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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Im Dorf Addar Marals

Kapitel 25

Im Dorf Addar Marals
 

Mimoun verschluckte sich fast, als der Enkel des Ältesten so plötzlich neben ihnen auftauchte. Hastig erhob er sich und begrüßte ihn seinem Rang entsprechend. Das brachte Asam zum Lachen. Momentan fühlte er sich nicht als Mitglied des Rates sondern als ganz normaler Geflügelter, der mit einer Bitte zu Bekannten kam.

Mimouns Blick glitt fragend zu seinem Freund. Eigentlich wäre es nicht schlecht die Einladung anzunehmen. Dann konnte Dhaôma auch das Dorf Addars begrünen. Wenn er sich recht entsinnen konnte, hatte dieser etwas von einem nicht mehr blühen wollendem Bäumchen hinter seinem Haus erzählt. Und Addar hatte sie gehen lassen. Da wäre das doch als Dankeschön angebracht, oder nicht?

„Wir nehmen die Einladung gerne an.“, antwortete Mimoun, ohne eine Antwort des Magiers abzuwarten. Obwohl es unfair war, so etwas über dessen Kopf hinweg zu entscheiden. „Oder hast du etwas dagegen?“, wandte er sich doch an diesen.
 

Dhaôma schüttelte nur den Kopf. „Nein. Ich mag Addar Maral.“ Leicht neigte er den Kopf vor dem blonden Mann.

Das brachte Asam wieder zum Lachen. So frei heraus sagten das auch nicht viele Leute, obwohl sein Großvater ein großes Ansehen genoss. Und wo gab es einen Magier, der behauptete, Hanebito zu mögen! Nun, dieses Exemplar war in vielerlei Hinsicht seltsam. „Freut mich.“, sagt er. Sein Kopf bewegte sich ein wenig herum, bevor er nach einer kurzen Entschuldigung begann, einen Pflaumenbaum abzuernten.

Nach kurzem Zögern half Dhaôma ihm. Ohne Flügel konnte er viel besser zwischen die Zweige klettern. Außerdem war es angebracht, ein Gastgeschenk mitzubringen. „Mimoun, soll ich wieder Gestrüpp wachsen lassen?“, fragte er, als sein Rucksack voll war.
 

„Natürlich.“, antwortete dieser. „Es ist einfacher so. Du musst das Zeug schließlich nicht schleppen.“ Er grinste. „Aber spar dir einige deiner Kräfte auf, um das auch wieder zu entfernen.“ Mimoun begann bereits ihre Habseligkeiten auf einen Haufen zusammenzutragen. Die Armschienen behielt er wohlweißlich aber an. Es musste schon an ein Wunder grenzen, sollte Dhaôma diesmal nicht gezwungen sein, Regen zu rufen.
 

Der braunhaarige Magier streckte ihm die Zunge heraus, als er schon begann, eine spiralförmige Brombeerranke um die Sachen zu ziehen. Asam versteckte ein Lachen hinter seiner freien Hand. Diese beiden waren lustig anzusehen. Und sie benahmen sich wohl auch nicht nur vor Hohen wie echte Freunde. Das hier war kaum gespielt. Noch dazu waren sie gut aufeinander abgestimmt.

Kurz darauf flogen sie los. Es war nicht weit zu seiner Insel. Zwar lag sie nicht direkt über dem Fluss, aber man konnte ihn noch sehen.

Die Insel, auf der Addar lebte, war eine der größten bewohnbaren Inseln, aber viele der Häuser standen inzwischen leer. Zu viele waren an der Front gegen die Magier bereits gestorben. Wie jedes Mal waren sie entdeckt, bevor sie landen konnten, und wurden dementsprechend begrüßt. Auch hier gab es misstrauische Blicke, aber viele waren auch nur neugierig.

„Großvater ist im Haus.“ Asam deutete auf ein großes Gebilde. Und mit vor Stolz geröteten Wangen fügte er hinzu: „Meine Frau auch. Sie wird bald niederkommen! Sie ist die schönste Frau der Welt!“

Seine Aufregung amüsierte Dhaôma. Ein werdender Vater. Nie hatte er so jemanden kennen gelernt.
 

Mimoun nahm diese Information mit einem Lächeln zur Kenntnis. Für ihn musste es das größte Glück überhaupt sein, in diese Frau verliebt zu sein und mit ihr zusammen ein Kind zu erwarten. Mit einem dankbaren Nicken folgte er der Einladung und strebte dabei das bezeichnete Haus an. Die neugierigen Geflügelten begrüßte er höflich. Da hier Mitglieder des Rates lebten, sollte er sich doch ein wenig gesitteter benehmen.

Bei Betreten des Hauses ließ Mimoun Asam den Vortritt, ließ sogar Dhaôma noch vor. Diese Hütte war größer ausgelegt, da hier mehr als nur eine Generation unter einem Dach lebte. Darum erwartete die Ankömmlinge ein großzügiger Vorraum, auch wenn Mimoun vermutete, dass er zusätzlich erweitert worden war. In diesem sahen sie außer Addar, der sich zur Begrüßung aus den Fellen erhoben hatte, und einer hochschwangeren jungen, blonden Frau, die man aufgrund gewisser Informationen Asam zuordnen konnte, noch zwei weitere Frauen, nur wenig älter als Asam, eine Frau, die vom Alter her seine Mutter sein konnte, und drei Kinder unterschiedlichen Alters. Nacheinander wurden sie namentlich vorgestellt.
 

Dhaôma war leicht befangen. Wie immer begrüßte er Addar mit einer vollendeten Verbeugung und deutete auch bei jeder anderen eine solche an. Die letzte, die vorgestellt wurde, war Asams Frau. Der junge Mann zog sie liebevoll an sich. „Und das ist Leoni, meine bezaubernde Frau.“

Sie wurde rot und lachte verschmitzt. Offenbar war sie das schon gewohnt. „Schmeichler.“

„Nur die Wahrheit, mein Vögelchen.“, wiegelte er ab. Keiner der beiden störte sich an ihm, nur eine der Frauen maß Dhaôma wie ein Insekt. Silia hatte einen ähnlichen Blick. Dhaôma ignorierte es.

