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Angel of Ashes

Wenn Engel die Welt beherrschen
von

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3015

Unwirklich. Kalt. Einsam.

So war die Welt im Jahr 3015. Eine Welt, in der die Menschheit nicht mehr zählte. In der jeder um sein Überleben kämpfen musste und ein Stück Brot und eine überlebte Nacht alles bedeuten konnte.

Die Kontinente hatten sich in ein Chaos verwandelt. Städte existierten nicht mehr. Sogar die Ruinen der einst übermächtigen Wolkenkratzer, Tower und Metropolen, die noch Erinnerungen hätten wecken können, waren unwiderruflich ausgelöscht worden. Jegliche Existenz der Vergangenheit von der Erde getilgt.

Sah man auf die Geschichte der Menschheit zurück, hätte man ahnen müssen, dass es einen zweiten Weltuntergang geben würde, geben musste. Eine zweite Sintflut, nur schrecklicher und verheerender und leider nicht so biblisch und gerecht, wie man hätte meinen können. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich Gott gegen die Erde und gegen die Menschen gewandt. Die wenigen, die überlebt hatten, wussten dass es keinen besseren Zeitpunkt hatte geben können. Die Erde war kurz davor gewesen, von einem schrecklichen Atomkrieg verzehrt zu werden, weil der Machthunger aller Nationen zu groß geworden war.

Natürlich wären auch diesem Ereignis Menschen zum Opfer gefallen. Jedoch hätte es auch keine einziges Tier, keine Pflanze und kein Tropfen Wasser mehr gegeben. Jegliches Leben wäre ausgelöscht gewesen.

Das hatte Gott nicht gewollt. Wenn die Menschen den Tod suchten, sollten sie ihn bekommen, aber nur sie und sonst niemand. Sie hatten den freien Willen von ihm bekommen und ihn nicht zu nutzen gewusst. Somit hatten sie ihr Recht auf Leben verwirkt.

Dann war es über die Welt hereingebrochen. Sie waren gekommen.

Er hat sie geschickt.

Seine Engel.

Sheena

Die Fackeln, die sie um die kleine Zeltstadt aufgestellt hatten, erleuchtete die schwarze Nacht nur schwach. Seitdem es keine Laternen und Stadtlichter mehr gab, die die Nacht wie von selbst zum Tag werden ließen, war es kaum noch möglich, ohne ein Feuer auszukommen. Elektrizität gab es gar nicht und es war immer wieder eine Herausforderung, Flammen entstehen zu lassen.

Auch wenn sie nur wenige Fackeln zur Verfügung hatten und ihr Kerosin sich dem Ende neigte, empfand Sheena das Feuer um ihr Lager doch als einen kleinen Trost. Es schien die dunkle, grausame Welt von den Menschen in den Zelten abzuschirmen. Auch wenn die Realität so aussah, dass sie viel leichter zu finden waren, solange die Flammen züngelten.

Nichts desto trotz brachte das Feuer irgendwie auch Wärme in Sheenas Herz. Ein kleiner warmer Schimmer in dem ansonsten so trostlosen Alltag.

Die Tage und Nächte unterschieden sich nicht groß von einander. Die Gefahr gefunden zu werden bestand zu jeder Tageszeit und die kleine Gruppe, die aus 20 Frauen, wenigen alten Männern und sechs Kindern bestand, hatte sich damit abgefunden, ständig in der Gewissheit zu leben, dass man sie irgendwann finden würde. Das sie die Gruppe finden würden.

Eigentlich hatten sie bereits resigniert, gestand Sheena sich ein und sah sich die schlecht erhaltenen Stoffzelte an, die sie aus irgendwelchen Fetzen und Ästen errichtet hatten. Alles was sie noch hatten finden können.

Sie seufzte.

„Wann geht die Sonne wieder auf, Shee?“

Ein kleines, blondes Mädchen von etwa sieben Jahren, kam aus einem der provisorischen Zelte gekrochen und krabbelte in Sheenas Schoss. Sie trug nur ein altes, abgewetztes Kleidchen in einen verblichenen gelb und viel zu große Leggins, die Sheena vor einiger Zeit einem toten Kind ausgezogen hatte. Eine Tat, die das Überleben sicherte, mehr nicht. Trotzdem konnte Sheena die Albträume nicht abstellen. Die vielen Bilder, die sich ihr des Nachts bemächtigten.

Die Kleine kuschelte sich an Sheena, da die Nächte kalt waren und Körperkontakt notgedrungen das einzige war, was sie einander noch geben konnten. Der kleine Körper tröstete die junge Frau ebenfalls ein wenig. Selbst trug sie auch zusammengetragene Kleidung, die sie mit Seilen an ihrem abgemagerten Körper hielt. Die dunklen Hosen, die sie übereinander trug, hatte sie vor dem Feuer ihres Hauses retten können, der schwarze Rollkragenpullover und die abgerissene, braune Jacke hatten ihrer Mutter gehört.

Karla hatten die Gefallenen vor Monaten gefunden, als sie sich nach einer Auseinandersetzung zu weit vom Lager entfernt hatte. Sheena hatte ihr folgen wollen, als sie plötzlich das so typische Rauschen der Schwingen vernommen hatte, doch es war zu spät gewesen ihr Mutter zu warnen. Keith hatte, mit seinen 70 Jahren, unmenschliche Kräfte entwickelt, um sie zurück zu halten und zum Schweigen zu bringen, während sie alle zusehen mussten, wie eins dieser Monster ihre Mutter auslöschte.

Das Einzige, was Sheena von dem Tag geblieben war, waren Karlas Schreie gewesen, die immer noch in ihrem Kopf widerhallten.

„Nur noch wenige Stunden, Amara. Dann wird uns die Sonne wieder wärmen.“

Sheena küsste die Kleine auf die schmuddelige Nase, die übersäht war mit Sommersprossen, dann verstärkte sie ihre Umarmung um das Kind so gut wie möglich zu wärmen.

Für ein großes Feuer, hatten sie nicht mehr die Mittel. Licht war viel wertvoller, daher sparten sie mit dem Heizen.

„Kannst du etwas für mich singen?“

Sheena lächelte auf das Mädchen hinab. Ständig bat man sie zu singen, denn es schien der Gruppe Hoffnung zu schenken, wenn ihre glockenhelle Stimme längst vergessene Lieder wieder erweckte. Das zuviel Lautstärke gefährlich war, übersah man dann gerne.

„Hast du denn einen bestimmten Wunsch?“

Das Gesicht der Kleinen erhellte sich.

„Das Lieblingslied meiner Mama, sie hört uns bestimmt von da oben aus zu.“

Sheena erschauerte und wagte nicht, dem Blick von Amara zu folgen. Sie hatte aufgegeben daran zu glauben, dass die Menschen in den Himmel kamen, um an Gottes Seite die Ewigkeit zu verbringen. Doch Amara war fast zehn Jahre nach dem Feuer der Engel geboren worden, sie wusste nicht, wie es vorher gewesen war. Dass Mütter nicht bei einer einfachen Geburt starben, weil sie de Kraft für die Strapazen nicht mehr besaßen. Sheena hatte neben Amaras Mutter gekniet und ihre Hand gehalten, während sie die letzten Atemzüge tat, in der Gewissheit, dass Gott keinen Platz für sie im Himmel haben würde.

Sheena selber war bereits 10 gewesen, als Gott sich gegen die Menschen wandte. Sie erinnerte sich noch an ihre große Verwirrung und Angst, als diese wunderschönen Gestalten vom Himmel gestürzt waren, wie ein Wunder um wenig später die Menschheit fast vollständig auszulöschen. Damals hatten Engel für Sheena jegliche Faszination verloren und mit ihren jetzt 26 Jahren hatte sie gelernt, die geflügelten Wesen zu hassen. Ihre Schönheit, ihre Gestalt, das Rauschen ihrer Schwingen und das Summen, welches sich jedes Mal über das Land legte, wenn sie kamen. Wie ein gigantischer Wespenstaat, nur millionenfach gefährlicher.

Sie atmete einmal tief durch und begann eine ruhige, sanfte Melodie zu summen, die dann in irische Worte überging. Sheena selber war ebenfalls Irin von Geburt- ihre Mutter war eine deutsche Studentin gewesen, die ihre große Liebe in Dublin kennen gelernt hatte- und daher gingen ihr die Worte wie Honig über die Lippen. Das Mädchen in ihren Armen entspannte sich sichtlich und auch Sheena spürte, wie das Lied sie wärmte. Amara hatte ihre Mutter nicht kennen gelernt, aber Sheena erfand immer wieder neue Geschichten für das Kind und dabei hatte sie ihr auch einmal erzählt, dass ihre Mutter dieses Lied geliebt hatte.

Irische Volkslieder hatten den Vorteil, dass ihre Strophen endlos ausgedehnt werden konnten. Als die ersten Sonnenstrahlen nicht mehr fern waren, schlummerte Amara tief und fest und sie wusste, dass auch alle anderen sie gehört hatten. Sie hatten eine weitere Nacht überlebt und nun konnte der Tag kommen, eine weitere Etappe ihrer Reise. Eine Reise, bei der sie das Land durchquerten um Wege und Mittel zu finden zu überleben, ohne tatsächlich einen Grund dafür zu haben.

Denn es war nichts mehr übrig.
 


 

Der negative Effekt des Tages war die unerbittliche Hitze der Sonne. Nur wenig Vegetation war übrig geblieben und die wenigen Bäume spendeten kaum Schatten. Die Welt, die sie bisher durchquert hatten, war nur noch eine Wüste, mit wenigen, kargen Oasen. Peter hatte gesagt, dass ihn die Landschaft der ehemaligen USA an die Nullarbor Ebenen in Australien erinnerten, seiner Heimat. Er war mit seinen Jahren noch der Jüngste der Männer.

Sheena kannte sich mit Pflanzen nur insoweit aus, dass sie wusste ob man sie essen konnte oder nicht. Das meiste hatte sie in Selbstversuchen gelernt.

Eines Tages, wenn die Menschen nicht mehr waren, dann würde die Erde wieder ein Paradies sein. Ein Paradies, in der es nur noch Tiere gab und Menschen nur ein längst vergessener Traum. Sheena blinzelte in die Sonne. Manchmal wünschte sie sich das so sehr, doch wenn sie dann ihre Freunde betrachtete, fiel ihr das nicht mehr so leicht.

Es war Mittag und so heiß und trocken, dass ihre Lippen bereits rissig wurden. Sie trug die Jüngste aus der Gruppe auf dem Rücken. Mira war erst drei und die Hitze setzte ihr besonders zu. Ihre Mutter befand sich zwar ebenfalls in der Gruppe, aber sie war viel schwächer als Sheena und ihr machte es nichts aus, hin und wieder den Kindern die Strapazen zu erleichtern.

Nur wenige Kinder überlebten und noch weniger Kinder wurden geboren. Es gab kaum noch Männer auf der Welt.

Sheena wusste nicht einmal, wann sie das letzte Mal einen gesehen hatte, der unter 50 Jahre alt gewesen war. Und heute war 50 ein stolzes Alter. Sheena glaubte nicht, dass sie dieses Alter jemals erreichen würde. Keiner von den jungen Überlebenden würde das.

Sheena hatte sich ein wenig die Rolle der Beschützerin aufgebürdet. Sie war von den 20 Frauen noch die Jüngste und Stärkste und sie hatte in diesem Krieg gelernt, eine Waffe zu benutzen. Sie besaß zwar nur ein altes Langmesser, aber zur Jagd und zum Kampf gegen wilde Tiere eignete es sich noch.

Seitdem führte sie die Gruppe quer durch das Land, auf der Suche nach Lebensmitteln und Wasser im Wettstreit mit dem Grauen aus den Lüften und den Entbehrungen dieser Zeit.

Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einfach aufgeben. Wie die wenigen, die ihr in der Gruppe noch geblieben waren. Die Alten wünschten sich meistens so sehr den Tod, dass Sheena alle Kraft brauchte um sie dazu zu bringen, dass sie weitergingen und die meisten Frauen waren in eine dumpfe Lethargie gefallen.

Aber wer kann ihnen das auch übel nehmen, dachte Sheena. Sie waren alle älter als 40 und hatten ihre Männer, Söhne und Töchter sterben sehen, meist auf grausame und unbarmherzige Art. Sie waren abgestumpft und schienen nur darauf zu warten, dass die Gefallenen auch sie fanden.

Sheena hatte sich dem auch oft genug hingeben wollen. Was hatten sie denn auch für eine Zukunft. Es gab nur noch eine Hand voll von ihnen, die durch die Welt streiften und von einem Tag zum anderen lebten. Dabei war sich Sheena nicht einmal sicher, ob es noch weitere Menschen wie sie gab. Sie hatte seit Jahren keine mehr gesehen, aber sie hoffte darauf. Der Gedanke, dass es sonst niemanden mehr gab, war so trostlos, dass sie sich sicher auch aufgab, wenn sie diesen zugelassen hätte.

Stattdessen blickte sie nach vorne, vergaß ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche und dachte an Kinder wie Mira, die vielleicht doch eine Zukunft haben konnten, wenn sie nur überlebten. Hatte nicht jedes Böse irgendwann ein Ende? Wenn Gott ein Einsehen hatte und entschied, dass sie genug gelitten hatten?
 

Sie wanderten nun schon seit dem Morgengrauen und hatten nicht ein einziges Mal etwas Grün gesehen, geschweige denn Wasser und ihr letzter Fund lag fünf Tage zurück. Sheena wusste, dass es brenzlig wurde. Sie sah sich nach ihren Freunden um. Das Bild gefiel ihr nicht. Die Gruppe verlief sich auf einem Kilometer, die Schwächsten quälten sich mehr vorwärts, als das sie noch liefen und Sheena schaffte es einfach nicht mehr, sie zusammenzuhalten.

Sie blieb stehen und schirmte die Augen vor der Sonne ab. Hier zu rasten, mitten in der Sonne auf weiter Ebene ohne Schutz war gefährlich, aber sie befürchtete, dass einige der Älteren bald zusammenbrechen würden. Noch war sie nicht so gefühllos, dass sie das zulassen konnte. Wenn die Welt nur noch eine Handvoll Menschen übrig gelassen hatte, wie konnte sie da nach dem Recht des Stärkeren leben? Diesen Punkt hatte Sheena noch nicht erreicht.

Sie ließ die Gruppe halten und befahl, die Zelte zu errichten. Darunter war es zwar brütendheiß, aber die Sonne würde nicht mehr so gnadenlos auf sie herunter scheinen und wenn sie dann endgültig unterging, würde sich die Wärme für die Nacht halten.

Sie war nicht glücklich darüber, den Marsch jetzt schon beenden zu müssen, aber sie musste an die anderen denken. Auch wenn die meisten es nicht zeigten, sie waren froh, als Sheena ihnen bedeutete, zu halten.

Sheena gab Mira in die Obhut ihrer Mutter und half die provisorischen Zelte zu errichten, dann überprüfte sie, in welcher Verfassung sich die Gruppe befand. Das wenige Wasser, das sie noch besaßen, wurde portioniert herum gereicht.

Sie alle waren erschöpft, aber einige wenige schafften es gerade noch, sich in den Staub fallen zu lassen und Sheena machte sich große Sorgen.

„Wie geht es dir Ava?“, sie kniete sich neben eine etwa 50- jährige Frau, die trotz der Hitze und des Schweißes aschfahl im Gesicht war. Ava versuchte zu lächeln, doch es glich einer Grimasse in dem hohlwangigen Gesicht, mit dem viel zu früh ergrauten Haar. Die grauen Augen schienen erblasst und stumpf. Diese Frau war eine Kämpferin gewesen, diejenige die Sheena und ihre Mutter aufgenommen hatte, vor so langer Zeit. Als die Gruppe noch über weit mehr als den knapp 35 Menschen umfasst hatte.

Fünf Jahre nach der Sintflut hatten die Gefallenen sie alle in der Nacht überrascht. Ava hatte mit ihrem Mann versucht zuerst die Alten und Kinder in Sicherheit zu bringen, doch sie hatte einen hohen Preis bezahlt. Sean war verbrannt, als sie ihn noch an der Hand hielt. Seitdem war sie nie wieder richtig zu sich gekommen. Noch heute schrie sie oft im Schlaf.

„Es ging mir schon besser, Shee, Aber ich halte es aus. Ich muss nur rasten und etwas schlafen.“ Sheena öffnete ihre Feldflasche und setzte sie bei Ava an, die sofort das Gesicht abwandte: „Nein, dass ist dein Wasser, ich habe auch noch ein bisschen.“ Sie versuchte nach ihrer Flasche zu greifen, die an ihrer Hüfte hing, doch Sheena hielt ihre Hand fest.

„Du brauchst mehr davon als ich, also bitte sei vernünftig und trink.“

Zaghaft setzte Ava an und trank in langsamen, kleinen Schlücken. Sie trank bewusst nicht viel, aber Sheena wusste, dass selbst kleine Mengen helfen konnten.

Sie strich der Älteren über die Schulter und sah sich nach den Kindern um. Sie waren alle unter ein Zelt gekrochen, da die Erwachsenen meist keine Geduld für ihre Belange hatten. Nur Sheena schaffte es immer, Zeit für sie aufzubringen.

Die Kleinen waren alle bereits mehr oder weniger eingeschlafen und sie entspannte sich etwas. Die Gruppe war am Ende ihrer Kräfte, aber Sheena noch lange nicht.

Sie legte wieder ihre, aus Flicken gebundene Tasche um und zog ihr Messer. Wenn sie alleine unterwegs war, war es immer besser die Waffe in der Hand zu haben. Sie gab ihr Mut und Kraft. Sheena hatte nie behauptet, dass nicht auch sie Angst vor den Gefahren dort draußen hatte.

„Shee? Was tust du?“

Norman, der ebenfalls schon über 60 war, kam aus seinem Zelt gekrochen. Seine blauen Augen waren wässrig und wirkten in seinem hageren, ungepflegt bärtigen Gesicht noch übermüdeter. Sheena vermutete, dass er langsam erblindete, er dies aber für sich behielt. Seine Bewegungen wurden immer fahriger, während sein Gehör stetig besser wurde. Norman hörte die Engel oft weit vor ihr selbst.

„Ich geh noch ein Stück und such nach Wasser. Vielleicht ist es nicht mehr weit.“ Sie lächelte um ihn aufzumuntern. „Ich werde zurück sein, bevor die Sonne untergeht.“

„Pass bitte auf dich auf. Ohne dich schaffen wir es nicht.“

Ein Schmerz durchzuckte sie und sie fühlte sich einsam. Wenn ihre Mutter jetzt hier gewesen wäre, hätte sie Norman gescholten, weil er so kraftlos und tatenlos war. Doch Sheena konnte das nicht. Sie hatte Verständnis, soviel Geduld, aber sie war alleine mit der Last dieser Menschen und sehr oft wünschte sie sich, jemand würde ihr einen Teil der Bürde abnehmen. Sie wurde ihr oft einfach zu viel. Sofort bekam Sheena ein schlechtes Gewissen. So durfte sie nicht denken.
 


 

Sheena lief einige Meilen nach Norden ohne auch nur die Spur von Wasser zu finden. Erst als ihr bewusst wurde, dass sie die Sonne zu ihrer Linken ließ, machte sie sich auf den Rückweg. Sie war eigentlich zu spät dran, aber ihre Angst um die Gruppe hatte sie voran getrieben. Wenn sie nicht bald auf eine Oase stießen, würden sie nicht nur verdursten sondern auch verhungern. Viel Dörrfleisch war nicht mehr übrig und Sheena vermutete auch, dass einige der Älteren Skorbut bekamen. Sie sprachen teilweise nicht mehr oder nur durch halb geschlossenen Mund, damit niemand sehen konnte wie schlecht es ihnen ging.

Bei den Oasen wuchs oft ein wenig Grünzeug und Tiere sammelten sich ebenfalls dort, um zu saufen.

Sie fuhr sich mit dem Arm über die Stirn, da ihr der Schweiß in die Augen lief. Wie oft wünschte sie sich ein Bad, aber diesen Luxus hatte sie schon so lange nicht mehr genossen, dass sie vergessen hatte, wie sich warmes Wasser anfühlte. Jetzt hätte ihr sogar altes, brackiges Wasser gereicht.

Die junge Frau beschleunigte die Schritte, als sie plötzlich ein glucksendes Geräusch vernahm. Irritiert drehte sie sich im Kreis, um die Quelle auszumachen. Normalerweise war außer dem pfeifenden Wind nichts zu vernehmen.

In einiger Entfernung sah sie kleine Schatten am Horizont zwischen knorrigen, fast blattlosen Bäumen entlang hasten. Wieder kam das Geräusch in einem Echo bei ihr an und der Schatten wurde immer kleiner und kleiner. War das etwa möglich?!

Automatisch verfiel Sheena ins Laufen und folgte den winzigen Punkten, die sich von der untergehenden Sonne abhoben. Wenn sie sich nicht irrte, liefen dort vor ihr eine Gruppe von Straußen – oder andere Vogelähnliche Tiere- und da wo die Strauße hin liefen, dort konnte es nur Wasser geben.

Sie wusste nicht, wo sie die Energie hernahm, aber sie lief noch hinter den schnellen Vögeln her, als die Sonne bereits die letzten Strahlen über das Land schickte. Dann war es dunkel und bis auf die Sterne, hatte sie nur noch das regelmäßig Gackern der Tiere vor ihr als Orientierungspunkt.

Sheena hoffte, dass die Gruppe in Sicherheit und ruhig blieb, während sie noch immer hinter den großen Vögeln herlief.

Wie lange sie wirklich gelaufen war, konnte sie am Ende nicht sagen, aber plötzlich spürte sie, wie sich der Boden unter ihr veränderte. Statt dem stetigen Trommeln ihrer Stiefel auf trockenen, teils rissigen Lehmboden unter ihr, wurden die Geräusche dumpf und es raschelte und knisterte um sie herum.

Gras! Das konnte nur Gras sein. Trocken und fast ausgedörrt, aber solange es noch existierte, musste es eine Quelle in der Nähe geben.

Sie musste einen Freudenschrei unterdrücken, da sie die Vögel nicht erschrecken wollte. Stattdessen verlangsamte sie ihre Schritte, um kaum Laute von sich zu geben. Sie brauchte nicht nur das Wasser, sondern wollte auch einen der Vögel töten. Ein großer Strauß, konnte ihnen viel Fleisch bieten.
 

Sheena hatte Glück gehabt und innerhalb kürzester Zeit einen wohlgenährten Strauß töten können. Sie vermutete, dass die Steppe langsam ein Ende finden musste, wenn es den Tieren so gut ging. Sie legte eine Hand auf das weiche Gefieder des Vogels, dem sie mit einem Dolchstoß ins Herz das Leben genommen hatte. Sie hatte stets Respekt vor jedem Lebewesen und so dankte sie dem Strauß für das, was er ihr gab und entschuldigte sich für das, was sie ihm genommen hatte.

Besudelt vom Blut des Vogels, weil sie ihn auf einen Baum gezogen hatte, und dem ihren, weil sie mit ihm hatte kämpfen müssen damit er nicht entkam, war sie dann in das große Wasserloch gesprungen, an dem sie die Strauße gefunden hatte.

Dort oben im Baum würde ihr nun erstmal kein Raubtier ihre Beute abspenstig machen und Sheena hatte Zeit, ihre Freunde hierher zu führen. Die Nacht war zum Wandern wesentlich besser geeignet und sie war bereits seit Stunden fort, somit hatten sich die anderen von den Strapazen erholen können.

