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L'Aphonie du Rossignieur

Die Nachtigall singt nicht mehr
von

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One-Shot

Morpheus… Der Gott der Träume.
 

Vielleicht der einzige Gott, an den ich inzwischen noch glaubte. Mozarts Klarinettenkonzert Adagio in D-Dur, 2. Satz, klang leise wie aus einem der Nebenzimmer an mein Ohr, und während ich dem sublimen Wind der Melodie aufmerksam lauschte, rutschte ich in zunehmender innerer Befriedigung in meinem silbernen Thron in eine gänzlich gelöste Position, sodass ich auf dem schwarzen Bezug lag wie eine Katze, die nach einem ausgiebigen Spaziergang auf den warmen und wartenden Schoß ihres Herrn zurückgefunden hat. Nur, dass ich den Spaziergang erst vor mir hatte.

Ein langes, gewissermaßen wehleidiges Seufzen verließ meine Kehle, als die vertraute Flüssigkeit durch meine Vene zog und sich eilends von einer auf zwei, von zwei auf drei und schließlich in der ganzen Struktur meines Blutbahnsystems ausbreitete und dort, wo sie ankam, jegliche Schmerzen gleich einer sanften Flut, deren Tosen von der Musik nebenan übergangen wurde, mit sich spülte. Endlich pausierte mein stummer Kampf mit dem Alter, der Vergangenheit und der Gegenwart; endlich konnte ich meine Augen schließen und mich – wenigstens für einen Moment – fallen lassen. Wie beeindruckend wirkt dieses Mittel in der kleinen, unscheinbaren Spritze, dieses Morphium – eine der wenigen Entdeckungen der Menschheit, für die ich ihr dankbar sein sollte. Mein Herz beruhigte sich und schlug wieder im Einklang mit der Musik, dieses einzige Instrument, das zu beherrschen ich mehr und mehr verlernte und welches verwildert nun die grässlichsten Töne von sich gab, um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Es war mir unbegreiflich, wie sich etwas bemerkbar machen konnte, von dem ich dachte, es schon seit Jahren nicht mehr zu besitzen. Und dass es mich dazu in solch intensivem Ausmaß kontrollierte.

Ich vergaß bald alles um mich her. Müßiggang ist eine wachsame Verführung, und wenn man auch nur den Bruchteil einer Sekunde nicht aufpasst, streckt sie sofort ihre langen Arme nach einem aus. Es ist einfach, sich von ihr umschließen zu lassen. Umso schwerer, sich wieder von ihr zu lösen. Und zu meinem eigenen, aber in Momenten wie diesem sehr passiven Schrecken musste ich feststellen, dass meine Neigung zu ihr seit geraumer Zeit enorm gewachsen war. Gewiss, redete ich mir ein, um der Wahrheit nicht in ihr vorwurfsvolles Antlitz blicken zu müssen, hängt das mit dem Alter zusammen, und verschaffte mir auf diesem Weg ein wenig Normalität in der absurden Lebenslage, die ich wohl zum großen Teil selbst zu verschulden hatte.

Schritte, die sich vorsichtig näherten, ließen sich von der Melodie in meinem Kopf tragen. Ich nahm an, dass es Ayesha war; ich spürte ihren eleganten Körper an meinen Beinen und wusste genau, was sie wollte. Aber ich war nicht gewillt, ihrem Bedürfnis jetzt auszuhelfen. Suada hatte mich fest im Besitz und ließ nicht zu, dass ich mich aufrichtete und einer anderen widmete. Ich war unendlich kraftlos, aber auf eine ausgesprochen angenehme Weise, und nicht einmal ma petite comtesse konnte meine Geistesgegenwart beschwören. Die letzten Tage hatten mich musikalisch sehr beansprucht; ich kann selbst nicht erklären, woher auf einmal diese gewaltige Inspiration gekommen war, die mich schreiben ließ, wann immer es die äußeren und inneren Umstände erlaubten. Es schien, als hätte mein Verstand rasch noch etwas loswerden müssen, wie ein Todgeweihter, der sein Testament verfasst. Nun, wo sie abgeklungen war und ich um ein paar Partituren reicher, wo die Schmerzen mich in die Realität zurückbefohlen hatten, fühlte ich nur noch den dringenden Wunsch, zu ruhen. Und so war ich sonderbar erleichtert, als Ayeshas Interesse auf die Injektionsspritze wechselte und sie sich etwas verdrossen damit begnügte, sie lustlos auf dem Boden umherzurollen.

Ich hätte mich schämen sollen, aber nicht einmal das gelang mir noch.
 

Das kakophonische Klappern ungeschickt getragenen Porzellans ließ mich eine Weile später enerviert die Augen öffnen. Ich war über diesen heiseren Lärm in den ersten Sekunden dergestalt erbost, dass ich mir gar nicht die Frage stellte, wer bitte schön in meinem lediglich von mir, Ayesha sowie einigen tierischen Kuriositäten bewohnten Reich unterhalb des Opernhauses in der Lage sein könnte, Porzellan zu tragen, wenn ich zweifelsfrei hier lag, bis mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag durchfuhr angesichts des Bildes, dem sich meine Augen nicht entziehen konnten. Christine!

Wie konnte ich nur vergessen, dass sie hier war?

Das junge Mädchen sah mich an, wie… nun – eigentlich, wie es mich immer ansah: Mit einer Mischung aus Verwirrung, konzentriert verhohlener Angst… und einem kleinen bisschen Faszination. Ich bewegte mich nicht, auch nicht meinen Mund, und so war Christine es, die die Stille zwischen uns brach: "Ich habe dir Tee gemacht, Erik. Aber sag: Bin ich ungünstig? Musst du fort?"

Ich hörte Enttäuschung aus ihrer zarten, gesegneten Stimme. Erst aufgrund ihrer Frage fiel mir ein, dass ich in voller Montur auf meinem extravaganten Stuhl saß, mit Umhang und Federhut, wie ich mich sonst nur für die Straße kleidete. Mir war kalt gewesen… Doch das verschwieg ich ihr. Es war der Instinkt eines Vaters, der sein Kind nicht beunruhigen will. Ich hasste es, ihr wie ein Vater zu sein.

"Bist du krank, Erik?"

Seit dem äußerst unglücklichen Vorfall meines Zusammenbruchs vor ihren wenig wissenden Augen schien diese Frage wie ein Schatten über uns zu hängen, sobald wir den Raum teilten. Die Angelegenheit war mir – zugegeben – ziemlich unangenehm. Ich wollte nicht, dass sie irgendwann vielleicht noch einmal an mich denken würde und dann einen abstoßenden, zittrigen, röchelnden Greis mit… oder neuerdings eben ohne Maske vor sich hatte.

Ihr starrer, fragender Blick erinnerte mich daran, ihr noch keine Antwort gegeben zu haben. Ob ich krank war? Mein linker Arm schmerzte des Öfteren, ich litt unter Atem- sowie Bewusstseinseinschränkungen und entsann mich nicht mehr, wann sich mein Körper zuletzt um die nun einmal unumgängliche Ver- und Entwertung von Nahrungsmitteln gekümmert hatte. Machte mich das krank? Ich habe, soweit ich mich erinnere, niemals die Vor- und Nachteile einer Unpässlichkeit genossen oder erdulden müssen. Nein… Ich glaube nicht, dass ich krank war.

Ich war müde.

Als ich sie fragte, wie sie auf diese abstruse Vermutung gekommen war, murmelte sie, meine Augen wären so wässrig und meine Haut ganz bleich. Abgesehen davon, dass ich meiner Haut nicht zutraute, überhaupt zu irgendeiner Farbveränderung fähig zu sein, wunderte es mich, wie Christine das durch die Maske hin zur Kenntnis genommen haben wollte. Dass ich die Maske trug, war ein Sachverhalt, an dessen Versicherung ich immer dachte, ganz gleich, wie tief ich in meine imaginäre Welt der Musik und Medikamente versank – nicht auszudenken, wenn ich des Morphiums wegen vergessen hätte, sie aufzusetzen! Mein konstantes Tasten nach der schützenden zweiten Haut war wie der kontrollierende erste Fingerflug über die Klaviatur vor der großen Aufführung.