„Ich freue mich über die Einladung. Habt vielen Dank.“
 

„Und ich habe mich gefreut, als mir berichtet wurde, dass euer Weg in diese Gegend führen würde.“ Mit einer Hand deutete er an, dass sie sich setzten sollten, bevor er sich selber niederließ. „Und ehrlich gesagt, befürchtete ich schon, dass ihr meine Einladung ablehnen würdet, bereitete euch beiden doch schon die erste Einladung so viel Kummer. Umso mehr freut es mich zu sehen, dass ihr gekommen seid.“
 

Dhaôma setzte sich neben Mimoun. Er verstand die Befürchtung nicht ganz. Addar war immer nett zu ihm gewesen, warum sollte er nicht kommen? „Ihr wolltet doch damals schon, dass der Baum hinter Eurem Haus wieder Früchte trägt. Ich bin hier, um diesem Wunsch zu entsprechen.“ Auch damit Mimoun weniger von der Hitze ertragen musste.
 

Addars Augen leuchteten kurz auf. „Daran erinnerst du dich noch?“, fragte der Alte mit einer Mischung aus Freude und Erstaunen. Es war schließlich schon fast ein halbes Jahr her und es war eher scherzhaft in einem Nebensatz erwähnt worden. Dennoch freute er sich wie ein Kind darauf, dass Dhaôma den alten Baum wieder zum Blühen bringen würde. „Aber dazu bitte später.“, bat er und deutete auf die Speisen, die Asams Mutter inzwischen aufgetischt hatte. „Jetzt würde ich euch bitten, ordentlich zuzugreifen.“
 

Mit Grauen sah Dhaôma, dass man ihm zu ehren frische Beute auftischte. Rohes Fleisch. Lautlos seufzend ergab er sich diesem Geschenk. Zum Glück konnte er noch Pflaumen beisteuern. Dennoch kam er der Bitte nach. Das jüngste der Kinder vergaß immer wieder, dass es essen wollte, und versank in Starren. Irgendwann plapperte es einfach in Asams Schwärmerei über Dhaômas Spur am Fluss.

„Warum hast du keine Flügel? Haben sie sie dir abgerissen?“ Der Junge war etwa so alt wie Haru.

Dhaôma lachte leise. „Nein. Ich bin ohne geboren worden.“

Ehrlich bedauernd senkte er den Kopf. „Du Arme.“
 

Schon bei der Frage wegen der Flügel musste Mimoun grinsen, doch die letzte Aussage des Kindes ließ ihn wieder lachend zusammenbrechen. Jetzt ging das Ganze schon wieder von vorne los. „Du solltest dringend was dagegen tun.“, brachte er noch immer unter Lachanfällen hervor.

Addar hatte den Jüngsten seiner Familie auf seinen Irrtum hinweisen wollen, doch nun beobachtete er neugierig die Szene.
 

Dhaôma seufzte. „Ich bin kein Mädchen.“ Und weil es schon beim letzten Mal Probleme mit dem Verständnis gegeben hatte, nahm er die Kurzvariante: „Ich mag die langen Haare.“

Gewichtig nickte der Kleine. Das hatte er verstanden.

„Und dass ich keine Flügel habe, ist auch nicht schlimm. Ich kann dafür schwimmen und passe durch dichtes Gestrüpp, wo Mimoun hängen bleiben würde.“

Amar war beeindruckt. „Du schwimmst wie ein Fisch?“

„Eher wie ein Frosch.“

Das entlockte ihm ein glockenhelles Lachen. „Das sieht sicher lustig aus!“

Seine Mutter legte ihm warnend eine Hand auf den Kopf. „Er ist unser Gast. Sei höflich.“

„Es stört mich nicht.“, meinte Dhaôma und kicherte. „Außerdem hat er Recht. Es sieht wirklich lustig aus.“

Sie nickte nur.
 

In Gedanken ging Mimoun die letzten Tage durch. „Aber es sieht immer noch eleganter aus als bei mir.“, mischte er sich in das absurde Gespräch ein.

„Wir sind ja auch nicht fürs Wasser geschaffen.“, warf Addar dazwischen. Er hatte seinen Spaß an der Unterhaltung. Solange Kinder in der Nähe waren, schien der Magier lockerer zu sein. „Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass Dhaôma ein Mädchen sein könnte?“, fragte er seinen Urenkel und brachte damit das Gespräch wieder auf das anfängliche Thema zurück.

Das veranlasste Mimoun dazu, sich zu verschlucken. Schon zu Beginn war ihm wieder in den Sinn gekommen, was Elin noch gesagt hatte, so auch bei dem erneuten Themenwechsel. Und mit vollem Mund lachen und schlucken ging nun einmal nicht.
 

„Na, die Haare. Das Gesicht ist auch wie bei einem Mädchen. Und die Kleider.“ Das stimmte. Jadya hatte seine alten Kleider als Vorlage genommen, daher hatten auch seine neuen Kleider einen Rock. „Und hast du nicht gesagt, er kann Blumen wachsen lassen?“ Das Kind verzog den Mund. „Welcher Junge sammelt denn Blumen?“

Lachend meldete sich Dhaôma. So absurd!
 

„Herrlich!“ Mimoun rollte lachend über die Felle. Die Argumente der Kinder waren immer dieselben. Es war schön zu sehen, wie einfach ihre Schlussfolgerungen waren. Und dass Dhaôma sich auf die Frage auch noch gemeldet hatte, machte es ihm nicht einfacher, sich zu beherrschen.

Auch Addar musste lachen, wogegen auf den Gesichtern der anderen nur ein Lächeln unterschiedlicher Ausprägung erschien. Von breitem Grinsen über mildem Lächeln zu leisem verstecktem.

