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Das Rauschen des Nils

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Das Rauschen des Nils

KAPITEL 6: Das Rauschen des Nils
 

Langsam ging Atemu mit Shayenne den Gang entlang.

Er hatte die Wege so gewählt, dass möglichst wenige Menschen diesen kreuzten und Shayenne nicht sofort mit dem Tumult im Palast konfrontiert wurde.

Während sie um eine Ecke in einen kleineren schmalen Gang einbogen, schielte er zu ihr hinüber und staunte, dass sie selbst die gelöschten Fackeln an der Wand mit so viel Faszination betrachtete, als würden sie ein Geheimnis bergen, welches nur sie kannte.

Auf der linken Seite kamen in regelmäßigen Abständen Türen, die jedoch allesamt verschlossen waren und keinen Blick auf die Räumlichkeiten dahinter freigaben.

Sie liefen durch den Gang, in welchen die Diener und Soldaten der Adligen untergebracht waren, die zu den Zeremonien und Festen in den Palast kamen.

Da zurzeit jedoch nichts dergleichen vorgesehen war, standen die Räume leer und die Stille wurde nur von dem Pfeifen durchbrochen, welches der Wind verursachte, wenn er durch die Fenster auf der rechten Seite hereinkam, um in diesem Gang sein Lied zu spielen.

Shayenne starrte jedes Mal aus dem Fenster hinaus, wenn sie an einem vorbeiliefen und jedes Mal wurden ihre Augen groß beim Anblick der Stadt, die sich darunter erstreckte.

„Geht es noch oder brauchst du eine Pause?“, fragte Atemu das Mädchen, welches er noch immer an der Hand hielt und blieb stehen.

Shayenne hielt ebenfalls an und sah zu ihm auf:“Es ist in Ordnung. Aber alles hier ist so... so-“

„Groß? Faszinierend?“, fügte Atemu lächelnd hinzu, als sie stockte und erneut mit großen Augen den Gang hinunterschaute.

Am Ende war ein Torbogen, der hinausführte in den hinteren Bereich.

Dort war der Garten seiner Mutter mit den Blumen die sie so mochte und einem Teich.

Atemu wollte Shayenne jedoch nicht die Blüten der Rosen zeigen, die dort an üppigen Büschen wuchsen und auch nicht die bunten Fische in dem glitzernden Teich, sein Ziel war ein anderes.

Sie setzten sich wieder in Bewegung und schlenderten auf den Torbogen zu.

Je näher sie diesem kamen, desto fester wurde Shayennes Griff an seiner Hand.

Sanft strich er mit seinem Daumen über ihren Handrücken, während sie den Durchgang erreichten und hindurch gingen.

Sie standen nun auf einem Sandweg, eingefasst von besagten Büschen und obwohl sie sich die Hand über die Augen legte, um die plötzliche Helligkeit abzuschwächen, sahen sich ihre Augen noch neugieriger um und blieben an jeder Blüte hängen.

//Ich glaube, es gibt kein Mädchen auf der Welt, das die Blumen so zu schätzen weiß, wie sie...//, dachte Atemu sich und führte sie den Weg hinunter zum Teich.

„Das ist der Garten meiner Mutter gewesen. Sie ist an einem kühleren Ort als diesen aufgewachsen und hat die Blumen einst von dort mitgebracht. Jeden Tag müssen die Diener dafür sorgen, dass die große Hitze und Trockenheit sie nicht verwelken lassen. Man nennt sie Rosen, sie sehen wunderschön aus und es gibt sie in vielen Farben, aber an den Stängeln wachsen spitze Dornen.“, erklärte er dem Mädchen und griff in einen Busch, um eine davon zu pflücken und sie ihr zu reichen.

Mit großen Augen nahm Shayenne die Blüte vorsichtig in beide Hände und betrachtete sie, als hätte sie einen kostbaren Schatz bekommen.

„Sie fühlt sich ganz weich an und so zerbrechlich!“, stellte sie fest und folgte dann Atemu, der weitergegangen war.

Ihr Blick schweifte von der Blüte in ihren Händen zum Teich, der in der Nähe glitzerte.

Während sie auch diesen mit staunendem Blick begutachtete, strich sie sanft mit einem Finger über die weichen Blütenblätter der Rose in ihrer Hand.

Hätte Atemu gewusst, dass sie dieser Anblick schon so aufregte, hätte er noch gewartet, aber heute war der einzige Tag, an dem er sich die Zeit nehmen konnte, um ihr dieses Geschenk zu machen.

So legte er seine Hand auf ihren Rücken und schob sie sanft weiter den Weg entlang.

Der Teich verschwand hinter den Rosenbüschen und Shayennes Blick wanderte neugierig von jedem Busch zu jedem Baum und immer wieder in den klaren Himmel, wo nur vereinzelt Wolken vorbeizogen.

Immer wenn sie an einem Baum stehen blieb oder ihren Blick auf etwas fixierte, erklärte Atemu ihr, was es war oder wozu es diente.

Schließlich erreichten sie ein hohes Tor, welches in die Steinmauer eingelassen war, die den Palast umgab.

Dimas ging an Atemu vorbei und zog den schweren Riegel, der die Tür verschloss zurück.

Ein wenig ängstlich schlich Shayenne sich hinter Atemu und beobachtete jede Bewegung der Wache.

Atemu bemerkte es und wandte sich zu ihr um, um ihr die Hand hinzuhalten:“Keine Angst!“

Zögernd nickte das Mädchen, nahm eine Hand von der Blüte und griff nach der ausgestreckten Hand von Atemu.

Es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, wenn er ihre kleine Hand mit seiner großen umfasste, sein Griff war stark aber sanft und so folgte sie ihm, als er durch das nun offene Tor hinausging.

