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Schneefall

von

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OS

„Schneefall“
 

Ich sah die Menschen umherlaufen, von der Zeit gedrängt, vom Leben zerfressen. Die Meisten sahen nicht mal, was um sie herum geschah, ein Bettler saß am Straßenrand, seine Lippen blau und rissig von der Kälte, er zitterte mit seinem jungen Hund in den alten Lumpen die er trug. Niemand beachtete ihn, obwohl er mitten unter den Menschen war, auf seiner Hutkrempe hatte sich bereits Schnee abgelagert, und seine Hände hatten sich fest um den kleinen, fast leeren Pappbecher gelegt. Ich holte aus meiner Tasche meine letzten Münzen, vielleicht würde ich wie er auch bald elendig zittern müssen. „Vielen Dank, Junge!“ Ich schenkte ihm nichts als ein kurzes, halbherziges Lächeln und verschwand wieder in der Masse.

In den letzten Tagen hatte es sehr viel geschneit, man konnte vor Kälte kaum die Straße betreten, aber die graue Masse schien das nicht einmal zu bemerken, im Gegenteil, sie schienen sogar mehr Energie als sonst zu besitzen. Keiner entschuldigte sich, wenn er jemand anderen anstieß, bloß ein paar Beschimpfungen wurden ausgetauscht, scheinbar war die Sympathie in der modernen Welt vollkommen verloren gegangen.

Mit der Zeit wurde es dunkler, die Masse löste sich auf, und die Straßen wurden noch kälter, keine normale Person wollte den eisigen, eingeschneiten Park betreten, niemand außer mir. Ich wurde von einigen Überresten der Masse angestarrt, sie tuschelten, ich hörte Worte wie 'Nichtsnutz', oder man fragte sich, weshalb ich um diese Zeit nicht zu Hause war.
 

Hörte man genau hin, konnte man die seltsamsten Geschichten aufschnappen, wer ich war und was ich tat, aber im Endeffekt war es jedem egal was mit mir passierte. Ich hatte Menschen gesehen, die, umgeben von so vielen anderen Personen, umkippten, oder schwer verletzt wurden, aber niemand hatte sich bewegt, jeder stand nur da und regte sich auf, warum denn niemand half, doch selbst wollten sie keinen Finger krumm machen. Manchmal fragte ich mich, wo die Intelligenz der Zivilisation geblieben war.

Ich stand eine ganze Weile vor einem heruntergekommenen Hochhaus, mit eingebrochenen Fenstern die mit Plastik abgeklebt waren, nur ein kläglicher Versuch, den Wind aus den armseligen Wohnungen zu halten, und dann besah ich die Wand des Parkhäuschens, in dem gerne große Feiern gehalten wurden.

Ich zögerte nicht einen Moment, als ich meine Dosen herausholte und begann, die Farben wild über die Hauswand zu verteilen. Es hatte mich eine Weile gekostet, bis ich es konnte, aber ich hatte die letzten Wochen geübt und geübt, um diese eine Sache an die Wand zu sprayen. Selbst wenn man mich fand war mir das egal, ich musste das Bild fertigstellen. Ich nahm mir alle Zeit die ich benötigte, um es zu perfektionieren, man sah nichts von der eigentlichen Wand mehr, sondern nur noch einen gigantischen bunten Vogel, der mitten in einem Wald stand, mit all dem, was der Frühling zu bieten hatte. Obwohl ich das Bild in der vergangenen Zeit immer und immer wieder gezeichnet hatte, war es ein unglaubliches Gefühl, es endlich an der Wand zu sehen, fertig, sodass jeder es sehen konnte.

Der Morgen brach inzwischen an und meine Augen fielen fast von alleine zu, ich weiß nicht mehr, woher ich die Energie nahm, loszurennen, in das klägliche Hochhaus, vielleicht aus Angst, jemand könnte mein Bild zerstören, während ich in meine Wohnung lief. Ich trat leise herein und sah kurz in die Küche, in der meine ältere Schwester mit aschfahlem Gesicht saß, und mich mit einem Blick ansah, als würde sie mich hassen. Ich wusste, der Hass galt nicht mir, er galt dem Universum und allen Menschen.
 

„Du bist schon wieder zwei Tage nicht zuhause gewesen.“, knurrte sie, ihre leeren Augen fixierten meine, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ohne sie weiter zu beachten, ging ich in das Hinterzimmer, das einzige im Haus, das beheizt war, durch einen kleinen Ofen den ich selber eingebaut hatte.

„Kevin.“, die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber genug, um mich so schnell ich konnte ans Bett zu holen. „Wo warst du denn?“, fragte sie, ihre Haut war grau und trocken, und ihr Körper dürr und kraftlos. „Nirgends. Hier, Mum.“, flüsterte ich und holte einen kleinen Glasvogel aus meiner Jacke, sie nahm ihn vorsichtig in die Hand, aber ich hielt ihn weiter fest, aus Angst, sie wäre zu schwach um ihn zu halten, ihr Körper wurde von der Krankheit immer weiter dahingerafft.
 

„Danke mein Süßer.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber ihre Lippen sahen nicht besser aus als die des Obdachlosen vom gestrigen Abend.

„Ich möchte dir etwas zeigen.“ Ich hob sie vorsichtig aus dem Bett und setzte sie auf den Stuhl vor dem Fenster, wickelte sie wieder in ihre Decke ein, und zog den Vorhang weg.

„Es schneit immer noch.“

„Ja, aber siehst du das Haus?“

„Ich sehe kein Haus.“ Es stand eigentlich kaum einhundert Meter entfernt, man konnte den Vogel deutlich erkennen.

„Streng dich an Mama, was siehst du?“

„Dass alles weiß ist.“

„Du siehst also kein Haus?“

„Noch nicht, der Schnee ist zu dicht. Im Frühling sehe ich es wieder, ich freue mich schon so darauf, das nächste Jahr wird sicher wärmer. Ich hätte so gerne, dass der ganze Schnee verschwindet.“, jammerte sie übertrieben, ich wusste, sie beschwerte sich nicht wirklich, das war nur ihre Art, lustig zu sein, obwohl sie nach jedem Satz neu Luft holen musste und ihr die Stimme wieder und wieder versagte.

„Vielleicht legt sich der Schnee später.“, meinte ich und verließ das Zimmer.

Es tat weh, dass sie den Vogel nicht sehen konnte, wobei ich die letzte Zeit nur darauf hingearbeitet hatte, ihr dieses eine kleine Paradies zu schenken, mit einem Paradiesvogel, ihrem Lieblingstier. Meine Schwester saß in der Küche und starrte aus dem Fenster, vielleicht bemerkte sie ihre Tränen nicht mal. „Hast du das gemacht?“, sie zeigte auf das Häuschen. Ich nickte, daraufhin stand sie auf und umarmte mich,

„Danke, Kurzer.“, dankte sie, obwohl ich jetzt größer als sie war, hatte sie meinen Kindheitsspitznamen beibehalten. Dann verließ sie den Raum, wahrscheinlich hatte sie mitbekommen, dass unsere Mutter nicht mal das Haus realisieren konnte.

Ich stand eine lange Zeit am Küchentresen und starrte mein Bild an, ich wusste, dass meine Mutter immer noch auf dem Stuhl saß, sie konnte sich nicht von alleine bewegen, und sie starrte auch darauf, aber sie sah es nicht.

Ich konnte den Mann von der Straße mit seinem Hund sehen, er lag erfroren auf dem Bordstein, der kleine Hund sprang um ihn herum und wollte ihn zum Aufstehen bewegen, aber das würde er nie mehr schaffen, er legte sich schon bald dicht an ihn heran, suchte nach Körperwärme, aber die hatte den alten Mann schon einige Zeit verlassen, der junge Hund war am Ende, lange würde auch er nicht mehr schaffen.
 