„Du bringst den Kleinen sicher auch noch dazu, sich auf Blüten zu freuen. Genau wie Haru mit seinen Himbeeren. Erst Blüten, dann Früchte.“, merkte Mimoun an, nachdem er sich halbwegs gefangen hatte. Dieses Thema war und blieb wohl sein Lieblingsthema.
 

Der Junge sah ihn böse an. „Das weiß ich schon.“, sagte er. „Wenn ich die Blüten an den Sträuchern kaputt mache, dann gibt es keine Beeren.“ Und zu Dhaôma gewandt meinte er überzeugt: „Trotzdem ist das seltsam. Normalerweise sammelt Mama die Blumen, damit die Hütte duftet.“

„Und deshalb darf ich keine wachsen lassen?“, wollte Dhaôma sanft wissen.

Der kleine Amar wurde rot. „Doch.“

„Vielen Dank.“ Kichernd setzte sich Dhaôma wieder gerade hin und nahm sich noch eine Pflaume. „Weißt du, es gibt Männer, die ihrer Liebsten Blumen mitbringen, weil sie wissen, dass sie sich darüber freut. Amar, wenn es dich beruhigt: Ich lasse Pflanzen wachsen, weil sie mir gefallen. Egal, welche du findest, jede hat etwas Besonderes. Einige sind hübsch anzusehen, andere schmecken gut. Wieder andere haben die schöne Eigenschaft, dass sie Feinde fernhalten oder beim Klettern helfen. Ich kann mit Wassergras Fische fangen oder mit ihnen heilende Salben herstellen. Man kann Tee aus ihnen machen oder Speisen würzen. Pflanzen sind sehr vielseitig. Du musst nur offen sein, das zu erkennen.“
 

Mimoun bedachte seinen Freund mit einem sanften Blick. Wenn dieser über Pflanzen sprach, ging er voll darin auf. Mit Kindern darüber zu reden, sie zu lehren, war für ihn anscheinend das Größte. Sein Blick huschte über die in der Hütte versammelten Geflügelten. Asam umsorgte großteils seine Gefährtin, strich ihr über den dicken Bauch, lauschte nur mit halbem Ohr dem Gespräch. Auch wenn Leoni sich ebenfalls voll und ganz ihrem Mann zu widmen schien, folgte sie dem Gespräch doch aufmerksamer als dieser, warf ab und zu einen Blick zu dem Magier. Amars Mutter behielt ihren Spross aufmerksam im Auge, machte aber keine Anstalten, der friedlichen Atmosphäre zu misstrauen. Addar lauschte den Ausführungen des Magiers aufmerksam und vermerkte sich gedanklich schon einmal Fragen, die er stellen wollte. Asams Mutter interessierte sich ebenfalls für den Magier, während ihre älteste Tochter nicht wusste, ob sie ihre ablehnende Haltung beibehalten sollte. Dieser Magier schien ihrer geliebten Familie nicht schaden zu wollen, verstand sich im Gegenteil ganz prächtig mit ihnen. Ihre eigenen Sprösslinge saßen neben ihr und schwankten zwischen dem Bedürfnis, den Magier ebenfalls mit Fragen zu löchern, und der Befürchtung, ihre Mutter könne etwas dagegen haben. Sie war nicht so begeistert gewesen, als man den Magier hierher eingeladen hatte.

„Zeigst du uns einige der Sachen, die du gerade aufgezählt hast?“, fragte Addar, als sich keines der Kinder zu Wort melden wollte. „Vor allem heilende Salben würden mich interessieren.“
 

„Natürlich.“, stimmte Dhaôma zu. „Aber es ist ziemlich schwierig, sich alle Pflanzen zu merken, die es gibt, um etwas zu heilen. Nicht jede ist für alles geeignet.“ Dann runzelte er die Stirn. „Aber es bedeutet, dass ich meine Reise wieder unterbrechen muss.“ Nachdenklich tippte er mit dem Finger gegen sein Kinn. „Wie wäre es, wenn ich Euch die Grundlage, um Salben herzustellen lehre, und die Zutaten im Laufe der Zeit in einem Buch aufliste. Wäre das in Ordnung?“
 

„Natürlich.“, erwiderte Addar mit einem dankbaren Nicken. „Wir haben dich schließlich schon viel zu lange aufgehalten, nicht wahr?“
 

Dhaôma nickte. Dann fiel ihm etwas ein.

„Sagt, Addar Maral, kennt Ihr den Weg zu den Drachen? Ihr lebt schon so lange, habt Ihr von einer Möglichkeit gehört, wie man sie finden kann?“
 

Stille breitete sich in dem Raum aus. Bedrückende Stille.

„Ihr sucht Drachen?“, gab Angesprochener die Frage zurück. „Wolltet ihr nicht etwas anderes finden?“
 

Etwas anderes finden? Hatte er so etwas gesagt? Nachdenklich stützte Dhaôma die Ellbogen auf seine Knie. Er konnte sich nicht erinnern. „Eigentlich nicht.“ Schüchtern lächelnd zuckte er mit den Achseln. Sein Gastgeber wirkte ein wenig enttäuscht. Dachte er vielleicht, dass er damit seine Zeit verschwendete, obwohl er ja mit den Magiern reden sollte? Das hatte er damit nicht erreichen wollen. „Aber es gibt ganz sicher Drachen! Und sie sind mächtig genug, dass sie mir helfen können, meinen Traum zu verwirklichen! Wenn ich erst Drachenreiter bin, dann kann er mir helfen, mit meiner Mutter zu sprechen. Und dann komme ich auch an denjenigen heran, der das Heer befehligt. Davon erzählen alle Legenden, dass Drachenreiter Frieden bringen können!“ Seine Wangen färbten sich rot. Mimouns Mutter Cerel hatte ihm geglaubt. Und nun hatte er leichtfertig vorausgesetzt, dass auch Addar ihm glauben würde. „Lacht mich bitte nicht dafür aus.“
 

