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Suikoden II - Yet Another Side

Side-Story zu Another Side, Another Story
von

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Ich atme.
 

Für gewöhnlich ist es nichts, was mir so sehr auffallen würde, aber diesmal ist es anders. Weil ich nicht mehr atmen können sollte.
 

Ich erinnere mich zu gut an den Schmerz, wie mir der Atem weggeblieben ist, wie es immer kälter wurde…
 

Der Schmerz ist immer noch da. Bei jedem Atemzug durchfährt etwas scharf meine Brust, aber Schmerzen bedeuten in jedem Fall, dass ich noch lebe. Ich weiß nur noch nicht, in welchem Zustand ich mich befinde und ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn ich gestorben wäre.
 

Ich öffne die Augen, blinzle im Schein einer Öllampe, die dunkle Schatten auf meine Umgebung wirkt. Wo bin ich? Ich liege in einem Bett. Es könnte fast bequem sein, wenn das Atmen nicht so weh tun würde. Aber immerhin ist es warm.
 

Ein Geruch steigt mir in die Nase. Es riecht nach Kräutern und diesem beißenden Etwas, das Doktor Huan einmal benutzt hat, als ich mir den Unterarm an einem hervorstehenden Nagel in einem Lattenrost aufgerissen habe.
 

Unverkennbar der Duft der Krankenstation. Dann bin ich also zu Hause, auf Schloss Dunan. Nun… jedenfalls wenn man diesen Ort ein Zuhause nennen kann. Ganz heimisch werde ich mich hier nie fühlen.
 

Es ist seltsam still. Fast so, als ob es tiefe Nacht wäre… Aber vielleicht ist es das auch. Ich weiß noch, dass die Sonne unterging, als mich dieser Armbrustbolzen getroffen hat. Das Rittertum Matilda… Gorudo… Ich habe beides nicht gemocht, seit ich zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, damals, auf der Hilltop-Konferenz in Muse. Kaum zu fassen, dass es fast dafür verantwortlich gewesen ist, dass ich sterbe.
 

Denn genau das hätte passieren müssen… Ich müsste tot sein. Aber ich lebe.
 

„Wie geht es dir?“ Doktor Huans leise, erschöpfte Stimme dringt an mein Ohr. Ich drehe den Kopf, um ihn sehen zu können. Das ist auch das einzige, was ich tun kann – der Rest meines Körpers ist bleischwer, ich kann nicht einmal einen Finger heben.
 

„Hat er seine Rune benutzt?“, frage ich, ohne wirklich auf seine Frage einzugehen. Der Arzt tritt näher, in den Schein der Lampe, und ich kann sehen, dass er genau so müde aussieht, wie er klingt.
 

„Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Lord Riou hat seine Rune bis zur Erschöpfung gebraucht, als er gegen Lord Gorudo kämpfte. Er hatte keine Energie mehr, sie für dich zu benutzen.“
 

„Das ist gut“, seufze ich erleichtert auf. Hätte mein Bruder seine Rune benutzt, hätte ich ihn verhauen müssen… Zu viele Leute sehen zu ihm auf, als dass er einfach all seine Energie dazu verschwenden darf, mich zu heilen.
 

„Tut dir etwas weh?“, erkundigt Doktor Huan sich wieder und ich nicke leicht.
 

„Das Atmen fällt mir schwer…“
 

„Der Bolzen hat einen deiner Lungenflügel verletzt“, erklärt er betrübt. „Ich habe getan, was ich konnte, aber ich fürchte, dass du deine alte Kondition niemals zurückbekommst.“
 

„Das ist schon in Ordnung.“ Und es stimmt. Weil ich… eine Entscheidung getroffen habe.
 

Noch während Riou mich gehalten hat und ich ihn zum ersten Mal seit Großvater Genkakus Tod habe weinen sehen. Ich war zu diesem Zeitpunkt zwar fest davon überzeugt, dass ich sterben werde, aber in diesem Moment habe ich beschlossen, dass ich weder weiter kämpfen kann noch will.
 

Ich kann nicht mehr mit ansehen, wie mein Bruder und mein bester Freund gegeneinander kämpfen. Es ist etwas aus dem Ruder gelaufen und ich konnte es nicht verhindern… Und jetzt ist Jowy König von Highland und Riou der Anführer der Allianz. Für mich gibt es keinen Platz mehr und selbst wenn, ich würde ihn nicht haben wollen.
 

Ich habe verstanden, dass ich nicht mehr an Rious Seite stehen kann. Und wenn… wenn das die Art ist, wie ich aus seinem Leben verschwinden soll… dann wird es wohl so sein.
 

„Du möchtest deinen Bruder sicher sehen“, sagt Doktor Huan. „Ich werde ihn reinholen…“
 

„Nein“, unterbreche ich ihn leise und spüre seinen erstaunten Blick eher auf mir, als dass ich ihn wirklich sehe. Ich schaue nach oben, an die dunkle Decke.
 

„Nein?“, wiederholt Doktor Huan erstaunt. „Nanami, er wartet seit Stunden vor der Tür. Und mit ihm das halbe Schloss… Möchtest du nicht mit ihm reden?“
 

„Ich…“, beginne ich zögerlich und breche ab, weil ich husten muss – jeder Atemzug tut weh. Aber das ist okay… Ich muss nicht mehr kämpfen…
 

„Ich habe etwas beschlossen, Doktor Huan“, bringe ich schließlich hervor. So schwach hat meine Stimme noch nie geklungen. Ist er sich wirklich sicher, dass ich das überleben werde? „Ich werde gehen… und ich werde nicht zurückkommen.“
 

„Du stirbst nicht“, korrigiert der Arzt mich leise. Aber das meine ich nicht.
 

„Ich weiß“, erwidere ich. „Aber… ich möchte Euch bitten, Riou zu sagen, ich wäre es.“
 

„Verzeihung…?“ Er versteht nicht. Natürlich nicht. So etwas Irrsinniges hat wohl noch keiner verlangt…
 

„Ich kann so nicht weitermachen, Doktor Huan“, sage ich leise. „Riou und Jowy sind alles, was ich habe. Sie sind meine Familie. Und ich… ich kann nicht mehr mit ansehen, wie sie gegeneinander kämpfen. Bitte, Doktor. Lasst mich gehen. Ich… ich werde nach Hause zurück gehen, nach Kyaro. Und vielleicht, eines Tages…“ Ich blinzle angestrengt die Tränen weg, die in mir aufsteigen, aber eine schafft es trotzdem, meine Wange hinunterzurinnen. „Eines Tages werden die beiden vielleicht zu mir zurückkommen.“
 

„Nanami…“
 

„Vielleicht ist mein Tod ja der einzige Weg, um diesen sinnlosen Krieg zu beenden“, fahre ich fort. „Vielleicht…“ Ich breche ab und sehe den Arzt flehentlich an. Dieser erwidert meinen Blick sehr, sehr lange und seufzt dann:
 

„Er wird trauern.“
 

„Ich weiß. Und es tut mir leid… aber… dieses eine Mal muss ich egoistisch sein. Dieser Krieg… er zerreißt mich von innen, Doktor Huan. Ich kann nicht mehr.“ Es ist eine Weile lang sehr, sehr still.
 

Ich kann ein Raunen von jenseits der Tür hören, die das Zimmer, in dem ich mich befinde, vom Rest der Krankenstation trennt. Ist dort wirklich das halbe Schloss versammelt? Riou ist bestimmt da. Und Nina. Eilie und Rina, mit denen ich mich inzwischen so gut verstehe, und natürlich Bolgan. Vielleicht sogar Viktor und Flik… wobei, nein, die zwei haben sicher Besseres zu tun, als dort draußen vor meiner Tür zu hocken.
 

„Ich verstehe“, sagt Doktor Huan nach einer gefühlten Ewigkeit sehr, sehr leise. Er seufzt. „Bist du dir ganz sicher?“
 

„Ja.“
 

„Also gut… Wie du willst.“ Er wendet sich zum Gehen und ich spürte einen Kloß im Hals. Runen, ich bin so eine furchtbare große Schwester… Wenn Riou jemals erfährt, was ich getan habe, wird er mich auf ewig hassen.
 

Ich schlucke die Tränen hinunter und schließe die Augen. Es muss sein. So weh es tut, so leid es mir tut… Ich kann einfach nicht mehr.
 

„Doktor Huan…“, rufe ich noch leise und höre, wie seine Schritte innehalten.
 

„Hast du es dir anders überlegt?“
 

„Nein“, murmle ich. „Aber bitte holt Lord Shu.“
 

Ich mag Shu nicht sonderlich und weiß, dass er auch nicht unbedingt mein bester Freund ist. Aber wenn es jemanden gibt, dem ich zutraue, dass er Riou unter keinen Umständen kein Wort über all das sagen wird, bis es nicht Zeit dafür ist, dann ist er es.
 

Ich hasse mich selbst dafür, dass ich meinen Bruder so hintergehen muss. Aber mein Entschluss steht fest.
 

Ich höre, wie Doktor Huan die Tür öffnet, und bevor sie wieder ins Schloss fällt, dringt lautes Gemurmel an meine Ohren.
 

Offensichtlich hatte er Recht… da draußen ist wirklich das halbe Schloss! Sofort fühle ich mich noch schuldiger als ohnehin schon. Ich kann nur hoffen, dass sie alle darüber hinwegkommen…
 

Ich muss an Nina denken, meine selbsternannte beste Freundin, und daran, wie wir abends oft zusammengesessen und getratscht haben. Ich denke an Eilie und Rina, die mir Kartenlesen und Teekochen beigebracht haben. An Meg und Millie, die mich an langweiligen Tagen durch die Einkaufsstraße des Schlosses geschleppt haben, bis wir so viel Schund zusammengekauft hatten, dass wie später nicht mehr wussten, wohin damit.
 

Daran, wie Riou mich zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal große Schwester genannt hat, als ich blutend und halbtot in seinen Armen gelegen habe, denke ich bewusst nicht. Wahrscheinlich fange ich sonst an zu weinen und stürze doch aus dieser Tür… und das wäre der größte Fehler, den ich machen kann.
 

„Was?!“, schreit draußen plötzlich jemand. „Wie konntest du versagen…?!“ Ich bin überrascht, als ich Fliks Stimme erkenne. Also ist er doch da? Das wundert mich. Wo er ist, muss auch Viktor sein… und all die anderen…
 

„Hör auf damit, Flik!“, erwidert Viktors tiefe Stimme, aus der ich den Schmerz deutlich heraushören kann. „Er hat alles getan, was er konnte, lass deine Wut nicht an ihm aus…“ In meiner Brust zieht sich alles zusammen und dieser Schmerz hat nichts damit zu tun, dass die Wunde noch nicht verheilt ist.
 

„Ich weiß!“, blafft Flik zurück. „Ich weiß das! Aber… aber…“ Er verstummt wieder und ich sehe ihn plötzlich vor mir, wie er sich abwendet, den Kopf gesenkt, die Fäuste geballt. Ich frage mich, warum ausgerechnet Flik es sich so zu Herzen nimmt…
 

„Kiba“, fährt der Blaue Blitz fort, „und Nanami… Sie haben Seite an Seite mit uns gekämpft und obwohl wir gewonnen haben… obwohl wir so weit gekommen sind…!“ Kiba? Ist er… gefallen? Ich denke an Klaus und seine traurigen, grauen Augen, als er seinen Vater verabschiedet hat, und er tut mir sofort leid.
 

Ich merke plötzlich, dass es draußen totenstill geworden ist. Das Gemurmel, das vorhin noch geherrscht hat, ist verstummt…
 

„Das ist nicht wahr!“, höre ich Ninas Stimme schluchzen. „Das ist eine Lüge! Sie ist nicht tot! Sag, dass es nicht wahr ist!“ Ich beiße mir auf die Lippe und unterdrücke den Impuls, aufzuspringen, zu ihr zu laufen und sie in den Arm zu nehmen, damit ich ihr sagen kann, dass alles okay ist. Aber das kann ich nicht tun.
 

Ihr Schluchzen hat eine Lawine von Stimmen losgetreten. Es wird plötzlich so laut vor meiner Tür, dass ich mich am liebsten irgendwo verkriechen würde.
 

Es tut mir so leid. Es tut mir ja so leid…
 

Die Tür öffnet und schließt sich wieder und ich höre Shus Stimme:
 

„Ich verstehe nicht, Doktor, was kann ich hier noch tun, wenn…?“
 

„Lord Shu“, rufe ich ihn leise und drehe den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kommt. Im Schein der Lampe sehe ich, wie er überrascht zusammenzuckt und dann die Augenbrauen zusammenzieht.
 

„Oh…“, macht er. „Doktor Huan.“ Er sieht den Arzt an, doch dieser schüttelt nur den Kopf.
 

„Es tut mir leid“, sage ich. „Ich habe Doktor Huan darum gebeten.“ Shu runzelt die Stirn und tritt näher, dann fragt er:
 

„Hast du etwas vor?“ So kann man es nennen. Ich bin froh, dass er sofort versteht… jeder Andere hätte erst einmal Radau gemacht, glaube ich.
 

„Ja…“, murmle ich. „Ich… Ich… denke darüber nach, Riou für eine Weile zu verlassen.“
 

„… Er wird betrübt sein, das zu hören“, erwidert Shu in diesem ruhigen, ernsten Tonfall, in dem er immer spricht, wenn er denkt, dass jemand einen Fehler macht.
 

„Ich weiß“, nicke ich und wende den Blick ab. „Ich weiß das, aber… Es ist furchtbar schwer für mich. Riou und Jowy kämpfen gegeneinander… Es tut mir weh, Riou darunter leiden zu sehen. Als die Armbrustbolzen auf uns zuschossen und er mich mit seinem eigenen Körper schützen wollte, habe ich es begriffen…“ Ich schlucke. „Er sollte so etwas nicht tun. Er ist zu wichtig dafür…“
 

„Ein Anführer kann so nicht handeln“, stimmt Shu mir zu. Ich bin froh, dass er so denkt. Es beruhigt mich und bekräftigt mich in meiner Entscheidung, die ich schon fast zu bereuen begonnen habe.
 

„Deshalb… werde ich ihn Euch ganz überlassen“, sage ich. Shu schnaubt über meine Wortwahl, sagt jedoch nichts weiter dazu. Stattdessen fragt er:
 

„Was wirst du jetzt tun?“
 

„Ich gehe zurück nach Kyaro, nach Hause“, antworte ich ohne zu überlegen. „Dort ist es inzwischen sicher, denke ich. Und außerdem…“ Ich hole tief Luft und ignoriere den scharfen Schmerz, der meinen Brustkorb durchfährt. Daran muss ich mich jetzt gewöhnen. „Wenn all das hier vorbei ist, wird er einen Ort brauchen, an den er zurückkehren kann, nicht wahr?“ Ich lache freudlos, lasse es jedoch recht schnell wieder bleiben, weil Lachen noch mehr weh tut als Atmen oder Sprechen.
 

„Das stimmt.“ Shu neigt den Kopf so, dass sein Gesicht im Schatten liegt und ich es nicht mehr sehen kann.
 

