchst, die Führung zu übernehmen?“, grinste ich und strich ihr gedankenlos übers Haar, was sie nicht einmal für voll zu nehmen schien. Mit einem aufgebrachten Stöhnen lehnte sie sich von mir und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Ich bin einfach grenzenlos untalentiert, Jet…“ Mein Name. Wieder fühlte ich, wie mein Herz aufschlug und dabei Echos in alle Winkel meines Blutes sandte. Entschlossen nahm ich ihre Hände und legte sie geduldig zurück an die richtigen Stellen.

„Untalentiert würde ich das nicht nennen“, raunte ich amüsiert. „Nur dickköpfig.“

„Sagt der Richtige“, konterte sie ungehalten und in plötzlichem Einverständnis, setzten wir uns wieder in Bewegung.

„Wie kommst du darauf?“, hakte ich nach und zum ersten Mal blieben ihre Augen länger als wenige Sekunden in meine versunken.

„Ach, nur so“, schnaubte sie mit einem sarkastischen Lächeln und ließ sich bereitwillig von mir in eine Drehung führen. „Könnte daran liegen, dass du mich gerade dazu genötigt hast, etwas zu tun, wobei ich mich nur gänzlich blamiere.“

„Nach blamieren sieht das aber nicht aus“, lachte ich, während wir, wie nach lang gehaltener Absprache, in eine Parade übergingen, an dessen Ende ich sie in eine einfache Hebefigur schwang. Sie quietschte auf und schlang beide Arme haltsuchend um meinen Hals. Aber als ich sie wieder absetzte, fiel sie in mein Lachen ein und ihr Atem flatterte an meinem Nacken.

„Doch, tut es, du Idiot!“ Sie verpasste mir einen halbherzigen Schlag gegen den Brustkorb, den ich damit revanchierte, dass ich sie ein weiteres Mal hochhob und herumwirbelte, bis uns beiden vor Schimpfen und Lachen der Atem wegblieb und sich der Drehwurm deutlich bemerkbar machte. Um Haaresbreite landeten wir in einem der Weihnachtsbäume und als uns auffiel, dass zahllose Blicke auf uns geheftet waren, schauten wir zeitgleich peinlich berührt nach unten und setzten den normalen Walzerschritt übertrieben akkurat fort, bis wir darüber erneut in Gelächter ausbrachen.

„Das ist das Bescheuertste, was ich jemals getan habe“, japste Crystal und rieb sich über den Bauch. Dann machte sie eine Kopfbewegung Richtung Banketttisch. „Ob ich wohl einen Schluck trinken könnte?“

„Ausnahmsweise“, erwiderte ich großmütig und nahm ihren Arm, um sie in theatralischer Manier zur Tafel zu geleiten. Ihre Wangen glühten noch von vorhin, aber ich bildete mir ein, dass sie bei dieser Gestik noch einige Grat zunahmen.

Doch dann geschah es.

Vollkommen unvorhergesehen. Wie eine Bombe, tief im Erdboden verborgen, durch die simple Erschütterung eines Schrittes wieder ins Leben gerufen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann wieder schmerzvoll schnell aufzuholen. Crystals Arm entglitt mir, ich sah dabei zu, wie sie an den Tisch herantrat, sich ein Glas nahm, es mit der Karaffe auffüllte, trank…

Aber es hatte keine Bedeutung mehr. Farbe auf Leinwand. Bühnenspiel, kein Bezug zur Realität. Weiße Zeit.

„Jet?“, hörte ich sie fragen. Ich Stimme war stumpf wie beschlagendes Glas, verlor sich im Rauschen in meinen Ohren, bis ich sie nicht mehr hörte. „Was ist los? Jet!“ Ihre Hand streifte meinen Arm, nur daran erkannte ich, dass ich mich von ihr weggedreht hatte und drauf und dran war, den Saal zu verlassen.

„Warte doch! W-Wo willst du denn hin?“ Ganz tief in mir antwortete ich, aber außerhalb hatte jeder Wille aufgehört zu sein. Ich bestand nur noch aus Impulsen, die stärker waren, als mein Gefühl. Weitaus stärker.

Und daher riss ich mich nur von Crystals Berührung los und ließ sie mit schnellen Schritten hinter mir zurück, flog förmlich durch die Menschenmassen und stob in die Nacht hinaus, während in meinem Rücken die letzten Takte unseres Tanzliedes verklangen wie die finalen Glockenklänge einer sterbenden Turmuhr.
 

„Yesterday I died

Tomorrow’s bleeding

Falling to your sunlight…”



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück