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Tabula Rasa

A Doctor Who Miniseries
von

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Ein Verdacht kommt auf

Immer tiefer führte Mr Gibbs den Master in die Anstalt hinein. „Hier geht es in den Westflügel, wo sich die Behandlungsräume für unsere Patientinnen befinden“, sagte er und wies die Richtung, „und durch diese Tür gelangen Sie in den Ostflügel. Dort ist Platz für ein paar besonders schwere Fälle.“

Ausdruckslos sah der Master in die beiden Richtungen und vermerkte sich in Gedanken, wo sich was befand. Die Anstalt für eigensinnige viktorianische Mädchen war weitaus größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte; sich in den vielen Etagen und Gängen zu verirren, schien gar nicht mal so abwegig.

„Nun, ich denke unsere Insassinnen werden Sie mehr interessieren als unser medizinischer Schnickschnack, deshalb würde ich vorschlagen, wir nehmen erst einmal diesen Weg.“

Noch immer schweigend willigte der Master ein und folgte Mr Gibbs durch die rechte Tür. Oh, dieser Primat ahnte nicht, wie sehr ihn der „medizinische Schnickschnack“ interessierte! Aber dafür würde er noch Zeit haben. Vielleicht ließ sich bis dahin irgendetwas über die Gefangenen herausfinden.
 

Gemeinsam liefen sie einen spärlich ausgeleuchteten, fensterlosen Korridor entlang. In weiter Ferne glaubte der Master Schreie zu hören, die jedoch von den dicken Wänden weitestgehend verschluckt wurden. Ein Blick in Mr Gibbs Miene, in die sich tiefe Abscheu gestohlen hatte, genügte dem Master als Bestätigung. Sie befanden sich auf dem richtigen Weg.

Dennoch schien Mr Gibbs nicht den Eindruck zu machen, dem Besuch gleich zu Beginn die extremen Fälle zeigen zu wollen. Stattdessen befand sich der Master vor mehreren Zellen, in denen einsame Gestalten regungslos saßen. Mit glasigem Blick stierten sie ins Leere und zeigten keinerlei Anzeichen, dass sie sich der beiden Besucher bewusst waren.

„Lobotomie“, entfuhr es dem Master verächtlich, als er auf ein besonders erbärmliches Exemplar starrte.

Überrascht sah Mr Gibbs auf. „Sie haben Verständnis von der Medizin?“

„Ich habe das ein oder andere gelesen“, erwiderte der Master und verkniff sich mit größter Mühe einen herablassenden Tonfall. Zumindest hatte er mit dieser Aussage weitere Pluspunkte bei seinem beflissenen Führer gewonnen.

„Wenn dem so ist, könnte ich natürlich später schauen, ob Mr Rutherford nicht ein bisschen Zeit aufbringen kann, um Ihnen die medizinische Abteilung zu zeigen.“

„Das wäre ausgezeichnet!“, entgegnete der Master mit einem breiten Grinsen. „Aber natürlich nur, wenn ich damit keine Umstände mache.“

„Selbstverständlich nicht, Sir. Für Sie wird sich bestimmt etwas finden lassen“, sagte Mr Gibbs und setzte ihren Weg fort.
 

~*~
 

„Vielleicht hat deine Tante ja Antworten für uns“, sagte der Doctor in dem unbeholfenen Versuch, John aufzumuntern. Mit wenig Erfolg. John war in ein brütendes Schweigen gefallen, das er so schnell nicht aufgeben zu wollen schien.

„Irgendwie werden wir schon herausfinden, was es mit alle dem auf sich hat. Ich bin mir sicher, dass der Master einiges finden wird, das uns weiterhilft. Vielleicht können wir so auch deine Veronica finden.“

„Sie ist tot.“

Der Doctor blieb überrascht stehen und sah John bestürzt an.

„Sie ist tot!“, wiederholte John missgelaunt und biss die Zähne zusammen.

„Aber es klang…“

„Es hat keinen Sinn, mir etwas vorzumachen“, stieß John bitter hervor. „Sie hätte mich schon längst gefunden, wenn sie noch am Leben wäre.“

„Bist du sicher?“, fragte der Doctor vorsichtig.

„Ja, verdammt! Der Zettel war das letzte Lebenszeichen, das ich von ihr bekommen habe. Mad Maddie hatte ihn mir gegeben, mit den Worten, dass sie fort sei, an einem besseren Ort.“

John holte tief Luft und blinzelte verärgert Tränen weg, die ihn bei diesem Gedanken kommen wollten. Es war das erste Mal, dass er sich jemandem anvertraute, dass er tatsächlich alles erzählte und diese bohrende Gewissheit endlich aussprach.

„Mad Maddie … kann sie uns nicht mehr erzählen? Was-?“

„Vergessen Sie’s. Ich muss es endlich einsehen. In den vergangenen Tagen habe ich oft genug einen Narren aus mir gemacht. Veronica wäre enttäuscht, wenn sie mich so sehen würde.“ John stieß ein verzweifeltes Lachen aus. „Sehen Sie mich doch an. Ich habe sogar gemordet und dennoch bin ich keinen Schritt weitergekommen.“

Der Doctor nickte verständnisvoll, denn er wusste zu gut, wie weit der Schmerz und die Trauer um eine geliebte Person jemanden treiben konnten.

„Also auf zu deiner Tante“, beschloss er und zauberte ein breites Grinsen in sein Gesicht. „Schließlich sollten wir Veronicas letzte Bitte erfüllen.“
 

Etwas besser gestimmt, kamen sie gegen Mittag an einem unscheinbaren Haus an, in das ihnen ein wesentlich freundlicherer Bediensteter als der von Mr Warren Einlass gewährte. Neugierig betrachtete der Doctor die stilvoll eingerichteten Räume, an denen sie vorbeikamen und die sich gänzlichen von der hässlichen Fassade des Hauses unterschieden.