„Ich bitte Euch darum, dass Ihr Riou von dieser Unterhaltung erzählt, sollte es je soweit sein, dass er nach Hause zurückkommen kann“, bitte ich und suche den Blick des Strategen, den ich eigentlich nicht leiden kann, weil er berechnend und kaltherzig ist. Aber in seinen dunklen Augen tobt ein Sturm, als er mich doch wieder anschaut, und ich verstehe plötzlich, dass ich mich im Augenblick auch nicht anders verhalte.
 

„Warum fragst du ausgerechnet mich?“, fragt er und wendet sich ab. Ich lächle seinen Rücken an – mehr sehe ich von ihm nicht – und antworte:
 

„Ich kann mir vorstellen, dass Ihr es ihm nicht eher erzählen werdet, bis es nicht absolut notwendig ist.“ Ich höre ihn amüsiert schnauben.
 

„Da hast du Recht.“
 

„Ich weiß.“ Einen Moment ist es still, ich höre nur meinen eigenen, viel zu lauten und röchelnden Atem. Dann dreht sich Shu wieder zu mir um, aber bevor er etwas sagen kann, bricht draußen plötzlich ein großer Tumult aus. Doktor Huan murmelt etwas und eilt nach draußen und ich bin froh, dass die Menge draußen zu beschäftigt zu sein scheint, mit was auch immer draußen passiert ist, um zu uns ins Zimmer zu spähen.
 

Beunruhigt blickt Shu zur Tür, bis Doktor Huan wieder hereinkommt. Wenn es überhaupt möglich ist, sieht er noch müder aus als vorher schon.
 

„Lord Riou ist zusammengebrochen“, erklärt er, während er seine Tasche packt und schon wieder auf halbem Weg nach draußen ist. Und dann ist er auch schon weg und Shu und ich bleiben zurück.
 

„Dieser Dummkopf“, seufze ich. Shu dreht sich zu mir um und hebt fragend eine Augenbraue.
 

„Er hat seine gesamte Energie verbraucht, als er seine Rune benutzt hat… und er hat nicht geschlafen, seit wir wieder hier sind, nicht wahr?“, frage ich und er nickt düster.
 

„Lord Riou hat sich standhaft geweigert, sich auch nur einen Schritt von der Tür zu entfernen. Dass er nicht gewaltsam versucht hat, sich Zutritt zur Krankenstation zu verschaffen, ist auch wirklich ein Wunder“, antwortet er. Ich seufze und schüttle den Kopf.
 

„Wenn ich nicht mehr da bin, wird er so etwas nicht mehr tun“, sage ich nachdenklich. „Es wird niemanden mehr geben, für den er solche Risiken eingeht.“ Shu betrachtet mich und bemerkt dann:
 

„Ich habe nicht geglaubt, dass du etwas so Nobles tun kannst. Ich habe dich wohl unterschätzt…“
 

„Es ist nicht nobel“, korrigiere ich ihn leise. „Es ist weder nobel noch zu seinem Wohl, Lord Shu. Es ist mein egoistischer Wunsch…“ Ich höre ihn amüsiert schnauben, weiß aber nicht, was er daran so lustig findet. Ich finde es eher bemerkenswert armselig…
 

„Wir alle haben das Recht, egoistisch zu sein“, sagt er schließlich. „Besonders in einer solchen Situation. Aber verstehe mich nicht falsch…“ Er schüttelt den Kopf. „Ich bin froh, dass du es tust. Lord Riou kann sich jetzt voll auf seine Aufgabe konzentrieren. Er hat nun noch mehr Antrieb, diesen Krieg zu beenden.“ Ich verziehe das Gesicht.
 

Es gibt einen guten Grund, warum ich Shu nicht mag, und er zeigt sich in diesem Moment wieder von seiner besten Seite. Nämlich der, die ich nicht ausstehen kann.
 

Aber es ist in Ordnung. Ich mag Shu nicht gut leiden, aber er ist ein guter Stratege und Riou vertraut ihm… und ich tue es ebenso, wenn auch widerwillig.
 

„Ich werde alles für eine Beerdigung vorbereiten lassen“, verkündet Shu irgendwann, nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit geschwiegen haben. Ihm wie mir ist es unangenehm, so aufeinander zu hocken.
 