„Kevin.“, hörte ich die Stimme meiner Mutter, nicht nur ich, sondern auch meine Schwester war sofort bei ihr. Unsere Mutter schien jedoch dafür sämtliche Kraft verbraucht zu haben, ich konnte hören, wie sie sagte : „Ich sehe es.“, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich gesagt hat, im Nachhinein denke ich mir, ich habe es mir eingebildet. Meine Schwester und ich, wir standen beide in der Tür, sahen die Hand vom Stuhl hängen, und trauten uns beide nicht, das Zimmer zu betreten. „Mama?“, sie war die erste, die Mut fand. Sie berührte unsere Mutter leicht an der Schulter, doch sie kippte zur Seite. Keine Sekunde später lag sie weinend am Boden, umklammerte die Hand unserer Mutter sowie der Mann den Pappbecher, und ich ließ mich auf den Boden sinken. Am liebsten hätte ich ebenso geheult, aber das einzige, was ich tun konnte, war dasitzen und den blöden Vogel anzustarren.
 

Zwei Tage vor Silvester musste meine Mutter sterben, ohne das ich wusste, ob sie ihr Paradies je wirklich gesehen hat, und schon einen Abend nach ihrem Tod war der Vogel voll von anderen Kritzeleien, die irgendwelche kleinen Jungs über mein Bild gemalt hatten.
 

„Hey, Kleiner.“ Ich beugte mich zu dem Hund runter, der halb erfroren bei dem Toten saß, „Ich weiß, wie du dich fühlst. Komm mit nach Hause.“, sagte ich und lächelte dabei, mir wurde bewusst, dass ich das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter weinte, auch der Hund jaulte, als ich ihn in meiner Jack eingepackt davontrug, und sah dem armen alten Mann nach.
 

Eine Frau ging an ihm vorbei und warf eine Münze in seinen Becher. Noch immer sah ihn niemand an.

Der Hund weinte, meine Schwester weinte, ich weinte, und dem Rest der Welt war das völlig egal.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Veluna
2013-06-02T18:19:37+00:00 02.06.2013 20:19
Hallo :)

Vielen Dank erst einmal, dass du an meinem Wettbewerb teil genommen hast. Und ich entschuldige mich natürlich, dass es so lange gedauert hat, bis ich es geschafft habe, deine Geschichte zu lesen.

Den Inhalt deiner FF finde ich wirklich schön, vor allem was du vermitteln möchtest. Das sich die meisten eigentlich nur noch um sich selbst kümmern, und es ihnen egal ist, wie es anderen geht. Wenn ich das richtig verstanden habe, war der Bettler am Ende erforen und nicht einmal das hat jemand bemerkt. Traurige Sache.

Vor allem das mit der Mutter hat mir leid getan, aber dass der Junge nur für sie einen Vogel an die Wand gesprüht hat, fand ich wirklich rührend.

Nun muss ich aber leider auch etwas negatives sagen... Was mir wirklich leid tut, denn ich finde die Geschichte wirklich toll! Aber leider erüfllt sie für mich nicht das Genre "Fantasy". Es ist eher alltag. Das macht mich nun fast ein wenig traurig, weil ich wirklich begeistert von deiner Geschichte bin.

Ich hoffe du schreibst weiterhin sol tolle Sachen!

Schönen Abend wünsche ich dir noch!

Veluna
Antwort von: abgemeldet
02.06.2013 21:00
Vielen Dank natürlich erst mal für dein Lob und deine Kritik.
Ich kann mir vorstellen, das es ziemliche Arbeit ist, so viele Geschichten durchzukauen, und das alles auszuwerten.

Ich bin froh, dass ich dir meine Gedanken vermitteln konnte, und hoffe, dass du auch darauf achtest, dass du andere nicht ignorierst, das wäre schon ein großer Erfolg für mich.

Es ist mir natürlich auch aufgefallen, dass das Genre nicht erfüllt wird, aber unachtsam, wie ich bin, natürlich erst hinterher. So wie ich das jedoch verstanden habe, war ein Fantasy Genre nur ein möglicher Zusatz, und die eigene Fantasie lässt immer noch die Möglichkeit einer komplett anderen Welt offen, wenn auch ziemlich weit, ich weiß ;)

Ich hoffe trotzdem, das ich nicht sofort disqualifiziert wäre,
aber am wichtigsten ist mir, dass du etwas aus dieser Geschichte entnehmen konntest.

Ich werde mir beim schreiben defintiv weiterhin diese Mühe geben, und darauf hoffen, dass man aus meinen Geschichten etwas mitnimmt.

Ich danke noch mals für die Kritik, und wünsche auch dir einen schönen Abend!
Acarnia.


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