Mit erschöpftem Gleichmut ließ ich zu, dass sie die letzte Distanz überbrückte, um den Teller mit der Tasse in meiner greifbaren Nähe abzustellen. Inzwischen hatte sich der Geruch im ganzen Zimmer verteilt, sodass ich jede einzelne Zutat hätte aufsagen können, die sie manchmal in erschreckender Wahllosigkeit verwendete, um mir eine kleine Freude zu bereiten, doch jetzt störte mich das Aroma mehr, als dass es erreichte, was Christine beabsichtigt hatte. Mein liebes Kind. Ich bin dir sehr dankbar, allerdings war mein Durst bereits gelöscht, ehe du den Tee überhaupt aufgesetzt hattest. Morphium war alles, was ich momentan brauchte. Als ihr Engel der Musik führte ich Christine nach wie vor an feinen Fäden; ich konnte einiges von ihr verlangen, trotz allem, aber nicht, mich zu trösten.

Ohne dass ich es sah, merkte ich, wie sie sich neben mir niederbegab, ihr weißes Kleid ordentlich auf den Boden breitete und sich anschließend vorneigte, um die detailreichen Ornamente des Throns mit respektvollen Fingern nachzuzeichnen. Ich hatte ihn aus dem Theaterfundus entwendet und in einem heimlichen Selbstgefallen, der mich hin und wieder erfasste, in mein Wohnzimmer positioniert, um meinem unerklärlichen, abartigen Narzissmus zu frönen, wann immer ich mich darauf niederließ. Im Vergleich mit ihm war der Thron des Schahs, den ich ihm seinerzeit unselten und stets mit großem Vergnügen warm gehalten hatte, eine lachhafte, kompensieren müssende Sitzgelegenheit für ausgewachsene Säuglinge, die heute längst nicht mehr meinen Ansprüchen genügte. Die interessanten Spielereien, welche mich damals wie ein Kind gefesselt hatten, hatte ich mir nachgebaut, und nie würde der Schah oder sonst jemand in Persien eine Konkubine zu seinen Füßen haben, die sich nur im Entferntesten mit Christine messen konnte. Ich würde es nicht erlauben.

Gerade da fand ihre Hand meine behandschuhte auf der Lehne, und zögerlich sank sie ganz darauf, um meine Aufmerksamkeit zu erhalten. Ich musste im Halbschlaf gewesen sein.

"Erik, hast du etwas Zeit für mich?" Sie schien zu glauben, sterben zu müssen, wenn sie mich bloß durch ein einziges Wort verärgerte.

"Du weißt doch, dass jede Sekunde meines Daseins dir gehört, wenn du hier unten bist."

Sie erwiderte nichts darauf.

"Was möchtest du denn?", versuchte ich sie also auf liebevollste Weise zu ermutigen, obwohl ich nicht ernsthaft das Interesse empfand, ihren zuweilen unvorstellbaren Beschäftigungswünschen nachzukommen.

"Können wir vielleicht irgendwo hingehen? Irgendwo, wo es heller ist?"

In deinen Träumen, Christine. Tatsächlich hingegen war und würde es mir nie gestattet sein, ins Helle zu treten, und wenn ich es nicht tat, dann konnte ich dich erst recht nicht gehen lassen.

"Kannst du mir nicht etwas vorlesen? Die Geschichte von Dschulnar? Ich mag sie so gerne."

Endlich gab ich ihrem Flehen nach, aber auch im eigennützlichen Wissen, dass sie mich anschließend in Ruhe lassen würde. Sie würde sich im Rausch durch meine Stimme verlieren – lange genug, damit der meine abebben konnte. Es war unentschuldbar töricht von mir gewesen, mein Verlangen nach Morphium jetzt zu stillen. Ich hätte mich erinnern müssen, dass das Seil, auf dem ich immerzu balancierte, Christine auf meinen Armen tragend, weder breit noch straff genug war, damit ich mir solche Wagnisse erlauben durfte.