Sie blickte sich noch einmal in der kleinen, aber sehr grünen Oase um. Hier konnten sie eine Weile bleiben und die dichten Büsche und Bäume boten genug Schutz.

Frisch und erholt durch ihren Erfolg, machte sie sich auf den Weg zurück ins Lager.
 

Nachdem sie sich an dem alten Kompass ihres Vaters, eines der wenigen Relikte, die sie aus der alten Zeit noch besaß, orientiert hatte, lief sie so schnell sie ihre Beine trugen. Sie vermutete, dass sie in diesem Tempo, wenn sie es denn bei behalten konnte, in etwa zwei bis drei Stunden wieder zu ihren Freunden stoßen würde.

Beschwingt von der Freude über ihren Fund, schaffte sie es sogar noch früher zurück zu sein. Als sie die schwachen Feuer des Lagers am Horizont ausmachen konnte, überkam sie eine solche Erleichterung, dass alle wohlauf waren, dass sie einen Endspurt einlegte.
 

Doch je näher sie kam, desto mehr spürte sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie vernahm Schluchzer und ängstliche Kinderstimmen.

Sofort überkam Sheena ein schlechtes Gewissen. Hoffentlich weinten sie nicht wegen ihr, sie hatte niemanden Sorgen machen wollen. Aber angesichts dieser Neuigkeiten, würden sie wahrscheinlich nicht lange wütend auf sie sein.

Kira, eine der ältesten Kinder entdeckte sie als erste.

„Shee!“

Sie kam ihr durch die Fackeln entgegen und warf sich ihr schluchzend in die Arme.

„Gott sei Dank, bist du wieder da.“

Carlos und Lilo, ein altes Ehepaar, welches zuletzt zu ihnen gestoßen war, kamen ihr ebenfalls entgegen.

Schuldbewusst drückte Sheena die Kleine in ihren Armen fester an sich.

„Es tut mir Leid.“ Sie schob die Kleine ein wenig von sich und strahlte sie und die Umstehenden an.

„Aber ich bin fündig geworden! Etwa 3 Stunden von hier gibt es eine Oase.“

Erst jetzt nahm sie war, dass ihre Nachricht nicht den gewünschten Effekt hatte und wenig später die ganze Gruppe vor ihr stand, teils mit tränennassen Gesichtern.

Sheena runzelte die Stirn.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich etwas verpasst habe.“

Sie sah sich um, wartete auf eine Erklärung, doch es schien niemand geneigt, ihr zu antworten.

Dann lief es ihr eiskalt den Rücken herunter und ihr Herz tat einen Satz.

„Wo ist Ava?“, der Ton ihrer Stimme wurde wenige Nuancen schriller.

Sie riss sich von Kira los und schob sich an den anderen vorbei in den Kreis des Lagers, doch die Zelte waren alle leer. Sie wandte sich wieder an die Gruppe.

„Was ist geschehen?“ Sie erkannte an den Gesichtern ihrer Freunde, dass sie sie einschüchterte.

Frank, ein pensionierter General der US Airforce, der noch viel von seiner ehemaligen Autorität besaß, nahm sie sanft am Arm und führte sie aus dem Lager hinaus. Sie wollte erst protestieren, doch dann sah sie ihn.

Ein Körper, umringt von Steinen und geehrt durch ein kleines Kreuz aus verdörrten Ästen, zusammengebunden durch ein Stück Stoff. Sie hatten Ava nicht begraben, ganz so wie sie es seit Jahren nicht taten. Wenn ein Mensch ging, übergaben sie ihn an die Natur, sowie sie sich von ihr bedienten.

Sheena schluckte und wandte das Gesicht ab. Sie konnte sich das nicht ansehen. Dies war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert wurde, aber leichter war es trotzdem nie.

„Wie ist es geschehen?“, fragte sie Frank leise, ohne ihm ins Gesicht zu sehen.

„Sie ist einfach nicht mehr aufgewacht. Ich denke, sie ist ziemlich schnell gestorben.“ Frank legte den Arm um ihre Schulter. „Sie hatte einfach keine Kraft mehr.“

Sie nickte, schüttelte seine tröstenden Arme ab und ging dann, ohne einen weiteren Blick auf das Grab zu werfen zurück zu der Gruppe. Die wenigen Schritte sagte sie sich immer wieder, dass dies doch der beste Tod war, wenn es etwas Gutes an ihm geben konnte.

„Brecht die Zelte ab, wir laufen heute noch einige Kilometer. Ich habe eine Oase gefunden, wo wir genug zu Essen und Trinken finden um dort ein wenig zu bleiben und zu rasten.“

Das bald auch Raubtiere auf den Körper aufmerksam werden würde, brauchte sie nicht auszusprechen.

Wer jetzt erwartete, dass wenigstens ein einziger schockiert war, weil Sheena nicht weiter trauerte, der lag falsch. Der Tod war ein allgegenwärtiger Gefährte geworden und jeder litt auf seine Weise darunter, wenn er einen Kameraden verlor. Nichts desto Trotz musste an die Lebenden gedacht und jegliche Trauer schnell überwunden werden.

Das Einzige, was Sheena sich trotz dem Schicksal der Menschen bewahrte war, ein kleines Gebet gen Himmel zu sprechen, wenn einer von ihnen starb. Vielleicht hörte Gott hin und wieder doch noch hin, wenn ein Mensch mit ihm sprach.
 

Sie erreichten die Oase noch vor Morgengrauen und die, die noch Kraft besaßen, halfen Sheena den Vogel aus dem Baum zu ziehen und ihn zu verarbeiten. Alle anderen errichteten die Zelte, füllten Flaschen und badeten.

Eine Gelassenheit und Freude machte sich breit, wie lange nicht mehr und erfüllte sie alle mit neuer Lebenskraft.

Als sich alle gewaschen, satt getrunken und gegessen hatten, versammelten sie sich um ein kleines Lagerfeuer, welches sie aus dem trockenen Holz hatten errichten können. Ihnen war zum ersten Mal wieder richtig warm und sie waren glücklich.

Schon bald wollten sie, dass Sheena für sie sang. Doch statt etwas Fröhliches zu singen, stimmte sie ein Klagelied an. Sie wollten Ava gedenken und ihr wünschen, dass sie an einem besseren Ort war. Für Sheena war das Lied ein Trost. Es erfüllte sie und bekämpfte die leisen Schuldgefühle, die sie jedes Mal überkamen, wenn jemand aus der Gruppe starb. Sie fühlte sich für alle verantwortlich, auch wenn der Tod normal geworden war.

Sie erhob die Stimme und hoffte, dass Ava sie hören würde. Und nicht jemand anderes.

5 Engel

Fast die ganze Gruppe schlief lange. Sie hatten keinen Marsch vor sich und waren nicht in Eile und so konnten sich gerade die Alten endlich wieder ein wenig ausruhen. Nur Sheena war bereits auf.

Nach einem ausgedehnten Bad, hatte sie zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ihr Spiegelbild betrachtet. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Auch Karla hatte diese fast schwarzen Haare gehabt, in denen sich immer ein rötlicher Schimmer verirrt zu haben schien. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod, waren ihre Haare jedoch noch lang und gesund, während Karlas Haare stoppelig kurz und spröde gewesen waren.

Ihre ebenmäßigen Züge mit der geraden Nase und dem vollen Mund hätten früher einmal als hübsch gegolten. In ihrem mageren Gesicht wirkte jedoch alles viel zu groß und forsch, auch ihre grünen Augen wirkten zu intensiv und fast unheimlich. Sheena seufzte und berührte die Wasseroberfläche um ihr Spiegelbild verschwinden zu lassen. Heute galt das Aussehen nichts mehr. Für wen auch?!

Sie erkundete ein wenig die Gegend und was sie in der Nacht nicht wirklich hatte sehen können war, dass die Oase im Schutze eines kleinen Gebirges lag. Das Wasserloch wurde scheinbar von einer Quelle gespeist, die aus den Felsen kam. Die Gruppe lief durch die endlosen Weiten der ehemaligen USA, das wussten sie, aber Orte und andere Anhaltspunkte dafür, wo sie sich befanden, gab es nicht. Es war alles dem Erdboden gleich gemacht worden, somit war dieses Gebirge vielleicht erst nach der „Sintflut“ entstanden. Außerdem vermutete sie, dass die Kontinente mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr so existierten, wie sie es einmal gelernt hatte.

Vielleicht befanden sie sich ja nicht mehr in Amerika. Wer wusste das schon.

Sie folgte der felsigen Wand mit den Augen. Das Gebirge zog sich in die Länge, sodass sie es wahrscheinlich nicht umgehen konnten, sondern passieren mussten. Für einen gesunden Menschen, war dies kein Problem. Für die Alten und Schwachen würde es zu einer Tortur werden.

Sheena seufzte leise und machte sich auf den Weg zurück zum Lager.

Sie würden länger rasten müssen, als ihr lieb war, doch sie mussten alle bei Kräften sein für den Aufstieg. Sonst würde Ava nicht lange alleine in der trostlosen Dunkelheit des Todes bleiben.
 

Die Kinder spielten ausgelassen unter den Bäumen und die Alten wurden ein wenig nostalgisch, während sie der Jugend zusahen. Sheena fühlte sich ausgeschlossen, daher suchte sie sich einen schattigen Platz in einem Baum um wiederholt durch ihre zerfledderte, uralte Ausgabe von Jane Austen’s Mansfield Park zu blättern.

Sie kannte jedes Wort auswendig und doch war dies ihr Weg, sich zurück zu erinnern. Die vielen Bücher die sie besessen hatte, das große Haus, welches ihnen gehört hatte und ihr glückliches, friedvolles Leben, fernab von den politischen Intrigen und Krieg.

Mansfield Park war das einzige, was ihr geblieben war.

Während sie, mit Blick auf den zerschundenen Seiten, in Erinnerungen schwelgte, sank die Sonne langsam dem Horizont entgegen. Doch diesmal hatte es etwas Beruhigendes, Erfüllendes an sich. Als würde die Welt den Atem anhalten, um zur Ruhe zu finden. Keine Ungeheuer, kein Tod, nur der Schlaf.

Sheena ließ ihren Kopf gegen den Stamm sinken und blickte gedankenverloren zum Horizont. Die Sonne näherte sich langsam dem magischen Punkt, bei dem Sonne und Erde wie Liebende miteinander verschmolzen um die Welt mit einer schwarzen Decke zur Ruhe zu betten.

Sie ließ nicht oft solch romantische Gedanken zu, da sie in derlei Dingen nicht nur unerfahren war, sondern auch keinerlei Unaufmerksamkeiten wie Gefühle zulassen durfte. Doch hin und wieder wollte sie, dass ihre Wachsamkeit und die Anspannung nachließen damit sie durch atmen konnte.

Mit Wehmut dachte sie dann an ihre Mutter.

Ihr Ende, der Streit, welcher so sinnlos gewesen war und dann das Rauschen und Summen. Sheena seufzte und beschwor das Bild ihrer Mutter aus besseren Tagen hervor. Sie wollte sie gut in Erinnerung behalten.

Doch so sehr sie auch versuchte, sich an die Zeit vor der „Sintflut“ zu erinnern, es gelang ihr nicht, weil sie das Summen nicht aus dem Kopf bekam. Es schien an- und abzuschwellen und fühlte sich an wie ein Tinitus, den sie einfach nicht los werden wollte. Auch nachts hörte sie diese Geräusche oft in ihrem Träumen. Dann verschwammen Realität und Traum miteinander und sie wachte verängstigt auf und suchte den Himmel ab.

Auch jetzt wanderte ihr Blick zu dem dunkel werdenden Horizont.

Oh Gott! Der Schreck fuhr Sheena durch den Körper und nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie von ihrem erhöhten Sitz fiel.

„Raus! Raus aus den Zelten…. zum Wasser.“ Sie schrie aus vollem Hals und hangelte sich ungeschickt vom Baum, wobei sie sich mehrfach die Haut an der rauen Rinde aufriss. Doch sie spürte nichts davon.

Die Panik, die wie Strom durch ihre Adern pulsierte ließ sie taub werden für jegliche weitere Gefühle. Ihre Gedanken drehten sich nur um die Gruppe, die nur eine einzige Chance hatte, das Wasser.

Die Kinder weinten und die Erwachsenen jammerten, als sie ebenfalls die Schwingen vernahmen. So sehr sie sich den Tod manchmal herbei gesehnt hatten, nichts war schlimmer als den Gefallenen in die Hände zu fallen. Sie waren das Grauen.

„Los an die Felswand.“ Sheena schob die Gruppe an die Felsen. Nun hörte man bereits das Rauschen der Flügel, was die Geräusche des Wassers, welches um ihre schlotternden Beine schwappte, übertönte. Sie suchte den Horizont ab.

Sie hatten kaum eine Chance, dass war ihnen allen klar. Sheena spürte, wie sie wütend wurde. Entschlossen reckte sie das Kinn und sehnte die Konfrontationen beinahe herbei.

Sie war sauer, weil ihre jahrelange Flucht nun doch sinnlos sein würde, Kira und die anderen keine Zukunft hatten und all die Strapazen umsonst gewesen waren. Ohne Nachzudenken zog sie ihr Messer und stellte sich vor die Gruppe.

Niemand wusste, ob man den Gefallenen schaden konnte, doch sie würde nicht sterben, ohne es nicht versucht zu haben!
 

Als die Engel auf dem Boden aufsetzten, bebte es unter den Füßen der wimmernden Gruppe und es hallte zwischen den Felsen. Die Welle der Wucht, die durch die Erde fuhr, schien dagegen jegliche Furcht aus Sheena‘s Knochen zu fegen.

Sie befahl den Kindern, ihre Augen zu schließen und breitete die Arme aus, wie um alle hinter sich zu verstecken. Zornig wappnete sie sich und wagte es dann, in die grausamen Antlitze ihrer Feinde zu schauen.

Es waren fünf an der Zahl, ihre Schwingen maßen eine Breite von drei Metern und reflektierten die Sonne und das Wassers. Sheena kniff die Augen leicht zusammen, was ihr nicht passte, da sie so wenig Möglichkeiten hatte, den Blicken dieser Mörder stand zu halten. Trotzdem versuchte sie die Gesichter vor ihr zu erkennen.

Engel hatten die schreckliche Eigenart grundsätzlich schön zu sein. Als sie über die Welt buchstäblich hereingebrochen waren, hatten viele Menschen die Gefahr zu spät erkannt. Sie waren geblendet gewesen von dem Zauber ihrer Gestalten und hatten ihre Absichten falsch verstanden. Sheena konnte die armen Kerle nicht vergessen, die im Laufe der Zeit der Schönheit der Engel zum Opfer gefallen waren. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, weg zu schauen und zu fliehen, wenn die Gefallenen sie heim suchten.

Diese Chance hatte sie nun nicht mehr. Gestählt durch die Menschen in ihrem Rücken, die ihre Familie geworden waren und für die sie so etwas wie ein Verantwortungsgefühl besaß, blickte sie den fünf ungleichen, ihrer Meinung nach, Monstern, ins Gesicht.

Sie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. Die großen Gestalten strahlten rein und klar, wie Diamanten und einer war schöner als der andere, obwohl sie sich nicht ähnelten. Doch sofort schüttelte sie diese überwältigenden Eindrücke ab und trat vor. Die Klinge in ihrer rechten Hand berührte die Wasseroberfläche und Sheena machte sich ihre Waffe bewusst, die sie einsetzen würde, wenn sie konnte. Das Gewicht der Klinge fühlte sich gut an.

Doch es geschah nichts. Erwartungsvoll starrte sie ihren Feinden entgegen, doch diese rührten keine Miene. Stattdessen schauten sie auf Sheena und ihre Freunde hinab, mit verschränkten Armen und schienen auf etwas zu warten. Sheena wagte es nicht, sich nach ihrer Gruppe um zu sehen und ihren Feinden somit wertvolle Sekunden zu schenken, daher stierte sie immer noch gerade aus und ihre Nerven waren dermaßen angespannt, dass sie sich sogar eine Reaktion ihrer Feinde ersehnte.

Als hätte er ihre Gedanken erhört, löste einer der Engel seine Starre. Sofort pumpte ihr Herz Adrenalin durch ihren Körper und sie stählte sich, doch sie wich nicht zurück. Er war von dunkler Hautfarbe und hatte fast schwarze Augen und doch wirkte er so erhaben und überirdisch, dass sie sich seinem Bann nicht entziehen konnte. Trotzdem verhärtete sich ihr Griff um ihre Waffe. Er kam auf sie zu, doch blieb er nicht wie erwartet vor dem Wasser stehen, stattdessen lief er einfach weiter, über die Wasseroberfläche hinweg, sodass Sheena auf seine Knie schaute, als er vor ihr stand.

Das ist unmöglich, schwirrte es durch ihren Kopf. Die Gefallenen können nicht in die Nähe von Wasser und hier stand einer von ihnen vor ihr. Zwar auf dem Wasser, aber seine baren Sohlen berührten eindeutig die Oberfläche und sandten kleine, kreisförmige Wellen aus. Sie wich unwillkürlich zurück und starrte zu ihm hinauf.

Sein Gesichtsausdruck zeigte jedoch keinerlei Reaktion. Er blickte einfach auf sie hinab. Dann sank er plötzlich vor ihr in den Tümpel, sodass sie ihm zumindest in die Augen sehen konnte, auch wenn er gut einen Kopf größer als sie war.

Die Kinder hinter ihr hatten aufgehört zu weinen und auch sonst war da auf einmal nichts außer Stille. Auch sie wagte es kaum zu atmen, während ihr das Blut in den Ohren rauschte.

„Fürchtet euch nicht. Wir sind gekommen, um euch zu schützen.“

Im ersten Moment starrte Sheena ihn einfach nur an. Ihr Kopf verarbeitete weder das Gesagte, noch irgendeine Emotion oder ähnliches. Als sie nicht reagierte, reichte er ihr seine Hand. Als wäre sie vollkommen begriffsstutzig, sah sie auf die offene Hand vor ihr hinab. Das einzige was ihr durch den Kopf schoss war, wie gepflegt diese Hände waren. Sie hatte schon ewig nicht mehr richtig saubere und gesunde Hände gesehen.

Als sie noch immer nicht reagierte, wandte er sich an ihre Freunde.

„Wir suchen im Auftrag des Herren nach Überlebenden, vorzugsweise Frauen und Kinder, um sie in Sicherheit zu bringen.“ Er ließ seine Worte kurz wirken und ging dann langsam auf die anderen zu. „Wie ich sehe, haben in eurer Gruppe einige Kinder überlebt. Ich bitte euch, uns zu vertrauen, damit wir euch hier fort bringen können.“

Bei seinen letzten Worten regte sich Sheenas Verstand. Was tat sie nur? Sie hatte sich von seiner Ausstrahlung, seinem unerwarteten Auftreten einlullen lassen und nun näherte er sich ihren Freunden, sprach mit Engelszungen und sie tat nichts dagegen. Mit aufwallendem Zorn fuhr sie herum und drückte ihm ihre Klinge in den Rücken.

„Noch ein Schritt und ich bin die Erste, die einen Engel tötet!“ Ihre Stimme bebte, aber war so leise und durchdringend, dass ihr Feind sofort stehen blieb. Hinter ihr hörte sie, wie sich die anderen Engel in Bewegung setzten, doch ihr Gefangener hob beide Arme, sodass sie nicht näher kamen.

Langsam wandte er sich um und sah sie so freundlich an, dass sie sich einen Augenblick entwaffnet fühlte. Aber nein, nicht noch einmal! Sofort konzentrierte sie sich wieder, um den Zorn in sich zu behalten. Er nährte sie und gab ihr Kraft, das durfte sie nicht vergessen.

„Glaubt ihr, ihr könnt uns täuschen? Verschwindet von hier!“ Ihre Stimme klang so fremd und hart, dass sie sich selbst nicht wiedererkannte. An den erschrockenen Gesichtern ihrer Freunde erkannte sie, dass es ihnen genauso ging.

Nun lächelte der Engel auch noch und sie musste sich wirklich zusammen reißen, damit sie nicht den Versuch wagte, ihm die Klinge in die Brust zu stoßen, die so makellos war wie Marmor. Wieso musste dieser Typ auch nur eine weiße Hose tragen? An ihrer zitternden Hand erkannte er mit Sicherheit, dass sie nicht annähernd so stark war, wie sie tat.

„Du bist mutig. Das ist eine seltene Gabe in diesen Zeiten.“ Er säuselte fast, doch das regte Sheena nur noch mehr auf.

„Ihr habt diese Welt doch zu dem gemacht, was sie ist.“, fauchte sie. „Was wollt ihr wirklich?“

„Gott möchte, dass die Menschen von neuem beginnen zu leben.“

Sheena schüttelte irritiert den Kopf.

„Er hat uns fast vollständig vernichtet! Wieso sollte er seine Absichten auf einmal ändern?“

„Dies ist eine lange Geschichte und ich würde mich freuen, wenn ihr uns die Möglichkeit gebt, es euch zu erklären.“

„Niemals!“ Ihre Klinge wanderte zu seiner Kehle. „ Lügen! Das werdet ihr uns erzählen!“

Der Engel hob seine Hand und Sheena verstärkte augenblicklich den Druck an seine Kehle. Ein Tropfen roten Blutes lief an der Klinge entlang und vollkommen paralysiert beobachtete sie, wie er sich löste und ins Wasser fiel.

Die Hand berührte sanft ihre Wange. Die Haut war so weich. Sheena konnte sich nicht rühren.

„Hör mir zu und du wirst es verstehen.“

Sie schloss die Augen und wusste, sie hatte verloren.
 

Nachdem Sheena widerwillig die Waffe gesenkt hatte, waren sie aus dem Wasser getreten und hatten sich um das Feuer niedergelassen, welches kurz vor dem Angriff geschürt worden war. Sie sorgte dafür, dass die Gruppe sich so weit wie möglich von den Engeln distanzierte, auch wenn es ziemlich schwachsinnig war. Wenn die Engel sie töten wollten, würde kein weiterer Meter sie retten können, doch Sheena fühlte sich trotzdem wohler, wenn das Feuer zwischen ihnen war. Ihre Waffe hatte sie nicht abgelegt, sondern hielt sie nach wie vor in der Hand.

Der dunkle Engel hatte sich als „Japhet“ vorgestellt und erklärte sich als Sprecher für seine Kameraden. Zwei weitere Engel glichen sich so sehr, dass Sheena bereit war zu glauben, dass es sich um Brüder handelte, wenn es so etwas überhaupt gab. Marinus und Marlow waren fast zwei Meter groß und blond. Ihre Gesichter waren makellos, doch ihre Augen wiesen jeweils unterschiedliche Farben auf. Während die Augen des einen links blau und rechts braun waren, so war es beim anderen genau umgekehrt. Die Kinder starrten die beiden fast unentwegt an, da sie fasziniert schienen von dieser Farbaufteilung.

Direkt neben ihnen saß Ignatios, dessen Haare wie aus Feuer gemacht zu sein schienen. Sie waren fast kinnlang und schienen flammengleich sein blasses Gesicht zu umspielen. Seine grünen Augen wirkten offen und herzlich, aber Sheena wollte sich solche Gedanken bei ihren Feinden nicht erlauben. Auch wenn er wie die Menschen im Staub saß, die Beine überkreuzt, so sah es bei ihm so herrschaftlich aus, dass es irgendwie unpassend schien.

