Zum Inhalt der Seite

Der Junge hinter dem Lächeln

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

IV. Als du Alfred zum vierten Mal siehst, hast du ihn erwartet.
 

Nicht etwa weil er heute einen Termin bei deiner Mutter hat, sondern weil er gestern einen hatte und deine Mutter abends sein Handy gefunden hat. Im Wartezimmer ist es ihm wohl aus der Tasche gepurzelt und hat es sich klammheimlich zwischen Stuhl und Wand bequem gemacht. Dort hat deine Mutter es zumindest gefunden und bei ihm Zuhause Bescheid gegeben, damit er es am Folgetag abholen kommt.
 

Selbst ist deine Mutter heute allerdings gar nicht zugegen. Im Rahmen einer von der Therapeutenkammer ausgerichteten Fortbildung zum Thema Posttraumatische Belastungsstörungen verbringt sie die nächsten Tage von früh bis spät am hiesigen Universitätsklinikum und hat dich deswegen gebeten, gegen 17 Uhr kurz in die Praxis rüberzugehen und Alfred, wie verabredet, sein Smartphone zurück zu geben. Besagtes Smartphone liegt ganz unschuldig in einer weniger unschuldigen Suicide Bunny-Schutzhülle auf der Anrichte und hat dich ob des lebensmüden Häschens, das sich mithilfe eines DVD-Players umzubringen versucht, auf Anhieb zum Schmunzeln gebracht.
 

Just als du mit einem Handtuch das kleine Spülbecken durchputzt, ertönt das melodisch-schräge Klingeln und lässt dich das feuchte Tuch am kleinen Metallhaken an der Wand aufhängen. Deiner Armbanduhr zufolge sind es 17:03 Uhr. Beherzt schnappst du dir das Handy und machst dich auf den Weg aus der Küche. Wenige Sekunden später öffnest du die Haustüre der Praxis und schaust zu Alfred hinauf. Wie immer ist es unverwechselbar er – und wie immer wirkt er ein bisschen anders als bei all euren anderen Begegnungen; innerlich, äußerlich, gänzlich.
 

„Ach, hi!“, grüßt er fest und schnell; deutlich überrascht, dich anstelle deiner Mutter anzutreffen.
 

„Hey, ich hab gehört, du vermisst was?“ Deine Hand mit dem Telefon hebt sich präsentierend und lässt es wie ein Pendel zwischen zwei Fingern hin und her schwingen, ehe du es ihm feierlich überreichst.
 

„Yay! Was bin ich froh, dass ich’s hier verloren hab und nich’ unterwegs oder in der Schule irgendwo!“
 

„Da hättest du’s hundert pro nich’ wiederbekommen.“
 

„Nope! Danke!“
 

„Dank nich’ mir. Meine Mom hat’s ja gefunden. Lag wohl im Wartezimmer.“
 

Mit der Kuppe des rechten Zeigefingers fährt er beiläufig übers Display und tippt rasch etwas ein. Offenbar checkt er, ob noch alles in Ordnung ist. Da aber weder deine Mutter noch andere Patienten das Handy benutzt haben, dürfte ihn keine böse Überraschung erwarten. Sogar du hast deine Neugierde im Zaum gehalten, obwohl du zugegebenermaßen mehr als ein Mal mit dem guten Stück geliebäugelt hast, während du in der Küche klar Schiff gemacht hast. Unnötig zu erwähnen, dass du deine Finger brav bei dir behalten hast. Wenn sich nämlich etwas Anderes herumsprechen sollte, ist deine Mutter ihre Patienten ganz schnell los und du möchtest nicht mit den daraus resultierenden Konsequenzen Bekanntschaft machen.
 

Außerdem hast du einfach nichts davon, Alfreds Handy auszuspionieren. So interessant ist Babyface nun echt nicht. Wahrscheinlich ist er nur auf Facebook, twitter und Konsorten automatisch eingeloggt und falls er abenteuerlicherweise tatsächlich bei tumblr angemeldet sein sollte, wird er wohl nicht zwingend irgendwelchem interessanten Schmutz folgen. Oder?