Ich bin mir sicher, dass ich diesen Mann niemals, niemals mögen werde.
 

„Es mag keiner bezweifeln, dass Doktor Huan dich wirklich nicht retten konnte“, fährt er fort, „aber wenn es keine Beerdigung gibt, werden sie misstrauisch. Du bist immerhin Lord Rious Schwester…“ Dass wir keine leiblichen Geschwister sind, stand nie zur Debatte und ich bin froh darüber. „Denkst du, dass du in drei Tagen wieder auf den Beinen bist?“
 

„Ja“, antworte ich, obwohl ich mir gar nicht so sicher bin.
 

„Dann werden wir zusehen, dass du unbemerkt aus dem Schloss verschwinden kannst“, erzählt Shu ungerührt weiter, in dieser sachlichen Tonlage, als würden wir über das Wetter und nicht über eine inszenierte Beerdigung für mich reden. „Ruhe dich bis dahin aus.“ Er wendet sich zum Gehen und ist schon fast bei der Tür, als ich ihn doch zurückrufe:
 

„Lord Shu?“ Er dreht sich halb zu mir um und schaut mich erwartungsvoll an. „Danke.“ Sein Gesicht ist undurchdringlich, als er nickt und schließlich den Raum verlässt, mich in der Stille der Krankenstation zurücklassend.
 

Einen Moment lang bleibe ich noch mit weit offenen Augen liegen, dann atme ich durch – ob ich mich je an diesen Schmerz gewöhnen? – und schließe sie. Und dann merke ich auch schon, wie ich langsam in einen erschöpften Schlaf sinke…
 

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Ich glaube, ich habe die Bevölkerung von Schloss Dunan noch nie so still erlebt wie an dem Tag, als sich alle auf dem Friedhof hinter dem Schloss versammeln.
 

Shu hat alles perfekt organisiert, keiner vermutet etwas, als ich verhüllt aus den hinteren Reihen der Menschenmenge dabei zusehe, wie die vermummte, menschliche Gestalt, die alle für meinen Leichnam halten, welche aber eigentlich nur eine Stoffpuppe ist, mitsamt ihrem Holzlager in Brand gesteckt wird, um mir ein eindrucksvolles Begräbnisfeuer zu bieten.
 

Selbst von hier hinten erkenne ich, dass Rious Augen völlig blank sind. Blank und rotgeweint. Ich weiß, dass er jetzt nur nicht weint, weil er es die letzten drei Tage gemacht hat, eingeschlossen in seinem Zimmer.
 

Dafür weint Nina – laut und deutlich. Und mit ihr Eilie, Meg und Millie. Flik hat die Augen geschlossen und sich halb abgewendet, fast so, als würde er an vergangene Beerdigungen denken, und Viktor starrt mit ausdrucksloser Miene ins Feuer. Ich höre Shiro heulen und Mukumuku leise aus einem Baum in der Nähe jammern.
 

Ich bin erstaunt, wie viele Leute sich hier versammelt haben. Aber wahrscheinlich sind die meisten nicht wirklich wegen mir hier – sondern weil sie die Gelegenheit nutzen wollen, um um all jene zu trauern, die sie in diesem Krieg verloren haben.
 

„Bist du bereit?“, ertönt Doktor Huans leise Stimme hinter mir und ich nicke. So bereit ich eben sein kann…
 

Ich wende mich ab und bin dankbar für den dunklen Umhang, der ich trage – er verdeckt nicht nur mein Gesicht, sondern auch den ganzen Rest meines Körpers. In der Tat sehe ich eher aus wie Clive… Zwangsläufig frage ich mich, ob Shu einen seiner Umhänge aus der Wäsche genommen hat, und irgendwie bringt mich der Gedanke zum Grinsen.
 

Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie Shu die Beerdigung ebenfalls verlässt.
 