Der letzte im Bunde verursachte Sheena aus unerfindlichen Gründen Kopfweh. Jedes Mal wenn sie ihn ansah faszinierte sie seine Gestalt und sein Gesicht, doch die Kälte seiner grauen Augen machte sie Schaudern, daher wich sie seinem Blick weites gehend aus. Seine schwarzen Haare waren etwas länger und fielen ihm ins Gesicht und er schien kleiner zu sein als die anderen. Trotzdem war der Engel, den sie Sem nannten, wahrscheinlich immer noch größer als sie. Aus irgendeinem Grund war sie sich die ganze Zeit seiner Präsenz bewusst, aber nicht auf positive Weise. Er schien sie anzustarren und es fühlte sich an, als würden Eisblitze mit jedem Wimpernschlag zu ihr durchdringen.

Außer Japhet sprach keiner der Engel. Er erzählte wie Gott sich gegen die Menschen entschieden hatte, nachdem er so lange mit sich gerungen hatte, mit Hoffnung darauf, dass die Menschheit zur Vernunft kommen würde. Seine Entscheidung und der Angriff wurden so ausführlich beschrieben, dass einige Kinder anfingen zu weinen und wenige Erwachsene augenblicklich erbleichten. Sheena blieb jedoch ruhig. Sie hatte all dies bereits erlebt und nichts konnte sie überraschen. Doch da irrte sich.

„Als der Herr sah, wie viele unschuldige Menschen und Tiere ihr Leben ließen, zerriss es ihm das Herz. Er befahl uns, sofort mit der Bestrafung aufzuhören und in sein Himmelreich zurück zu kehren. Doch nicht alle folgten seinem Ruf. Sie waren stets neidisch auf die Menschen gewesen und wollten, dass sie von der Erde getilgt werden. So verweigerten sie seinen Befehl und wurden dafür verstoßen.“

„Die Gefallenen!“, flüsterte eins der kleinen Mädchen und auch Sheena hatte dasselbe gedacht. Ein junger Mann auf dem Sterbebett hatte ihr damals diesen Namen zugeflüstert, bevor er seinen Verletzungen eines Angriffs erlegen war. Sie hatte diese Bezeichnung übernommen, aber nie darüber nachgedacht, woher sie gekommen war.

„Das heißt, wir wurden die ganzen letzten Jahre von Abtrünnigen des Herrn gejagt?“, sie hatte Probleme, ihre Denkweise umzustellen.

„Genau so ist es.“

„Wieso haben wir euch dann nie zuvor gesehen? Es sind so viele Jahre vergangen und so viele Menschen gestorben, ohne dass uns je jemand zur Hilfe geeilt wäre und nun kommt ihr und sagt uns, ihr wolltet uns retten! Tut mir leid, aber das glaube ich euch nicht.“

Japhet und sie maßen sich mit Blicken. Sheena wusste nicht was er dachte, sie jedoch war durch und durch misstrauisch. Wieso sollten sie jetzt auf einmal gerettet werden, nachdem sie so lange gejagt worden waren? Irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass dies nicht alles war, was der Engel ihr zu sagen hatte. Also wartete sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Japhet seufzte und dies war bis dahin die menschlichste Regung, die sie bisher an ihm bemerkt hatten.

„Es gibt nicht mehr viel menschliches Leben auf der Erde. Wir haben zu spät reagiert.“ Er sah sie fast schon entschuldigend an. „Als wir zurück kehrten, hatten die Abtrünnigen alles in Schutt und Asche gelegt und als sie unsere Absichten erkannten, waren auch wir zu ihren Feinden geworden. Sie griffen uns an und verhinderten jeden Rettungsversuch.“

Er sah sich nach seinen Gefährten um und Ignatios nickte stumm.

„Doch wir haben eine Möglichkeit gefunden, die zu verteidigen, die wir bereits gerettet haben. Viele Meilen südlich von hier, haben wir eine Festung in Klippen geschlagen. Sie ist gigantisch, reicht aber auch tief in die Erde. Dort können wir euch verteidigen.“

Lange sah Sheena die Engel einfach nur an. Sie wollten sie alle in eine Festung bringen, wo sie vor den Gefallenen in Sicherheit waren. Wieso fühlte sie dann keine Freude oder Hoffnung. Irgendetwas stimmte doch nicht.

„Was geschieht mit uns, wenn wir in dieser Festung sind? Ihr müsst doch irgendeine Absicht damit verfolgen.“

Sie musste die richtige Frage gestellt haben, denn Sem, den sie noch immer nicht richtig anzusehen wagte, verkrampfte sich. Überrascht stellte Sheena fest, dass er sich nicht so zu beherrschen wusste, wie die anderen vier.

Japhet ließ sich Zeit zu antworten. Ob er Zeit schinden wollte, oder sich seine Worte genau überlegte, konnte man nicht erkennen.

„Wir wollen, dass die Art der Menschen sich wieder verbreitet um eines Tages erneut die Welt bevölkern zu können.“

Irritiert sah Sheena in die Runde ihrer Freunde um dort dieselbe Verwirrung zu sehen. Selbst Frank schien jegliche Angst in diesem Augenblick zu vergessen.

„Ihr habt die Menschen vernichtet, weil sie die Welt beinahe zerstört hätten. Wieso solltet ihr wollen, dass sie wieder die Chance dazu bekommen?“

Sheena sah von Frank zu Japhet. Seine Miene war wieder unbeweglich.

„Weil ihr unter unserer Kontrolle bleiben werdet.“

Sheenas Gruppe murmelte teils empört, teils verständnislos durcheinander, nur sie selbst ließ Japhet nicht aus den Augen. Die Schlinge zog sich immer schneller zu und sie war noch immer nicht ganz dahinter gekommen, was daran zog. Die Engel würden auf der Erde verweilen. Das war nicht erschreckend. Sie würden dafür sorgen, dass die Art der Menschen die Welt wieder bevölkern konnte. Okay, aber dies war nur möglich, wenn es genug Menschen gab, die für Nachwuchs sorgten und da sah sie ein Problem. Noch dazu widerte sie der Gedanke an, wie Vieh eingepfercht zu werden um dann zuchtgleich Babys zur Welt zu bringen. Da war die Wanderung durch die Wüste wesentlich attraktiver.

„Euer Plan würde nur dann Sinn machen, wenn es noch genügend Menschen gäbe, die dazu in der Lage sind, Nachwuchs zu zeugen.“, sprach Frank ihre Gedanken aus und aus seinem Mund hörte sich das noch verrückter an. Ihr Herz schlug nervös in ihrer Brust.

„Durch uns wird eine neue Menschenrasse entstehen. Geleitet durch unser Blut und unsere Erziehung, werden sie ihre Welt, ihre Artgenossen und Gott respektieren. Es wird gut werden.“

Sofort verstummten alle Gespräche. Sheena sauste es in den Ohren, als sie versuchte zu verstehen, was Japhet gerade versucht hatte, ihnen allen verständlich zu machen. Das Blut der Engel! Sie würden wie Tiere gehalten werden, die darauf warteten den Engeln zu Diensten sein zu können, damit sie sich vermehrten. Sofort stieg ihr das Blut in den Kopf und unbändiger Zorn raubte ihr fast den Atem.

„Das ist doch wohl nicht euer Ernst.“, fauchte sie und stand auf. „Keiner von uns wird euch begleiten.“

Eine der Frauen keuchte auf und hielt ihren Arm fest.

„Aber Shee, dort werden wir sicher sein. Kein Hunger mehr, keinen Durst. Und wir müssen nicht mehr fliehen.“ In ihren Augen standen Tränen, aber Sheena war unerbittlich.

„Wollt ihr euch wirklich einpferchen lassen um wie Zuchtstuten die Kinder der Männer… Monster zu gebären, die fast die komplette Menschheit ausgerottet haben? Auf Befehl eines Gottes, der uns vernichten wollte?“

Sie wandte sich an die Engel. Der eisige Blick von Sem musterte sie nach wie vor unverhohlen und sie fühlte sich fast nackt und undurchsichtig. Daher versuchte sie ihn auszublenden. Die anderen sahen wenigstens etwas betreten aus.

„Das werde ich nicht zulassen! Ihr solltet euch schämen, an so etwas auch nur zu denken.“

Plötzlich spürte sie ein Zupfen an ihrem zu weiten Oberteil. Eins der kleinsten Mädchen, Polly, starrte mit riesigen Augen zu ihr auf. Die Kleine sprach sehr wenig, seitdem sie hatte zusehen müssen, wie ihr Vater und ihr Bruder von zwei Gefallenen getötet worden waren.

„Bitte Shee…ich möchte mit den Engeln gehen.“ Sheenas Zorn wich Überraschung. „Da sind auch noch andere Kinder und viel mehr Leute. Da ist es bestimmt schön.“

Sheena sah sich nach den anderen Kindern um und erkannte die gleiche Hoffnung in ihren Augen. Sie schluckte schwer. Bisher hatte nie jemand an ihren Entscheidungen gezweifelt, doch nun öffnete sich ihren Freunden eine Tür, die das Ende der Qualen bedeutete, die sie so viele Jahre über sich hatten ergehen lassen. Konnte sie sich davor verschließen? Ihr Herz wurde ihr schwer und wenn sie an die Knechtschaft dachte, die ihr bevor stand wurde ihr übel. Aber wenn sie dann wieder in die Gesichter jedes einzelnen der Gruppe schaute, wusste sie, dass sie überstimmt war. Die Frauen waren meistens so abgestumpft, dass sie alles erträglicher fanden, als ihr momentanes Leben. Sie richtete ihren Blick auf Japhet, der sie abschätzend musterte.

„Lasst uns eine Nacht Zeit, darüber nach zu denken.“

Die Burg aus Fels

Aufgrund der Anwesenheit der Engel, die aus irgendeinem Grund keinen Schlaf brauchten, dauerte es ewig, bis alle aus ihrer Gruppe eingeschlafen waren. Auch Sheena fühlte sich unwohl und hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie lag etwas abseits und starrte in den Sternenhimmel. Immer wieder wanderte ihre Gedanken zu dem seltsamen Engel Sem, der scheinbar ein Problem oder anders geartetes Interesse an ihr hatte. Seine grauen, kalten Augen verfolgten sie und wurden noch intensiver, wenn sie die Augen schloss. Er war wie ein personifizierter Albtraum.

Doch sie hatte keine Zeit, sich über ihn Gedanken zu machen. Zu schwerwiegend waren die Entscheidungen, die es zu treffen galt.

Ihre Freunde waren müde und nur noch Schatten ihrer selbst. Sie hatten nicht mehr die Kraft, noch länger der harten Wüstenlandschaft zu trotzen, mit der Angst im Nacken, von den Abtrünnigen heim gesucht zu werden. Konnte sie es ihnen dann verdenken, dass sie die nächstliegende Möglichkeit in Betracht zogen die sich ihnen bot? Nein. Ihre Mutter hätte mit großer Gewissheit ebenso gehandelt. Aber warum fiel ihr das dann so schwer, sich über diese Chance zu freuen? Weil sie sich nicht einpferchen lassen konnte.

Wenn sie nach der langen Zeit, in der sie Tag für Tag gekämpft hatte, nun ein Leben führen sollte, in dem sie ihre Kraft und ihre Eigenständigkeit aufgeben musste, schüttelte es sie. Das war keine Option für sie. Sheena würde alle mit den Engeln gehen lassen, die sich für die Sicherheit der Festung entschieden und diesen geflügelten Wesen trauten, aber sie würde nicht mit kommen.

Diese Entscheidung lag so klar und unbeirrbar vor ihr, dass sie wusste, nichts konnte sie umstimmen. Es gab in dieser Welt nicht viel, was sie am Leben hielt und je mehr Freunde gingen umso weniger lebenswert würde es ihr vorkommen, aber wenn die Engel tatsächlich gut waren, dann würde ihre Gruppe in Sicherheit sein. Mehr wollte sie nicht. Ihr Schicksal würde es sein weiter zu wandern und sie war zufrieden mit dieser Lösung. Ihre Zukunft gehörte ihr und das war ihr wichtig.

In dieser Nacht träumte sie von dem Engel mit den Eisaugen. Zumindest glaubte sie, dass es Sem war, denn alles schien so vollkommen verschwommen. Sie spürte seine Haut, roch einen betörenden Duft, der ihr Herz rasen und ihren Atem stocken ließ, aber sie konnte ihn nicht erkennen. Unbekannte Gefühle schwammen wie Wellen über sie hinweg, während seine Haut über die ihre rieb und sein Körper mit ihrem verschmolz. Ihr entwich ein lautloser Schrei, der ungehört in der ätherischen Atmosphäre des Traumes verhallte. Was ihr dieser Traum vorgaukelte, hatte sie noch nie gespürt und sie fühlte sich dem Chaos und des Wahnsinns nah, während sie eine Ekstase erlebte, die sie wünschen ließ, niemals aufzuwachen. Eine Wärme breitete sich in ihr aus, welches heißer loderte als jedes Feuer. Tränen benetzten ihre Wangen, in dem Wunsch, dass dieses Gefühl lange bleiben möge.

Mit den ersten Sonnenstrahlen verflüchtigte sich jedoch der Nebel und Sheena öffnete die Augen. Sie spürte nicht nur eine seltsame Verwirrung, sondern auch den Widerhall des Traumes in ihrem Körper. Sie setzte sich auf und hielt sich den Kopf. Entweder sie hatte zu viel Sonne abbekommen oder die Anwesenheit der Engel ließ sie wirklich verrückt werden. Sie war versucht, ihren Körper nach Spuren der Hitze zu überprüfen, doch leise Gespräche holten Sheena in die Wirklichkeit zurück.

Sie hob den Kopf und sah sich nach den anderen um.

Die Engel standen in der Nähe der schwelenden Glut, starr und unbeweglich wie Statuen, während ihre Freunde geschäftig im Lager kramten.

Sie packten. Sheena wurde das Herz schwer. Warum hatte ihr Unterbewusstsein keinen Traum geschickt, der sie auf das Kommende vorbereitete und nicht dermaßen verrückt machte? Langsam erhob sie sich und trat ins Lager. Während Sem und die Brüder sie nicht beachteten, sahen der Rotschopf und Japhet auf. Letzterer war auch derjenige der das Schweigen brach.

„Wir brechen in wenigen Minuten auf. Die Frauen und Kinder werden zuerst geflogen.“

Sheena runzelte einen Augenblick die Stirn.

„Fliegen? Also ihr werdet sie tragen?“

„Das ist die schnellste Möglichkeit.“

Besorgt sah sie ihre Schützlinge an. Das war ihr unheimlich. Was ist, wenn einer der Engel ein Kind fallen ließ.

Beruhige dich, du dummes Ding, schalt sie sich. Wenn sie den Engeln glauben schenkten, waren sie kostbar. Also würde ihren Freunden kein Leid geschehen. Sheenas Problem war nur das Thema Vertrauen.

Entschlossen wandte sie sich an die fünf Engel, als sie bemerkte, dass die Gruppe abreisebereit war.

„Mit der Hoffnung, dass ihr es ehrlich mit uns meint, danke ich euch, dass ihr sie in Sicherheit bringt. Ich werde jedoch nicht mitkommen.“

Sem’s Kopf ruckte hoch und ein Aufschrei ging durch die Gruppe. Die anderen Engel verzogen keine Miene.

„Bist du verrückt geworden?“, sagte Frank. „Wir bekommen ein Zuhause und Sicherheit geboten und du schlägst das aus?“

Sie sah, dass die anderen ebenso wenig Verständnis für sie hatten und nicht wenige der älteren Frauen wirkten zutiefst erschrocken. Es tat ihr Leid die Angst in ihren Gesichtern zu sehen, aber sie hatte sich entschieden.

„Du kennst mich, Frank.“ Sie sah sich nach den anderen um. „Ihr alle seid bereits so lange mit mir unterwegs. Ich kann mich nicht knechten lassen, ob im Guten oder im Schlechten. Das würde mich wahnsinnig machen, bitte versteht das. Lieber sterbe ich, als dass ich den Rest meines Lebens vor mich hin sieche.“

Einige der Kleinen fingen an zu weinen und Sheena kniete sich vor sie. Paula, Kira und Miro warfen sich ihr in die Arme, während die älteren Kinder versuchten stark zu sein. Stolz blickte Sheena in die Runde.

„Ich werde euch nicht vergessen, niemals hört ihr? Aber ihr müsst mir was versprechen, okay?“

Sie sah den Kindern in Augen und alle nickten sie, die einen mit laufender Nase, andere mit schmollenden Mündern.

„Ihr passt mir auf die Älteren auf, damit sie keine Dummheiten machen und glücklich werden.“

Sie hörte Schluchzen, unterdrückte aber die eigenen Tränen und wandte sich dann wieder an die Engel.

Der Blick mit dem Japhet sie bedachte, ließ sie schaudern. Seine Haut wirkte, als habe sie sich verdunkelt, wirkte fast schwarz und Wut begegnete ihr in seinen Augen. Auch die anderen schienen verstimmt und Sem schien sich nur mühsam beherrschen zu können. Wachsam musterte sie die Engel, deren Verhalten das Misstrauen in ihr erneut auflodern ließ.

„Stimmt etwas nicht?“

„Du wirst mit uns kommen!“ Japhet’s Stimme kam einem Donnergrollen gleich. Sheena runzelte die Stirn.

„Ihr sagtet nichts davon, dass wir mit euch kommen müssen, soweit ich weiß.“ Statt dieselbe Angst zu empfinden, die sie in den Gesichtern ihrer Freunde sah, spürte sie ein Echo von Japhet’s Wut in ihr.

„In deinem Fall ist es etwas anderes!“, fauchte der dunkle Engel.

Provokativ stemmte sie die Hände in die Hüften. „Ich sehe da keinen Unterschied!“

„Wir fliegen zuerst die Frauen und Kinder und du bist die Erste!“

„Wieso sollte ich! Ich sagte bereits, dass ich nicht mit kommen werde!“

„Das wirst du nicht entscheiden!“

„Wer denn sonst? Ich bleibe hier!“ Sheena kam das Verhalten der Engel absurd vor.

Nun schaltete sich auch Rotschopf ein und seine Stimme war erstaunlich tief und wohltönend: „Wir müssen dich mitnehmen. Du bist die wertvollste Person in deiner Gruppe!“

Da hört sich doch alles auf. „Jeder hier ist mindestens genauso viel Wert, wenn nicht mehr. Also Schluss damit! Ich bleibe hier!“

Einer der Zwilling richtete sich auf und wirkte äußerst aggressiv, was sie dann doch ein wenig zurück treten ließ. Sofort wanderte ihre Hand zu dem Messer. Sie hätte ihnen niemals vertrauen dürfen! Doch Japhet hob beschwichtigend eine Hand.

„Wir wollen doch keine Fehler begehen!“, sagte er in einem beschwichtigenden Tonfall und obwohl er sie ansah, wusste Sheena, dass er nicht sie meinte.

„Wenn du auf unsere Bitten hin nicht mit uns kommst, werden wir dich zwingen müssen. Du entscheidest ab hier nicht mehr alleine!“

„Das ist wohl ein Scherz. Ich habe bisher immer alleine entschieden!“

„Sheena, du versteht da etwas nicht ganz!“

„Oh, ich verstehe sehr gut! All euer Gerede war nichts als eine Lüge! Ihr seid keine Rettung, kein Segen. Ihr seid nur eine weitere Grausamkeit Gottes!“

Nun schien auch Ignatius verstimmt und Sheena hob die Klinge. Sie würde bis zum Ende kämpfen!

Als der rote Engel nun zu ihr sprach, war keinerlei Freundlichkeit mehr in seinen Worten: „Du trägst ein Kind unter dem Herzen, welches in der Gunst des Herrn steht. Ab jetzt ist es unsere Aufgabe dich und das Kind zu schützen, egal mit welchen Mitteln!“

Sheena entglitt alles aus dem Gesicht. Sie starrte die Engel mit offenem Mund an, ohne wirklich zu begreifen, während durch die Reihen ihrer Freunde Ausrufe der Überraschung und des Unverständnisses gingen.

„Shee, das wussten wir ja gar nicht. Seit wann bist du denn schwanger?“ Frank umklammerte ihren Arm und sah ihr besorgt ins Gesicht.

Sheena schüttelte sich, um den Kopf wieder klar zu bekommen.

„Ich bin nicht schwanger! Das müsstet ihr doch selbst wissen, mit wem und wann soll das geschehen sein?“, fauchte sie Frank und die anderen Alten an, dann blickte sie Japhet direkt in die Augen. Sie spürte die Hitze, die diese absurde Situation in hier hervorbrachte, aber so zornig sie auch war, war da auch eine unbestimmte Übelkeit, die sich in ihrem Innersten manifestierte.

„Was soll dieser Mist! Noch mehr Lügen bringen euch nicht weiter!“

Japhet sah verächtlich auf sie hinab: „In der letzten Nacht ist ein Auserwählter zu dir gekommen. Eure Vereinigung ist besiegelt. Nun trägst du sein Kind. Es ist ein Kind Gottes.“

„Ihr verarscht mich!“ Nur mühsam verdrängte sie ihren seltsamen Traum. Ein Seitenblick auf Sem, den sie im ersten Moment für die Person dieses Traumes gehalten hatte, sagte ihr dass es unmöglich war. Er war wieder so unbeteiligt, als ginge ihn diese Diskussion absolut nichts an.

„Wenn es diesen Auserwählten gäbe, müsste ich es doch wissen. Ich versteh nicht, wieso ihr solche abstrusen Mittel anwendet, damit ich mitfliege. Aber es ändert nichts an meiner Meinung! Ich bleibe!“

Japhet seufzte kaum vernehmbar und nickte dann. Sheena fühlte schon den Triumph, doch dann löste sich Rotschopf aus der Reihe und ging geradewegs auf sie zu. Sie wich zwar zurück, aber er war so plötzlich bei ihr, dass sie nicht einmal Zeit zu protestieren hatte. Ihre Klinge, die sie im Reflex zur Abwehr gehoben hatte, schnitt tief in seine Schulter und erschrocken, ließ sie sie fallen. Doch Ignatius zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mit Bedauern in seinen grünen Augen packte er sie nicht gerade sanft um die Taille und dann war sie auch schon in der Luft.

Sie schrie aus vollem Halse, während ihre Freunde unter ihr immer kleiner wurden. Sie schlug nach dem Engel, doch sein Körper schien aus Stahl zu sein, sodass nichts eine Wirkung zeigte.

„Du Monster!“

Immer schneller raste die Landschaft an ihr vorbei und Sheena brachte nicht ein Wort mehr heraus. Stöhnend schloss sie die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an, die in Wellen über sie schwappte. Das war einfach nur ein Albtraum!
 

Zwang

„Bitte lass mich herunter!“, rief Sheena immer wieder, doch der Engel hielt sie mit einer Kraft, die nur unmenschlich zu nennen war. Ignatius presste sie mit dem Rücken gegen seinen stahlharten Körper und hielt ihren Kopf mit einer Hand, sodass sie nicht einmal den Blickwinkel ändern konnte. Er reagierte nicht ein einziges Mal auf ihre Rufe und Bitten und Sheena kämpfte vermehrt gegen die Übelkeit an. Der Boden unter ihr raste unglaublich schnell an ihr vorbei, was Schwindel in ihr verursachte.

„Bitte! Ich kann nicht mehr!“, ihre Stimme wurde immer schwächer, da sie kaum noch die Kraft hatte, den Kopf zu heben. Erst jetzt kam eine Reaktion des Rotschopfes.

„Wir sind fast da! Nur noch drei Meilen.“

Drei Meilen zu viel, wenn es nach Sheena ging, aber er würde sich nicht beirren lassen.