Nein, nein, das würde dieses Babyface nicht tun. Der wird doch beim Besuchen unanständiger Blogs sicher rot und hat viel zu viel Schiss davor, so einen Blog zu abonnieren, weil womöglich irgendjemand einen Blick auf sein Dashboard erhaschen könnte und dann mitkriegen würde, welchen Vorlieben er in seiner Freizeit nachgeht.
 

Ja, das ist wirklich eine niedliche Vorstellung, die du da bemüht aufrecht erhältst. An Babyfaces Jacke pinnt jedoch ein übelst zerkratzter Team America Button, direkt neben einem nicht minder zerkratzten X-Files Button, auf dem sich der berüchtigte ‚I want to believe’-Schriftzug unter einem Ufo räkelt. Dir wird bewusst, dringend dein Bild von 15- oder 16-jährigen Jungs überdenken zu müssen – aber nicht zwingend, wenn dir gerade ein Exemplar gegenüber steht und über dich hinweg in die Praxis linst; die Augen nicht mal mehr halb so sprunghaft wie bei eurem letzten Zusammentreffen.

„Ist deine Mom auch da?“
 

„Ne, sie is’ auf ’ner Fortbildung.“ Deine Gedanken geraten ins Stocken, während du ihn eingehend musterst. „Musst du sie dringend wegen irgendwas sprechen?“
 

Vielleicht stimmt ja was nicht? Zumindest was das Joggen anbelangt, hat Marcia Recht behalten: es zahlt sich aus. Seit eurer letzten Begegnung hat er garantiert wieder drei oder vier Kilo verloren und es steht ihm viel besser. Gar nicht mal, weil er den Bereich des oberen Normalgewichts geknackt hat, sondern weil seine Bewegungen dynamischer und wesentlich zufriedener erscheinen. Er ist glücklicher mit sich selbst. Die Gewichtsreduktion stibitz sogar seinem Gesicht etwas des Babyrunden unter der Nase weg. Süß bleibt er trotzdem. Babyface forever. Heute sogar ohne windzerzaustes Haar und ohne dir den Eindruck zu vermitteln, sofort die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen zu wollen. Das war schon extrem neulich. Überhaupt hat er da furchtbar mitgenommen und gestresst ausgesehen. Jetzt ist das anders, trotz des aberwitzigen Nasekräuselns und des latenten Bewegungsdranges, der in Alfreds linken Fuß gefahren ist.
 

„Nene! Alles okay! Ich wollt’ mich nur bedanken“, stellt er klar und lässt sein Handy in der Gesäßtasche seiner mittelblauen Jeans verschwinden. Kein Elektrolächeln. Du hast es also mit der Wahrheit zu tun und freust dich irgendwie darüber.

„Ach, nix zu danken und du siehst sie ja eh nächste Woche wieder.“
 

„Right-!“ Das plötzlich aggressiv laute Hämmern von Regen lässt euch beide verblüfft herumfahren und in Richtung Wartezimmer schauen, wo fette Tropfen gegen die Fensterscheibe klatschen. Es klingt, als bombardiere jemand das ganze Gebäude mit hoch explosiven Knallerbsen, die nass auf dem Glas detonieren.
 

„Shit! Was ist das denn jetzt für’n Wolkenbruch?!“, sagst du mehr zu dir selbst als zu Alfred und hechtest zum Fenster hinüber, das du vorhin, bei deiner Ankunft in der Praxis, auf kipp geöffnet hast. Deine Mutter zieht dir die Ohren lang, wenn du, statt durchzulüften, das halbe Wartezimmer unter Wasser setzt!
 

Der sich durch den Fensterspalt zwängende Wind ist herbstlich scharf und pustet dir unverfroren ins Gesicht. Eine Grimasse schneidend, stemmst du dein Gewicht gegen den Griff und donnerst das Fenster energisch zu. Der dichte Schlechtwetterteppich da draußen lässt einen nicht sonderlich mehr als die Lichter der Fahrzeuge, Ampeln und Werbetafeln erahnen. Jegliche Fußgänger sind zu trüben Punkten abstrahiert worden, die noch hektischer als sie es für gewöhnlich schon zu tun pflegen über die Gehwege hetzen, Taxis rüber winken oder alternativ dazu in Hauseingängen und Geschäften Zuflucht suchen.
 