Lachend schüttelte Addar den Kopf. „Verzeih. Ich lache nicht deswegen.“, erklärte er schnell, hatte ihn der Junge schließlich um einen Gefallen gebeten. „Zwar hast du nicht verstanden, worauf ich eigentlich hinaus wollte, aber du hast dennoch im selben Atemzug erklärt, dass es zu dessen Erfüllung diene.“ Schnell wurde er wieder ernst. „Drachen waren eine gefährliche Spezies. Niemand kann bestätigen, dass diese Kreaturen noch irgendwo existieren. Und Legenden sind halt nur Legenden. Mag sein, dass sie eine gute Rückendeckung darstellen, genauso gut können sie aber auch euren Untergang bedeuten. Wollt ihr dieses Risiko wirklich eingehen?“

„Ja.“, mischte sich Mimoun nun in das Gespräch mit ein. Ernst fixierte er den Ältesten. „Das Risiko wäre meines Erachtens sogar größer, würden wir direkt zu den Magiern marschieren wollen.“

Nachdenklich betrachtete Addar den jungen Geflügelten vor sich, nickte schließlich. „Wie man sie finden kann, kann ich euch nicht beantworten. Aber ich habe einmal einen gesehen. Es war nur kurz und schon zu dieser Zeit galten sie als ausgestorben. Ich war damals noch ein Knabe, so in eurem Alter, und trieb mich in der Nähe des großen Wassers herum, als ich aus dem Augenwinkel einen großen Schatten wahrnahm. Doch bevor ich hinsehen konnte, war er zwischen den Wolken verschwunden. Er war zu groß für einen Vogel oder gar einen Geflügelten. Ich bin mir sicher, dass es sich dabei um einen Drachen handelte. Aber wenn, war es sicher der letzte seiner Art. Ich würde mir in dieser Sache keine allzu großen Hoffnungen machen.“
 

„Wir haben relativ frische tote Drachen gefunden. Ich habe sogar einen Zahn von ihnen.“ Dhaôma zog den Anhänger aus seinem Ausschnitt. „Egal, wo sie sich verstecken, es gibt sie noch. Das denke ich zumindest. Irgendwo zwischen dem Großen Wasser und den Wolfsbergen. Und wenn Drachen wirklich unzähmbar wären, dann hätte es Drachenreiter gar nicht gegeben.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Ihr braucht Euch keine Sorgen machen. Sollte es lebensgefährlich werden, werden wir uns selbstverständlich sofort zurückziehen. Aber nach meinem Buch sollten die Drachen spüren, ob jemand ernsthaft an Frieden interessiert ist. Angeblich sollen sie friedfertige Menschen nicht angreifen.“ Auch wenn er nicht vollständig davon überzeugt war, irgendwie wollte er daran glauben.
 

„Frische Drachenüberreste?“, fragte Addar sicherheitshalber noch einmal nach und Mimoun bestätigte es ihm gerne erneut. „Damit hab ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Aber sollten sie sich wirklich mehr für Frieden interessieren, wundert es mich gar nicht, dass sie verschwunden sind. Zu lange schon werden unsere Völker vom Krieg zermürbt. Es wirkte sicher abschreckend auf sie.“
 

Das wäre eine Erklärung, warum sie verschwunden waren. Hoffentlich waren sie nicht zu weit weg geflohen. „Vielleicht sind sie aber auch verschwunden, weil alle Jagd auf sie gemacht haben. Ich habe gelesen, dass Drachenhaut ungeheuer leicht und robust ist, so dass sie selbst Pfeile abhält. Und vor mehr als hundert Jahren war es ein beliebter Sport unter meinesgleichen, Drachen zu jagen.“ Er seufzte tief. „Ich würde auch verschwinden, wenn mir jemand nach dem Leben trachtet.“
 

Missmutig zog sich Addars Stirn in noch mehr Falten. Magier waren wirklich Bestien. Dennoch hoffte er noch immer, dass Frieden zwischen den Völkern möglich war und dass er selbst ihn noch erleben konnte.

„Wenn Magier Drachen wegen ihrer Haut gejagt haben, findest du es wirklich so klug, einen Drachen zu ihnen zu bringen?“
 

Bekümmert nickte Dhaôma. „Das muss ich mir noch überlegen.“, sagte er. „Aber selbst wenn ich ihn nicht mitnehme, kann er Mimoun beschützen und vor Dummheiten bewahren, falls ich nicht mehr dort wegkomme.“ Entschuldigend blickte er seinen Freund an.
 

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst!“, fuhr Mimoun auf. Völliges Unverständnis für Dhaômas Verhalten spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Glaubst du Narr wirklich allen Ernstes, dass ich da einfach tatenlos zusehe oder verschwinden werde? Verdammt noch mal, ich mach mir hier doch nicht den Stress, um dich dann wegen so einer Lappalie im Stich zu lassen. Nicht wenn wir schon so dicht vor unserem Ziel wären!“
 

„Ja, aber du hättest zumindest einen sehr starken Beschützer, der dir zur Seite stehen wird. Denkst du nicht, dass er dir helfen könnte?“ Dhaôma seufzte. „Hör zu, ich will dir keine Vorschriften machen, aber dass du stirbst, will ich auch nicht. Und den Knochen nach zu urteilen sind Drachen groß genug, ein Haus einzureißen. Und damit meine ich nicht diese Hütten hier. Also könnte er mich notfalls rausholen, ohne dass dir etwas passiert.“
 

„Aber genauso gut könnte er dabei getötet werden. Und den Drachen opfern wolltest du ja auch nicht!“ Mimoun hatte sich halb erhoben, sah nun auf Dhaôma herab. „Denk endlich mal auch an dich. Hör auf, ständig dein Leben, deine Freiheit wegzuschmeißen, wenn es mal wieder etwas enger wird. Dhaôma, bitte! Tu mir das nicht an!“
 