Eine Unendlichkeit später ließ der Wind, der um ihre Ohren pfiff nach und dann spürte sie Boden unter den Füßen. Sofort gaben ihre Knie nach und Sheena musste sich auf der Stelle übergeben. Der Engel wich nicht angewidert zurück, wie sie es vermutet hätte, sondern hielt ihr Haare und Kopf, während sie würgte und bellte einige Befehle, die Sheena in ihrem Elend nicht verstand. Am liebsten hätte sie sich auf die Erde zusammen gerollt und abgewartet, bis die Welt um sie herum aufhörte an ihr vorbei zu fliegen, doch Rotschopf ließ sie nicht los, sondern hielt sie fast sanft aufrecht. Plötzlich waren da noch zwei weiter Hände, die ihr einen Becher Wasser an die Lippen führten.

„ Trink das, meine Kleine. Das hilft ein wenig.“ Die Stimme war leicht rau, aber auf jeden Fall weiblich und Sheena wagte es die Augen zu öffnen. Neben ihr saß eine Frau, die sie Anfang 40 schätzte. Ihre Haare waren blond, von der Farbe hellen Weizens und ihre Augen so blau, wie das Meer. Die erste Frau in diesem Alter, die Sheena seit langem gesehen hatte. An ihrem Blick musste die Frau erkennen, was sie dachte und sie lächelte warm.

„Mein Name ist Rosa. Ich bin so etwas wie die Wirtschafterin hier, die sich um alle anderen Frauen kümmert.“

„Andere Frauen?“, flüsterte Sheena und richte sich auf, nicht nur um sich von dem Engel zu entfernen, der sie ja schließlich entführt hatte, sondern auch um sich um zu sehen. Erst jetzt sah sie, dass die Frau namens Rosa hochschwanger war und Beklemmung machte sich in ihr breit. Dies war also ihre erste Begegnung mit einer der von ihr genannten Zuchtstuten. Sofort wich ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht.

Lachend legte Rosa ihre Arme schützend über ihren geschwollenen Leib.

„Das ist schon ein Anblick, da gebe ich dir Recht. Aber man gewöhnt sich dran und wenn man das Kleine erst einmal spürt, ist alles andere vollkommen irrelevant!“ Sie wandte sich an den Engel, der noch immer nicht von Sheenas Seite gewichen war. „Ist sie bereits in anderen Umständen?“

„Seit heute Nacht!“

Zorn schnürte Sheena die Kehle zu und selbst die letzte Übelkeit war schlagartig verschwunden. Genau das hier hatte sie nicht gewollt.

„Wie kannst du dich damit abfinden, die Hure dieser Monster zu sein?“, spie sie Rosa förmlich vor die Füße. „Das ist widerwärtig!“

Sheena hatte damit gerechnet, eine ebenso böse Antwort zu erhalten, doch die ältere Frau blickte sah sie nur nachsichtig an und stand dann auf. Sie reichte Sheena die Hand und bedeutete ihr, ihr zu folgen. Doch alles in Sheena war auf Gegenwehr getrimmt, sodass sie nur die Arme verschränkte und sich nicht rührte. Hochmütig sah sie zu der, auf ihre Art schöne Frau hinauf, die ihr vielleicht gerade ans Kinn reichte. Rosa sah sich nach ihr um und lächelte noch immer, dieses mitleidige Lächeln, was man oft kleinen Kindern schenkte.

Hinter ihr regte sich der Engel. Er erhob sich in die Luft und verschwand. Sheena vermutete, dass er den Rest ihrer Gruppe holen würde, sie hoffte es.

„Bitte komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen!“

Bockig sah Sheena sich um. Sie war in so einer Art Burghof, der von Mauern umzogen war, jedoch sah sie weder ein Tor noch eine Tür, die aus diesem Hof hätte führen können. Um sie war nichts außer kaltem, grauen Stein. Keine Engel und auch sonst kein lebendes Wesen. Hinter Rosa erhob sich ein Berg, der zwar unförmig und willkürlich aussah, jedoch mit Fenster und Türen gespickt war. Dies konnte nicht von Menschenhand stammen.

Rosa folgte ihrem Blick.

„Beeindruckend nicht wahr. Es sieht mächtig aus, aber man gewöhnt sich daran und die Engel geben ihr bestes, um es uns gemütlich zu machen.“

„Dafür vergnügen sie sich ja auch mit euch!“, fauchte Sheena. Erneut kamen ihr Bilder ihres Traumes in den Sinn. Nur schmerzlich machte sie sich bewusst, dass es kein Traum gewesen sein konnte.

„So darfst du das nicht sehen. Sie sind wirklich gütig und freundlich. Sie tun nichts was uns ein Leid zufügen würde. Die Frauen, die Schwierigkeiten haben, werden in Trance versetzt, in der sie nur die schönsten Gefühle erleben dürfen.“

Sheena kam die Galle hoch.

„Das ist reine Selbstaufgabe!“

Rosa war immer näher gekommen und stand nun so nah, dass sie sich fast berührten.

„Mein liebes Kind! Das ist die einzige Perspektive, die wir auf dieser Welt noch hatten. Und es ist ein gutes Leben.“

„Mein Name ist Sheena!“, flüsterte sie beinahe, „Und ich werde mich nicht einfach zu einem Gegenstand machen lassen.“

Rosa zuckte mit den Schultern und setzte ihren Weg fort, ohne auf Sheena zu warten. Nur widerwillig stand diese auf und folgte der älteren Frau.

„Das bleibt dir überlassen. Da ich vermute, dass du in Trance versetzt wurdest, weißt du auch nicht wer dein Auserwählter ist, richtig?“

„Wer?“, Sheena dachte, sich verhört zu haben.

„Der Mann, der bei dir liegen darf.“

Darf? Sheena schüttelte nur den Kopf. Wie bizarr sollte diese Geschichte denn noch werden?

„Das ist schade. Einige von uns gehen sogar eine richtige Bindung mit ihren Erwählten ein. Das kommt immer darauf an, in wie weit man bereit ist, sich seinem Schicksal zu fügen.“

Sheena wusste, dass sie dafür sorgen würde, dass dieser „Erwählte“ sich wünschen würde, sie niemals berührt zu haben. Hass keimte in ihr auf, doch sie würde sich hüten, dies zu zeigen.

Die beiden Frauen traten in den Schatten des Berges und sie erkannte, dass sie sich mit dieser Bezeichnung geirrt hatte. Alles um sie herum erinnerte Sheena an die Bilder, die sie aus mittelalterlichen Büchern kannte. Sie hatten eine Art riesige Halle betreten, in deren Mitte eine Tafel stand, an der sogar einige Frauen speisten, während andere vor einem gigantischen Kamin standen und sich unterhielten. Als Rosa mit ihr im Schlepptau die Halle betrat, wandten sich ihr gut fünfzehn Gesichter von Frauen zu, die vermutlich zwischen 20 und 50 Jahren waren, meist in den verschiedensten Stadien einer Schwangerschaft. Zu ihren Füßen spielten sogar einige Kleinkinder, wobei keines älter als drei Jahre sein durfte. In ihrer Mitte befanden sich nur drei Engel, die entweder ebenfalls in Gesprächen vertieft gewesen waren oder mit den Frauen aßen.

Sheena unterdrückte ein Würgen. Alleine das Bild erzeugte in ihr eine solche Gegenwehr, dass sie wusste, sie würde es niemals ertragen, sich dieser Welt zu fügen.

Rosa winkte einem der Engel, ein großer, blonder Mann, dessen kantiges Gesicht wahrscheinlich jedes Frauenherz höher schlagen ließ. Nur nicht ihres.

„Sheena, darf ich dir vorstellen, mein Auserwählter: Michael.“

Der Engel lächelte sie freundlich an, doch Sheena fühlte sich wie gelähmt. Als sie nach einigen Momenten noch immer nicht reagiert hatte, übernahm Rosa wieder das Wort.

„Sheena ist erst seit Kurzem eine von uns und fühlt sich nicht ganz wohl mit ihrer Rolle.“, erklärte sie ihm.

Als wenn es das auch nur annähernd traf, dachte Sheena.

Michael nickte verstehend und sie musste den Drang nieder kämpfen, ihn anzuschreien. Diese mitleidige, nachsichtige Art machte sie rasend. Verstand denn keiner, dass sie das hier nicht wollte? Nicht konnte? Das es einfach widerlich war?!

„Ich gehe davon aus, dass man sich weder die Zeit genommen hat, dir deinen Erwählten vorzustellen, noch die die Möglichkeit gegeben hat, zu wählen.“

„Woher du das wohl weißt?“, entgegnete Sheena giftig.

„Das tut mir leid, aber oft seid ihr Menschen nicht in der Lage, die vollkommene Wahrheit zu verstehen.“

Sheena stieg das Blut ins Gesicht: „Welche Wahrheit? Das ihr Menschen schändet und sie zu euren Lustsklaven macht? Sie Kinder gebären lasst, wie Zuchttiere?“ Sie spuckte ihm vor die Füße. „Diese Wahl hätte ich nie getroffen. Ihr hättet mich sterben lassen sollen!“

Es war still in der Halle geworden und nun lauschte wirklich jeder Sheena‘s Worten. Die anderen beiden Engel waren näher getreten, wie um zu bekräftigen, dass sie hier das Sagen hatten.

Michael dagegen blickte sie nach wie vor verständnisvoll und freundlich an.

„Du spottest über deine Mitmenschen. Das ist nicht gerade eine feine Art, aber ich versichere dir, dass dir das keine übel nehmen wird. Rosa wird dir dein Zimmer zeigen. Dort kannst du erste einmal ruhen und wenn du etwas brauchst, kannst du uns gerne rufen.“ Er nickte Rosa zu und wandte sich dann ab. Das war es gewesen. Mehr hatte er dazu nicht zu sagen gehabt?

Fassungslos sah Sheena ihm nach, während er den Raum verließ. Es juckte ihr so unglaublich in den Finger, irgendjemandem ins Gesicht zu schlagen. Vorzugsweise mit Flügeln. Als hätte Rosa dies geahnt, legte sich sanft eine Hand auf Sheenas geballte Faust.

Widerstand bis zum Äußersten

Rosa brachte sie in ein wirklich hübsches Zimmer, das beeindruckend hell und freundlich aussah, obwohl die Wände aus Felsen gehauen waren und sich wie eine Grotte wölbten. Das Bett war sehr breit und mit warmen Violetttönen bezogen worden. In einer Ecke stand eine Truhe, die aussah, als ob sie mal zu einem Schiff gehört hätte. Sogar ein Tisch mit Stühlen war bereit gestellt worden. Sheena konnte aber nicht mehr die Augen von dem Bett wenden. Es war Jahre her, dass sie ein Bett gesehen hatte und noch länger, dass sie die Möglichkeit hatte, ein solches zu nutzen.

Rosa lachte leise.

„Ja, das ist schon ein Anblick. Vielleicht solltest du es sofort ausprobieren und wenn du ausgeruht hast, wird bestimmt auch der Rest deiner Gruppe da sein.“

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Sheena, als sie die Erkenntnis traf, dass sie ihre Freunde ganz vergessen hatte. Sofort trat sie ans Fenster und sah dem Horizont entgegen. Natürlich wusste sie nicht, ob sie in die richtige Richtung schaute, aber ihr Herz schlug wieder ruhiger.

Rosa stellte sich neben sie.

„Seid ihr eine große Gruppe?“

Sheena wandte nicht den Blick vom Himmel.

„Kommt drauf an, was du als groß bezeichnest. Wir waren einige Frauen, ein paar Männer und Kinder.“

„Das ist erstaunlich!“

Sheena wandte sich nun doch stirnrunzelnd um.

„Was meinst du damit?“

„Es ist selten, dass sich Gruppen so erfolgreich durchschlagen. Meist sorgen Hunger und Durst, sowie die ständige Angst dafür, dass die Menschen nicht lange zusammen bleiben können. Eure Gruppe ist fast schon riesig.“

„Warst du etwa alleine?“ Sheena gab der Frage eine bissige Note, doch sie interessierte sich tatsächlich für Rosas Geschichte.

„Nein, meine Schwester war bei mir. Doch bevor Michael mich fand, hatten die Gefallenen uns gefunden. Ich konnte mich verstecken, Ruby starb.“

Sheena fröstelte es. In all der Zeit, in der sie Tod und Grauen erlebt hatte, konnte sie noch immer so etwas wie Trauer und Leid empfinden, während andere ihre Gefühlsregungen auf körperliche Bedürfnisse und Angst reduziert hatten.

„Das tut mir leid.“ Und sie meinte es tatsächlich ernst.

Rosa lächelte traurig. „Danke.“ Sie räusperte sich und sah wieder aus dem glaslosen Fenster.

„Am Anfang war es schier unmöglich zu ertragen, dass ich Ruby verloren habe, so kurz bevor ich gerettet worden war. Ich habe mich so sehr gegen die Engel und ihre Mission gewehrt, dass ich mich fast zu Tode gehungert habe.“

Fasziniert beobachtete Sheena dieses kleine Persönchen mit dem runden Bauch. So sehr sie diese Menschen hier verachtete, Rosa schien vielleicht doch kein willenloses, dummes Geschöpf zu sein. Sie hatte wahrscheinlich genauso mit ihrem Schicksal gehadert wie Sheena dies jetzt tat. Aber einen guten Ausweg für sich gefunden. Sie wirkte gesund, wohlgenährt….und glücklich.

„Aber Michael hat mich irgendwie zu den Lebenden zurück geholt.“ Sie grinste und Sheena wurde flau im Magen. „Er hatte zumindest gute Argumente und ich weiß, Ruby hätte gewollt, dass ich wieder Hoffnung schöpfe.“

„Ich kann das nicht, Rosa. Ich kann es nicht!!!“

Sheena sah wieder dem Himmel entgegen, der sich nun langsam rot färbte. Die Dämmerung brach bereits herein. Wo waren die anderen?
 

Bald darauf hörten sie Flügelschlagen und bevor Rosa etwas sagen konnte, war Sheena auch schon aus dem Zimmer gestürmt. Die Frauen in der Halle sahen ihr überrascht nach, erhoben sich dann jedoch auch um zu sehen, was draußen geschah. Rosa kam mit ihrem Bauch nicht so wirklich mit, denn sie watschelte wie eine Ente und nahm Stufe für Stufe, währen Sheena zwei Stufen nach der anderen übersprang. Die Engel bewegten sich nicht von der Stelle.

Als sie nach draußen gelangte, landeten die fünf Engel bereits. Sie trugen alle zwei bis drei Personen, was Sheena erstaunte. Wie stark waren diese Monster eigentlich?!

Sofort rannten die Kinder auf sie zu, die einen verängstigt auf sie einredend, während andere, begeistert von diesem Abenteuer, versuchten ihr ihre Eindrücke zu erzählen. Sheena musste lachen bei diesem Anblick und sie merkte wie sich in ihre etwas löste, was sie die ganze Zeit verkrampft festgehalten hatte.

Die Engel hatten bisher nur die Frauen und Kinder zur Burg gebracht, aber Sheena empfand dies ausnahmsweise wohl überlegt. Die älteren Frauen umarmten Sheena, froh darüber, dass sie wohlbehalten angekommen waren.

Eine schwangere Frauen, die mit in den Burghof gekommen waren, nahmen sich sofort Zeit, die Neuankömmlinge unter ihre Fittiche zu nehmen und sie in ihr neues Zuhause zu führen. Erleichtert sah Sheena der Gruppe nach, die in den Saal geführt wurde, während mehrere Frauen auf sie einredeten.

Als eine der blonden Engel an ihr vorbei ging, um den anderen zu folgen stutzte sie. Der Rotschopf ging ebenfalls und Sheena musste schwer schlucken.

„Was ist mit den anderen?“ Die Männer…Frank, sie waren doch noch gar nicht auf der Burg.

Japhet blieb neben ihr stehen.

„Sie bleiben zurück!“

„Wie bitte?“

„Wir brauchen Kinder und Frauen. Diese Männer waren zu alt, um der Sache zu dienen.“

Ehe Sheena wusste, was sie tat, hatte sie auch schon zugeschlagen. Japhets Kopf fuhr durch den heftigen Schlag herum und Sheena trieb der Schmerz in ihrer Hand, die Tränen in die Augen. Die anderen Engel kamen sofort auf sie zu, doch sie griffen nicht ein.

„Du widerliches Stück Dreck.“, fauchte sie und eine Art Hass glomm in ihr auf, denn sie noch nie zuvor gefühlt hatte. „Ihr habt mich entführt, gegen meinen Willen und nun lasst ihr meine Gruppe verrecken!!“

Sheena wandte sich um. Sie würde gehen, egal wie. Sofort setzte sie sich in Bewegung, rannte fast, doch ehe sie sich versah, prallte sie gegen eine stählerne Härte, die ihr den Atem raubte. Sem hatte sich vor ihr aufgebaut und schaute mit ausdrucksloser Miene zu ihr herab. Verzweifelt versuchte sie an ihm vorbei zu kommen, doch er packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Tränen des Schmerzes, der Wut und Verzweiflung traten ihr in die Augen, während sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien.

„Lass mich los.“, schrie sie und trat und schlug nach ihm, doch es schien ihm nichts anhaben zu können. Durch ihren verschleierten Blick erkannte sie, dass Frauen aus der Burg eilten, nur um gleich wieder von den Engeln zurückgeschickt zu werden. Es sollte scheinbar keine Zeugen geben. Sheena spürte, dass sie die Kraft verlor, physisch aber auch mental.

„Warum tut ihr uns das an? Wie kann denn etwas gerecht sein, das gleichzeitig so ungerecht handelt?“, weinte sie. Vor ihren Augen sah sie ihre Freunde, die in der trockenen, kargen Steppe nach Wasser und Nahrung suchten, auf der Flucht vor dem Bösen. Alleine. Von ihr im Stich gelassen. Sie weinte so bitterlich, dass Sem sie bald darauf los ließ und sich neben sie hockte, eine Hand auf ihrer Schulter. Sheena wertete das nicht als tröstende Geste dieses so emotionslosen Mannes, sondern als eine Demonstration seiner Macht über sie. Doch sie konnte sich nicht mehr wehren und so saß sie nur im Staub und benetzte den Boden mit ihren salzigen Tränen, die Hände vor das Gesicht geschlagen, unfähig sich zu beruhigen.

Seit dem Tod ihrer Mutter, hatte sie keine Träne mehr geweint. Es hatte einfach nicht gepasst, denn sie war immer die Starke gewesen. Nun saß sie hier wie ein Häufchen Elend, ihrer Freiheit und Selbstständigkeit beraubt und mit einem Schicksal bedacht, welches sie sich nicht ausgesucht hatte und was sie nun nicht mehr ändern konnte.

Irgendwann war sie einfach nur aufgestanden, hatte die Hand des Engels abgeschüttelt und war zurück in das Verlies aus Stein gegangen, hoch in das ihr zugedachte Zimmer.
 

Die Nacht war klar und die Sterne funkelten in einem solch hellen Licht, dass Sheena sie vielleicht bewundert hätte, wenn es ihr nicht so schlecht ergangen wäre. Seitdem sie Sem und die anderen im Hof hatte stehen lassen, war sie nicht mehr aus ihrem Zimmer gegangen, stand nur an dem glaslosen Fenster und hatte weder gegessen noch getrunken, aber der Gedanke an ihre verloren Freunde verhinderte jegliches Durchdringen körperlicher Bedürfnisse. Sie befand sich in einem Kokon aus Trauer, Verzweiflung und unbändiger Wut.

Schon ziemlich bald stand für sie fest, dass sie sich wehren würde. Bisher hatte sie keinen Ausgang oder dergleichen erkennen können um die Flucht zu wagen, aber sie würde einen Weg finden. Wie konnten diese Monster glauben, dass sie sich fügen würde. Vor allem nachdem man sie so verraten hatte.

Tränen traten ihr in die Augen, als sie die Gesichter ihrer Freunde vor sich sah. Die anderen hatten in ihrer Freude über die Sicherheit die ihnen geboten wurde, ganz vergessen, dass sie mal viel mehr Leute gewesen waren. Wahrscheinlich schliefen sie sogar und schwelgten in süßen Träumen, während sie, Sheena, hier stand und an ihrem Zorn erstickte.

Tief im Innern wusste Sheena, dass sie den Anderen Unrecht tat. Sie hatte ihnen immer Hoffnung auf eine bessere Zukunft gemacht, wie konnte sie ihnen dann vorwerfen, dass sie sich freuten und alles andere vergaßen. Sheena war immer anders gewesen und diese Situation bewies es wieder.

Sie wandte sich vom Fenster ab und tigerte durch das Zimmer, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollte. War es sinnvoll, bereits heute Nacht einen Fluchtversuch zu wagen? Nein, gerade nach ihrem letzten Auftritt würde sie unter Bewachung stehen, da war Sheena sich sicher. Außerdem waren die Mauern bestimmt ebenfalls mit Männern bestückt, die Ausschau nach den Gefallenen hielten. Sie blickte einige Zeit auf die schwere Holztür.

Aber sie würde sich die Burg ansehen. Niemand konnte ihr verbieten, sich in der Burg zu bewegen und sie würde die Zeit nutzen, um sich einen Überblick von der Konstruktion des Gemäuers zu machen. Vielleicht würde sie auf eine Möglichkeit stoßen, die Burg irgendwann verlassen zu können.

Ohne weiter nach zu denken, hatte sie ihr Zimmer schon verlassen und hastete durch den Flur. Erst als sie an die Treppe kam, maßregelte sie ihr Tempo. Einen Moment zögerte sie, doch dann entschied sie sich, erst einmal die einzelnen Bereiche, die wahrscheinlich als Schlafgemächer dienten, zu erkunden.

Es war stockfinster, doch ihre Augen gewöhnten sich insofern an die Lichtverhältnisse, dass sie immer einige Meter weit Umrisse erkennen konnte. Schon bald konnte man vermuten, dass die Burg in Ringe eingeteilt war, die von der Eingangshalle bis weit in die Höhe verliefen. Wie viel Zimmer in diesen Berg passten, konnte Sheena nicht einmal erahnen. Wenn man aber davon ausging, dass die Engel tatsächlich eine neue Menschenrasse züchten wollten, dann mussten enorme Kapazitäten vorhanden sein. Sheena durchfuhr ein angewidertes Zittern. Mit diesen Gedanken wurde ihr bewusst, dass sie bereits dabei war, zu ebendiesem Zuchtprogramm zu gehören.

Sie trug das Wesen doch bereits in sich. Viel zu spät wurde ihr richtig klar, was eigentlich mit ihr geschehen war. Die ganze Zeit war sie so sehr damit beschäftigt gewesen wütend auf alle zu sein, dass sie ganz vergessen hatte, wieso sie überhaupt hier war.

Ihr brach der kalte Schweiß und sie musste sich an der kühlen Wand abstützen, weil ihr die Galle hochkam. Gleichzeitig legt sie eine Hand auf ihren Unterleib. Nicht schützend, ungläubig, als würde dieser Albtraum enden, wenn sie sich versicherte, dass dort nichts war. Doch die wenigen Bilder der einen Nacht brachen sich immer wieder Bahn. Der Engel Michael hatte gesagt, dass sie ihre Opfer in Trance setzten, und ja, es waren Opfer in Sheena’s Augen.

Sie lehnte die Stirn gegen die Mauer, denn sie hatte das Gefühl zu glühen. In und um sie herum rasten Bilder und Gefühle, wie auf einer Autobahn und sie konnte nicht einen Gedanken fest halten. Wo war sie nur hineingeraten? Wie konnte sie denn fliehen, wenn sie etwas in sich trug, was sie erheblich behindern würde bei ihrer Suche nach den Überlebenden? In einer Zeit, als alles noch in Ordnung war, hätte man einen solchen Zustand beenden können. Heute war ein solcher Versuch tödlich.