„Krass! Da kommt echt ganz schön was runter!“ Alfred, der dir gefolgt ist, steht direkt neben dir und schaut andächtig in den pechschwarzen Himmel hinauf. „Vor zwei Minuten war’s noch hell draußen und jetzt isses auf einmal zappenduster! Apokalypse! Und die Mayas haben’s nich’ vorhergesagt!“
 

„Ne, weit und breit keine Spur von irgendwelchen apokalyptischen Reitern oder einem schwarzen Impala. Also isses nur der Herbst, wie jedes Jahr.“
 

„Apokalypse wär aber schon irgendwie spannender! Gib’s zu!“
 

„Mit ist’s spannend genug, wenn ich bei so ’nem scheiß Wetter unterwegs bin und mal wieder keinen Schirm dabei hab.“ Denn dann darfst du immer das überaus spannende ‚Wo zur Hölle stell ich mich jetzt bloß unter?’-Spiel spielen.

Überlegend schaust du zwischen Alfred und der Küche hin und her. Das Ergebnis ist eindeutig: kein Schirm.

„Du kannst ruhig hier warten, bis der Schauer vorbei is’. Ich kann dich ja nicht einfach vor die Tür setzen bei dem Sauwetter.“
 

Er grinst, fast geschmeichelt, und ist sichtlich erleichtert darüber, sich die unfreiwillige Dusche zu sparen.

„Cool! Was macht’n der Lernstress so?“
 

„Nerven, was sonst?“, lachend deutest du ihm an, dir zu folgen, während du durchs Wartezimmer und zurück in die Küche marschierst. „Und bei dir? Alles okay? Wasser oder Kaffee? Oder doch die Pepsi?“

Letztere ist nämlich immer noch da, wie dir der Blick in den Kühlschrank bestätigt. Du schnappst dir die gekühlte Dose und nimmst sie kritisch ins Visier. „Eigentlich isses echt Zeit, die endlich zu vernichten. Halbe, halbe?“
 

„Öhm...“
 

Die Dose herabsenkend, suchst du Blickkontakt. Alfred hat die Hände in die Taschen seiner College Jacke mit dem roten A auf der rechten Brustseite wandern lassen. Darunter trägt er ein dünnes, dunkles Kapuzenshirt. Er scheint, noch immer lächelnd, gedanklich etwas abzuwägen und dir fällt auf, dass er dir keine Antwort auf die ‚alles okay?’-Frage gegeben hat. Genau genommen hat er dir gar keine Antwort gegeben.
 

Irgendwas läuft hier falsch. Du redest zu viel oder er hasst Pepsi oder er mag dich Therapeutentöchterchen einfach nicht. Zur Not gleich alles zusammen...
 

„Hm?“, machst du gastfreundlich, stellst die vermaledeite Pepsi-Dose geräuschvoll auf die Anrichte und holst euch zwei Gläser aus dem Schrank. Der Verschluss knackt laut, Alfred tritt auch näher, du füllst aber erst mal nur dein Glas und schiebst ihm dann die Dose einladend ein Stückchen entgegen.

„Nimm dir einfach, wenn du magst. Sonst alles klar?“ Du wiederholst die Frage bewusst und seine Grübchen stechen härter hervor, als er wie auf Knopfdruck breiter lächelt. Es scheint eine Angewohnheit zu sein. Wenn man ihn nach seinem Befinden fragt, dann grinst oder lächelt er prinzipiell, selbst wenn ihm der Rest seiner Aura in den Rücken fällt.
 