Der Junge lächelte. „Hatte ich nicht vor. Das sind nur Möglichkeiten, die mir gekommen sind. Aber Drachen haben Fähigkeiten, die ich nicht kenne. Und ich weiß auch noch nicht, wie meine Familie reagieren wird, wenn ich nach Hause kommen sollte.“ Er griff nach Mimouns Hand und zog ihn wieder zu sich herunter. „Ich werfe weder mein Leben noch meine Freiheit weg. In dieser Hinsicht könntest du mir langsam auch anfangen zu vertrauen.“
 

Mit einem verächtlichen Schnauben lehnte Mimoun seine Stirn gegen Dhaômas Schulter. „Und ob du aufgegeben hattest.“, murmelte er. „Still und ohne Widerworte hattest du es ertragen, in meinem Dorf gefangen zu sein. Nie hast du mit nur einem Wort verlauten lassen, dass du wieder gehen wollen würdest. Es hat sogar nicht viel gefehlt und du hättest mich daran gehindert, zum Hohen Rat zu gehen, um eine Antwort zu erhalten. Und wenn ich mich recht entsinne, hattest du geheult, als ich spaßeshalber mit einem ernsten Gesicht zurückkehrte. Selbst eine schlechte Nachricht hättest du ohne zu kämpfen akzeptiert!“ Mimoun löste sich von seinem Freund, sah ihm bittend in die Augen. „Sag es mir, bitte! Wie soll ich bei solchen Reaktionen von dir darauf vertrauen, dass du nicht wieder sofort aufgibst?“
 

Überlegend erwiderte Dhaôma den Blick. Er hatte aufgegeben? War das so? Im Grunde hatte er nur abgewartet, bis sich etwas ergab. So wie er es immer getan hatte. Wenn sich eine Gelegenheit ergeben hätte, hätte er sie ergriffen. Oder war das schon aufgeben? Er kämpfte nun mal nicht gerne. Nie. Auch jetzt würde er das Gespräch lieber fallen lassen, aber das würde Mimoun nicht gefallen.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich eine andere Strategie zum Überleben habe. Sie hat sich bewährt. Ich lebe noch.“
 

„Mag sein, dass du noch lebst.“ Mimouns Blick wurde traurig und er lehnte sich ein wenig weiter zurück. „Aber bist du damit auch zufrieden? Bist du tatsächlich glücklich gewesen in den Situationen, in denen du klein und zittrig nur abwartest?“
 

Dhaôma dachte kurz nach. Nein, glücklich war er nicht gewesen am Anfang. Aber die Situation im Dorf hatte sich Dank Cerel schnell geändert. Auch Zuhause war er nicht glücklich gewesen, dennoch hatte er einen Weg gefunden, nach seinen Maßstäben zu leben. Frei zu sein. Oder war das Illusion gewesen?

„Was hätte ich tun sollen? Sie zwingen, mich gehen zu lassen? Es ist okay, wie ich bin, auch wenn Zeiten kommen, in denen ich Angst habe. Die gibt es für jeden. Und bisher konnte ich aus allem etwas Gutes herausfinden!“
 

Mimoun schüttelte den Kopf. „Es ist okay, so wie du bist.“, wiederholte er leise und fixierte seinen Freund fest. „Wenn du nicht kämpfen willst, ist das okay. Das muss ich so akzeptieren. Aber dann lass mich auch für dich kämpfen, denn es ist die Art zu leben, für die ich mich entschieden habe. Zwing mich nicht in deine Verhaltensweisen hinein! Zwing mich nicht, tatenlos dabei zuzusehen, wenn du leidest!“
 

Schweigen war Dhaômas Antwort darauf. Vorwurfsvoll erwiderte er den Blick. Nie hatte er versucht, Mimoun irgendetwas aufzuzwingen.
 

Dieser vorwurfsvolle Blick traf Mimoun hart. Ihm war nicht klar, mit welcher Aussage er diese Reaktion provoziert haben könnte. Und es fiel ihm schwer, diesem Blick länger standzuhalten. Betrübt sah er auf die Felle unter sich. Auch er wusste nichts mehr zu sagen, um seinen Standpunkt weiter zu verdeutlichen.

Leises Rascheln ließ ihm wieder bewusst werden, wo sie sich hier befanden. Erschrocken und verlegen sah er auf und zu ihrem Gastgeber hinüber. Mimoun wollte sich für ihr ungebührliches Verhalten entschuldigen, sah aber, dass Addar sich bereits erhoben hatte.

„Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang in der Sonne?“, schlug der Alte vor und trat zwischen die beiden Freunde, legte jedem eine Hand auf den Kopf. „Und ihr zwei könnt euch dabei beruhigen und wieder Klarheit in Gedanken und Gefühle bringen.“
 

Dhaôma nickte, bevor er tief Luft holte. Der Vorschlag war Gold wert, fand er. Innerlich aufgewühlt und angespannt, tat die Sonne sicherlich gut. Warum war Mimoun nur so böse gewesen? Hatte er wirklich das Gefühl, dass er ihn zu etwas zwang? Kam es für den Schwarzhaarigen so rüber, dass er sterben wollte?

„Entschuldigt.“, bat Dhaôma den Ältesten und seine Familie. Es war ihm unangenehm, dass sie das hatten mit anhören müssen. Langsam stand er auf, streifte bewusst den Ärger und die Unsicherheiten ab und hielt Mimoun die Hand hin. „Kommst du auch mit?“
 

Nachdenklich musterte Mimoun die dargebotene Hand, doch schließlich nickte er und zog sich daran hoch.