Dimas und Sahim folgten ihnen in gemessenem Abstand.

Sie liefen nicht weit, als Atemu stehen blieb und auf das Wasser deutete:“Der Nil!“
 

Sie standen etwa fünfzig Schritt vom Ufer entfernt und die Mittagssonne stand an ihrem Zenit.

Shayenne starrte auf das glitzernde Wasser und drückte Atemus Hand ohne es zu merken etwas fester.

„Der Nil...“, wiederholte sie und betrachtete die schimmernden Wogen.

Das Wasser war in Bewegung und jede Welle glitzerte im Sonnenlicht wie tausend Diamanten.

Langsam ging Shayenne ein paar Schritt näher, Atemu folgte ihr und hielt ihre Hand noch immer fest.

Je näher sie dem Ufer kamen, desto deutlicher konnte man auch das Rauschen hören.

Jede Welle schien dieses zu erzeugen und jedes Mal wenn die Wellen das Ufer erreichten, verklang es wieder.

„Meine Mutter sagte, wenn man nur genau hinhörte, würde man das Lied erkennen, welches der Nil singt...“, erklärte Atemu, klang dabei jedoch etwas zweifelnd, denn er selbst glaubte nicht an irgendwelche Lieder, die die Götter sangen und die durch den Nil ans Ohr der Sterblichen dringen sollten.

Shayenne glaubte, dass das Rauschen des Nils das schönste Lied sei, das sie jemals hören würde.

Dass das Glitzern der Sonne auf jeder Welle das schönste Bild sei, das sie jemals sehen würde.

Völlig fasziniert davon, ging Shayenne weiter auf das Wasser zu und blieb erst stehen, als das Ufer direkt vor ihr war und das Wasser jeder Welle ihr Ende kurz vor ihren Füßen fand.

Seit sie wach war und um sich herum alles sah, wollte sie den Nil sehen und seit Atemu ihr davon erzählt hatte, wollte sie das Rauschen hören.

Mit großen Augen starrte sie hinaus auf das wogende Blau und Silber.
 

Atemu beobachtete Shayenne.

Er dachte, ihre Augen hätten die Farbe des Himmels und der Wolken, aber nun erkannte er, dass das falsch war.

Sie hatten die Farbe des Nils, wenn die Mittagssonne ihn erstrahlen ließ.

Das helle Blau war durchzogen von silbernen Tupfen und Atemu war sich sicher, würden in diesen Augen Tränen schimmern, sähen sie genauso aus wie das Glitzern auf den Wellen.

Im selben Moment, in welchem ihm dieser Gedanke kam, schwor er sich, dass er diesen Anblick niemals sehen wollte.

Er würde schon dafür sorgen, dass die Sonne keine Gelegenheit bekam, auch ihre Tränen zum Glitzern zu bringen.
 

Sie standen eine ganze Weile am Ufer und die ganze Zeit über hielt Atemu Shayennes Hand in seiner.

Als die Sonne den Zenit überschritten hatte und sich langsam dem Horizont näherte, riss er seinen Anblick von ihr los und drückte ihre Hand kurz etwas fester:“Wir sollten zurück gehen. Es wird bald dunkel. Außerdem hast du sicher Hunger.“

Nur zögerlich konnte Shayenne den Blick von dem Wasser abwenden und als sie zu Atemu hinübersah, hatte er den Eindruck, dass ihre Augen ein klein wenig strahlten und weniger Leid darin zu sehen war.

Sie nickte und ließ sich von ihm zurück in den Garten bringen.

Als sie den Teich passiert hatten, blieb Shayenne plötzlich stehen und schnappte nach Luft.

Fragend wandte Atemu sich zu ihr um und folgte ihrem Blick hinunter auf ihre Hand, in der noch immer die Blüte lag.

Die Blütenblätter hatten an Kraft verloren und hingen schlaff herunter.

Sie waren etwas dunkler geworden und behutsam strich Shayenne mit dem Finger darüber.

„Was ist passiert?“, fragte sie und sah zu Atemu auf:“Wieso fallen die Blätter ab?“

Atemu hatte ganz vergessen, dass sie wahrscheinlich nie eine Blume gepflückt hatte und schalt sich nun selbst für seine Unwissenheit.

„Jede Blume geht ein, wenn sie gepflückt wird. Sie können nur blühen, wenn sie am Stängel und mit den Wurzeln verbunden sind.“, erklärte er und deutete auf die Rosenbüsche.

Traurig senkte Shayenne ihren Blick wieder auf die Blüte in ihren Händen und schwieg einige Sekunden.

Dann sagte sie leise:“Ich möchte nicht, dass so etwas Schönes stirbt, damit ich es in meinen Händen halten kann...“

Vorsichtig ließ sie die Blüte in den Teich gleiten, auf dessen Wasser sie umhertrieb.

„Atemu, ich möchte nicht, dass du mir noch einmal eine Blume schenkst. Sie würde sterben und das ist traurig...“, fügte sie hinzu, stand auf und nahm wieder seine Hand.

Er hatte nie darüber nachgedacht, Jouno und er hatten schon einigen der jungen Mädchen unten in der Stadt Blumen aus dem Garten gepflückt und geschenkt.

Jede Einzelne von ihnen hatte sich darüber gefreut und hinter vorgehaltener Hand und mit roten Wangen gekichert.

Und nun gab es dieses Mädchen, dessen Hand er nun hielt, die ihn darum bat, nie wieder eine Blume zu pflücken, um ihr eine Freude zu machen.

Als er Shayennes traurigen Blick sah, der zum Teich schweifte, durchfuhr ihn ein Gefühl des Bedauerns.

Er hatte ihr eine Freude machen wollen und nun hatte er sie stattdessen traurig gemacht.



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