„Jup, läuft! Mal so, mal so halt“, antwortet er schließlich fix und füllt sein Glas etwa bis zur Hälfte. Dann steht ihr beide in der stillen Küche und trinkt Pepsi, die nie und nimmer so gut schmeckt wie Coca Cola oder deine heißgeliebte Dr. Pepper Cola. Alle anderen Colavarianten sind doch eh nur was für Leute, die behaupten, normale Cola wäre was für Konformisten. Klar, genau wie Atmen oder Essen. Du magst diese Leute meistens nicht, weil jene, die du bisher kennen lernen durftest, die nervige Angewohnheit hatten, dich pseudointellektuell zuzuquatschen und dich mit ihrem Nischenwissen in die Gesprächsposition des Dummen zu drängen. Wenn sie nur reden möchten, um jemand anderen zu belehren, sollen sie doch einfach Lehramt studieren...!
 

Im Hintergrund ist nach wie vor das Pladdern der quicklebendigen Regentropfen zu hören und webt eine kaltkonstante Akustikdecke. Sie liegt in den Räumlichkeiten und überwuchert die unergründliche Stille zwischen euch. Die kräftige Woge, mit der der Schauer vorhin ausgebrochen ist, ebbt allmählich ab. Trotzdem wirkt es dreckig düster, wogegen weder der Deckenstrahler in der Küche noch im Flur etwas auszurichten vermag.
 

Es vergeht eine Minute, die das Zeitfenster von fünfen einzunehmen scheint. Alfred lässt indessen den Blick schweifen, so als sei er zum ersten Mal hier. Wie ein Kind, das seine neue Umgebung neugierig unter die Lupe nimmt und dich dabei großzügig ausklammert. Seine Finger haben ihren Jackentaschenunterschlupf verlassen und klopfen heimlich gegen die Anrichte. Eine dir unbekannte Melodie; das Schweigen gefällt ihm nicht.

„Das is’ voll strange, wenn man hier so steht und keinen Termin hat.“
 

„Kann ich mir vorstellen. Wie war denn die Geburtstagsparty?“, wechselst du ihm zuliebe das Thema – was deutlich in die Hose geht. Reflexartig zuckt seine rechte Hand zusammen, aber das dazugehörige Knirschen von Glas ist lediglich ein Produkt deiner Phantasie. Gleichzeitig reift sein Lächeln zu voller Größe heran und er verlagert mehr Gewicht auf die Anrichte, an der ihr lehnt.

„Ziemlich abgefuckt.“ Das Lächeln verliert nur bedingt an Spannkraft, als er einen tiefen Schluck Pepsi nimmt und dich nicht anguckt.
 

„Oh...Wieso?“
 

Jetzt schaut er aus, als hättest du ihn tagelang in ein Kellerverlies gesperrt. Seine Augen sind groß, blau und traurig, selbst wenn der Rest seines Körpers der negativen Emotionsflut den Kampf ansagt.

„Ach komm, du weißt schon...!“, flackert sein angeknipstes Elektrolichtlächeln.
 

Deine Augenbrauen verschieben sich skeptisch, denn nein, du weißt nicht, was du laut ihm wissen solltest. Und er trinkt lieber sein Glas aus, statt dir eine Erklärung zu liefern.
 

„..sorry?“, hakst du schließlich verwirrt nach. Was hast du hier verpasst? Du musst was verpasst haben. Alfred hat, im Vergleich zu der verhältnismäßig neutralen Begrüßung vorhin, plötzliche wieder totale Hemmungen in deiner Gegenwart und scheint weder ein noch aus zu wissen. Dabei wolltest du doch nur die Stimmung auflockern.
 

Sich auf die Unterlippe beißend, stellt er sein leeres Glas ins Spülbecken. Das Geräusch schallt unpassend über den Regen hinweg.

„Na du weißt doch, warum ich hier bin. Also kannste dir ja denken, wie der Abend gelaufen is’, wenn ich sag, ich hab’s abgefuckt...“ Er klingt wie jemand, der nach nichts und wieder nichts klingen will – erst recht nicht nach irgendeiner Gefühlsregung. Den Kopf in Richtung Wartezimmer drehend, prüft er, ob der Wolkenbruch zu genüge abgeklungen ist, um halbwegs trocken von hier zu verschwinden.
 

