Der zweite Brief
Obwohl sie die Party ziemlich zeitig verlassen hatte, war sie erst nach Mitternacht zu Hause. Ihre Eltern waren schon ins Bett gegangen und so schlich Kari auf Zehenspitzen in ihr Zimmer. Dass T.K. angeblich gesagt hatte, dass sie hübsch aussah, war die ganze Zeit in ihrem Kopf herumgeschwirrt. Es ärgerte sie ungemein, dass alle auf T.K.s Seite standen, obwohl dieser „der Böse“ war und nicht sie. Warum wollte sie einfach niemand verstehen?
Missmutig ließ sie sich auf den Stuhl fallen und zog die unterste Schreibtischschublade auf. Da waren sie, die fünf Briefe, von denen vier immer noch geschlossen waren. Langsam suchte sie den zweiten heraus. Eigentlich wollte sie ihn ja nicht lesen, aber es war nachts und sie war angetrunken, da konnte man seine Meinung schon mal ändern. Vielleicht hätte sie einfach schlafen gehen sollen, dann würde sie nicht auf solche Gedanken kommen.
Mit einem Finger öffnete sie den Brief, indem sie in die Lasche fuhr und das Papier aufriss. Diesmal befanden sich keine Süßigkeiten in dem Umschlag, dafür aber zwei Bögen Papier. Kari faltete sie auseinander. Die Schrift wirkte nicht gerade liebevoll, sondern krakelig und als hätte T.K. versucht, alles möglichst schnell aufzuschreiben.
Hallo Kari,
du tickst nicht mehr ganz richtig, oder? Im Ernst?
Ich meine, warum ignorierst du meine Briefe? Das Ganze ist jetzt fast zwei Jahre her und von dir kommt einfach keine Antwort. Ich habe überlegt, ob ich dir einfach noch mehr schreibe, aber ich fand, du bist an der Reihe, dich zu melden. Da ich nicht einen Brief und auch keine E-Mail von dir bekommen habe, gehe ich davon aus, dass du immer noch sauer bist.
Wie kannst du nur so stur sein? Seit wann bist du überhaupt so nachtragend? Was soll das?
Davis verzeihst du immer alles, was er anstellt und das auch noch, obwohl du oft gesagt hast, dass er dich nervt. Und bei mir, deinem angeblich besten Freund? Ich mache einmal was falsch und höre nie wieder etwas von dir. Ehrlich, ich glaube, unsere Freundschaft hat dir nie sonderlich viel bedeutet. Aber weißt du was?
Kari legte das erste Blatt beiseite und las auf dem nächsten Blatt weiter.
Auf Freunde wie dich kann ich eh verzichten. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich weggezogen bin, so hast du wenigstens mal dein wahres Gesicht gezeigt. Wer weiß, was irgendwann passiert wäre, wenn ich dageblieben wäre. Hier in Paris mit neuen Freunden geht es mir sowieso viel besser als in Japan.
Das wird jetzt das Letzte sein, was du von mir hörst. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.
T.K.
P.S.: Alles Gute
Eine ganze Weile starrte Kari auf die beiden Bögen, bevor sie dazu fähig war, sich wieder zu bewegen. Unordentlich faltete sie den Brief wieder zusammen und stopfte ihn zurück in den Umschlag.
Wie hatte T.K. nur so einen Brief schreiben können? Was war in ihn gefahren? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er musste sehr wütend darüber gewesen sein, dass sie sich nicht gemeldet hatte, aber offenbar konnte man diese Aktion auf seine Pubertät schieben, denn immerhin war er gerade mal vierzehn Jahre alt gewesen, als er diesen Brief schrieb. Anscheinend waren seine Hormone mit ihm durchgegangen. Außerdem konnte sie nicht wissen, ob er vielleicht zusätzlich noch schulische oder familiäre Probleme hatte. Wer wusste das schon.
Trotz allem musste Kari sich eingestehen, dass sie seine Worte verletzten. Wer weiß, wie sie reagiert hätte, wenn sie den Brief an dem Tag gelesen hätte, an dem er angekommen war. Wahrscheinlich wäre sie wütend geworden oder hätte angefangen zu heulen. Auf jeden Fall hätte es ihren Geburtstag versaut.
Sie warf den Brief in die unterste Schreibtischschublade zurück und ging schlafen.
In der Nacht träumte sie von T.K. und Aya, wie sie zusammen auf die Hochzeit von Tai und Mimi kamen. Niemand wunderte sich darüber, dass T.K. einfach ein fremdes Mädchen mitbrachte. Sie waren ein glückliches Pärchen und jeder mochte Aya, als wäre sie das liebe Mädchen von nebenan. Kari selbst wurde seltsamerweise von allen gefragt, warum Nana nicht dabei war und ob sie sich gestritten hätten.
Als Kari aus dem Schlaf fuhr, war sie so verärgert, dass es eine Weile dauerte, bis sie wieder einschlafen konnte. Sie dachte über sich selbst nach. Alle waren der Meinung, dass sie mit T.K. reden sollte, ihm eine Chance geben sollte, seinen Fehler wiedergutzumachen. Sogar mit Nana hatte sie sich nun schon deswegen gestritten.
Sollte sie vielleicht auf die anderen hören? Sollte sie auf T.K. zugehen, das erste Mal in fünf Jahren und sich anhören, was er zu sagen hatte? Vielleicht sollte sie ihren verletzten Stolz überwinden. Er war doch mal ihr bester Freund gewesen.
Sie rieb sich die Augen, kletterte aus ihrem warmen Bett und schaltete den Computer ein. Geistesabwesend starrte sie auf den Monitor und wartete, bis sie den Internetbrowser öffnen konnte. Sie loggte sich in ihren Facebook-Account ein und überflog die Startseite. Nichts Weltbewegendes. Ein paar Leute hatten gepostet, dass sie heute Nacht auf Masamis Party gingen.
Kari gab „Takeru Takaishi“ in die Personensuche ein und klickte T.K. an. Sie betrachtete sein Profil, das so wenig von ihm preisgab. Sie wollte sehen, welche Fotos er noch hochgeladen hatte, doch das ging nicht. Nur für Freunde.
Freunde.
Auf einmal erinnerte Kari sich an früher zurück, wie sie mit ihm im Sandkasten gespielt hatte. Wie sie Fußball gespielt hatten. Auf Bäume geklettert waren. Gemeinsam Hausaufgaben gemacht hatten. Zusammen beim Mittagessen im Speiseraum der Schule gesessen hatten. Sich mit Davis und Ken angefreundet hatten. Wie sie sich in ihn verguckt hatte. Und jetzt dieser Brief.
Eine einsame Träne rollte über Karis Wange und ehe sie etwas dagegen unternehmen konnte, hatte sie mit einem einzigen Klick eine Freundschaftsanfrage an Takeru Takaishi gesendet.