Es fing schon wieder an. Mimoun spürte, dass diese Diskussion noch nicht ausgestanden war, dennoch sah es nun wieder so aus, als würde Dhaôma vor einer Fortsetzung dieser Konfrontation fliehen. Mochte sein, dass weder Ort noch Zeit dafür geeignet waren, aber würde Dhaôma, sollten sie wieder allein sein, diese Sache klären oder würde er es aussitzen, bis es zum nächsten großen Krach kam?

Noch immer stumm folgte er dem Ältesten nach draußen. Blinzelnd blieb er neben dem Eingang stehen und sah sich um. So wirklich Interesse am Laufen im Sonnenschein hatte er nicht. Lieber würde er ungestört und in Ruhe nachdenken. Wie sollte er Dhaôma verständlich machen, wie er sich dabei fühlte?
 

Die neugierigen Blicke der Dorfbewohner entgingen Dhaôma nicht. Es war genau wie in den anderen Dörfern, nur die offene Anfeindung war nicht spürbar. Er freute sich darüber, doch genießen konnte er diese Freude nicht. Zu schwer lag ihm die Auseinandersetzung mit Mimoun im Magen. Obwohl er sich auf normale Dinge konzentrierte, kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu dessen Worten.

Zwang er ihn in seine Verhaltensweisen? War das so? Irgendwie stimmte es. Mimoun musste seinetwegen laufen und die Hitze ertragen. Sogar das Wasser suchte er deshalb öfter auf.

Amar rannte hinter seiner Cousine her, die plötzlich lachend die Flügel ausbreitete und davonflog. Der Kleine flatterte noch etwas ungelenk hinterher.

War es das, was Mimoun meinte? Nahm er ihm seine Freiheit?

Wieder verfloss Dhaômas Lächeln, wurde von Nachdenklichkeit ersetzt.

„Worüber grübelst du nach?“ Asam hatte ihn eingeholt, seine Frau führte er galant am Arm.

„Ich wollte ihm nicht wehtun.“

„Jeder streitet sich mal.“ Leoni lachte. „Nimm dir das nicht so zu Herzen. Ihr werdet das klären.“

Das war nicht hilfreich. Dhaôma lächelte nur.

„Sei wieder fröhlicher. So wie mit Amar vorhin.“

Sie erreichten ein paar Bäume, die kümmerlich und alt um einen kleinen See standen. Viele Kinder planschten darin und kreischten ausgelassen. Hier gab es viel mehr Kinder als auf Mimouns Insel.

„Was ist mit dem Baum?“

Leoni und Asam deuteten synchron auf einen relativ hohen, knorrigen Baum, der über die Hütten ragte. „Meinst du den?“

Von dem, was Dhaôma von ihm sah, konnte er schon jetzt sagen, dass diesen Baum wiederzubeleben, einige Zeit dauern würde, aber er war noch nicht ganz verloren. Das würde er schaffen. Am liebsten würde er gleich anfangen, aber das konnte er ja nicht tun, solange er spazieren gehen musste.

Asam begann seine Frau zuzutexten und Dhaôma versank wieder in mahlenden Gedanken.

Auf dem Rückweg driftete er ohne sein Zutun zu dem Baum. Niemand hielt ihn auf. Insgeheim hatte jeder darauf gewartet, das zu sehen, wovon so viele berichteten, was aber keiner glauben konnte. Für Dhaôma war es Flucht, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Er flüchtete sich in eine Welt, die unkompliziert und friedlich war.

Mit dem Baum ließ er sich Zeit, nahm sich das zumindest vor, aber er war zu aufgewühlt, um sich zu konzentrieren. Ohne dass er es verhindern konnte, übernahm seine Magie die Führung. Wasser schoss in den Stamm und die Äste, jagte Nährstoffe durch jede kleinste Faser. Knospen bildeten sich, schwollen schneller als gewöhnlich, öffneten sich zu rosafarbenen Blüten, wurden von jungen, schnell wachsenden Blättern ergänzt, bevor die zarten Blütenblätter wie Schnee auf einer leichten Briese zwischen die Zuschauer geweht wurden. Früchte bildeten sich an ihrer Stelle, erst grün, dann färbten sie sich langsam rot.

Warum wollte Mimoun für ihn kämpfen? Was versprach er sich davon?

Für die Geflügelten war der Anblick wie ein Wunder. Es dauerte nicht lange, da fand sich das ganze Dorf ein, um dem Schauspiel beizuwohnen. Wie konnte es sein, dass Magie so etwas vollbringen konnte? Brachte sie nicht normalerweise nur den Tod?

Ein paar Kinder begannen zu lachen, als sich etwas unter ihren Füßen regte. Wie ein Maulwurf bohrte sich eine der Wurzeln durch die Erde Richtung Teich und sie folgten ihr, feuerten sie an, das Wasser zu erreichen. Für sie wurde es zum Spiel.
 

Still folgte Mimoun der Gruppe bei dem Spaziergang. Er versuchte sich mit dem Gespräch und dem Geflirrte des Pärchens abzulenken. Es war amüsant dabei zuzuhören, mit welchen Kosenamen sie sich betitelten, oder zu sehen, wie Asam seine Frau umschwirrte und umsorgte. Dennoch half ihm das nicht, mit seinem eigenen Problem fertig zu werden. Es verschob es nur nach hinten. Aber der junge Geflügelte hatte für sich sowieso entschieden, dass hier der falsche Ort für ein klärendes Gespräch war.

Eine wirkliche Ablenkung von dem Streit war die Neuerweckung des Baumes. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, er konnte sich nicht daran satt sehen. Und dass dieses Dorf von Anfang an seinen Spaß daran hatte, besänftigte sein aufgewühltes Inneres. Er versuchte die treibenden Kirschblütenblätter zu fangen. Mit wenig Erfolg. Die zarten Blüten waren ein Spielball des Windes ohne Stetigkeit und Ziel. Und sie waren so federleicht, dass er nicht bemerkte, wie sich einige in seinen Haaren verfingen. Sein Blick folgte den johlenden Kindern, die die Wurzel anfeuerten, bevor er wieder zu Dhaôma schweifte. Er glitt weiter zu dem Baum, schätzte Größe und Aufwand ab und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Der Magier übertrieb es schon wieder.