Aber noch hatte sie Zeit. Sie musste so schnell wie möglich einen Ausweg finden, damit sie die Männer fand, bevor sie zu ungelenk war, um sie zu retten.
 

Sheena stieß sich von der Wand ab um ihre Erkundungstour fortzuführen, bestärkt durch den Zeitdruck, der ihr deutlich vor Augen stand. Noch immer flirrten Lichter in der Dunkelheit, aber ihr war nicht mehr übel. Sobald sie einen Ausweg gefunden hatte, würde sie fliehen und die, die sie liebte retten. Als sie nun über den Gang hastete, rannte sie beinahe, erfüllt mit Panik, zu spät zu sein.

Dann prallte sie gegen eine Wand. Sofort sah Sheena wieder Sterne und sie verlor augenblicklich das Gleichgewicht.

Doch statt zu stürzen, umklammerte etwas eisern ihre Oberarme und zog sie hoch. Jetzt war Sheena erst recht übel, vor allem weil sie mit dem Gesicht frontal in dieses Ding gelaufen war. Der rasende Schmerz, der von ihrer Nase in alle Körperteile zu strahlen schien, trieb ihr die Tränen in die Augen. Es drängte sie, die Hände vor das Gesicht zu schlagen, aber sie konnte sich weder befreien, noch durch den Tränenschleier erkennen, in was sie gelaufen war. Ein Wimmern entfuhr ihr.

„Was schleichst du hier rum?“

Diese tiefe Stimme! Sofort weckte sich in ihr eine solche Abneigung, dass sie umso verzweifelter versuchte, sich los zu reißen.

„Nimm deine Finger von mir, du Monster!“, sie wollte stark klingen, aber ihr entfuhr nur ein Zirpen, das nicht einmal einem Vögelchen Konkurrenz machen würde.

Sem schien es nicht im Geringsten Mühe zu machen, Sheena fest zu halten und ihren Tritten auszuweichen. Sie konnte ihn zwar nicht deutlich sehen, aber sie spürte seinen kalten Blick, was sie noch wütender machte.

„Bist du taub, lass los!!!“, brüllte sie und versuchte sich aus dem Griff zu drehen. Jedoch verschlimmerte dies den Druck und ihre Arme protestierten schmerzhaft. Sem machte nicht einmal den Mund auf. Es kam ihr vor, als ob eine Statue aus eiskaltem Stein sie gefangen hielt und so langsam bekam sie Angst. Weniger vor dem Engel, mehr vor der Situation an sich. Sie war hilflos und eingeschränkt in ihren Bewegungen, noch dazu schmerzten die Teile ihres Körpers, die in dem Griff gefangen waren.

„Was soll denn das?“, wimmerte sie. „Ist das so ein dreckiges Machtspielchen?“ Sheena wehrte sich nun nicht mehr, sondern versuchte die Schmerzen ein wenig erträglicher zu machen, in dem sie ihm entgegenkam. Erst jetzt schien auch er sich zu entspannen und seine Hände hielten sie nicht mehr ganz so fest, auch wenn er sie nicht losgelassen hatte.

„Du solltest hier nicht rum laufen.“

Fassungslos schaute Sheena zu ihm auf. Er schien niemals aus der Fassung zu geraten oder auch nur eine einzige Gefühlsregung zu haben. Ganz im Gegenteil zu ihr selbst, die tausende Emotionen in sich vereinte.

„Ich dachte, wir sind hier in Sicherheit! Das habt ihr uns doch so verkauft, oder nicht? Was soll mir also passieren?“, giftete sie trotzig.

„Menschen sehen bekanntlich nicht im Dunkeln, richtig?“

„Lass mich raten, ihr komischen Viecher seht wahrscheinlich bei Tag und Nacht.“ Sie versuchte noch einmal sich zu befreien, aber er war echt stur.

„Zumindest würden wir weder irgendwelche Treppen hinab stürzen noch gegen Wände laufen. Dies könnte dir aber passieren. Daher rate ich dir, zurück in dein Zimmer zu gehen. Du schadest nur dir und dem Kind.“

Sofort kochte es in Sheena. Wen interessierte das Kind? Sie nicht und selbst wenn, dann war es immer noch ihr Kind. Sie würde nicht zulassen, dass die Engel Anspruch darauf erhoben, mochte einer von ihnen der Vater sein oder nicht.

„Das ist immer noch meine Entscheidung!“

„Das sehe ich anders.“ Er schob sie nun sachte aber bestimmt den Gang hinunter. „Du gehst nun zurück.“

Sheena schlug seine Hand weg.

„Was gibt dir das Recht mir zu sagen, was ich zu tun habe?“

Sie mochte sich wie ein kleines Kind benehmen, aber Sem war für sie wie ein rotes Tuch, seit dem Augenblick, als er das erste Mal vor ihr gestanden hatte. Sie wusste noch immer nicht wieso und konnte nicht einmal das genaue Gefühl bestimmen, was sie in seiner Gegenwart hatte. Sie wusste nur, dass die Berührung seiner Hände auf ihrer Haut brannte. Auch als sie geträumt hatte, schien er es gewesen zu sein, der sich in ihren Kopf gestohlen hatte. Er stürze sie in Verwirrung und Rage, das brachte sonst keiner fertig. Und nun schien es, dass sie immer ausgerechnet Sem über den Weg lief, zweimal an einem Tag in ihn hinein rannte und ihm nicht aus den Weg gehen konnte.

Nun schob er sie unbeirrt weiter.

„Sieh mich als deinen Leibwächter, solange du noch nicht bereits bist, dich uns anzuschließen.“

„Du meinst wohl „unterwerfen“. Kannst du mir mal sagen wieso ausgerechnet du mein Wächter-Dings-Bums bist?“

„Wünscht du dir jemanden anderes?“

Die Frage war so tonlos gestellt, dass sie nicht wusste, was er mit der Frage bezweckte.

„Ich will, dass ihr mich in Ruhe lasst! Ich wollte niemals hier her kommen und schwanger werden wollte ich auch nicht.“

„Wärst du lieber gestorben? Die Gefallenen hätten euch früher oder später gefunden.“

Sie standen nun tatsächlich vor Sheenas Zimmer und sie ärgerte sich, dass Sem sie so leicht hatte hier her zwingen können.

„Ich wäre lieber mit meinem Freunden gestorben, als zu etwas gezwungen zu werden, was ich nicht will. Ich werde niemals diese Leben hier akzeptieren, also solltet ihr mich am besten auf der Stelle gehen lassen.“

„Ich denke nicht, dass das möglich ist. Leg deine Hand auf deinen Bauch!“

Sheena hob irritiert die Augenbrauen. Er konnte es sicher sehen.

„Wovon sprichst du?“

Er nahm ihre Hand und legte sie auf ihren Unterleib.

Eiseskälte schien plötzlich durch ihre Venen zu schießen.

„Was in Gottes Namen…“, brachte sie nur mühsam hervor und starrte an sich hinab. Sem jedoch nahm den silbergrauen Blick nicht von Sheenas Gesicht. Als versuche er, ihre Reaktion zu analysieren.

Verzweifelt sah Sheena auf und blickte direkt in die Augen von Sem. Ihr war alles Blut aus dem Gesicht gewichen und ihr fehlten die Worte.

„Das ist kein gewöhnliches Kind, Sheena. Es wird in allem besser und schneller sein, als ihr Menschen es je wart. Dieses Kind begründet eine neue Zukunft aus Menschen, die ihren Vorfahren um einiges voraus sein wird.“

Sheenas Hand lag noch immer auf ihrem Bauch in dem sie bereits Leben spürte.
 

Sie wusste nicht, wie sie ins Zimmer und dann ins Bett gelangt war. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wusste nur, dass sie seit Stunden auf einem Bett lag, über deren Komfort sie sich nun keine Gedanken mehr machte. Ihre Handflächen presste sie flach auf die Matratze, als wolle sie die Erdhaftung nicht verlieren, während sie die Bewegungen in sich auszublenden versuchte.

Wie konnte das sein? Sie war keinen ganzen Tag schwanger und nun erwachte dieses unerwünschte Ding in ihr zum Leben. Ein Ding, ja, das war es. Irgendeine Kreatur, halb Mensch, halb Monster. Sheena zitterte schon eine ganze Weile unkontrolliert, während die Welt um sie herum wie ein Wirbelsturm schnell seine Bahnen zog.

Sie würde ihre Freunde nicht retten können. Sem hatte ihr nicht gesagt, wie schnell das Kind wuchs, aber Sheena befürchtete, dass es nur wenige Wochen dauern würde, bis sie entbinden musste. Die Bandbreite dieses unglaublichen Projekts der Engel wurde ihr jetzt erst richtig bewusst. Sie konnten innerhalb einer sehr kurzen Zeit die Welt mit ihren Nachkommen bevölkern. Sie mussten die Menschen nur wie Tiere ein Kind nach dem anderen zur Welt bringen lassen.

Plötzlich sprang Sheena auf und rannte zu einem Nachttopf aus Keramik. Sie schaffte es gerade, ihrer langen Haare zusammen zu halten, bevor sie sich so lange übergab, bis sie nur noch Galle schmeckte. Ob das nun die morgendliche Übelkeit oder die Situation war ihr egal. Sie legte das schweißnasse Gesicht auf den Rand der Schüssel und schloss die Augen.

Es gab nur eine andere Möglichkeit, als das Kind zur Welt zu bringen. Sie würde trotz allem fliehen und bei dem Versuch, ihre Freunde in der Steppe zu finden, sterben. Die zweite Option schien ihr im Moment die wünschenswertere.
 

Rosa, die begleitet wurde von Michael, fand Sheena dann auf der Erde, neben dem Topf, kauernd und vor sich hin starrend. Dunkle Haarsträhnen klebten ihr in Gesicht und Nacken. Rosa warf Michael einen besorgten Blick zu, bevor sie sich leise neben Sheena setzte und ihr sanft eine Hand auf den verkrampften Rücken legte. Michael verschwand sofort wieder.

„Liebes, ist die Übelkeit sehr schlimm?“

„Verschwinde!“ Sheenas Stimme war dünn und brüchig, aber das was sie sagte war unmissverständlich ernst gemeint.

„Komm ich bring dich ins Bett.“

Rosas dicker Bauch kam in Sheenas Blickfeld und sofort wurde ihr wieder schlecht. Sie würgte trocken, während sie die helfende Hand fort schlug.

„Bitte geh.“, wimmerte sie.

Rosa seufzte leise. „Du kannst hier nicht liegen bleiben, Kleine. Wenn du durch mich nicht aufstehst, werde ich Japhet oder Sem holen müssen.“

„Was ist hier los?“

Sheena schloss erneut die Augen. Konnte Rosa nicht ihre Gedanken für sich behalten? Sem war eine Landplage und sie wollte ihn weder sehen, noch dass er ihr zu nahe kam. Sie stemmte sich auf die Ellenbogen und erhaschte einen Blick auf Rosas mitleidiges Gesicht. Sem stand in die Tür mit verschränkten Armen und musterte sie wie ein kleines, unwillkommenes Insekt. Alleine damit er verschwand, versuchte sie alles um vom Boden hoch zu kommen. Rosa kam ihr zu Hilfe, doch Sheena wehrte sie rüde ab.

„Versteht ihr denn nicht, dass ich eure Hilfe nicht will?“, brachte sie zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor, doch Rosa schien ihr gar nicht zuzuhören. Sie stützte Sheena bis diese auf dem Bett lag.

„Es ist selten, dass den Frauen schlecht wird, Liebes. Das hat sicher mit deiner Einstellung zu dem Kind zu tun. Die Kleinen sind intelligent.“

Rosa sagte das mit solch einer Wärme in der Stimme, dass sich Sheenas innere Abwehr erneut meldete. Was wuchs da in ihre heran? Ein Alien? Sie warf Rosa einen verächtlichen Blick zu, ignorierte Sem vollständig.

„Warum habt ihr dem Kind dann nicht diesen Umstand erspart?“

Rosa ging drauf nicht ein, sondern verließ das Zimmer mit den Worten, dass sie Sheena etwas zu Essen besorgen würde. Nur Sem blieb wo er war und ließ sie nicht aus den Augen. Sein kalter Blick war nervtötend.

„Kannst du bitte durch die gleiche Tür verschwinden wie die Zuchtkuh?“

Sie wandte sich um, sodass sie ihn nicht mehr sehen musste. Sie hörte Schritte und hoffte, dass Sem verschwunden war, doch stattdessen trat er wieder in ihr Blickfeld und stand nun an ihrem glaslosen Fenster.

Es fiel ihr schwer, Sem nicht anzuschauen. Er war ganz in schwarz gekleidet und sein nackter Oberkörper zeigte, dass er nicht nur mächtig, sondern auch stark war. Seine weißen Schwingen warfen riesige Schatten auf das Bett und Sheena hatte das verrückte Gefühl, ihnen ausweichen zu müssen. Als sie aufsah traf ihr Blick den seinen. Er hatte ihre Reaktion bemerkt.

"Was macht dir mehr Angst, das was wir sind oder das was wir vorhaben?"

"Wer sagt, dass ich Angst habe?", sie schaffte es nicht, seinen grauen Augen Stand zu halten.

"Vielleicht verstehe ich die Menschen oft nicht. Sie sind unberechenbar in allem was sie sind und tun. Aber eins wird immer ihre größte Schwäche sein, die Fähigkeit zu fühlen."

Er kam näher und Sheena krallte die Hände in die Decke, damit sie nicht zurück wich. Mit Gefühlen hatte er sicher keine Probleme.

"Ich spüre und rieche deine Angst. Sie ist immer zu jeder Zeit bei dir, wie ein Schatten. Selbst wenn du alleine bist. So haben wir dich gefunden."

Er wirkte selbstgefällig und Sheena musste sich Mühe geben, ihn nicht spüren zu lassen, was sie von ihm hielt. Sem seufzte.

"Genauso wie dein Zorn. Das ist das Seltsame bei dir. Die Angst macht dich stark, da du in deinem Zorn bereits bist, alles zu tun, um dieses Gefühl zu überwinden."

"Und das Fazit deiner Analyse ist?"

War das etwa der Deut eines Lächelns? In dem Moment trat Japhet in den Raum. Sein Blick ging abschätzend zwischen Sem und ihr hin und her, bevor er die Antwort gab, die Sheena nicht von ihm erwartet hätte.

"Du hast zwar Angst und lehnst uns und unsere Idee ab, doch du wirst es schaffen. Das ist deine Natur, deshalb haben wir dich ausgesucht."
 

Sheena wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Sie sah in die tiefschwarzen Augen von Japhet und hatte Schwierigkeiten sich auf ihn zu konzentrieren, während die Gedanken Ping Pong spielten.

"Ihr habt mich...ausgesucht?"

Sie war verwirrt.

Sem ging zurück zum Fenster und sah stumm hinaus, während Japhet sich ans Fußende des Bettes setzte. Irgendwie hatte die Situation etwas von einem Gespräch, wie es Eltern führten, wenn sie ihrem Kind etwas Unangenehmes beibringen mussten.

"Du hast deine Gruppe alleine geführt, für sie Nahrung und Wasser gesucht und sie vor den Gefallenen versteckt?"

Er wusste das doch! Sheena nickte vorsichtig.

"Seitdem eure Welt zerstört wurde, kämpfen die wenigen Überlebenden der Sintflut um ihr Leben. Am Anfang waren es noch ganze Familien, oft zusammengeschlossen zu Gruppen von bis zu fünfzig Personen. Doch in den letzten Jahrzehnten hat Hunger, Durst und Leid dafür gesorgt, dass sich die Gruppen aufgespalten haben."

Er blickte zu Sem, der jedoch sah unverwandt hinaus.

"Die Menschen sind von ihrer Art schon von jeher egoistische Natur gewesen. Sie sind sich selbst am nächsten. Daher ist deine Gruppe eine Seltenheit, sogar einzigartig."

Sie starrte Japhet noch immer verständnislos an.

"Wollt ihr damit sagen, dass es sonst nur wenigen gelungen ist, eine solch große Gruppe durchzubringen?"

"Es ist niemandem außer dir gelungen!"

Sheena überkam ein beklemmendes Gefühl. Die Vorstellung, dass es außer ihren Freunden ihr kaum Menschen zusammen überlebt hatten, machte sie traurig.

"Na schön, gut möglich, aber was hat das mit euch zu tun? Das ist meine Familie. Wir haben immer zusammen gehalten. Für mich war das vollkommen selbstverständlich."

Sheena wurde unruhig, wollte dieser seltsamen Situation entkommen. Sie schlug die Decke zurück und versuchte aufzustehen, aber der Schwindel kehrte mit einer solchen Wucht zurück, dass sie zunächst sitzen bleiben musste. Japhet saß noch immer auf dem Bett, doch Sem stand von der einen zur nächsten Sekunde neben Sheena. Leider hatte sie nicht die Kraft ihm einen bösen Blick zu zuwerfen.

"Ihr seid diejenigen, die meine Familie auseinander gerissen habt. Die Hälfte meiner Gruppe ist wahrscheinlich tot, weil ihr das getan habt, was die Gefallenen nicht geschafft haben. Ihr habt uns getrennt." Wie ein Feuerball durchzuckte Sheena, Wut, Hass und Verzweiflung. Wie sehr sie diese Wesen verachtete.

Etwas bewegte sich protestierend in ihrem Unterleib und Sheena verkrampfte sich.

"Wir haben dich genau deshalb zu ihrer Führerin auserkoren."

"Zu was?", presste sie gequält hervor und legte eine Hand auf ihren Unterleib. Sem ließ sie nicht aus den Augen und seine Lippen waren nur noch eine schmale Linie.

"Du wirst die neue Menschheit in eine bessere Zukunft führen. Sie brauchen auch dann eine starke Person, die ihnen den Weg weist, wenn wir nicht mehr auf Erden weilen."

"Fahrt zur Hölle!"

Von Schmerzen zerrissen, sackte Sheena in sich zusammen. Das Baby hatte eindeutig eine andere Meinung dazu.

Feuer und Stolz

Ein wolkenloser Tag ging über in eine ebenso klare Nacht. Rosa stand an dem Tor, welches hinaus in den staubigen Hof führte und sah in den Himmel. Auch wenn sie wusste, dass es dort oben eine höhere Macht gab, war sie noch immer fasziniert von diesem Gedanken. Trotzdem spürte sie keinen Hass mehr, seitdem sie Michael kannte. Er hatte ihr die Hoffnung zurück gegeben, dass Gott kein Monster war. Nur menschlicher als sie immer gedacht hatten.

Menschlich genug, Fehler zu machen.

Hinter ihr saßen einige Engel um den massiven Holztisch versammelt und berieten sich über die Neuankömmlinge. Um es auf den Punkt zu bringen, sprachen sie über Sheena, die in ihrer Wut auf die Engel fast ihr Kind verloren hatte. Dies war bisher niemandem gelungen und nun saßen die Männer etwas ratlos zusammen.

Die anderen Frauen waren in ihre Zimmer geschickt worden, da sie nichts von dem Gespräch mitbekommen sollten. Rosa war von Anfang an in den Fall Sheena mit einbezogen worden und somit durfte sie auch anwesend sein.

Ihr Blick fiel auf Michael, der sehr ernst aussah, als er Japhet zuhörte, welcher Sheenas Zusammenbruch schilderte. Sie liebte den Mann, auch wenn sie wusste, dass er sie nicht als Frau im eigentlichen Sinne sah. Er respektierte sie als das, wofür er sie brauchte. Manchmal verletzte Rosa dieser Gedanke, dann wiederum war sie einfach nur froh, dass sie ihn hatte und dass er sich solche Mühe gab, ihr ein positives Gefühl zu vermitteln. Er suchte sie nur auf, wenn er darauf aus war, sie zu schwängern, doch er hörte ihr auch zu. Das war mehr als alles, was sie vorher gehabt hatte. Trotzdem wünschte sie sich manchmal, dass es mehr gab, was sie verband.

"Wenn sie sich weiterhin so gegen uns und unsere Aufgabe sträubt, wird sie sich und das Kind umbringen.", sagte Ignatius in dem Moment, als Rosa wieder zu den Engeln dazu stieß. Sie setzte sich nicht, sondern blieb hinter Michael stehen.

"Sie ist in diesem Zustand auch nicht für die Aufgabe brauchbar, die wir ihr zugedacht hatten.", gab Michael von sich.

Rosa wusste wovon er sprach, da er ihr das zuvor ausführlich erklärt hatte.

"Habt ihr mal daran gedacht, auf sie zu zugehen?"

Zehn göttliche Gesichter wandten sich ihr zu. Ihr schwaches menschliches Herz begann zu rasen, doch sie riss sich zusammen.

"Ihr habt sie in einer Situation größten Widerstands geschwängert. Sie weiß nicht wer der Vater ihres Kindes ist, sie weiß nicht, dass sich eine Allianz zwischen Frau und Engel bildet. Und ihr habt ihr einen Teil ihrer Familie geraubt."

Rosa konnte nicht verhindern, dass sie ebenfalls ein wenig Wut auf die Männer vor ihr verspürte. Sie wusste, dass die Engel dies an ihren Worten hörten.

"Unter diesen Umständen wird sie es schaffen, ihrem Leben und dem ihres ungeborenen Kindes ein Ende zu setzen. Nur weil ihr es für richtig haltet, ihr nicht die Wahrheit zu sagen."

Rosa sah in die Runde. Auch sie wusste nicht sicher, welcher Engel Sheena bei gelegen hatte, aber sie hatte eine Ahnung.

"Ihr habt ihr etwas für sie ganz wichtiges genommen, ihre Selbstbestimmung. Gebt ihr einen Teil davon zurück. Wenn sich ihr Partner outet, wird sich ihr Zorn wenigstens erstmal fast nur noch gegen ihn richten. Das ist mit Sicherheit besser, als das sie sich weiter in ihre Ablehnung hineinsteigert, bis sie tot ist."

Ein Paar Augen loderten mit einer solchen eisigen Kälte, dass Rosa sich bestätigt sah in ihrer Vermutung.

Doch es war Japhet, der das Wort an sie richtete: "Sie ist für die Botschaft Gottes nicht empfänglich. Selbst wenn sie weiß, welche Engel ihr Partner ist, wie willst du sie umstimmen?"

"Gar nicht!"

Die Engel tuschelten, einige warfen sich verwirrte Blicke zu. Manchmal waren sie den Menschen ähnlicher, als sie dachten.

"Keiner von uns ist in der Lage, ihre Ablehnung zu durchbrechen!"

Nun sah auch Michael sie an, als habe sie den Verstand verloren. Als Rosa nun weiter sprach, erhob sie die Stimme, mit der Genugtuung, den Engeln voraus sein zu können.

"Niemand außer dem Kind, welches sie unter dem Herzen trägt, denn sie ist immer noch eine Frau. Daher solltet ihr dafür sorgen, dass sie es nicht tötet."

Rosa wandte sich ab und verließ den Saal. Sie war Sheena in ihrer dickköpfigen Art fast dankbar, dass sie die Engel zwang, sich mit der Menschheit wirklich auseinander zu setzen. Und mit den Frauen, die hier lebten.
 

Als Sheena erwachte, klebte ihre Zunge an ihrem Gaumen und ihre Augen waren so schwer, dass sie sie kaum aufbekam. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch der Durst war am Schlimmsten. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Und schaffte nicht nur, ihre Augen zu öffnen, sondern auch einen Punkt des Zimmers zu fixieren, der wie ein Leuchtfeuer durch ihre Lieder drang.

Es war Ignatius.