„John, mein Junge, wie schön dich zu sehen“, ertönte eine ältere Frauenstimme. Sie hatten einen Salon erreicht, der nur von dem spärlichen Licht eines winzigen Fensters sowie einem kleinen Kaminfeuer erleuchtet wurde.

John begrüßte seine Tante flüchtig und stellte den Doctor vor, dann nahmen sie jeweils in einem der Sessel Platz.

„Also, Mrs Lawson, Ihr Neffe hat mir erzählt, dass Sie von Mr Rutherford behandelt worden sind“, begann der Doctor ohne Umschweif und erntete dafür sogleich einen missbilligenden Blick seiner Gastgeberin.

„Mr Smith, möchten Sie vielleicht einen Tee? Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie bereits so früh erscheinen, aber wenn Sie wünschen, werde ich Mrs Hughes bescheid geben, dass sie die Reste des Mittagessens aufwärmen soll, falls Sie hungrig sind. Sie werden doch bleiben, oder?“

„Ja, sehr gerne“, erwiderte der Doctor mit einem Strahlen. Er bemerkte nicht, wie sich Johns Gesicht verfinsterte.

„Nun, ich bin jedenfalls gekommen, weil ich gerne mehr über Mr Rutherfords Methode erfahren würde und Sie scheinen mir da weiterhelfen zu können.“

Mrs Lawson lächelte. Sie saß aufrecht auf dem langen Sofa, ihre Hände waren wohlerzogen in ihrem Schoß gefaltet.

„Vielleicht möchte John Ihnen, das Haus zeigen - schließlich ist er früher oft genug hierher gekommen.“

„Aber…“

„Das ist eine ausgezeichnete Idee, kommen Sie doch bitte mit.“
 

Überrascht sah der Doctor zu John, der sich wieder erhoben hatte und ihn nun auffordernd ansah. Mit einem Seufzen folgte er dem jungen Mann durch den düsteren Flur und hinauf in den ersten Stock. Dort steuerte John zielstrebig ein geräumiges Zimmer an, dessen Wände von hohen Bücherregalen verdeckt wurden.

„Was soll das?“, fuhr John den Doctor an, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. „Sie können einer Dame doch nicht eine solche Frage stellen! Wenn Sie so weiter machen, werden wir nie etwas erfahren.“

Der Doctor ließ seinen Blick nachdenklich über die ledernen Buchrücken schweifen. „Warum nicht? Anders werden wir nichts herausfinden.“

„Sprechen Sie den vergangenen kränklichen Zustand nicht direkt an. Es würde helfen, wenn Sie allgemein über Mr Rutherfords erfolgreiche Heilmethode sprechen.“

Das klang einleuchtend.

„In Ordnung, dann machen wir das so“, grinste der Doctor und war schon wieder auf dem Weg hinaus, als John ihn zurückhielt.

„Wir werden bis zum Essen warten müssen, vorher wird meine Tante uns nicht mehr zu einem Gespräch empfangen.“
 

Also warteten sie in dem kleinen Zimmer, das, wie John schließlich erzählte, sein eigenes gewesen war. „Nachdem meine Mutter gestorben ist, bin ich oft hierher gekommen, wenn mein Vater wieder einmal auf Geschäftsreise war“, sagte er, während er gedankenverloren durch den Raum schritt. „Meine Tante liebte das Theater, weshalb ich oft mit ihr und ihren Freundinnen zu abendlichen Vorstellungen gehen konnte. So habe ich auch Veronica kennengelernt…“

Seine Stimme brach und er verlor sich in längst vergangenen Erinnerungen.

Schweigend sah der Doctor zu John, der auf dem Bett Platz nahm.

„Es hat sich alles geändert“, fuhr John schließlich fort. „Ich musste meinen Vater auf seiner Geschäftsreise nach Indien begleiten. Es kam zu Komplikationen, wir galten in London als verschollen und Veronica…“

„… wurde Mr Warren versprochen“, vermutete der Doctor.

John nickte mit geballten Fäusten. „Nicht nur das, meine Tante geriet mit meinem Onkel in einen Unfall. Mein Onkel wurde schwer verletzt, so sagte man mir, und starb innerhalb von zwei Tagen. Meine Tante kam zwar unbeschadet davon, konnte sich jedoch nie von dieser Tragödie erholen. Sie wollte nicht mehr essen, sie hat nicht mehr gesprochen … und ich war nicht da. Ich konnte nichts tun, weil ich auf dieser gottverdammten Reise war!“

Unbeholfen stand der Doctor da und schwieg. Er konnte Johns Schmerz besser verstehen, als dieser sich vielleicht vorstellen konnte, doch fiel ihm nichts ein, wie er dies zum Ausdruck hätte bringen können. Also sagte er nichts und vertrieb sich stattdessen die Zeit damit, die verschiedenen Buchtitel zu erkunden, unter denen sich auffällig viele Theaterstücke befanden.
 

Irgendwann drang der dumpfe Glockenschlag einer Wanduhr aus den Tiefen des Hauses zu ihnen hinauf. Es war zwei und Mrs Lawson hatte nicht mehr von sich hören lassen. Ungeduldig wippte der Doctor auf seinen Fußballen auf und ab, während er sich zwang, ruhig zu bleiben. Doch selbst nach den Glockenschlägen gab keine Menschenseele ein Lebenszeichen von sich, womit für ihn die Sache beschlossen war.

Zielstrebig lief er auf die Tür zu und spähte in den verlassenen Flur.

„Was haben Sie vor?“, fragte John alarmiert.

Mit einem Grinsen wandte sich der Doctor dem jungen Mann zu. „Du solltest mir das Haus zeigen. Und genau das werde ich mir jetzt ansehen.“

„Sir, das Einzige, was Sie finden werden, sind die Privatgemächer meiner Tante und in denen haben Sie nun wirklich nichts-“

„Papperlapapp“, winkte der Doctor vergnügt ab. „Wenn wir herausfinden wollen, was da vor sich geht, werden wir in denen genau richtig sein - vor allem wenn sie uns nichts sagen möchte.“

Zweifelnd sah John ihn an. Dann verzog sich sein Mund zu einer harten Linie. „In Ordnung“, sagte er.
 