Du für deinen Teil begreifst, mit deiner Annahme von neulich goldrichtig gelegen zu haben: Er hat dir gegenüber Vorbehalte, weil er glaubt, du bist über alles informiert, was er sich in den Therapiestunden mühsam von der Seele redet. Zeit, das ins rechte Licht zu rücken.

„Ne, weiß ich nicht. Darf meine Mom mir auch gar nich’ sagen und ich frag sie auch nicht danach.“
 

Sein Kopf schnellt herum.

„Echt nicht?“
 

„Ne, echt nicht. Es ist nich’ so, als käm meine Mom abends nach Hause und während wir auf den Pizzaboten warten, erzählt sie mir mal eben locker flockig, was sie mit dir oder sonst wem so im Vertrauen bequatscht hat.“
 

Es ist erstaunlich: Du kannst regelrecht dabei zugucken, wie er sich emotional entfaltet. Da weicht erschreckend viel Anspannung aus seiner Mimik und seinen Muskeln, sein ganzes Ich erhebt sich, begradigt die Schultern und lässt die Knöchel knacken. Einer nach dem anderen, danach sind die Halswirbel dran und zu guter letzt streckt sich sein Geist, als habe er ein halbes Jahrhundert geschlafen und gähne die Müdigkeit hinfort.

Die Neutralität ist Dünger für Alfreds Selbstbewusstsein.

Wo auch immer sein Problem liegt, er mag es nicht, wenn fremde Leute darüber im Bilde sind und er redet auch definitiv nicht gerne darüber. Aber dass er Redebedarf hat, weiß er durchaus. Ansonsten hätte er sich nie zu einer Therapie entschlossen. Oder haben etwa seine Eltern die Entscheidung für ihn getroffen, mehr oder weniger mit seinem Einverständnis? Denn ohne die Mitarbeit des Betroffenen, ist Therapie relativ nutzlos. Da kann man als Außenstehender noch so sehr mit Engelszungen auf jemanden einreden. Wer sich sperrt und sträubt, bleibt stur auf einem Fleck sitzen.
 

Er hingegen kann jetzt sogar wieder lächeln, nicht gefälscht, sondern beruhigt. Sein „Na wenn das so is’...!“ klingt spitzbübisch, mit einem Spritzer Süße, und steckt deine Lippen ein weiteres Mal an.
 

„Ja! Und du brauchst es mir natürlich auch nicht zu sagen“, fügst du deinen letzten Sätzen zwinkernd hinzu. Irgendwie hegst du nämlich den Verdacht, weiterzubohren würde ihn lediglich dazu veranlassen, entweder sofort Reißaus zu nehmen oder dir alternativ dazu seine groben Schwierigkeiten vor die Füße zu kotzen und dich danach nie wieder sehen zu wollen. Beides ist keine schöne Vorstellung, um auseinander zu gehen. Euer Kennen ist ja ohnehin sehr vage. Du würdest es auch nicht für richtig halten, ihn jetzt nach seiner Handynummer oder einer Facebook-Freundschaft zu fragen. Er ist und bleibt ein Patient deiner Mutter und zwischen euch thront gerade ein unausgesprochenes ‚Du willst wissen, wieso er in Therapie ist, und er weiß, dass du es wissen willst, aber er ist (noch) nicht bereit, es dir zu sagen, weil ihr euch gar nicht kennt und er erst mal selber mit seinen Problemen zurecht kommen muss’.
 

Vielleicht hat er sogar schon mal schlechte Erfahrungen gemacht, als er jemandem gegenüber erwähnt hat, dieses oder jenes Problem zu haben und deshalb eine Therapie zu machen? Alles denkbar.
 

„Nee, mach ich dann auch nicht! Is’ echt peinlich.“ Sein verschämtes Lachen verdrängt das Prasseln des Regens und reißt großflächige Luftlöcher in die eben noch so stillstickige Atmosphäre zwischen euch.
 