Es saß auf einem der Stühle direkt bei ihrem Bett und lächelte sie so warmherzig an, dass Sheena ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte.

"Schön, dass du wach bist. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht."

"Um mich oder das Kind?"

Er lächelte.

"Du würdest sogar noch mit deinem letzten Atemzug gegen jeden positiven Gedanken kämpfen, nicht wahr?"

Sheena blieb ihm die Antwort schuldig.

Ignatius schien zu ahnen, wie sie sich fühlte und reichte ihr ein Tonbecher mit Wasser, welcher auf dem kleinen Tisch gestanden hatte. Sheena wollte gierig trinken, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es nicht schaffte den Becher anzusetzen. Ignatius nahm es ihr sanft aus den Händen und setzte ihn ihr dann an die Lippen. Es ging nicht ein Tropfen daneben.

"Ich sollte dir wohl danken.",brachte Sheena nur mit Mühe hervor.

"Du hast mich vor dem Verdursten bewahrt."

Ignatius hörte die Ironie in ihren Worten, doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

"Gern geschehen. Darf ich dich trotzdem fragen, wie es dir geht?"

Sie war zu schwach um sich gegen eine so einfache Frage zu wehren.

"Zerschlagen. War es schlimm?"

Schlimmer als sie glaubte, denn ihr ganzer Körper schmerzte.

"Es hätte euch fast das Leben gekostet."

"Wenn du fast sagst, lebt scheinbar noch alles an und in mir."

Sie wagte es nicht, an sich hinunter zu sehen. Sie hatte nicht nur Schmerzen, sondern fühlte sich bereits unförmiger.

"Bereust du es so sehr?"

"Würdest du das nicht auch tun? Wenn man dir das aufgezwungen hätte."

"Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, mir ist es nicht vergönnt ein Kind in mir zu tragen."

Er machte tatsächlich Witze. Sheena verzog das Gesicht.

"Es ist ja auch deine Aufgabe, diese Zucht zu befürworten."

Ignatius erhob sich vom Stuhl und setzte sich zu ihr. Wieso gingen diese Engel eigentlich immer so auf Tuchfühlung? Wahrscheinlich meinten sie, es würde sie ihrem Ziel näher bringen, sich so menschlich wie möglich zu verhalten. Da war er aber im falschen Zeitalter.

"Du wirst dich und das Kind töten, wenn du so weiter machst. Dein Kind hat sich gegen deine Einstellung gewehrt!"

Dann war es denn Engeln ähnlicher als mir. Unglaublich! Sollte das Kind nicht mein Verbündeter sein?!

"Und das wollt ihr natürlich um jeden Preis verhindern. Das passt nicht in euren Plan."

"Reden wir mal nur von mir."

Ignatius wirkte auf einmal so ernst, dass Sheena nicht anders konnte, als ihm ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

"Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Nicht um jeden Preis. daher möchte ich dir einen Vorschlag unterbreiten."

"Der auch nur von dir stammt?"

"Uns fällt es sehr oft schwer, wie ihr Menschen zu denken. Deshalb machen wir auch so viele Fehler."

Er spreizte seine Flügel, als ob er sich strecken müsste.

"Ich möchte dir ein wenig von uns erzählen."

Sheena verkniff sich eine sarkastische Bemerkung. Ignatius offenes Gesicht machte es ihr schwer, ihn abzuweisen.

"Die Engel waren schon immer ein wenig eifersüchtig auf die Menschen. Gott liebte sie mehr als uns, obwohl ihr immer schon schwach und ungehorsam gewesen seid. Trotzdem hat Gott euch immer wieder eine Chance gegeben, hat jahrelang nur Tränen vergossen, weil ihr euch gegenseitig mordetet und auch seine anderen Geschöpfe mehr und mehr die Existenz raubtet."

Er legte eine Hand auf ihren Arm, den sie nicht weg zog. Sein Gesicht schien umwölkt von all dem Schmerz der Welt.

Und er hatte Recht!

"Er entschied sich, dem ein Ende zu setzen. Doch er machte den größten Fehler seines Daseins. Er zerstörte das, was er am meisten liebte und verlor nicht nur die Menschheit, sondern auch die ganze Welt und viele seiner Engel. Das Leid was er sähte, erntete er tausendmal zurück."

Er lächelte traurig.

"Deshalb sind wir hier. Wir sind diejenigen, die ihm helfen gut zu machen, was er getan hat. Er hofft, dass das Gute in euch Menschen überlebt, mit unserer Hilfe. Und mit deiner."

Sheena runzelte die Stirn.

"Mit meiner Hilfe?"

"Du bist einer der Gründe, warum Gott die Menschen liebt. Du verkörperst die guten Eigenschaften, die er immer an euch bewundert hat und die wir nie hatten. Ich bitte dich daher, mir die Chance zu geben dir zu zeigen, was wir hier tun."

Einen Augenblick starrte sie den rothaarigen Engel an. War Ignatius vielleicht ihr Ausweg aus dieser Hölle? Wenn sie ihn zum Freund hatte, fiel ihr sicher auch die Flucht leichter, die sie früher oder später wagen würde. In ihrem Unterleib polterte es und Sheena konnte nicht umhin zu denken, dass sie da einen Verräter gebären würde.

"Ich bin für einen Deal!"

Ignatius wirkte verblüfft, wobei sich das sicher mehr darauf bezog, dass sie seinen Vorschlag nicht kategorisch ablehnte.

"Ich gebe dir, und nur dir, die Chance, mir euer Vorhaben zu erklären."

Der Engel nickte.

"Dafür wirst du dafür sorgen, dass ich erfahre, wer der Vater des Kindes ist, das ich gebären soll."

Ignatius grinste so erleichtert, dass es Sheena schwer fiel, nicht zu lächeln. Doch sie riss sich zusammen.

"Deal!"
 

Verkrampft presste Sheena ihre schweißnassen Hände auf die Tischplatte und versuchte die gellenden Schreie auszublenden, die durch die Burg hallten. Die Nacht war bereits hereingebrochen und sie saß alleine in der großen Halle, während eine junge Frau einige Etagen über ihr eins dieser Mischlinge zur Welt brachte. Sie kannte ihren Namen nicht, aber sie war kaum älter als Sheena und gebar bereits ihr drittes Kind.

Ignatius war die letzten zwei Tage kaum von ihrer Seite gewichen. Gemäß ihres beiderseitigen Versprechens, hatte Sheena versucht dem Engel zuzuhören. Ziemlich bald musste sie feststellen, dass sie den Rotschopf mochte. So sehr, dass sie ihn immer weniger als Monster und vielmehr als Mann sah.

Vielleicht, weil er ihr so ehrlich vorkam. Was aber wirklich das Eis gebrochen hatte, war die Art, wie er mit seiner Auserwählten umging.

Ignatius hatte Sheena noch am selben Tag mit Alira bekannt gemacht. Einer sehr jungen, dunkelhaarigen und zierlichen Frau, deren braune Augen beim Anblick des Engels aufleuchteten und permanent an seinen Lippen hingen. Sheena hätte die junge Frau für ihre Anbetung verachtet, wenn sie bei Ignatius nicht genau dieselbe Veränderung beobachtet hätte.

Fasziniert und auch gleichzeitig verwirrt hatte sie die beiden angestarrt, als sie sich fast liebevoll begrüßten.

Alira hatte erst vor kurzem entbunden und sie zeigte Sheena stolz ihren winzigen, rosigen Sohn. Das erste Kind, welches sie zur Welt gebracht hatte und sie war noch nicht wieder schwanger, wie sie Sheena anvertraute.

„Ignatius möchte sicher gehen, dass es mir gut geht. Daher warten wir noch.“

Sie sah ihrem Erwählten nach, der gerade Saal durchschritt um mit Sem zu sprechen. Alira und sie standen in der Nähe des unglaublich großen Kamins, dessen düstere, rachenartige Öffnung Sheena einen Schauer über den Rücken jagte.

Sheena versuchte die Anwesenheit des dunklen Engels zu verdrängen, welcher mit leicht geneigtem Kopf seinem rothaarigen Bruder zuhörte, daher musterte sie Alira genau.

Das Leben in diesem Gefängnis aus Stein tat dieser Frau gut. Sie strahlte und wirkte glücklich und das Baby in ihren Armen schien so unglaublich normal. Sheena hatte noch nicht gewagt, einem der Kinder nahe zu kommen, so stark war ihre Abscheu. Doch dieses kleine Wesen in den Armen seiner Mutter sah überhaupt nicht besonders aus. Sie hatte alles Mögliche erwartet, aber nicht dieses süße unschuldige Kind. Ein Mensch, kein Monster.

Es wurde eng in Sheenas Brust und sie musste den Blick abwenden.

Eine weiche, leichte Hand legte sich über die ihre.

„Verschließe die Augen nicht vor etwas so schönem!“, flüsterte Alira und ihr Blick war so durchdringend und ehrlich, dass Sheena ihm nicht standhalten konnte.

„Ich kann das nicht. Das ist nicht das Leben, was ich mir ausgesucht hätte. Niemals!“, flüsterte sie.

Alira lächelte sanft und entblößte eine Brust um ihren Sohn anzulegen.

„Die Wahl fällt niemandem leicht, auch wenn du das vielleicht denken magst. Aber ich sehe auch in deinen Augen Einsamkeit, Sheena.“

Überrascht hielt Sheena den Atem an. Alira lächelte auf ihr Kind hinab.

„Warum sollte es bei dir anders sein? Nur weil du eine Gruppe einer solchen Größe durchgebracht hast, heißt das nicht, dass du anders fühlst. Ich glaube sogar, dass man gerade dann besonders alleine ist.“

Sie hatte so recht und genau das wollte Sheena nicht zugeben.

„Sie sind meine Familie!“

„Die sofort mit den Engeln gegangen sind, als sie die Wahl hatten.“

Bevor Sheena protestieren konnte, fügte die junge Frau noch hinzu:„Auch in dieser Gemeinschaft wird viel geredet. Jeder weiß was passiert ist.“

Sheena warf Ignatius einen bösen Blick zu. Also tratschten auch Engel.

„Einsamkeit, Trauer Verzweiflung. Das haben die Gefallenen zurückgelassen, Sheena. Welcher Mensch kann so leben? Die Engel haben uns einen Teil davon zurückgegeben, für einen lächerlich geringen Preis. Der mag dir jetzt noch hoch vorkommen, aber der Moment wird kommen, wenn du dein Kind in den Armen hältst und du wirst es verstehen.“

Sheena senkte den Blick und suchte das Gefühl wieder zu finden, welches sie gegen das Glück dieser Frau wappnete. Unwillkürlich strich sie über ihren Unterleib. Sheena konnte es nicht einmal mehr richtig benennen. Sie wusste sie hasste die Engel, aber auch nicht bedingungslos alle. Ignatius schien ihr menschlicher, als sie sich eingestehen wollte.

Sie wusste, dass sie dieses Vorhaben verabscheute, aber sie sah, dass es nicht nur Unglück hervorrief.

Doch am Ende des Tages wusste sie auch, dass all die guten Vorsätze für sie nicht ausreichten. Nicht unter diesen Vorraussetzungen.

„Ich danke dir Alira. Für die Zeit, die du dir für mich genommen hast.“

Sie wandte sich bereits ab und Sheena konnte in der betroffenen Mine der jungen Frau sehen, dass sie wusste, sie hatte versagt.

„Ich hoffe, dass du mit Ignatius als deinen Auserwählten glücklich bist. Er ist einer der Wenigen, der weiß, was seine Erwählter für ihn tut.“

Alira hielt sie nicht auf, als sie die Halle durchquerte um in den Innenhof zu gelangen.
 

Wolkenloser, blauer Himmel und warme Sonnenstrahlen. Dies war das erste Mal seit vielen Jahren, dass Sheena sie genoß. Sie lag rücklings im Staub und ihre Gedanken wanderten mit Frank und den anderen, die hatten zurückbleiben müssen. Für sie war dieser Himmel Todbringend, für Sheena jedoch barg er keine Gefahren mehr. Dieser Umstand konnte sie einfach nicht glücklich machen.

Tränen ließen den Himmel verschwimmen.

„Shee!!!“

Polly und Amaras kleinen runden Gesichter erschienen in ihrem Blickfeld. Sofort fuhr Sheena hoch. Sie hatte ihre Freunde seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen, und sie in ihrem Unglück auch sträflich vernachlässigt.

„Oh Gott. Ihr Süßen!“

Sie umarmte die beiden Mädchen und die kleinen Körper schmiegten sich liebevoll an sie.

„Wo habt ihr den gesteckt? Geht es euch denn gut?“

Sie küsste jedes Kind auf die Wange und musterte sie dann besorgt. Beide Kinder wirkten gesund und zufrieden.

„Sie haben im Berg eine Spiellandschaft für alle Kinder, Shee.“

Amara wickelte sich begeistert ihre blonden Locken um die Finger, während sie Sheena von den vielen Wundern erzählte, die die Engel für sie erschaffen hatten.

„Kaja ist dann diese Wasserrutsche runter und der Engel Konstantin hat sie aufgefangen! Sie haben wirklich immer Zeit für uns.“

„Ist das so?“

Sheena blickte in Pollys sonst so verschlossenes Gesicht, doch auch die Kleine strahlte begeistert.

Sie trugen schlichte braune, aber saubere Leinenkleider und alles an ihnen strotzte nur so vor Energie. Es war eine Ewigkeit her, dass Sheena sie so gesehen hatte.

„Du musst dir das unbedingt einmal anschauen kommen, Shee. Mama und die anderen machen jetzt ganz viel Urlaub und schlafen viel. Aber sie haben sich auch schon gefragt, wo du bist.“

Pollys Mutter hatte sich bisher nie wirklich an dem Gruppenleben beteiligt, daher konnte Sheena nur mit Mühe eine skeptische Bemerkung unterdrücken. Außerdem musste sie den Gedanken verdrängen, was die Engel vielleicht mit den älteren Frauen sonst so taten.

„Ich komme ganz bestimmt mal vorbei, mein Herz.“, versicherte sie mit soviel Begeisterung, wie sie aufbringen konnte.

Aber sie war noch nicht bereit dazu, sich erneut mit einem positiven Aspekt dieser neuen Welt auseinander zu setzen. Die Kinder würden ihre ablehnende Haltung nicht verstehen. Sie waren glücklich.

Sheena hievte sich vom Boden und fragte sich, wann sie so ungelenk geworden war. Man konnte jedenfalls noch nicht viel von der Schwangerschaft sehen.

Sie reichte den Mädchen die Hände.

„Kommt. Wir schauen einmal, was es für uns zum Mittagessen gibt.“
 

Die Sonne war ein Mysterium und Sheena fragte sich, ob Gott auch über diesen mächtigen Stern herrschte. Jetzt jedenfalls küsste sie die Erde um sich zur Ruhe zu begeben. Entschied Gott, wann sie sich schlafen legte? Schob er sie vielleicht über den Himmel?

Sheena lehnte Gedankenversunken in ihrem Fenster.

Welche Macht hatte Gott wirklich? Er hatte diese unheilvollen, geflügelten Wesen ebenso erschaffen wie die Menschen und wenn sie genau darüber nachdachte, unterschieden sich beide Arten kaum voneinander. Auch die Menschheit war grausam und rücksichtslos gewesen. Das war ja auch der Grund, warum sie jetzt nicht mehr existierte.

Aber was sagte das über Gott aus?

Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel riss sie aus ihren Gedanken.

Ein Stöhnen entfuhr ihr.

„Du bist lästig.“

Sem verzog keine Miene, sondern trat in den Raum ohne sie aus den Augen zu lassen.

„Und du stellst zu viele Fragen.“

Ungläubig starrte sie ihn an.

„Du willst mir doch nicht sagen, dass du Gedanken lesen kannst.“

Sem antwortete nicht, sondern lehnte sich nur gegen die Wand, keine zwei Schritte von ihr entfernt. Seine silbernen Augen fühlten sich auf ihrer Haut an wie Eisregen.

Bewusst dachte sie, was sie von ihm hielt. Es zuckte kaum merklich um seinen Mund.

Unglaublich!

Sheenas Herz schlug hart in ihrer Brust. Was kam als nächstes? Ein Röntgenblick oder Zauberkräfte?

„Wir sind nicht allmächtig.“, erwiderte er auf die nichtgestellten Fragen.

„Verschwinde hier!“, zischte sie wütend.

„Keiner von euch hat das Recht in meinen Kopf zu schauen. Wollte ihr mir wirklich alles nehmen, was mir gehört?“

Nahm das denn gar kein Ende? Ausgerechnet der Engel, den sie am meisten verabscheute, nahm ihr ihr letztes Eigentum. Ihre Gedanken.

„Ich kann dich nicht klar hören. Es sind nur Wellen, die mich erreichen, doch je emotionaler deine Gedanken sind, desto mehr verstehe ich.“, sagte er in einem solch unbekümmerten Ton, dass Sheena ihn nur noch mehr hasste.

„Dann sag ich es dir auch gerne deutlich. VERSCHWINDE!“, presste sie wütend hervor.

Sie brachte etwas mehr Raum zwischen sich und diesen dunklen Engel, der sie Stück für Stück einem Tobsuchtsanfall näher brachte. Sem rührte sich nicht vom Fleck. Seine Erscheinung war wieder so unglaublich präsent, dass sie ihn nicht länger ansehen wollte.

„Ich kann nur dich hören.“

Sheenas Kopf ruckte hoch, hatte sie sich verhört?

„Wieso?“

Er zuckte unmerklich mit den Schultern.

„Ich konnte das von Anfang an. Ich habe dich gefunden! Auch wenn ich es mir nicht ausgesucht habe.“

Sheena musste hart schlucken, während sie merkte, dass alles Blut aus ihrem Gesicht wich.

„Wieso kannst du nur mich hören?“

„Nenn es eine Laune der Natur. Auch wir haben keinen Einfluss darauf.“

Er ließ sie nicht aus den Augen und Sheena konnte sich nicht aus seinem Silberblick befreien. Doch er hatte ihre Frage nicht beantwortet.

„Wer kann das noch?“

Irrte sie sich oder war der Engel doch nicht ganz so gelassen, wie er sich gab. Sem erschien ihr auf einmal wachsam und seine bisher legere Haltung wirkte plötzlich angespannt.

„Jeder, der gebunden ist.“

Sheena sog zischend die Luft ein.

„Gebunden?“, presste sie hervor.

Ihre Gedanken und ihr Herz zerrissen sich fast gegenseitig, während sie die ganze Wahrheit begreifen wollten. Sie keuchte.

„Nicht du!“

Glühendheißer Zorn kochte hoch und sie ballte ihre Hände zu Fäusten, obwohl der Wunsch auf ihn einzuschlagen übermächtig war.

„Sag mir, dass nicht du es bist!“

Sem löste sich von der Wand. Seine Haltung verriet ihr, dass er ihr ab diesem Zeitpunkt alles zutraute.

„Du weißt es doch schon die ganze Zeit.“, sagte er leise.

Deshalb ihre innere Abscheu. Ja, sie hatte es gewusst, denn es war das naheliegendste. Doch jetzt wollte sie ihn tot sehen.

Sheena wusste nicht wie, aber in nächsten Moment hielt sie den tonernen Wasserkrug in der Hand und warf ihn in Sems Richtung. Natürlich konnte der Engel ausweichen, sodass der Krug an der Wand zerschellte. Womit er jedoch nicht rechnete war, dass sie in dem gleichen Moment auf ihn losging.

Sheena warf sich nach vorne und rammte ihm ihre Schulter in den Bauch. Schmerz explodierte und erschütterte ihren ganzen Körper, doch sie hörte auch Sem ächzen. Wahrscheinlich mehr aus Überraschung als dass sie ihn wirklich verletzt hatte, doch Sheena war das in ihrem rasenden Zorn eine Genugtuung ihn aus der Fassung gebracht zu haben.

Obwohl der Schmerz in der Schulter Pünktchen vor ihren Augen tanzen ließ, traktierte sie ihn weiter mit allem was ihr zur Verfügung stand, wobei sie ihr Messer schmerzlich vermisste.

Sie erlangte noch einige Treffer gegen seine Beine und eine schallende Ohrfeige, bevor Sem sie geschickt abwehrte und sie im nächsten Moment, gefangen von seinen Armen mit dem Rücken an ihn gepresst, daran hinderte weiter zu zuschlagen.

„Verdammt noch mal.“, fauchte Sheena.

Blind vor Zorn, versuchte sie sich zu befreien, aber ihr hätte von Anfang klar sein müssen, dass sie gegen den Engel keine Chance hatte. Dieser Bastard las ihr Gedanken, er wusste wie sehr sie ihn verabscheute und er wusste, dass sie ihn am Liebsten von dieser Erde getilgt hätte dafür, dass er ihr ihre Freiheit geraubt hatte.

„Beruhige dich!“, zischte er ihr ins Ohr und sein warmer, aber auch hektischer Atem im Nacken verursachte ihr eine Gänsehaut.

„Fahr zur Hölle!“

Sheena strampelte, trat Sem, doch er ließ nicht von ihr ab und bald verließ sie die Kraft und auch ihre Wut konnten ihr keine Reserven mehr entlocken. Trotzdem lockerte Sem seinen Griff nicht.

„Du wirst mir jetzt zuhören.“

Sein Gesicht lag an ihrer Wange und sein Mund streifte ihr Ohr, während er leise, aber eindringlich sprach. Alles in Sheena schrie, weil seine Nähe ihr unerträglich war, aber sie brachte keinen Ton heraus.

„Wir sind füreinander auserwählt worden. Gott hat das so gewollt und wir werden uns fügen. Hast du mich verstanden?“

Als wäre das ein Grund. Sheena verspannte sich wieder und sofort verstärkte sich der Griff. Ihr entfuhr ein ersticktes Wimmern.

„Ich bin der Engel, der bei dir liegen wird, wann immer er es für notwendig hält. Du wirst meine Kinder gebären. Das ist der Plan. Wenn du dich nicht fügen willst, werde ich dafür sorgen, dass du permanent in genau dem Zustand sein wirst, in dem ich das erste Mal bei dir war.“

Nebel. Das war das, was von dieser Erinnerung übrig war. Sie würde wie unter Drogen dahin siechen und er konnte sich bedienen wann er wollte.

„Genau so wird es sein, Sheena.“

"Verschwinde aus meinem Kopf!", brachte sie gepresst hervor. Seine Arme schnürte ihr die Luft ab.

„Es muss nicht so sein, weißt du. Gib nur ein wenig nach und es wird leichter.“

„Nicht in diesem Leben.“, entfuhr es ihr böse und Sheena vernahm wütendes Zähneknirschen.

„Sem! Lass sie los!“

Sem und Sheena fuhren beide herum. Ignatius und Japhet standen in der Tür. Während Japhet interessiert aber emotionslos das Schauspiel verfolgte, wirkte Ignatius eher wütend.

„Das geht dich nichts an, Bruder.“

Sheena konnte Sems Gesicht nicht sehen, aber er schien nicht gerade erfreut über Ignatius Einmischung. Der ließ sich jedoch nicht beirren. Er betrat den Raum, während der dunkle Japhet sich keinen Meter rührte, und legte Sem beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

„Vergiss nicht, wofür wir dies alles tun. Lass deine Wut nicht an ihr aus.“

Überrascht und gleichzeitig verwirrt lauschte sie den Engeln. Sem ließ sie so augenblicklich los, dass sie ins Stolpern geriet und sich am Bettpfosten festhalten musste. Ihr Körper schmerzte an den Stellen, in denen ihr Blut wieder zu zirkulieren begann. Ihre Schulter musste schlimm geprellt sein. Doch sie konnte die Augen nicht von diesen unterschiedlichen Männern lassen, die sich wie Duellanten gegenüber standen.