Leise trat er an seinen Freund heran, legte ihm hauchzart die Finger um die Handgelenke und ließ sie weiterwandern, bis sie sich mit den Fingern des Magiers verwoben. Langsam zog er die Hände zurück, löste so den Magier von dem Baum. „Soll ich mich wieder durch die Dornenbüsche schlagen?“, fragte er leise und grinste schelmisch. Dhaôma hatte diese wahrscheinlich schon wieder vergessen.
 

Das Leuchten der Zeichen verblasste und verlosch. Aus seiner Vertiefung gerissen, sah Dhaôma auf die Hände, dann zu Mimoun. Dornenbüsche? „Welche…?“ Es fiel ihm wieder ein, dann lachte er leise. Er hatte es vergessen, verdrängt. „Ai, wie dumm.“ Dabei hatte er sich doch vorgenommen, dass er es diesmal besser einteilen würde.
 

„Ja. Du bist ein Dummkopf.“, stimmte der junge Geflügelte zu. Und ob sein Freund es vergessen hatte. Aber wenigstens einer von ihnen behielt den Überblick. „Und ich finde, den Rest schafft das Pflänzchen nun auch von alleine.“ Er löste seine Finger von Dhaômas Händen und legte sie auf die Rinde, betrachtete den Baum von unten und angelte nach einigen Früchten.
 

Da hatte er wohl Recht. Der Baum sah eh so aus, als hätte er ihm schon zuviel geholfen. Viel zu weit für diese Jahreszeit.

„Das war wunderschön!“ Leonis Wangen waren vor Freude gerötet. Es war Jahre her, dass dieser Baum geblüht hatte. So wie viele andere war er wegen der großen Dürre vor einigen Jahren eingegangen. „Vielleicht hättest du die Blüten noch ein wenig länger lassen können, um uns Zeit zu geben, sie zu bewundern.“

Asam tat es unterdessen Mimoun nach und holte sich ein paar Kirschen.

Der braunhaarige Magier lächelte. „Hätte ich es gemacht, wäre der Baum wieder gestorben. Er hätte bis zum Winter niemals genügend Zeit gehabt, selbst Knospen zu bilden und sich zu entwickeln. Vorsicht, ihr beiden.“, wandte er sich an die beiden Naschkatzen. „Sie werden sauer sein.“

Asams Gesicht zeigte deutlich, dass die Warnung zu spät kam. Die Augen zusammengepresst und den Mund verzogen drehte er sich zu ihnen, was seine Frau zum Lachen brachte. „Zum Glück hat er sie mir nicht zuerst angeboten.“, kicherte sie.
 

Auch Mimouns Gesicht krampfte sich in lustigen Zuckungen zusammen. „Zu spät.“, erklärte er und schüttelte sich. Da waren ihm seine Erdbeeren entschieden lieber.

Das ganze Dorf, soweit sie es mitbekommen hatten, lachte über die beiden Gierhälse. Nun wussten sie selbst es besser und konnten dieses Missgeschick umgehen.

„Natürlich nicht.“, erwiderte Asam an seine Frau gewandt. „Für dich soll es ja auch nur das Beste geben.“

„Wie lange dauert es noch bis man sie gefahrlos essen kann?“, schmunzelte Addar. Er kannte diesen Baum schon lange. Auch konnte er bei normalem Verlauf den Zeitpunkt bestimmen, an dem die Kirschen süß waren, aber jetzt hatte der Magier ein wenig nachgeholfen. Die Früchte waren weiter, als sie sein sollten, aber noch immer sauer. Und wie verhielt es sich nun weiter mit dem Baum? Trieb er noch eine Weile schneller als üblich oder passte er sich wieder seinem Rhythmus an? Die Gräser, die der Magier im Ratskreis hatte wachsen lassen, waren noch am selben Tag wieder entfernt worden.
 

Tja, hätte er es nicht übertrieben, hätten er sich gleich darauf konzentrieren können, sie reifen zu lassen, aber das sollte er für diesen Tag besser nicht mehr bewerkstelligen. „In ein oder zwei Wochen sollten die Früchte süß genug sein. Wenn die Sonne so weiter scheint.“ Dhaôma sah liebevoll in den Baum hinauf. „Genug Wasser hat er jetzt jedenfalls. Solange es welches im See gibt, wird er seine Früchte auch reifen lassen.“ Und da jetzt auch die Herbststürme einsetzten, sollte es dahingehend kein Problem mehr geben.
 

Verstehend nickte Addar. Also nahm es nun seinen natürlichen Lauf. Das war gut zu wissen. Und bedauerlich. Dann musste man wohl noch warten bis zur Ernte.

Mimoun ging ein wenig zur Seite, stellte sich wieder neben Dhaôma und beobachtete, wie das Dorf näher an den Baum heran trat. Die Kinder flatterten höher zwischen die Äste und auch von ihnen aßen einige die sauren Früchte, weil sie die Reaktionen lustig fanden.

„Leoni?“

Als die besorgte Stimme erklang, drehte sich Mimoun zu der Schwangeren um. Diese stand leicht nach vorn gebeugt und hielt sich den Bauch. Asam stand besorgt daneben, bis seine Frau mit dem Hinweis, es sei nun wohl soweit, ihn aus seiner Erstarrung riss und er wie ein aufgeregtes Hühnchen um sie herumzuschwirren begann. Lachend ergriff Addar seinen Enkel an den Schultern und zog ihn von seiner Frau weg.