Ich folge Doktor Huan durch die verlassenen Gänge des Schlosses, bis wir am Haupteingang ankommen, und muss an die heftigen Diskussionen mit ihm denken. Er hat mich nicht gehen lassen wollen, bis meine Wunde nicht völlig verheilt ist.
 

Aber ich habe das Ding gesehen, dass er eine Wunde nennt – es ist rot und vernarbt und hässlich und tut weh und es wird einen Teufel tun und in drei Tagen verheilen. Überhaupt zweifle ich daran, dass sich dieses Loch in meiner Brust überhaupt irgendwann richtig zuziehen wird.
 

Und ich muss ganz dringend hier weg. Mit jedem Tag, der vergeht, habe ich mehr Zeit, meine Entscheidung zu bereuen. Und wenn es etwas gibt, das ich nicht tun möchte, dann ist es bereuen zu müssen, was ich hier tue.
 

„Vergiss nicht, so oft es geht die Verbände zu wechseln“, erinnert Doktor Huan mich zum gefühlt tausendsten Mal, als wir stehen bleiben. „Und nimm diese Medizin morgens auf nüchternen Magen ein.“ Er überreicht mir ein Bündel mit der Medizin, die ich zu hassen gelernt habe, und den Verbänden, die er eigens zurechtgeschnitten hat.
 

„Danke, Doktor“, erwidere ich und lege das Bündel vorsichtig in die Umhängetasche, die ich unter dem Umhang versteckt halte. Bei jeder Bewegung zieht es unangenehm in den Nähten, die meine Wunde zusammenhalten.
 

„Ich kann niemanden mit dir schicken, um dich zu bewachen“, sagt Shu, der zu uns tritt. „Also tu mir einen Gefallen und versuche, unterwegs nicht zu sterben. Sonst nützt dein Plan überhaupt nichts.“
 

„Keine Sorge“, versichere ich ihm, „ich kann auf mich aufpassen.“ Shu murmelt etwas, das sich verdächtig nach „Das haben wir gesehen“ anhört, aber ich ignoriere es. Ich habe keine Lust, mich mit ihm zu streiten.
 

„Pass gut auf dich auf“, seufzt Doktor Huan und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Leb wohl, Nanami.“
 

„Lebt wohl, Doktor“, flüstere ich und widerstehe dem Drang, ihn zu umarmen. Dann wende ich mich zu Shu. „Lebt wohl… Shu.“ Der Stratege nickt nur und schüttelt steif meine Hand.
 

Einen Augenblick lang betrachte ich die beiden Männer noch, dann drehe ich mich um und gehe langsam den Weg hinunter, der mich zuerst nach South Window und dann nach Radat und Kyaro bringen wird.
 

Ich beeile mich nicht, weil es keinen Grund gibt, sich zu beeilen. Strenge ich mich zu sehr an, breche ich unterwegs entkräftet zusammen, also kann ich es langsam angehen lassen. Niemand ahnt auch nur, was ich getan habe – niemand wird mir folgen. Diejenigen, denen ich begegnen werde, werden mich nicht erkennen.
 

Ich bin gestorben und doch am Leben.
 

Erst, nachdem ich mehrere Meilen zwischen mich und Schloss Dunan gebracht habe, wage ich es, zurückzusehen. Ich stehe auf einem kleinen, grasüberzogenen Hügel und blicke zurück zum Schloss.
 

Völlig unpassend scheint die Sonne und wenn nicht die dicke, dunkle Rauchfahne wäre, die vom Schloss aufsteigt, hätte man meinen können, dass alles in Ordnung ist. Aber das ist es nicht…
 

Als der Wind mir die schwere Kapuze vom Kopf weht und durch meine Haare fährt, spüre ich die Tränen wieder in mir aufsteigen.
 

„Riou… Vergib mir“, flüstere ich so leise, dass ich mich selbst kaum höre. Dann wende ich mich endgültig ab und gehe weiter.
 

Ich sehe nie mehr zurück.



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