„Ich tue das, was man von uns verlangt. Ich verdiene deine Kritik nicht!“, zischte Sem.

In seinen Augen züngelte kaltes Höllenfeuer. Ignatius dagegen war die Ruhe in Person.

„Du tust es mit einer solchen Abscheu, dass du es deiner Auserwählten nicht gerade einfacher machst. Vergiss nicht, wer sie ist.“

„Als könnte ich das vergessen.“, der Sarkasmus war nicht zu überhören und Sheena hätte nur zu gerne nachgehakt, aber dafür interessierte sie das Schauspiel zu sehr.

Sem schob sich wortlos erst an Ignatius und dann an Japhet vorbei. Die Resignation in beider Blicke sprach Bände. Diese Auseinandersetzung hatten sie bereits des Öfteren geführt, das war eindeutig.

Sprachlos blickte sie Sem hinterher. Das veränderte die Ausgangslage und sie wusste noch nicht wirklich, wie sie damit umgehen sollte.

Der dunkle Engel

„Du wirst es mir nicht erklären oder?“

Sheena stand mit Ignatius auf der Mauer der Felsenburg und überblickte die karge Wüstenlandschaft, welche sich bis zum Ende der Welt zu erstrecken schien. Nach dem Vorfall gestern Abend, war der Rotschopf nur so lange geblieben, bis er sicher war, dass Sheena nichts fehlte. Dann war er wie Japhet eilig aus dem Zimmer gestürmt, vermutlich um Sem abzufangen. Sheena hatte lange wach gelegen um das Gespräch zu verstehen, welches sie mit bekommen hatte.

Sem war ein eiskalter Bastard und der Vater ihres Kindes. Er war dazu auserwählt, mit ihr eine neue Dynastie zu gründen, nach Gottes Plan. Und sie wollte, dass er dafür elendig verreckte.

Auch wenn sie keinen anderen Mann akzeptiert hätte, so war der Eisengel so etwas wie der Witz der Natur. Sie waren wie Gegenpole, die gezwungen wurden, miteinander zu arbeiten. Unfassbar ironisch!

Aber Sem hatte gestern Abend den Eindruck gemacht, als wäre er selbst gegen diese Verbindung. Sheena war erst wenige Tage hier gefangen, doch sie hatte gesehen, dass alle Engel absolut für dieses Vorhaben waren. Sie kümmerten sich um die Frauen und die Kinder und trugen stets einen zuvorkommenden und freundlichen Ausdruck zur Schau. Nur eben dieser eine nicht. Sem war der erste Engel, der sich zu sträuben schien.

Ignatius wandte seinen Blick vom Horizont ab und musterte Sheena lange. Er schien abzuwägen, wie lange er ihren Fragen standhalten konnte. Sie würde nicht klein bei geben, dass ahnte er wahrscheinlich bereits.

„Was genau von all den Dingen, die gestern passiert sind, willst du von mir erklärt haben?“

Er schindete nur Zeit. Sheena lehnte sich gegen die Hüfthohe Mauer und ließ den Engel nicht aus den Augen. Keine noch so kleinste Gefühlsregung würde ihr entgehen.

„Sem ist nicht wie ihr. Er ist nicht einverstanden mit eurer Mission.“

Dies waren keine Fragen gewesen und als Ignatius nicht widersprach, fuhr Sheena fort: „Wenn er jedoch gegen dieses Projekt ist, wieso ist er dann nicht bei den Gefallenen und hilft ihnen, die Menschheit endgültig zu vernichten.“

Der Rotschopf suchte mit seinem Blick noch einmal den Horizont ab, da er zurzeit Wache stand, dann wandte er sich ihr seufzend ganz zu.

„Sem will die Menschheit nicht vernichten. Ganz im Gegenteil. Er war Gott immer treu und hatte stets Verständnis für dessen Schwäche für seine liebste Schöpfung.“

Er fuhr sich scheinbar müde durch seine dichten Haare.

„Doch er hat ein Problem mit der Art unserer Machenschaften.“

Da waren sie ja schon einmal zu zweit, dachte Sheena. Obwohl sie sich Sem nicht als glühenden Verfechter der Menschheit vorstellen konnte und wollte. Sie fand es angenehmer, ihn als das personifizierte Böse zu betrachten.

„Und trotzdem ist er ein Teil davon!“, entfuhr es ihr wütend.

Sheena sah Ignatius an, dass ihm nicht wohl bei diesem Gespräch war, denn er wich ihrem Blick immer wieder aus.

„Sem hat seine Gründe für sein Verhalten. Für dich sollte nur wichtig sein, dass er Gott nie enttäuschen würde. Wenn du mehr über seine eigentlichen Motive wissen willst, wirst du ihn fragen müssen.“

Sie stieß ein verächtliches Geräusch aus.

„Weder will ich mit ihm sprechen, noch will ich ihn in meiner Nähe haben. Er hat genug angestellt.“

Dabei sah sie an ihrem sich wölbenden Leib hinab.

Als Ignatius liebevoll eine Hand auf ebendiesem legte, wäre Sheena beinahe zurück gezuckt. Sein zärtlicher Blick und die federleichten Berührungen bewiesen einmal wieder, wie anders er war und wie gerne sie ihn hatte.

„Es ist ein kleines Wunder, Sheena. Bitte vergiss das nicht. Es ist immer noch ein Teil von dir und es will geliebt werden.“

Er hob sein hübsches Gesicht und lächelte sie herzlich an.

„So wie jeder von uns.“

Es war, als hätte sie die Sprache vollends verloren. Vollkommen entgeistert starrte Sheena in die grünen Augen dieses Engels, ihrem Feind, und sie sah so viel Liebe, Glück und… Menschlichkeit, dass sie sich all ihrer Grolls entwaffnet fühlte.

„Ihr seid ein seltsames Volk.“, flüsterte sie und bei ihrem Gesichtsausdruck musste Ignatius herzhaft lachen.

„Und du ein störrisches Weibsbild, mit einem großen Herzen.“

Immer noch lachend wich Ignatius einem empörten Schlag aus.
 

Wenige Meter entfernt stand Sem unter einem Türsturz, welcher auf die Brustwehr führte und beobachtete seinen Bruder, der amüsiert mehreren Hieben seiner Auserwählten auswich.

Er hatte nicht gehört, worüber sie gesprochen hatten und das Chaos an Gefühlen in dem Kopf der jungen Frau half Sem wenig weiter. Doch dort war auch ein neues Gefühl. Es prickelte wie Wassertropfen und schmeckte süßlich auf Sems Lippen und er glaubte, dass es mit dem Lachen gekommen war, welches Sheena in genau diesem Moment mit Ignatius teilte.

Der Engel fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und wünschte sich einmal mehr, dass diese Gedanken wieder verschwanden. Es war wie ein permanenter Reiz, Tag und Nacht, der ihn nicht los ließ. Überall und ständig war sie um ihn herum, selbst wenn sie sich nicht im selben Raum aufhielten.

Als er Sheena und ihre Gruppe aufgespürt hatte, war es ihm vorgekommen, als eile ihm sein Innerstes voraus, nur um sie zu finden. Und als er sie gefunden und ihre tief verwurzelte Abneigung gespürt hatte, war es ihm wie ein persönlicher Affront erschienen, auch wenn sie nicht wusste wer er war. Sie dann in Trance zu versetzen, um mit ihr etwas zu tun, was ihm als Engel bisher verwehrt und stets heilig gewesen war, brachte das Fass zum Überlaufen.

Sheenas gestriger Wutausbruch war zwar vorhersehbar gewesen, machte ihm das ganze jedoch auch nicht leichter.

Sem hatte nur ein einziges Mal an Gott gezweifelt und das war der Tag der Apokalypse gewesen. Die Menschheit kollektiv für das Verbrechen anderer zu strafen, war ihm nicht richtig vorgekommen und der Rückzug der Engelsscharen hatte ihn so unendlich erleichtert.

Doch jetzt stand er hier und wurde von dem Echo einer Frau, eines Menschen überwältigt und fühlte sich komplett überfordert.

Was war nur aus der natürlichen Ordnung geworden? Hätten die Gefallenen sich nicht auf die Überlebenden der Menschheit gestürzt, wären sie alle in die unendliche Weite des Himmels zurückgekehrt. Die Menschen hätten in einigen tausend Jahren vergessen, dass es die Engel wirklich gab, so wie 2000 Jahre nach Jesus Tod niemand mehr wirklich an den Sohn Gottes geglaubt hatte.

Jetzt aber waren sie ein Teil der Geschichte und er, Sem, gefangen von einer besonders störrischen und gleichzeitig verführerischen Vertreterin ebendieser Menschheit.

Er ballte seine Hand zur Faust und wandte sich ab. Er musste alles dafür tun, die Kontrolle zu behalten. Und er durfte nicht mehr an jene Nacht denken, die sie beide endgültig verbunden hatte.

Auf seinem Weg in die große Halle begegnete er einigen schwangeren Frauen, die vermutlich den neuen Säugling willkommen heißen wollten. Als sie ihn bemerkten, senkten sie sofort den Blick.

„Erschreckst du wieder unsere Auserwählten?“

Castro kam aus demselben Zimmer, in dem die Frauen eben verschwanden. Er strahlte einen Stolz aus, den er schon öfter bei seinen Brüdern bemerkt hatte, wenn sie ihren Teil zu Gottes Plan beigetragen hatten.

Statt auf die Frage zu antworten, setzte Sem seinen Weg wortlos fort. Er hatte nun einmal diese Wirkung auf Menschen und es störte ihn auch nicht weiter, dass die meisten ihn mieden. Ganz im Gegenteil.

„Du bist ja bester Laune, Bruder.“

Castro schlug ihm freundschaftlich auf den linken Flügel, was Sem ein Knurren entlockte. Aus den Augenwinkeln musterte er den blondgelockten Engel, der seiner Meinung nach viel zu gut gelaunt war und wie Cupido persönlich aussah.

„Du ebenfalls, Castro. Was ist es diesmal? Junge oder Mädchen?“

Der blonde Engel verzog säuerlich das Gesicht und Sem tat es ein wenig Leid, dass er Castro auf die Art die Freude nahm. Er blieb mitten auf der Treppe stehen und blickte zu dem anderen Engel hinauf.

„Bitte verzeih mir, Bruder. Ich hoffe wirklich, dass es Kind und Frau gut geht.“

Castro schloss die wenigen Stufen zu ihm auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Danke, es ist alles bestens verlaufen. Bitte sag mir, was dir so die Stimmung trübt.“

Sie setzten jetzt gemeinsam den Weg fort und somit konnte Sem ein Gespräch mit seinem geflügelten Freund nicht vermeiden.

„Ein Kopf voll weiblicher, komplizierter Gedanken!“

„Ohje, stimmt ja. Du kannst sie hören, nicht wahr?“, fragte Castro voller Mitleid. „Gott sei es gedankt, dass nicht alle mit einer solchen Gabe beglückt wurden. Es ist sicher nicht immer einfach.“

Sie hatten ja keine Ahnung. Manchmal fragte Sem sich, ob Gott ihm jemals mitteilen würde, was er sich wirklich dabei gedacht hatte.

„Gottes Wege sind oft unergründlich. Wäre sie nicht immer so furchtbar wütend, wäre es für uns alle leichter.“, knurrte Sem und nickte einem Japhet zu, der soeben mit seiner Auserwählten auf dem Weg in die oberen Stockwerke war.

Sie hatten nun die Halle erreicht und da Sem keinen großen Wert auf weitere Gespräche legte, durchschritt er diese um in den Hof zu gelangen. Ihm stand der Sinn nach der Freiheit des Himmels. Er harrte nicht gerne auf der Erde aus.

„Sie wird sich bestimmt irgendwann besinnen, Sem. Das tun sie doch alle.“, sagte Castro noch, bevor er Sem alleine ziehen ließ.

Der dunkle Engel wusste, dass seine Brüder es nur gut mit ihm meinten, doch sie waren in diesem Fall blind.

Sheena war nicht so wie die anderen, genauso wie Sem es nicht war. Und deshalb war es für beide umso schwerer.

Sturm der Gedanken

Konnte man einen Engel dafür hassen, was er war, wenn er gleichzeitig mit einem Kind auf dem Schoß eine Wasserrutsche hinunter sauste und dabei genauso jauchzte?

Skeptisch beäugte Sheena einen blond gelockten Mann namens Castro, der mit seinen Söhnen und zwei Jungs aus Sheenas Familie in den heißen Quellen spielte.

Sie ärgerte sich, dass sie der siebenjährigen Charlie in die vielgelobten Höhlen gefolgt war. Doch wie konnte man warmen, glücklichen, braunen Augen widerstehen?

Gar nicht, wie sie trocken feststellte und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die leicht feuchte Wand der Grotte. Sie war froh, dass sie heute nur ein ärmelloses, weißes und leichtes Baumwollkleid trug, denn hier waren mindestens 40° Celcius und sie spürte auch jetzt schon, wie ihr der Schweiß zwischen den Brüsten hinunterlief.

An letztere wollte sie im Moment nicht denken, denn nicht nur ihr Bauch hatte deutlich an Umfang gewonnen. Das Kleid versteckte nichts, aber warum auch?

Seitdem das Kind sie mehrmals täglich durch verschiedenste Tritte daran erinnerte, dass es existierte, sollte es halt auch jeder sehen.

Natürlich war es komisch etwas zu spüren und zu akzeptieren, was man nicht wollte. Aber sie hatte sich angewöhnt, mit dem kleinen Etwas zu sprechen. Wie der einzige Freund zwischen all den Feinden.

„Irgendwie bizarr, dass ich ausgerechnet dich als meinen Freund in Not erwählt habe!“, flüsterte Sheena und strich über ihren Bauch. Sie wurde mit einem vermeintlich aufmunternden Tritt belohnt.

Sie lächelte und schaute wieder in die Grotte, die von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde und somit vier unterschiedlich große Becken, sowie eine scheinbar natürliche Steinrutsche versorgte. Wie viel davon wirklich schon bestanden hatte oder von den Engeln erschaffen worden war, würde Sheena sowieso nicht erfahren. Persönlich faszinierte sie jedoch mehr die sehr hohe Decke der Höhle, die wie ein Sternenhimmel funkelte.

Sheena legte den Kopf in den Nacken und versuchte die Ursache für das irisierende Licht zu erkennen, doch der Wasserdampf ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Waren das Diamanten, die das Licht der vielen Wandfackeln wider spiegelten?

„Tatsächlich ist es Sternenstaub, den wir beim Bau der Grotte benutzt haben.“

Sheena zuckte zusammen und auch das Kind beschwerte sich. Mit laut klopfendem Herzen drehte sie sich zu ihrem persönlichen Albtraum um.

„Hör endlich auf in meinen Gedanken rum zu fuschen!“ stieß sie zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor.

Sem hob eine Augenbraue. Seine eisblauen Augen machten Sheena schwindelig und es ärgerte sie, dass sie zu ihm aufgucken musste. Sie war selber nicht klein, aber Sem maß sicher 1.80m. Musste er sie immer in allem übertreffen?

„Wehe du antwortest jetzt!“, sagte sie genervt und versuchte, ihren Kopf auszuschalten.

Sem hob abwehrend die Arme und schmunzelte.

Geschockt riss Sheena die Augen auf: „Das ist nicht wirklich ein Lächeln, oder? Der dunkle Engel kann lächeln!“

„Der dunkle Engel also. Interessant!“

Hatte er schon immer so eine tiefe, äußerst Gänsehauterzeugende Stimme gehabt? Sheena schloss verzweifelt die Augen.

„Auf die Gefahr hin, dass du sowieso schon alles weißt.“ Sie baute sich vor ihm auf und blickte ihm trotzig ins Gesicht. Er schien noch immer amüsiert.

„Du bist anders als die anderen. Nicht dieser typische Engelstyp. Strahlend, hell und so ekelhaft gut drauf.“

Sems Augen verdunkelten sich leicht.

„Dafür bist du immer schlecht gelaunt, brutal und gemein.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich mochte dich von Anfang an nicht. Du erinnerst mich zu sehr an die Gefallenen.“

Ein Schatten zog über das Gesicht des Engels, doch statt etwas dazu zu sagen wandte er sich einfach um und verließ die Grotte.

Irritiert schaute sich Sheena nach den anderen Engeln um, die ihr jedoch nur einen kurzen Blick schenkten und sich dann wieder mit den Kindern und ihren Müttern beschäftigten. Am Rand der Becken erblickte sie einige Frauen aus ihrer Gruppe, die mit weiteren Engeln flirteten. Sheena hatte alle Mühe nicht zu würgen, weil sie diese Szenen so surreal empfand. Trotzdem wunderte es sie, dass sie plötzlich der einzigen Person folgte, die sie eigentlich am wenigsten mochte.
 

Sheena holte Sem auf der engen Wendeltreppe ein, die zurück in die große Halle führte. Auch sie war feucht und vor allem sehr glatt und als Sheena die ersten Stufen auf einmal nahm, rutschte sie ab und fiel vorne über.

Fast augenblicklich schlossen sich Arme um ihren Oberkörper und verhinderten, dass sie auf die scharfen Kanten stürzte. Überrascht sah sie in das so bekannte eisige Blau.

„Wie hast du das gemacht?“, wisperte sie außer Atem.

Sem ließ sie sofort los, als habe er sich die Finger verbrannt. Trotz allem kam sie sehr sanft auf den Stufen zum Sitzen.

Ohne ein Wort setzte der Engel seinen Weg fort.

„Sturer Mistkerl!“, brummte Sheena und machte sich daran ihm zu folgen.

Seine Flügel waren flackernde, lange Schatten auf die glatte steinerne Wand und sie fragte sich, wie er es schaffte, nicht überall anzuecken. Es wäre sicher amüsant gewesen, wenn er seine Flügel an einer der Fackeln, die wie in der Grotte an der Wand befestigt waren, in Brand gesteckt hätte.

Ein abfälliges Schnauben sagte ihr, dass er ihre Gedanken gehört hatte.

Gut, wenn er da oben gerne drin war, konnte sie ihm das mit Gleichem vergelten.

Zunächst rief sie sich alle ihre negativen Emotionen ins Gedächtnis, die sie mit ihm in Verbindung brachte. Über sich hörte sie, wie sich seine Schritte beschleunigten.

Sheena stöhnte leise. Wie viele Stufen waren das denn. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie vorher auch so lange gebraucht hatte. Die steinernen Wände wurden jedoch allmählich trocken.

Sem entfernte sich zunehmend.

„Als wäre er auf der Flucht.“, sagte Sheena mit einiger Genugtuung.

Dann dachte sie an die Nacht in der Wüste. Der Gedanke war ihr spontan gekommen und weil sie außer Atem war, verlangsamte sie ihre Schritte. Vielleicht hörte er sie nicht mehr, trotzdem versuchte sie sich zu erinnern.

Es war alles sehr verschwommen und trotzdem fühlte sie die Emotionen, die sie damals für einen höchst seltsamen Traum gehalten hatte. So merkwürdig, dass er sie noch im wachen Zustand verfolgt hatte. Vor allem weil alles so intensiv gewesen war.

Und gut, wie sie sich selbst eingestehen musste. Das Kind erinnerte sie just in diesem Augenblick daran, dass es das Ergebnis des Ganzen war.

Sheena tätschelte ihren Bauch und erklomm die letzten Stufen. Sie konnte es nicht dafür hassen.

Plötzlich packte sie etwas hart an den Schultern und presste sie gegen die felsige Wand. Das war so schnell gegangen, dass ihr ein wenig schummerig wurde und es dauerte, bis sie wieder klar sah.

Sem hielt sie mit beiden Händen fest und sein attraktives Gesicht war eine Maske des Zorns. Ein Schweißfilm lag auf seiner Stirn und sein Mund war zu einer blutleeren Linie zusammen gepresst. Erstaunt beobachtete Sheena, dass er kurz davor war, seine Fassung zu verlieren und es ihr überhaupt keine Angst machte. Ganz im Gegenteil, sie sehnte sich nach einer Auseinandersetzung mit ihm und ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken daran, sich mit ihm streiten zu können. Sie wollte ihn bluten lassen für das, was er ihr angetan hatte. Wieder schossen die Bilder der Nacht durch ihren Kopf.

„Hör sofort auf damit!“, presste er hervor.

„Du hast da oben nichts zu suchen, also bist du selbst schuld, wenn dir meine Gedanken nicht passen.“, giftete sie ihn an. Sie sandte ihm Verachtung und Hass.

Sem schloss angestrengt die Augen.

„Ich kann dich nicht aussperren, Sheena. Also bitte hör auf damit.“

Konnte er nicht? Das war ihr neu.

„Du hast mich nie gefragt!“, sagte er, noch immer sehr wütend.

Sheena wollte trotzdem nicht nachgeben: „Das ist sehr schade, für uns beide. Aber ich werde trotzdem denken, was ich will. Und wenn ich an bestimmte Dinge aus der Vergangenheit denken will, dann tu ich das auch.“

Das war wirklich kindisch, aber Sem war so schön sauer und das war wie Balsam auf Sheenas Seele. Wieder kamen Gefühle aus der Wüstennacht auf.

Sem knirschte mit den Zähnen und schloss erneut die Augen. Sein Griff an ihren Schultern wurde zunehmend schmerzhafter.

„Du weißt nicht…. was du anrichtest.“, brachte er stammelnd hervor.

„Ich hoffe es tut weh.“

Sie stellte sich vor, wie ihm die Ohren sausten oder er Magenschmerzen bekam. Vielleicht einen Tinitus? Das hatte er verdient.

Er öffnete seine Augen und Blau traf auf Grün.

„Ich spüre dasselbe wie du, nur ist es wie ein Echo, das tausendmal zurückgeworfen wird.“, flüsterte er.

Fasziniert beobachtete sie sein Gesicht, das sehr exotisch wirkte, während er sich unter dem Echo ihrer Gefühle wand.

„Schau mich nicht so an.“

„Du hältst mich fest. Ich kann nirgendwo sonst hin gucken.“

"Ich ertrag es nicht länger." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Plötzlich kam sein Gesicht schnell näher und seine Lippen pressten sich fast schon brutal auf ihre. Sheena hatte erwartet, dass sie kalt wie Marmor waren, doch stattdessen waren sie weicher und…warm.

Eine Hand fuhr von ihrer Schulter an ihr Gesicht und umfasste ihren Hinterkopf. Sheena konnte ein schmerzhaftes Stöhnen nicht unterdrücken, als das Blut in ihrem rechten Arm wieder zu zirkulieren begann.

Sie wollte sich gegen Sem wehren, aber sie fühlte sich paralysiert wie ein verängstigtes Tier. Wobei sie nicht wusste, ob dies ihre oder seine Gefühle waren.

Sein Kuss spiegelte seine Wut wieder und Hitze sprang wie ein Funken von seinen Lippen auf ihre über und wärmte ihr Gesicht. Seine Zunge stieß vor wie eine giftige Schlange und verursachte, dass ihr ganzer Körper taub wurde. Alles bis auf ihr Mund, der zu glühen schien und elektrische Pulse durch ihre tauben Glieder sandte. Sheena wusste, dass Sem das auch spürte und sie merkte, dass ihm die Situation zunehmend entglitt. Sternenstaub tanzte vor ihren geschlossenen Lieder.

Er war es, der sich hektisch keuchend von ihr löste und von einem auf den anderen Moment mehrere Meter von ihr entfernt an der gegenüberliegenden Mauer lehnte. Er stützte sich mit einer Hand am Felsen ab und sah aus, als wäre er einen Marathon gelaufen. Sheena wusste, dass sie kein anderes Bild abgab.