„Ganz ruhig.“, beschwichtigte der Älteste ihn. „Es wird alles gut gehen.“

Derweil wurde Leoni von zwei Frauen wieder in ihr Heim geleitet und eine dritte rannte in eine andere Hütte, um nur Augenblicke später mit einigen Lederbündeln zu Leoni zu eilen. Asam wollte seiner Frau ebenfalls folgen, aber ihm wurde der Zutritt verwehrt. Und so begann der Enkel des ältesten Geflügelten unruhig vor dem Eingang auf und ab zu laufen. Immer wieder blieb er stehen und lauschte auf eventuelle Geräusche, doch es blieb still. Zu sehr schluckten die dicken Wände jeden Ton.

Der Baum war beinahe uninteressant geworden. Fast jeder Dorfbewohner hatte sich nun vor der Hütte hingesetzt und wartete auf das neue Leben. Nur die Kinder konnten nicht geduldig sitzen bleiben und rannten lachend um den neu erwachten Baum herum. Als schließlich nach fast zwei Stunden eine der Frauen im Eingang erschien, blieb Asam endlich stehen. Nichts hatte ihn bisher vom Laufen abhalten können. Doch was er fragen wollte, blieb unausgesprochen. Das Gesicht der Frau war ernst und traurig zugleich. Und es brauchte seine Zeit, bis sie die Auskunft gab, die alle beschäftigte.

„Es gibt...“, begann sie stockend. „...Schwierigkeiten. Wir können entweder das Kind retten oder beide sterben.“

„Was soll das heißen?“, fragte Asam aufgebracht und packte die Frau an den Armen. Man konnte deutlich sehen, welche Kraft er dabei aufwandte. „Was ist mit Leoni?“

„Das Kind. Es liegt quer und wir können es nicht drehen. Wir müssen es herausschneiden, sonst sterben beide.“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Asam fügte ihr eindeutig Schmerzen zu, doch er schien es nicht zu sehen.

„Und so stirbt Leoni, oder was?“, schrie er sie an. „Ich will zu ihr!“

„Das kannst du nicht. Ihr...“

Bevor jemand anderes reagieren konnte, war Mimoun aufgestanden und an Asams Seite getreten. Damit unterbrach er auch den Satz der Frau. Gewaltsam löste er den Griff und Asam wirbelte zu ihm herum, richtete seine Aufmerksamkeit, seine Wut und Verzweiflung nun auf den jungen Geflügelten. Mimoun wehrte sich nicht, als der andere in seinem Schmerz einfach zuschlug. Er ließ den Schlag einfach geschehen, um ihm die Möglichkeit zu geben, mit der Situation fertig zu werden.

„Sie kann gerettet werden, aber Ihr müsst mir zuhören.“, bat er, als er sah, dass Asam zu einem zweiten Schlag ausholte. Dieser Treffer saß noch, doch dann hielt der andere inne, sah ihn mit verzweifelter Hoffnung an.

„Dhaôma.“, begann er und deutete mit einer Hand auf den Magier. Mit dem anderen Handrücken rieb er sich über die Lippen, denn der letzte Schlag hatte seinen Kiefer getroffen und die Lippe aufplatzen lassen. „Er verfügt über Heilkräfte. Sie sollen das Kind herausschneiden und er wird diese Verletzung anschließend heilen.“

Asam wich einen Schritt zurück und sah, von einer Erinnerung gelenkt, zu Mimouns linkem Flügel. Verstehen blitzte in seinen Augen auf, während seine Züge noch immer von Angst verzerrt waren. Asam wandte sich Dhaôma zu, warf sich vor ihm auf die Knie und senkte demütig das Haupt. „Ich flehe dich an. Rette meine Familie.“
 

Dhaôma hatte Mimoun schon dankbar angeschaut, als dieser den Vorschlag gemacht hatte, jetzt war er bestürzt über diese Geste der Unterwerfung. Warum warf er sich zu Boden? Was erhoffte er sich von ihm? Glaubte er wirklich, dass er so grausam war, dass er dabei zusah, wie jemand im Kindsbett starb?

Ein kurzer Blick huschte zu der Frau, die noch immer auf eine Antwort wartete. Sie sah ernst aus, als wäre es dringend. Seine Hand legte sich auf Asams Schulter. „Du hättest nicht fragen brauchen. Selbstverständlich werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um ihr zu helfen.“ Im Grunde hatte er nur eine Erlaubnis gebraucht, nicht wahr? Allerdings fragte er sich, ob er dazu tatsächlich genug Kraft hatte. Nie hatte er etwas Ähnliches versucht. Zudem hatte er ja schon den Baum wachsen lassen. Hatte er wirklich noch genügend Kraft übrig, um jemanden zu heilen, den jemand aufgeschnitten hatte?

Entschlossen stand er auf und wandte sich der Hebamme zu, wartete ab, was sie sagen würde.
 

Asam sah dankbar zu Dhaôma. Er richtete sich wieder auf, blieb aber weiterhin hocken.

Mimoun seufzte unhörbar. Da es kritisch um Leoni zu stehen schien, würde der Magier all seine Kräfte aufbrauchen. Er wandte sich der Hebamme zu. „Dhaôma wird danach müde sein. Lasst ihn bitte schlafen.“, warnte er sie vor dem Unausweichlichen.

Sie runzelte irritiert die Stirn. Einerseits verstand sie nicht ganz die Bedeutung von Mimouns Worten, andererseits war sie nicht von der Idee angetan, einen Mann und dann noch einen Magier zu der Gebärenden zu lassen. Doch wenn er tatsächlich auch über solche Kräfte verfügen sollte, könnte er es wirklich schaffen sie zu retten. Und Asam persönlich hatte ihn darum gebeten. Es ging um seine Familie, da hatte er das letzte Wort.

„Komm.“, wandte sie sich knapp an Dhaôma, winkte ihm ihr zu folgen und betrat wieder die Hütte. Sie verschwand hinter einer der Lederplanen.

„Du schaffst das. Das weiß ich.“, lächelte Mimoun seinem Freund zu, bevor dieser ihr folgen konnte. „Und ruh dich dann ruhig aus. Ich komm, sobald ich darf.“



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