Gemeinsam liefen sie den langen düsteren Flur entlang, während der Doctor an seinem Sonic Screwdriver herumspielte. Vielleicht konnte er irgendwelche Signale empfangen. Irgendetwas! Aber den einzigen Nutzen brachte ihnen der kleine Alleskönner, indem er die abgeschlossenen Türen öffnete. Von Signalen keine Spur. Stattdessen offenbarten sich ihnen mehrere dunkle Zimmer, dessen Mobiliar mit einer dicken Staubschicht überzogen war. Mr Lawsons Gemächer, wie John erklärte. In ihnen wurden sie jedoch ebenso wenig fündig, wie in den perfekt hergerichteten Räumen von Mrs Lawson. Der Doctor konnte keine Spur finden, nichts das irgendwie einen Verdacht hätte erregen können.

Die Augenbrauen dicht zusammengezogen, sah er sich um. In seinem Kopf war es am Rattern. Irgendetwas stimmte nicht! Das spürte er. Nur was?

Plötzlich stupste ihn John von der Seite an.

„Doctor“, raunte er, „wir sollten von hier verschwinden.“

Da bemerkte auch der Doctor die schweren Schritte, die langsam die Treppen hochstiegen. Eilig verschloss er wieder das Schlafzimmer von Mrs Lawson, in das sie gerade einen Blick geworfen hatten, und folgte John zurück zu seinem Zimmer. Kurz bevor sie jedoch eintreten konnten, hatte sie der Butler bereits erspäht.

„Was machen Sie denn?“, fragte er höflich.

„Ich habe meinem Gast einen kleinen Eindruck von dem bescheidenen Haus meiner Tante gegeben“, antwortete John ebenso höflich. Es war offensichtlich, dass keiner dem anderen Glauben schenkte.

„Ah, das sieht ja köstlich aus!“, rief der Doctor deshalb dazwischen und deutete auf das Tablett, das der Butler in der Hand hielt. Er beugte sich über die Teller und sog tief den Duft des gebratenen Fleisches ein. „Hmmh und wie das duftet!“

Verwirrt sah der Bedienstete zu dem ungewöhnlichen Besucher.

„Sir, möchten Sie nicht Platz nehmen? Madame wünscht zu entschuldigen, dass sie Sie so lange warten lässt und hofft, dass Ihnen zumindest das Essen zusagt, auch wenn es für ein Mittagessen bereits reichlich spät ist.“

„Das macht nichts“, lächelte der Doctor, folgte dem Butler mit John in ein Esszimmer hinein und begann dort seinen knurrenden Magen zu füllen. „Es scheint, als wäre deine Tante die Einzige, die uns tatsächlich Antworten kann“, brachte er zwischen mehreren Bissen hervor, nachdem der Butler wieder gegangen war. „Ich konnte nichts finden, dass sie vielleicht extern beeinflussen könnte.“

John kaut schweigend auf seinem Stück Rinderpastete.

„Glaubst du, sie wird bald mit uns reden? Oder können wir vielleicht doch einfach zu ihr gehen, wenn wir sagen, dass es dringend ist?“

Nachdenklich zog John seine Taschenuhr hervor. Für einen Moment starrte er ausdruckslos auf dessen Zifferblatt, dann ließ er den Deckel wieder zuschnappen und verstaute die kleine goldene Uhr in seiner Westentasche.

„Um drei Uhr können wir es zur Teezeit versuchen, danach müssen wir uns etwas anderes ausdenken“, bestimmte John.
 

~*~
 

Die schweren Fälle, von denen Mr Gibbs kurz zuvor gesprochen hatte, entpuppten sich als nicht halb so spannend, wie der Master es sich vorgestellt hatte.

„Sie müssen bedenken, dass wir ein paar von ihnen ausgestellt haben“, erklärte Mr Gibbs beinahe schon entschuldigend, während sie einen langen Gang entlang schritten, dessen Zellen größtenteils leer waren. „Und dank unserer revolutionären Heilmethode konnten wir viele dieser armen Seelen aus den tiefen des Wahnsinns befreien.“

Das klang einleuchtend. Die Fälle reicher Verwandter waren höchstwahrscheinlich bereits auf dem Weg zur Besserung, wohingegen die Insassinnen mit den weniger vermögenden Bekannten nun der Anstalt zu Geld verhalfen, indem sie den neugierigen viktorianischen Betrachtern präsentiert wurden.

„Das ist natürlich sehr erfreulich“, entgegnete der Master. „Ich muss gestehen, je mehr ich von Ihrer fortschrittlichen Einrichtung sehe, desto beeindruckter bin ich. Hier scheint es sich ja geradezu um ein Vorzeigemodell zu handeln, das Hoffnung für die Zukunft vieler armer Irren verheißt.“

Mr Gibbs lächelte dünn. „Vielen Dank, wir geben unser bestes.“
 

Sie passierten mehrere Fälle, die etwas von dieser Hoffnung stark zu brauchen schienen. „Teufel“, krächzte eine dürre Frau mittleren Alters. „Dämonen!“ Ihre Augen flackerten, als sie durch die Gitter zu den beiden feingekleideten Herren spähte. Dann fing sie an zu schreien und rüttelte wie wild an den Eisenstäben.

„Ein ganz bedauerlicher Fall“, bemerkte Mr Gibbs im Vorbeigehen, „hält alles und jeden für Ausgeburten der Hölle, die ihr etwas anhaben wollen. Ganz anders ist es da mit der jungen Miss Coles. Sie ist kaum ansprechbar, murmelt ständig irgendeinen Schwachsinn und reagiert auf jegliche Art der Berührung sehr aggressiv.“

Neugierig spähte der Master in die Zelle, auf die Mr Gibbs gedeutet hatte und sah eine junge Frau in einer Ecke kauern. Dunkelblondes verfilztes Haar fiel ihr ins Gesicht. Dennoch glaubte der Master sehen zu können, wie sie ihre Lippen bewegten. Er spitzte die Ohren. Nachdem ein weiterer Schwall von lautstarken Anschuldigungen, Ausgeburten der Hölle zu sein, verklungen war, konnte der Master ein leises Summen hören. Es war eine Mischung aus gemurmelten Worten und Tönen, zu denen Miss Coles gedankenverloren gegen den Stein schlug.