Ich ließ sie mir den divân bringen, und sie fand ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die mich kurz erstaunte. Die Geschichte von Dschulnar, der Meerjungfrau, entdeckte ich auf Anhieb, doch stellte es sich als furchtbar anstrengend heraus, die Buchstaben zu entziffern. Die persische Schrift verschwamm zu fast identischen Linien; ich blinzelte mehrmals pro Vers, um der jungen Süchtigen an meiner Seite einen halbwegs erträglichen Vortrag zu bieten, auch wenn ich glaubte, jeder durchschnittlich gebildete Perser hätte es besser lesen können als ich in dieser Stunde. Christine störte das nicht. Sie hörte nur das, was sie hören wollte, und sie hörte ihren geliebten Engel. Irgendwie gelang es mir, diesen so lange durchzuhalten, bis der Tod des Königs sich ankündigte, danach aber würde ich keinen verständlichen Ton mehr hervorbringen. Ich schloss das Buch – und deutete Christine damit an, dass es genug war, obschon mir schwante, dass ich ohne einen leisen Protest nicht davonkommen würde. Sie schien sich vertagende Fortsetzungen absolut nicht zu mögen, war bemerkenswert zappelig, wenn es darum ging, den Ausgang einer Liebesgeschichte zu erfahren, unabhängig davon, ob sie noch zwanzig Seiten dauerte oder zweihundert.

Doch dieses Mal blieb jeder gefürchtete Widerspruch aus. Christine blieb stumm, rührte sich nicht einmal, als wäre sie urplötzlich in eine Starre gefallen, und als ich mich mühselig erhob, um nach ihr zu sehen, wusste ich, warum: Sie war fort. Irritiert suchte ich das Zimmer nach ihr ab, doch außer wenigen letzten Kerzenfackeln, fast verschlungen von der unersättlichen Finsternis, erblickte ich nichts. Womöglich hatte ich bloß geträumt, dass sie hier war. Jeder Tag in meiner persönlichen Vorhölle glich immer auffälliger dem vergangenen; ich konnte nicht mehr sagen, ob es Montag, Mittwoch oder Sonnabend war, wenn ich nicht von meinen "geheimen Logen" aus das geplante Theaterprogramm der Direktoren spionierte, und meine Uhrzeit richtete sich nunmehr nach Ayeshas Speise- und Ausgehzeiten sowie der steigenden und fallenden Wirkung des Morphiums. Und so geriet ebenfalls in Vergessenheit, wann Christine erscheinen würde, wenn ich sie zuvor herunterbestellt hatte. Sie kam, sie blieb, dann ließ ich sie wieder gehen, doch mittlerweile wusste ich selbst nicht mehr genau, wie lange sie oben war und wie lange hier unten bei mir, und ich bezweifle nicht, dass ich die vorher festgelegte Dauer ihrer Anwesenheit oftmals überzogen hatte.

Ich drückte mich aus meinem Thron, fast nur um festzustellen, dass ich trotz des vorangegangenen Schlafes kaum stehen konnte. Aber ich musste mich davon überzeugen, dass ich allein war. Und bei der Gelegenheit gleich die Sicherheitsvorkehrungen überprüfen. Ich wollte keinen Besuch, auch nicht Christine, wenn sie nicht schon hier war. Eventuell würde ich mir zwei oder drei Tage Urlaub genehmigen und in das Reich der Träume fahren, in meinem Sarg wie jener Tote schlafen, der ich bereits war, paradoxerweise gerne sein und bald werden würde, sobald der große Magier seine Vorstellung beendete und das Skelett auf der Bühne liegen ließ, das ihm einst so viel Bewunderung eingebracht hatte. Ich würde wie aus Stein sein, und die ganze Oper würde mit mir verschwinden, weil ich allein es war, der sie existieren ließ.



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