„Ach was, das denkt man nur immer. Und so ganz unter uns: wenn das mit der Lernerei so weitergeht, sitz ich demnächst auch in so ’ner chicen Praxis wie der hier und muss wegen Burnout behandelt werden. Dieser Schulstress ist echt zum Kotzen!“ Uncharmant und offenherzig, wie du nun mal bist, sobald du mit jemandem näher ins Gespräch kommst, machst du die berüchtigte Finger-in-den-Mund-Geste. Zurecht, wie du findest. Wer hat denn bitte dieses dämliche Schulsystem generiert, in dem alle Klausuren stur hintereinander weg geschrieben werden müssen? Zudem wirst du ständig mit unangekündigten Tests und mündlichen Kurzabfragen gequält! Mittlerweile ist dein erster Gedanke beim Aufwachen: In welchem Fach versage ich heute am meisten und wo kann ich meinen Kopf gerade noch mal aus der Schlinge ziehen?
 

Das ist nicht lustig, sondern raubt dir regelmäßig den Schlaf. Kaum etwas ist hassenswerter, als sich notgedrungen aus dem Internet zu verabschieden, weil man gewissenhaft zu schlafen gedenkt – und dann vergisst einen das Sandmännchen. Oder irgendwas mit der körpereigenen Melatoninproduktion stimmt einfach nicht. Und falls es weder am Sandmännchen noch deinem Hormonhaushalt liegt, dann sind’s definitiv die Sorgen und Ängste um die Zensuren. Du bist ja eigentlich recht gut, aber du hast permanent den Eindruck, es gerade noch mal so mit Ach und Krach geschafft zu haben, was die Dinge entsetzlich anstrengend macht. Du weißt nicht, wann du das letzte Mal einen Test oder eine Klausur mit einem guten Gefühl abgegeben hast. Da ist immer nur dieses Gefühl, komplett versagt zu haben...
 

Übers Lernen hinaus zeigst du auch kein besonderes Engagement. Kein Sportkurs, nicht mal Schach, kein Geschichtsklub, kein Mathe-Ass-Verein, keine Chemikerversammlung mit Marcia und dem verpeilten, aber ziemlich relaxten Greg, neben dem ihr im Chemieunterricht sitzt, kein Physik-Club, kein Hauswirtschaftsclub, kein Botanikerclub, keine Schülerzeitung, kein gar nichts!

Lediglich am Jahrbuch machst du mit, aber das auch nur, weil allen Schülern der Abschlussstufe die Pflicht obliegt, sich in irgendeiner Form am Gemeinwohl zu beteiligen. Sei es bei der Mitarbeit am Jahrbuch oder bei der Organisation des Abschlussballs. Bevor du aber allen Leuten hinterher rennst und ihr Geld einsammelst, um dann mit anderen Schülern über eine dem Etat genehme Lokalität und das Catering zu streiten, hockst du lieber ein paar Stunden im miefigen Kabuff der Schülerzeitung und bastelst an dem Jahrbuch rum. All die faulen Säcke, die ihre Steckbriefe nicht zeitig an euch zurückmailen, haben es sich dann halt selbst zuzuschreiben, wenn ihr Foto gnadenlos mit einem blamablen Texten voller Falschinformationen abgedruckt wird. So!
 

Der Etat fürs Jahrbuch steht sogar schon fest und wird von den Deppen, die auch das Abschlussballgeld einkassieren, direkt miteingesammelt und dann über das Abschlusskonto verwaltet. Das Cover und die Seitengestaltung des Jahrbuchs ist etwas, worum sich die angehenden Grafiker in deiner Stufe nach allen Regeln der Kunst prügeln. Da hältst du dich auch fein raus. Du wirst einfach nur ein paar Textchen tippen und vielleicht schaffst du es mit etwas Glück, deinen senilen Stufenleiter zu überzeugen, auf deinem High School Diploma, also deinem Abschlusszeugnis, einen Vermerk über dein gewaltiges Interesse am journalistischen Schreiben zu verewigen. Das würde echt was hermachen! In Anbetracht deiner ungeheuren Eigeninitiative kannst du froh sein, wenn sie dich überhaupt an irgendeinem College nehmen...