Der Master erstarrte. Alles in ihm spannte sich an, seine Sinne waren aufs äußerste geschärft, während er konzentriert den Lauten der verrückten Insassin lauschte.
 

„Oh, ich weiß genau, was ihr wollt. Aber meine Seele kriegt ihr nicht, ihr gottloses Pack!“, kreischte da die Stimme der anderen Verrückten.
 

Mit hervorgeschobenem Unterkiefer zwang der Master sich zur Beruhigung. Es hatte keinen Zweck, diesem erbärmlichen Leben jetzt schon ein Ende zu bereiten. Er musste sich gedulden. Nur so würde er Antworten finden können.

Nachdem wieder Stille eingekehrt war, lauschte er erneut. Es klang ganz nach einem Kinderreim. Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur geirrt.

„Ein tragischer Fall, finden Sie nicht auch?“, fragte Mr Gibbs plötzlich.

Der Master nickte zerstreut. „Ja, sehr bedauerlich“, sagte er und wandte sich von diesem Primaten ab. „Ich glaube, es wäre eine Zeitverschwendung, noch länger hier zu verweilen, finden Sie nicht auch?“

„Da haben Sie zweifellos recht“, pflichtete Mr Gibbs beflissen bei. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns in interessantere Räumlichkeiten begeben“, sagte er dann geschäftig nach einem prüfenden Blick auf eine Taschenuhr. „Wenn mich nicht alles täuscht, könnte Ihnen das durchaus gefallen, zumal wir dort wahrscheinlich auch auf Mr Rutherford treffen werden. Was meinen Sie?“

„Ich würde sagen, wir sollten keine weitere Zeit bei diesen armen Kreaturen verlieren“, entgegnete der Master.
 

~*~
 

Die Zeit kroch dahin. Weder John noch der Doctor sprachen viel miteinander. Der eine hing glücklichen Erinnerungen nach, die sich in diesen vier Wänden abgespielt hatten, während der andere nachdenklich an seinem reparierten Sonic Screwdriver herumspielte.

Als es endlich drei Uhr schlug, sahen sie sich wie auf Kommando an.

„Sollen wir?“, fragte der Doctor, doch Johns Aufstehen war Antwort genug. Voller Elan sprang er auf, folgte dem jungen Mann die Treppe hinunter ins Foyer und von dort aus einen weiteren düsteren Flur entlang in den Salon hinein.

John blieb wie angewurzelt stehen.

„Ist etwas?“, wunderte sich der Doctor leise und spähte über Johns Schulter. Er konnte Mrs Lawson sehen, die mit aufrechter Haltung in einem der grüngepolsterten Ohrensessel saß und eine Tasse Tee in der Hand hielt. Dann bemerkte er den älteren Herrn, der ihr gegenüber saß.

„Oh“, murmelte der Doctor, dem klar war, dass sie gerade in eine Unterhaltung geplatzt waren. Das beste würde nun sein, sich charmant bei der Gastgeberin zu entschuldigen und mit dem eigentlichen Anliegen fortzufahren, doch er konnte nicht.
 

John versperrte nach wie vor den Weg.
 

„Du!“, stieß auf einmal der Mann hervor und erhob sich mit einer Langsamkeit, die Ärger verhieß. Voller Missfallen ruhten die hellen Augen auf John; sie schienen sich geradewegs einen Weg in sein Gewissen bohren zu wollen. „Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen, nach dem was du angerichtet hast?“

John schwieg beharrlich. Er wirkte wie jemand, der abgestumpft war von einem sich immer wiederholenden Prozess.

„Weißt du eigentlich, was für eine Schande du der Familie bereitest?“

Der Mann war vorgetreten. Mittlerweile ragte er unheilverkündend vor John und dem Doctor auf und schien kurz davor, ein Donnerwetter über sie hereinbrechen zu lassen.

„Ich weiß“, sagte John tonlos. „Können wir das ein andermal besprechen?

Bitte, es ist dringend! Ich muss-“

„Dringend? Dringend! Nach allem, was du angerichtet hast?“
 

Dem Doctor wurde unwohl zumute. Er hatte mit vielem gerechnet, nicht aber mit einem derartigen Konflikt. „Entschuldigen Sie, Sir“, wandte er deshalb ein, „ich weiß nicht, worum es geht, aber John hat recht, es is-“

„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Vater, das ist John Smith“, mischte sich John ein, „ein Polizist von Scottland Yard.“

Nun hatte der Doctor die volle Aufmerksamkeit des älteren Herrn, bei dem es sich allem Anschein nach um Johns Vater, Mr Hales, handeln musste. „Erfreut Sie kennenzulernen“, warf er ein und schenkte ihm ein kleines, freundliches Lächeln. Doch Mr Hales schnaubte nur verächtlich.

„Können Sie sich ausweisen?“, war alles, was er sagte.

„Ich fürchte leider nein. Mein Kollege hat versehentlich meinen Ausweis eingesteckt.“

„Das ist ich nicht lache. Ihr ‚Kollege‘!“ Mr Hales war näher an den Doctor herangetreten und funkelte ihn herablassend an. „Gaunerpack nenne ich sowas“, spie er hervor und stieß den Doctor zurück.
 

„Vater!“
 

Eilig trat John dazwischen, bevor es zu irgendwelchen Handgreiflichkeiten kommen konnte. „Können wir dir nicht einfach erst einmal unsere verdammte Geschichte erzählen?“

„Deine Lügen muss ich mir nicht anhören“, erwiderte Mr Hales kühl, ging zurück ins Zimmer hinein und griff nach dem Morgenblatt, das auf dem kleinen Couchtisch lag. „Es steht bereits alles in der Zeitung.“

Fassungslos starrte John auf die aufgeschlagene Seite, die sein Vater ihm erbarmungslos hinhielt.

„Verrückter begeht Mord in der Ophelia-Ausstellung“, las er leise.

„Mr Rutherford zutiefst schockiert … Augenzeugen wollen John Hales erkannt haben…“
 

Stille breitete sich langsam aus und wurde unerträglich. Währenddessen wich Johns Fassungslosigkeit einem Anflug von Trotz. „Du würdest auch eher der Zeitung als deinem eigenen Sohn glauben“, brachte er wütend hervor.

„Unsinn“, fuhr Mr Hales ihn an, während er wieder in seinem Sessel Platz nahm. „Aber bedauerlicherweise weiß ich, dass mein Sohn ein Lügner ist. Ein Taugenichts, der nichts Besseres zu tun weiß, als sich den lieben langen Tag irgendetwas vorzugaukeln.“
 

Unruhig wippte der Doctor auf den Fußballen auf und ab, während er überlegte, wie er dem Streit ein Ende bereiten konnte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Mrs Lawson nichts zu alledem sagte. Mit einem lieblichen Lächeln saß sie da und nickte beipflichtend, wann immer Mr Hales sich zu Wort meldete.

„Vater, hör mir zu! Dieser Mann“, John deutete auf den Doctor, „kann mir helfen. Mit ihm kann ich beweisen, dass es bei Mr Rutherford nicht mit rechten Dingen zu sich geht. Ich kann beweisen, dass er Veronica-“

„Hörst du wohl endlich damit auf, von diesem schwachsinnigen Weibsbild zu sprechen!“, donnerte Mr Hales plötzlich und erhob sich wieder. „Ich kann nicht glauben, was für Flausen dir diese Verrückte ins Ohr gesetzt hat.“

„Das sind keine Flausen. Wenn du nur einmal - einfach nur einmal - deine Augen aufmachen würdest, könntest du sehen, dass etwas nicht stimmt. Dass irgendetwas in der Anstalt vor sich geht. Sieh dir doch mal Tante an. Sie machen etwas mit den Patientinnen, Veronica hat nicht umsonst-“

„Schluss mit diesem Unfug, John! Ich will diesen Namen nie wieder hören, haben wir uns verstanden?“

„Nein!“, schrie John wütend. „ Ich werde so lange weitermachen, bis du mir verdammt noch mal glaubst. Veronica war nicht verrückt! Das ist sie nie gewesen! Wenn du nicht gewesen wärest … dann hätte ich hier bleiben können. Dann wäre ich jetzt mit ihr verheiratet und das alles wäre nicht passiert. Das ist alles deine Schuld!“
 

Ein Knall ertönte.

Ungläubig drehte John den Kopf zu seinem Vater, der noch immer mit erhobener Hand vor ihm stand. Hass funkelte in seinen Augen. Abgrundtiefer Hass auf den Mann, den er für schuldig hielt, sein Leben zerstört zu haben.

„Wir gehen“, sagte er knapp zum Doctor.

„Aber-“, wandte der Doctor unbehaglich ein. Doch nach einem flüchtigen Blick auf die anderen drei Anwesenden und die gerade geschehene Eskalation wurde ihm klar, dass es das Beste war.

„Ich kenne noch eine andere Person, die uns weiterhelfen könnte. Sie mag zwar verrückt sein, aber dafür ist sie um einiges menschlicher, als es manche zivilisierte Menschen je sein werden“, sagte John kühl und funkelte seinen Vater an.

Dieser sah ihm nur mit tiefem Abscheu entgegen. „Tu das“, erwiderte er ruhig. „Aber sei dir gewiss, dass du nicht mehr willkommen bist, weder in meinem Haus noch in dem deiner Tante. Ich werde dafür sorgen, dass du bekommst, was dir zusteht.“

Mit einem Schnauben wandte sich John ab und lief mit ausgreifenden Schritten zur Tür. „Dieser alte Narr“, stieß er zornig hervor. Dann riss er die Tür auf und trat gemeinsam mit dem Doctor in die eisige Kälte.
 

~*~
 

Mr Gibbs hatte den Master in ein düsteres Treppenhaus geführt, das die beiden tief hinab in den Keller des Hauses brachte. Neugierig wanderte der Blick des Masters an den kahlen Wänden entlang, die im starken Kontrast zu dem hübsch tapezierten Foyer standen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Es war eindeutig, dass er nun einen Teil der Anstalt zu sehen bekommen würde, der nicht jedem Besucher vorbehalten war.

„Ich hoffe, Sie bekommen keinen falschen Eindruck von unserem bescheidenen Heim“, meldete sich Mr Gibbs wieder zu Wort, während er den spärlichen Lichtern der Gaslampen folgte, die sich an den Wänden befanden, „aber leider war es uns bisher nicht möglich, diesen Teil … präsentabler zu gestalten. Mr Rutherford hat es für wichtiger erachtet, die Räumlichkeiten unserer armen Patientinnen so angenehm wie möglich zu gestalten, als Geld für das hier zu verschwenden. Wir gehen sehr davon aus, dass uns unsere Gäste in dieser Hinsicht Verständnis entgegen bringen.“

„Aber sicher doch. Ich finde Mr Rutherfords Engagement für die Patienten äußerst lobenswert“, pflichtete der Master dem bei. Den Sarkasmus konnte er so gerade eben noch aus seiner Stimme verbannen.

„Nicht wahr?“ Mr Gibbs’ Brillengläser blitzen auf, als er sich seinem Gast zuwandte.

Der Master nickte mit einem vertrauensvollen Lächeln.
 

Sie folgten dem staubigen, türlosen Gang eine Weile lang, bis sie in einen Raum mit mehreren Türen gelangten.

„Hier entlang bitte“, sagte Mr Gibbs und öffnete eine alte Holztür. Dahinter befand sich ein kurzer Flur, dessen Wände in ordentlicher Reihe mit Portraits behangen waren. Interessiert trat der Master vor und musterte die körnigen schwarzweiß Fotografien. Insgeheim belächelte er den primitiven Versuch, etwas abzulichten - in diesem Fall die Insassinnen. Dann stockte er jedoch, als er die Natur mancher dieser Fotos erkannte und zog anzüglich eine Augenbraue hoch. „Wie ich sehe, bietet Mr Rutherfords Anstalt mehr als nur die Heilung der armen irren Seelen.“

„Ganz richtig, Mr Saxon, wir geben unter anderem auch Künstlern die Möglichkeit, sich hier frei zu entfalten. Und Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der so etwas zu schätzen weiß.“

Dieses Mal huschte ein Grinsen über das Gesicht des Masters. „In der Tat, das bin ich“, sagte er, während sie eine weitere Tür passierten, bei dem es sich um den Entwicklungsraum handelte, wie Mr Gibbs erklärte.
 

Schließlich hatten sie eine schwere Holztür erreicht, gegen die Mr Gibbs vorsichtig klopfte. „Ich muss Sie bitten, kurz draußen zu warten“, sagte er zum Master gewandt. „Wir versuchen jegliche Art der Störung auf ein Minimum zu reduzieren. Selbstverständlich würden wir Ihnen später den Raum zeigen, wenn Interesse besteht.“

„Kein Problem“, erklärte der Master großzügig und trat einen Schritt zur Seite, damit Mr Gibbs Platz hatte, in den geheimnisvollen Raum hinter der Tür zu verschwinden. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen hell erleuchtetes Innere und in der Ecke glaubte er, eine Gestalt in prächtigen Kleidern sitzen zu sehen. Doch bevor er mehr erkennen konnte, war die Tür wieder ins Schloss gefallen. Neugierig geworden, legte der Master das Ohr auf das alte Holz, konnte jedoch einzig ein leises Stimmengemurmel ausmachen, bis schließlich wieder Schritte erklangen.

Schnell warf er sich in Position und setzte einen höflichen Gesichtsausdruck auf, der mäßiges Interesse bekundete, als Mr Gibbs zurückkam.
 

„Ich hab gute Neuigkeiten für Sie. Ein, zwei Minütchen noch, dann kann sich Mr Rutherford ganz Ihnen widmen.“

„Na, das klingt doch erfreulich.“

Ein dumpfer Knall war zu hören und der Geruch nach Chemikalien drang an die Nase des Masters. Glücklicherweise schien dies das letzte Foto gewesen zu sein, denn kurz darauf kam Mr Rutherford aus dem Raum heraus, gefolgt von einem untersetzten Herrn.

„Mr Saxon, es freut mich, Sie wieder zu sehen“, grüßte Mr Rutherford und reichte dem Master die Hand.

„Die Freude ist ganz meinerseits“, entgegnete der Master, „auch wenn ich mir wünschte, dass ich wegen anderer Umstände hier wäre.“

„Kennen Sie schon Mr Warren?“, mischte sich Mr Gibbs ein. „Einer unser großzügigsten Unterstützer.“

Der Master wandte sich dem kleinen Herrn zu, der neben der großen, schlanken Gestalt von Mr Rutherford feister wirkte, als er es eigentlich war. „Mr Warren, es freut mich Sie kennenzulernen“, begrüßte der Master ihn. „Ich bin Harold Saxon und stelle gerade im Auftrag Scottland Yards Ermittlung wegen des gestrigen Vorfalls an, wenn Sie davon gehört haben.“

„Natürlich hab ich das! Wer hat das denn nicht? Ich kann kaum glauben, dass Sie hier Ihre Zeit verschwenden und nicht dafür sorgen, dass dieser Taugenichts bekommt, was er verdient!“

„Sir, ich kann Ihnen versichern, dass Scottland Yard …“

„Papperlapapp. Immer dieses Geschwätz. Ich sag’s Ihnen direkt, wenn nicht sein Vater wäre, hätte ich schon längst dafür gesorgt, dass man ihn aufknüpft“, fuhr Mr Warren ungehalten dazwischen, während er eine Taschenuhr aus seiner edelbestickten Weste hervorzog. „Aber nein, man wollte dem Jungen ja noch ’ne Chance geben. Sieht man, was man davon hat. Mord hat er begangen. Mord! Und Sie sind nicht mal in der Lage, diesen Unruhestifter unter Dach und Fach zu halten.“

Ein dicker Finger bohrte sich in die Brust des Masters. Er unterdrückte seinen Missfallen und versuchte sich stattdessen mit wachsender Unruhe auf die Schimpftirade dieses Primaten zu konzentrieren.
 

„Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie reden“, wandte der Master mit einem Anflug von Bedauern ein.

Sofort folgte ein weiterer unangenehmer Stoß gegen seine Brust.

„Tun Sie das nicht, hm? Wollen wohl nicht zugeben, dass John Hales Ihnen entwischt ist, was? Ich sag Ihnen was: Statt so zu tun, als würden Sie hier eine wichtige Aufgabe machen, um dem guten Mr Rutherford was in die Schuhe zu schieben, sollten Sie raus auf die Straßen und diesen Taugenichts einfach umlegen.“

Mr Warren hielt schnaufend in seiner Schimpftirade inne und funkelte den Master grimmig an. Dieser versuchte sich indessen an einem aufrichtigen Lächeln, während er fieberhaft überlegte, wie er weiter vorgehen sollte.

„Mr Warren“, sagte er, „Sie haben vollkommen recht mit dem, was Sie da sagen. Mehr noch ich finde, dass Leute wie dieser John Hales eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen und auf dem schnellsten Wege unschädlich gemacht werden sollten…“

Er hielt inne. Sein Blick wanderte flüchtig zu Gibbs und Mr Rutherford. Wäre es nun klug, so zu tun, als würde er nichts davon wissen, dass John nie bis aufs Polizeirevier gekommen war?

„Meine Herren“, meldete sich Mr Rutherford da zu Wort, „ich möchte Ihre angeregte Diskussion nicht unterbrechen, aber das hier scheint mir kein geeigneter Ort zu sein. Wollen wir uns nicht nach oben begeben und das Ganze vielleicht bei einem Mittagessen weiter besprechen?“

„Tut mir leid, Charles, aber ich muss dringend los“, meinte Mr Warren und deutete auf die aufgeklappte Taschenuhr in seiner Hand. „Ich hab noch ein paar Termine.“

Mr Rutherford nickte. Dann wandte er sich an den Master. „Mr Saxon“, sagte er. Seine Stimme verriet nicht den Hauch einer Emotion, „würden Sie mich denn auf ein Mittagessen begleiten wollen? Ich glaube, es gibt so einiges, das es zu bereden gibt.“
 

~*~
 

Es war später Nachmittag. Der undurchdringliche Nebel, der sich wie eine schwere Decke über London gelegt hatte, ließ das spärliche Licht der untergehenden Sonne kaum durch. In nicht allzu weiter Ferne konnte der Doctor das leise Plätschern des Hafenwassers hören, während er vergeblich versuchte, in der dichten Nebelwand etwas zu erkennen. Hinter ihm hörte er die Droschke, die John und ihn zu den Docks gebracht hatte, klappernd davonfahren.

„Es ist nicht mehr weit“, murmelte John neben ihm, während er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit einen Weg durch den Nebel suchte. „Hier irgendwo müsste sie sein.“

„Und du glaubst, dass uns Mad Maddie weiterhelfen kann?“, wiederholte der Doctor das, was sie auf ihrer langen Kutschfahrt von Mrs Lawson bis zu den Docks besprochen hatten.

John zuckte hilflos die Achseln. „Ich hoffe es“, meinte er grimmig. „Sie scheint die letzte Person gewesen zu sein, die Veronica gesehen hat.“
 

Der Doctor schwieg. Er spürte, wie sich sein Kopf dumpf anzufühlen begann und rieb sich unwillkürlich die Schläfen. Der widerliche Geruch von Fäulnis stieg vom schmutzigen Wasser empor, den selbst der eisige Hafenwind nicht zu vertreiben vermochte. Vorsichtig drang er an Johns Seite weiter in die Docks vor, als er plötzlich stehenblieb.

„Warte“, flüsterte der Doctor.

Verwundert drehte sich John zu ihm. „Was ist?“, fragte er und machte Anstalten weiterzugehen, doch wurde er vom Doctor zurückgehalten.
 

„Spürst du das?“
 

Etwas verwirrt schüttelte John den Kopf. Dann wurde seine Miene unmerklich ernster. Aufmerksam schritt er weiter vor in die Richtung, in der er Mad Maddie vermutete und hielt beinahe erstaunt inne. „Was ist das für ein Teufelswerk?“

„Das werden wir gleich herausfinden“, entgegnete der Doctor mit einer Mischung aus Neugierde und Alarmbereitschaft, während er vorsichtig seinen Sonic Screwdriver aus der Manteltasche zog.

Die riesigen Schatten der Lagerhäuser waren aus der Nebelwand emporgewachsen und verschluckten alles, was sich vor ihnen befand. Etwas befand sich jedoch vor ihnen. Der Doctor konnte es spüren. Mit jedem weiteren Schritt, den er tat, nahm der dumpfe Druck in seinem Kopf zu. Es war, als würden seine Gedanken durch zähen Honig waten, während sein Körper allmählich zu etwas Fremdem wurde.

Alarmiert sah der Doctor zu John, dem es ähnlich zu ergehen schien. Dann richtete er mit einem leisen Sirren seinen Sonic Screwdriver in die Dunkelheit und rief mit fester Stimme: „Wer ist da?“

Niemand antwortete. Der Druck schien sich jedoch wieder von ihm zu heben - ob dies nun der Verdienst des Screwdrivers war, war schwer zu sagen. Der Doctor hatte das ungute Gefühl, dass sich das, was auch immer in den Schatten verborgen war, nicht zeigen wollte.
 

„Doctor!“, rief John plötzlich.
 

Instinktiv wandte sich der Doctor John zu, der vorausgestürmt war und nun am Boden kniete.

„Doctor!“, wiederholte John, diesmal mit einem panischen Unterton.

Der Doctor konnte eine alte Frau erkennen, die an einer verschmutzten Backsteinwand lehnte. Der Hut war ihr tief in das ausgemergelte Gesicht gerutscht und dennoch ließ die Situation keinen Zweifel zu, wie es um die Bettlerin stand.

„Schnell, wir müssen irgendetwas tun!“, drängte John, während er verzweifelt versuchte, Mad Maddie zu Bewusstsein zu bekommen. „Sag etwas, Maddie, bitte, irgendetwas. Wir sind hier. Es wird alles gut - das verspreche ich dir.“

Ein leises Stöhnen entwich der Alten.

„Hier ich hab Gin dabei“, fuhr John ermutigt von der kleinen Reaktion fort und holte einen Flachmann aus seiner Jackentasche hervor. Mit zitterigen Fingern öffnete er den Verschluss und führte die Öffnung zu Maddies Mund, als er mitten in der Bewegung innehielt. Vorsichtig beugte er sich tiefer hinab, um zu erkennen, was sich für Spuren in dem schlaffen Mundwinkel der Alten gesammelt hatten.

„Da ist was“, sagte er, wobei er sich mit unheilschwangerer Miene zu seinem Begleiter umwandte.

Der Doctor nickte nur ernst, dass er gesehen hatte.

„Ist das Gift?“, fragte John und wich überrascht zurück, als sich der Doctor ebenfalls herab beugte und prüfend etwas von der Substanz mit seinen Fingern aufnahm. Vorsichtig führte er sie an seine kraus gezogene Nase.

„Arsen“, kam er schließlich zu dem Schluss und ließ die Hand wieder sinken. „Es sieht ganz so aus, als hätte sie versucht, sich mit Arsen umzubringen.“

„Aber wieso?“, entfuhr es John. „Sie war zwar verrückt, aber sie hatte immer frischen Lebensgeist.“

In dem Moment regte sich die alte Frau. Mit einem debilen Lächeln schielte sie zu John unter ihrer Krempe hervor. „Maddie, schlecht“, krächzte sie und John musste sich hinabbeugen, um die Worte zu verstehen. „Maddie nichts wert…“

Ein heftiger Krampfanfall brachte sie abrupt zum Verstummen. Verzweifelt redete John auf die alte Frau ein, drängte sie, ihm nähere Informationen zu geben und musste schließlich feststellen, dass es zwecklos war. Sie war in ein tiefes Koma gefallen und mit jedem Atemzug schien sie ein bisschen mehr Leben zu verlassen.

„Scheiße!“, schrie John und vergrub den Kopf in den Händen.
 

Tiefes Schweigen hüllte sie ein, das nur von den rasselnden Atemzügen der sterbenden Frau durchbrochen wurde. Mitleidig sah der Doctor auf den jungen Mann hinab, während seine anderen Sinne angestrengt nach etwas Verdächtigem suchten. Aus dem Augenwinkel glaubte er, einen Schatten gesehen zu haben, doch konnte er sich täuschen. Der dicke Nebel schien mit seiner Wahrnehmung zu spielen.

„Sie ist tot“, brachte John schließlich mit brüchiger Stimme heraus und sah auf die alte Frau, als versuchte er zu begreifen, was geschehen war. „Sie hat Veronica und mir so oft geholfen … hat Nachrichten überbracht … hat-“

„Still“, unterbrach ihn der Doctor leise. Sein Blick war konzentriert auf die Nebelwand gerichtet, während er angespannt in die Stille hinein lauschte. Das leise Gluckern des Hafenwassers drang an ihre Ohren und auf einmal noch etwas. Das Knirschen von Schritten. Ein seltsamer Schatten löste sich aus der Dämmerung und verschwand sofort wieder, sowie er den Doctor und John an der Leiche bemerkt hatte.

Die beiden sahen sich flüchtig an, dann stürzten sie ihm hinterher. Die Schritte wurden lauter, hektischer. Sie verloren sich im Nebel, bis plötzlich das Rattern von Kutschenrädern zu ihnen vordrang. Klappernde Hufe stampften auf das dreckige Kopfsteinpflaster und kamen bedrohlich näher. Orientierungslos versuchte der Doctor auszumachen, von wo die Geräusche kamen, als vor ihm eine Kutsche aus der Nebelwand hervorbrach. Mit einem geistesgegenwärtigen Satz sprang der Doctor beiseite und zog John mit sich, ehe sie unter Räder geraten konnte. Für einen flüchtigen Augenblick schaffte er es ins Innere zu spähen, sah die gespenstigen Schatten, deren Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, dann verlor sich das vorbei rasende Gefährt in der Nebelwand.

„Doctor“, flüsterte John mit vor Schreck geweiteten Augen. Fragend suchte sein Blick den des Doctors, doch der starrte nach wie vor in die Richtung der Kutsche.

„Sie wissen bescheid“, brach es schließlich entsetzt aus ihm heraus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  DavidB
2015-06-14T20:45:47+00:00 14.06.2015 22:45
"Ihr Mann ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Es tut mir Leid, aber es ist gelogen. Alles ist gelogen."
Der Westflügel? Aber der ist doch verboten!
Zum Glück ist der Master nicht mit dem Doctor und John unterwegs. Der würde erkennen, dass "Hilf Ihnen John" keine Bitte ist und dementsprechend auch keine letzte Bitte sein kann!
Immer diese Johns. Erst sorgt John Hales für den Rauswurf durch einen Butler und nun John Smith durch Mrs. Lawson! Da hat der Master mehr Glück - oder eher Können!
Eine dürre Dame mittleren Alters beschwer sich in Gegenwart des Masters über Dämonen? Wenn die nur wüsste, wie nah sie damit an der Wahrheit ist.
"Aber meine Seele kriegt ihr nicht, ihr gottloses Pack!" Wie der Master so schön sagte: "[K]eine Sorge, mit euren Seelen können wir nichts anfangen." ;-)
Der Doctor genau in der Mitte zwischen Vater und Sohn! Mit Monstern und Schuften kann er umgehen, nur bei den Eltern seiner Begleitungen hat er oft Probleme.
(Auch so eine Sache seit dem Reboot, vorher waren die Eltern weitgehend tot oder wurscht. Vickie, Jamie, Victoria, Sarah Jane, Leela, Adric, Nyssa, Turlough, Peri und Ace sind Waisen.)
"Wie ich sehe, bietet Mr Rutherfords Anstalt mehr als nur die Heilung der armen irren Seelen." Etwas gemein, wie du nicht darauf eingehst und ich nicht sicher sein kann, ob ich die Andeutungen richtig interpretiere oder einfach nur abgrundtief verdorben bin.
"Der widerliche Geruch von Fäulnis stieg vom schmutzigen Wasser empor, den selbst der eisige Hafenwind nicht zu vertreiben vermochte." Hm, ob wohl zwischen dem Abtauchen von Veronica und dem faulen Geruch ein Zusammenhang besteht? Nein, bestimmt ist das nur ein Zufall!
Bei den klassischen Folgen habe ich vor Kurzem wieder "The five Doctors" gesehen, in denen der Master von den Timelords angeheuert wurde, um den Doctor zu retten. Allerdings kommt er nicht dazu, da ihm der Doctor zu sehr misstraut. (Und ja, ich frage mich die ganze Zeit, wie der klassische Master wohl so als Companion wäre. Allerdings weniger für eine komplette Staffel, sondern vielmehr für eine kurze Geschichte. Der Doctor bringt den Master ins Gefängnis, doch unterdessen passiert etwas. Quasi eine Tardisode oder eine kurze Geschichte a la "Etwas Lustiges geschah auf dem Weg zu Thors Hammer", dem Kurzfilm auf der Captain-America-BluRay.)


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