Sie presste die feuchten Handflächen gegen den kalten Stein und starrte ihn entsetzt an.

Was war da eben geschehen? Es hatte sich angefühlt, als wäre sie besessen gewesen. Sie hatte keinen Groll oder Hass verspürt, sondern war einfach gefangen gewesen von dieser Situation, diesem Gefühl.

Als ihr Kopf diese Bilder wie automatisch reflektierte, stöhnte Sem schmerzerfüllt auf.

„Bitte hör auf damit!“, er lehnte seine Stirn gegen der kalten Felsen.

„Was passiert mit dir?“, stieß sie erschrocken hervor. Sem wich ihrem Blick aus.

„Jeder deiner Gedanken hat eine andere Wirkung auf mich. Weckt andere Gefühle.“ Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.

„Ich werde dir nie wieder zu nahe kommen!“

Sem stieß sich von der Wand ab, breitete die Flügel aus und flog in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch die Halle und das Tor. Verdattert sahen ihm einige schwangere Frauen hinterher.

„Man fliegt nicht im Haus.“, brachte Sheena vollkommen perplex hervor.

Was, in Gottes Namen, ging hier vor?

Blut und Tränen

Wenn die Psyche sich auf den Körper auswirken konnte, so hatte Sem soeben eine Tortur erlebt, wie nie zuvor in seinem Leben.

Auch wenn der Wind ihm während seines Fluges die heiße Haut abkühlte, so wirkte sich dies kaum auf sein Innerstes aus. Er konnte wieder durchatmen, weil sein Herz ihn nicht mehr zu ersticken drohte, aber er spürte sie als stünde sie neben ihm. Sheena war verwirrt, verletzlich und erregt. Und er wusste, dass sie ihn nicht verstand. Er konnte es ja auch nicht.

Ihre Verachtung war wie tausende Peitschenhiebe gewesen und seine Haut prickelte noch vom Nachhall dieses Gefühls. Doch viel grausamer waren die Erinnerungen. Zu fühlen, was sie gefühlt hatte, damals.

Sem schüttelte den Kopf, streckte sich und erhöhte das Tempo. Er musste den Kopf frei bekommen. Sofort.

Er würde sie nie wieder berühren, das wusste er und dass sie ihm zeigte, was ihm entging machte es wirklich nicht leichter.

„Ist das eine Prüfung?“, fragte er leise, in dem Wissen, dass Gott ihn hörte.

„Ein Test? Nur was ist das gewünschte Ergebnis? Ich benehme mich wie ein schwacher, unkontrollierter Mensch.“

Der Gedanke daran verursachte ihm Übelkeit. Er dachte auf eine Art und Weise an Sheena, wie es ein Engel nie tun würde. War er dazu verdammt, zu enden wie die Verräter seiner Rasse? Verstoßen, weil er den Verstand verlor?

Er wusste, dass er nur so enden konnte, denn solange er in ihrem Kopf war, war er all ihren Emotionen ausgeliefert und erfuhr Dinge, die sonst jedem Engel für die Ewigkeit vorenthalten blieb. Selbst den Besten unter ihnen. Und ein Privileg war dies nicht.

Plötzlich legte sich ein Schatten über ihn und verdeckte die Sonne. Sem musste nicht aufschauen um zu wissen, dass er in Gefahr war. Er schloss kurz die Augen und verwünschte den Umstand, der dazu geführt hatte, dass er seine Feinde nicht gehört hatte.

Dann schoss er in die Lüfte, bereit sich bis zum Ende zu wehren.
 

„Die Speisekammer ist immer reichlich gefüllt, auch wenn keiner so wirklich weiß, wie sie das machen.“

Rosa öffnete eine dunkle Holztür, die in den Felsen eingelassen war und gewährte Sheena Einblick in einem der größten und trotzdem zum Bersten gefüllten Vorratsräume, die sie je gesehen hatte.

„Damit kann man tausende von Menschen ernähren!“, stieß Sheena hervor und bestaunte die Massen an Nahrungsmitteln, in deren Art es keine Grenzen gab. Sie konnte selbst exotisches Obst, aber auch ganze Rinderhälften erkennen. Sie ging einen Schritt in die Kammer.

„Es ist zwar kühl hier, aber trotzdem müsste euch mindestens die Hälfte verfaulen. Soviel könnt ihr doch gar nicht verzehren.“ Sheena wandte sich zu Rosa um, die kurz vor der Entbindung stand und doch strahlte, wie ein seltener Pfirsich. Wovon es hier ganze Tonnen gab.

„Es verdirbt nicht. Das ist auch so ein Trick.“ Sie zuckte mit den Schultern und ging zurück in die Küche, die Sheena sofort gefallen hatte. Sie war regelrecht sprachlos von dem halboffenen Raum, dessen Südseite ein zehn Meter breites und fünf Meter hohes, unverglastes Fenster besaß. Alles war aus sandfarbenen Kalkstein geschaffen, auch die Küchenzeile mit Feuerstellen, Arbeitsplatten regalähnlichen Fächern. Der Küche war freundlich und hell und auf seine Art aus einer anderen Welt. Sheena war fasziniert.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und konnte über den sandigen Hof der Burg blicken, in dem gerade einige Kinder Ball spielten und wenige Mütter ihnen zu jubelten.

„Grotesk.“, murmelte sie und hob die Augen zum Himmel.

Sem war vor fast einer Stunde fort geflogen und Rosa hatte Sheena erst vor wenigen Minuten an genau dem Ort vorgefunden, an dem der Engel sie stehen gelassen hatte. Gedankenversunken auf den Stufen und sie hatte sich der jungen Frau angenommen.

Auch jetzt riss Rosa sie wieder aus ihrer Trance: „Du weißt jetzt, wer dein Auserwählter ist?“

Sie lehnte sich etwas ungeschickt gegen die Wand und beobachtete Sheena. Daher blieb ihr nicht verborgen, dass die junge Frau sofort mit sich rang.

„Wieso ist das alles so schwierig für mich?“, sie blickte Rosa lange in die Augen. „Weshalb bin ich die Einzige, die sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden kann?“

Rosa empfand Mitleid mit Sheena, deren Mauer aus Wut und Verachtung zunehmend bröckelte und eine verängstigte Frau hinterließ, der man den Sinn ihres Daseins geraubt hatte. Rosa hatte bisher keine Menschen gekannt, der Sheena auch nur ansatzweise ähnelte. Nach all den Jahren der Angst und Entbehrungen, waren alle Menschen gleich, egal wo Rosa gewesen war.

Abgestumpft, leere Hüllen ohne Sinn und Zweck. Erst durch die Engel hatten einige Frauen wieder zu sich selbst zurück gefunden. Sie legte Sheena eine Hand an die Wange.

„Du bist nicht die Einzige. Das weißt du, nicht wahr?“

Sheena presste die Lippen aufeinander.

„Er ist einer von ihnen!“, sagte sie abfällig.

„Und er ist trotzdem anders!“

Überrascht starrte Sheena sie an und Rosa kicherte.

„Ich lebe lange genug in dieser Burg. So etwas kann einem nicht verborgen bleiben.“ Sie fuhr sich über ihren geschwollenen Leib, doch dies so gedankenverloren als wäre es eine unbedachte Geste.

„Michael sagte mir, dass er deine Gedanken hören und fühlen kann. Stimmt das?“

„Ich glaube schon, wobei sich das noch harmlos anhört. Er war heute außer sich, weil er sich nicht abschotten kann. Alles was ich denke und fühle, nimmt er mit. Ob er will oder nicht.“ Sie stemmte aufgebracht die Hände in die Hüfte.

„Aber das ist doch nicht mein Problem, oder? Ich meine…ich habe es mir doch nicht ausgesucht. Ich wollte nicht hier sein!“

„Nein, das hast du uns mehr als deutlich gemacht, Sheena. Aber ich befürchte, dass er all dies auch nicht wollte. Er wollte dich nicht zwingen und dir kein Leid zufügen. Du solltest ihm es wirklich etwas leichter machen.“

Was dachte diese Person, wer sie war? Sheena spürte, dass sie langsam sauer wurde. Sie hatte Rosa immer ein wenig mehr auf ihrer Seite gesehen. Die Hochschwangere setzte an, den Raum zu verlassen.

„Wieso verteidigst du ihn? Er ist nie nett, zu niemanden.“, rief Sheena ihr hinterher. Rosa blieb kurz stehen und sah sich um.

„Weil er uns Menschen am ähnlichsten ist.“

In dem Moment explodierte der Schmerz in Sheenas ganzem Körper und mit einem entsetzlichen Schrei ging sie in die Knie. Ihr Körper schien sich auflösen und bersten zu wollen. Das Kind in ihr trat wild und panisch um sich und dieselbe Angst griff nach ihrem Herzen.

Durch den Schleier vor ihren Augen, erkannte Sheena Rosa, die kreidebleich neben ihr kniete und irgendetwas sagte, doch sie verstand sie nicht. Es rauscht in ihren Ohren, als wenn ein Flugzeug neben ihr starten würde. Doch Flugzeuge gab es seit Ewigkeiten nicht mehr.

Weinend ließ sie sich auf die Seite fallen. Sie konnte die Schmerzen nicht mehr aushalten. Etwas zerfetzte sie von innen, nach außen. Wollte sie töten.

Weitere Gestalten beugten sich über sie. Zwischen ihren Beinen wurde es feucht und warm. Der Schmerz steigerte sich ins Unermessliche.

„Das Kind…es stirbt!“, wisperte sie. Dankbar rutschte ihr Bewusstsein ins Nichts.
 

Die heiße Sonne brannte auf ihn nieder und peinigte sein wundes Fleisch. Er erkannte Geier am Horizont, doch sie wagten sich noch nicht an ihn heran, zu mächtig war seine Aura.

Nur noch wenige Minuten, dann würde auch das vorbei sein. Sem schloss die Augen und wünschte sich diesen Moment herbei. Er vertraute seinem Herrn. Er würde ihn zu sich holen, ihm verzeihen, obwohl er versagt hatte.

Die Gefallenen hatten ihn nur am Leben gelassen, damit er qualvoll zugrunde ging. Er selber hatte drei Verrätern das Leben genommen. Einst Brüder, hatten sie sich gegenseitig Stück für Stück auseinandergerissen.

Sem‘s Flügel waren gebrochen und schwer verbrannt und sandten ihm grauenvolle Stromstöße durch den Körper, während er den Rest des Körpers nicht mehr definieren konnte. Er war vollkommen bewegungsunfähig.

Mit Wehmut dachte er an Sheena und das Kind. Er sah sie vor sich. Erinnerte sich an ihren störrischen, wütenden Gesichtsausdruck. Sie war so schön und stark. Und so unglaublich unnachgiebig.

Aus einem vollkommen irrationalen Grund sehnte er sich jetzt nach ihnen und sein Herz tat ihm weh.

Wenn Trauer vereint

Die absolute Leere. Ein Nichts in sich selbst, welches den Körper und den Geist schwerelos und unbedeutend zurücklässt.

Genauso fühlte Sheena sich, oder eher genau das fehlte ihr. Sie fühlte nichts, sie war ein Niemand gefangen in einem Körper, den sie nicht spürte.

Menschen…Engel, sie kamen und gingen. Sprachen mit sich oder anderen, aber sie hörte sie nicht. Manchmal sah sie ein Gesicht, dass sie kannte und einmal geliebt hatte. Kinder und Frauen, die um sie weinten, doch Sheena hatte nichts mehr in sich, was sie empfinden konnte.

Der Schmerz hatte das Kind mit sich genommen. Hatte ein junges Leben genommen, bevor es hatte die Sonne erblicken können. Sie hatte das Baby und ihr Schicksal nicht gewollt, aber das Kind war ein Teil von ihr gewesen. Jetzt, da es tot war, blieb von Sheena nicht mehr viel übrig.

Sie aß nicht, sie wollte nichts trinken. Sie vegetierte vor sich hin und hasste die Engel dafür, dass sie sie am Leben erhielten.

Ignatius stand mal wieder an ihrem Bett, schaute sie an ohne ein Wort zu sagen. Er hatte etwas Trauriges in seinem Blick und Sheena musste sich abwenden. Sie drehte sich auf die Seite, geblendet von der Sonne, die sie nicht mehr wärmte.

„Ich weiß, dass du mich nicht hören willst, Sheena. Aber du musst wissen, dass wir ihn gefunden haben. Er lebt. Aber nur noch so gerade eben und er weiß, was geschehen ist.“

Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken. Was hatte er gesagt?

„Bitte komm wieder zu uns zurück.“, flüsterte der Engel. Dann wurde es wieder still.

Von wem sprach er?

Sheena schloss die Augen, blendete alles um sich herum aus. War wieder eins mit dem Nichts.
 

Als die Sonne unterging und die Burg zur Ruhe kam, erwachte alles in Sheena zum Leben. Sie musste hier raus, wollte nicht mehr gefangen sein durch die Fürsorge der Menschen und Engel, die hier lebten. Einsamkeit, mehr wünschte sie sich nicht. Keiner konnte verstehen, wie sie sich fühlte. Wie auch, wenn sie sich selbst nicht verstand.

Sie rollte sich aus dem Bett und kam auf den Knien auf. Ihre Beine waren schwach und ihr Körper wollte ihr den Dienst versagen. Das hatte sie nun davon. Weil sie sich geweigert hatte ihr Leben zu erhalten, war sie womöglich zu schwach um zu fliehen.

Sie zog sich an dem Bett hoch und fixierte den Ausgang. Der Weg schien ihr so unendlich weit, doch wenn sie schon jetzt zögerte, wie sollte sie dann den Weg in die Wüste finden?

Sheena schloss kurz die Augen, beschwor ihr Ziel herauf und machte die ersten Schritte. Bevor sie erneut zu Boden ging, erreichte sie den Türsturz und konnte sich fest halten. Sie blickte an ihren, nur von einem weißen Leinenhemd bedeckten Körper hinab. Nicht einmal die Entbehrungen außerhalb dieser Mauern hatte sie jemals so weit gebracht, dass sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst war.

Wo war ihr Kampfgeist geblieben? Ihre Stärke und ihr Mut? Wieso war ihr all das abhandengekommen?

Sheena spürte heiße Tränen auf ihren Wangen, ohne dass sie hätte sagen können, was sie ausgelöst hatte. Sie hob, wütend auf sich selbst, den Kopf und fixierte den Korridor. Sie würde sich von niemanden aufhalten lassen und ganz bestimmt nicht durch sich selber.

Die Flure waren bis auf ein paar wenige Fackeln erhellt, die immer zu brennen schienen ohne je zu verbrauchen. Sheena hangelte sich an der Wand entlang und versuchte auszublenden, dass ihr jeder Schritt Schweiß auf die Stirn trieb, wohl in dem Wissen, dass sie noch gar nicht wusste, wie sie die Mauern überwinden sollte. Doch der Wunsch, den Rest ihrer Gruppe in der Einöde zu finden und mit ihnen dort zu sterben war so übermächtig, dass sie sie sogar schon vor Augen sah. Frank und die anderen, wie sie ihr zuwinkten und nach ihr riefen, froh ihre junge Freundin endlich wieder bei sich zu haben.

Sheena lächelte schwach und griff nach dem Bild. Als sie nichts als Leere in den Händen hielt, konnte sie nur knapp verhindern, dass sie laut aufheulte. Tief Luft holend biss sie die Zähne zusammen. Wenn sie jetzt den Verstand verlor, war ihr Plan dahin.

Sie stolperte über ihre eiligen, schwachen Füße und konnte sich gerade eben an einer Türklinke festhalten. Irritiert stellte sie fest, dass dies das erste Mal war, dass sie eine richtige Klinke sah. Alle anderen Türen konnten nur angelehnt werden. Sie versuchte sich daran hochzuziehen und erkannte im gleichen Augenblick ihren Fehler, denn die Tür fiel mit ihr nach innen auf und sie legte sich der Länge nach hin.

Der harte Aufschlag erinnerte Sheena daran, wie das tote Kind aus ihr geholt worden war. Auch wenn der Schnitt aufgrund der Magie der Engel sehr schnell geheilt war, so hatte sie das Gefühl als durchlebe sie den Schmerz erneut und die Narbe spannte augenblicklich. Keuchend schob sie sich in eine sitzende Position und legte eine Hand auf ihren Unterleib, in dem Glauben, dort Blut sehen zu müssen. Doch da war nichts.

Ein wenig erleichtert hob sie den Blick.

Und erstarrte.

Sie war in einem großen, jedoch kargen Raum mit einem Fenster, welches dreimal so groß war wie das in ihrem Zimmer. Wenige Meter vor ihr stand ein schlichtes Bett, welches im Schein eines hohen Feuers lange Schatten in den Raum warf. Unter dem Fenster stand ein einzelner Tisch und ein Stuhl. Mehr gab es hier nicht.

Doch selbst Baldachine und schwere Teppiche oder Gemälde großer Künstler konnte Sheenas Aufmerksamkeit von der Gestalt abwenden, die unter einem dünnen Laken auf eben diesem Bett weilte.

Seine Haut war entsetzlich zerschunden und seine Flügel verbrannt und schwer verwundet. Auch wenn seine Augen geschlossen waren, konnte sie die tiefen Schatten unter ihnen erkennen und seine hohlen Wangen machten das Bild nur noch grausamer.

„Sem!“, stieß Sheena entsetzt hervor.

Sie krabbelte auf allen Vieren auf ihn zu, musste sich einfach vergewissern, dass sie sich nicht täuschte. Sie zog sich am Bett hoch und musterte dass einst so schöne Gesicht. Ihr Magen zog sich zusammen angesichts dieser Zerstörung. Sem musste furchtbare Schmerzen leiden.

Plötzlich trafen Silberaugen auf die ihren. Sheena wäre beinahe zurück gezuckt, doch seine warme Stimme hielt sie zurück.

„Weine nicht, kleiner Vogel.“, flüsterte er heiser. Erst jetzt merkte Sheena die Tränen auf ihren Wangen.

Er hob eine Hand, verbunden und fixiert durch eine Schiene und fuhr ihr kraftlos und doch sanft über das Gesicht. Seine Augen stachen aus einem von Schnitten und Kratzern übersäten Gesicht hervor und waren dadurch nur noch intensiver. Sein freiliegender Oberkörper, noch immer unglaublich muskulös, war mit Stoffbahnen komplett umwickelt und hier und da schimmerte frisches Blut hervor. Beide Arme schienen gebrochen zu sein, denn wie zuvor die rechte Hand, war auch der andere Arm geschient.

Sheena fehlten die Worte. Der Gedanke, dass er einmal ihr allerschlimmster Feind gewesen war, kam ihr angesichts dieses verunstalteten, gequälten Körpers nicht einmal mehr in den Sinn.

„Es tut mir so leid.“, entfuhr es ihm und Sheena unterbrach überrascht ihre Musterung.

„Dir tut es leid? Was sollte dir leid tun?“, sie berührte vorsichtig seinen Arm, das bisschen Haut, was noch zu sehen war, schien schwer verbrannt zu sein.

Das Feuer in dem Mannshohen Kamin ließ seine silbrigen Augen flackern.

„Ich habe es gefühlt, Sheena. Ich konnte deinen Schmerz fühlen. Und ich konnte dir nicht helfen. Ich war nicht da. Das tut mir Leid.“

Auch wenn sie sofort die Augen niederschlug, um sich die Blöße ihrer Trauer nicht zu geben, so erkannte sie doch echtes Leid in seinen zerschundenen Zügen.

Sem versuchte sich aufzusetzen, doch selbst die kleinste Bewegung trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Auch wenn Sheena ihn nicht berühren wollte, legte sie ihn beide Hände auf die Brust.

„Bleib liegen. Du machst es nur schlimmer.“

Sem hielt sofort inne, hatte es aber geschafft ein wenig höher zu liegen. Jetzt musterte er sie so durchdringlich, dass sie augenblicklich an Flucht denken musste. Seine bandagierte Hand legte sich auf ihren Arm. Es fühlte sich an, als würde Feuer sie berühren.

„Bitte bleib.“

Die anfängliche Sorge um diese arme Seele, wich ihrer Abneigung gegen die Engel. Sie wollte fort von hier.

„Sheena!“

Unwillig sah sie auf. Sein Blick war so unglaublich intim und hypnotisierend, dass Sheena Herz schneller schlug.

„Ich kenne deinen Schmerz. Ich fühle ihn selbst. Du bist nicht alleine.“

Eine Träne bahnte sich seinen Weg, automatisch fing Sheena sie mit ihren Fingerspitzen auf. Ihr Herz blutete und sie sah dieselbe Pein, wenn sie Sem anschaute.

„Ich konnte es nicht verhindern.“, wisperte sie. „Der Tod riss sie aus mir heraus und ich konnte ihr nicht helfen.“

Ein Schluchzer entfuhr ihr und zum ersten Mal wurde Sheena bewusst, was sie die ganze Zeit verdrängt hatte. Sie hatte dieses Kind akzeptiert als das, was es war. Ihr Baby, ein Teil von ihr. Aus welchem Grund es auch empfangen wurde, es war ihr Kind, ihre Tochter. Dass es ein Mädchen war, wusste sie einfach. Es war so klar und deutlich wie das Morgengrauen und die Abenddämmerung.

„Ich habe versagt.“

Die Tränen, die nun kamen, waren ehrlich. Sheena wusste worum und weshalb sie weinte.

„Es war meine Schuld!“

Sem hatte sich auf die Seite gedreht, frisches Blut sickerte durch den Verband an seiner Schulter.

„Das Kind war ebenso mit mir verbunden, wie wir zwei es sind. Als die Gefallenen mich angriffen, verletzten sie auch euch.“, er umfing Sheenas Gesicht.

„Alles was wir tun, was wir denken und fühlen ist miteinander verwoben und ich kann es nicht verhindern. Bitte verzeih mir Sheena.“

„Ich kann dir nicht die Schuld geben.“, sagte sie und wusste, dass es stimmte. Sem so zu sehen, verletzt und machtlos und tieftraurig, machte ihr bewusst, dass er der einzige war, dem sie in diesem Moment nicht böse sein konnte.

Sie schob sich auf das Bett, sich ihrer zitternden Knie bewusst und schmiegte sich an Sem. Sein Herz setzte einen Augenblick aus und er wagte nicht zu atmen. Fast wäre sie wieder aufgesprungen, da sie fürchtete ihm Schmerzen zu bereiten, als seine geschienten Arme sie umfingen und sein Kinn auf ihrem Scheitel ruhte.

Sein Körper strahlte eine unglaubliche Hitze aus und doch war Sheena froh darum. Als würde die Wärme das Eis in ihre schmelzen. Sie wollte jetzt nicht fliehen. Nicht in diesem Moment.

Sem war in diesem Augenblick der einzige Mensch…oder Engel, der sie verstehen konnte und sie war froh, dass er wusste was sie fühlte. Sie schob sich noch näher an ihn heran und Sem verstärkte den Druck.

„Ich werde auf dich aufpassen.“, flüsterte er und kurz darauf war Sheena eingeschlafen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Herzlich Willkommen und vielen Dank für das Interesse. Ich hoffe ihr findet Gefallen an dieser Story und ich bin immer offen für jede Kritik. :-) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  yesso
2013-09-10T14:51:15+00:00 10.09.2013 16:51
Ich liebe deine Geschichte jetzt schon. Du musst unbedingt weiter schreiben!!!

LG yesso
Antwort von:  Rapsody
10.09.2013 16:56
Danke ^.^


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