Was hast du nur falsch gemacht im Leben, sämtliche Motivation für die Zukunft schon vor dem 20. Lebensjahr verloren zu haben? Es ist ja nicht so, als hättest du keine Interessengebiete. Es ist nur so, dass dir kein Interesse groß genug erscheint, um dich jahrzehntelang daran zu binden. Wie bewerkstelligen es all die Menschen da draußen, Tag ein und Tag aus denselben Beruf auszuüben? Und schlimmer noch: wenn sie sich umorientieren, woher nehmen sie wiederum die Courage dazu?
 

Ob man dir deinen Unmut inklusive negativer Gedankenflut an der Nasenspitze ablesen kann? Alfred jedenfalls starrt dich an, als hättest du nicht mehr alle Tassen im Schrank. Seine Augen haben eine seltsam glasige Tiefe und bevor du noch etwas sagen kannst, drückt er sich im Zuge einer raschen Bewegung von der Anrichte ab und wirft erneut einen Blick zum Fenster hinüber.

„Ja, das Lernen kann einem echt auf’n Sack gehen. Aber hey, wenn’s zu viel wird, gönn dir mal ’nen Tag Pause. Dann klappt das meistens am nächsten Tag wieder besser. Du packst das schon! Is’ doch dein letztes Jahr! Und danach kannst du machen, worauf du Bock hast, hehe! Das is’ doch geil!“ Er schaut dich an, ohne dich richtig anzuschauen und schenkt dir eine anspornende Daumen-hoch-Geste. „Ich geh dann mal. Regnet ja so gut wie nich’ mehr.“
 

„Yeah...“ Zukunft ist offenbar nichts, was ihm Kopfzerbrechen bereitet. Diese Einstellung beneidend, geleitest du ihn zur Türe. Er scheint es plötzlich wieder extrem eilig zu haben und du hast erneut die ungute Vermutung, irgendwas falsch gemacht zu haben. Kein Wunder, dass deine langlebigsten Freundschaften entweder Internetfreundschaften oder Freundschaften mit Leuten wie Marcia sind. Letztere ist ja nicht gerade zimperlich und du hast anscheinend ein unschlagbares Talent dafür, Menschen ungewollt auf die Füße zu treten oder sie anderweitig zu vergraulen...
 

Als du kurz darauf wieder in der Küche stehst, fällt dir zu allem Überfluss auch noch ein, dass Alfred dir nicht mal verraten hat, wie denn seine Klausuren gelaufen sind. Na super! Wie macht er das bloß, im einen Moment noch da zu sein und im nächsten schon wieder weg?
 

Seufzend spülst du eure benutzten Gläser und beschließt, dass es höchste Zeit ist, mal wieder einen deiner sinnfreien One Shots zu beenden. Am besten, du durchkämmst nachher mal die kink memes zu Sherlock, Supernatural und Hannibal. Eigene Ideen hast du eh keine und irgendwo in diesem request-Sumpf wird es was geben, das nach sinnlosem Sex verlangt und lauthals deinen Namen ruft. Du hörst es doch quasi bis hier hin und so 2-3 Seiten PWP müsstest du trotz KreaTief getippt kriegen. Sex zu schreiben ist ein Leichtes für dich. Wort um Wort um Wort – und fertig ist der Akt. Wenn das mal im echten Leben genauso wäre...
 

Mag ja sein, dass die Beziehung mit deinem Ex unwahrscheinlich kurz war, aber du hast trotzdem größere Erwartungen an den Sex gestellt. Irgendwas stimmt offenbar wirklich nicht mit dir. Nicht nur dein Gespür für deine Mitmenschen scheint irgendwie gravierend beeinträchtigt, sondern auch dein Empfinden für dein eigenes Ich steht nicht gerade in voller Blüte. Vielleicht solltest du dir das mit der Therapie doch noch mal ernsthaft überlegen. Es ist doch nicht normal, dass man fiktionalen Sex aufregender findet als echten, oder?
 


 

Ende Teil IV
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kleine Info für diejenigen unter euch, die Team America: World Police nicht kennen:
Das ist ein Film von Trey Parker und Matt Stone (den kreativen Köpfen hinter South Park), der eine ziemlich lange, abgeschmackt dumme Sexszene beinhaltet. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück