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Das Leben Hält Manche Überraschungen Bereit

von

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* * *
 

Die nächsten Tage und Wochen wurden nicht besser. Im Gegenteil, es ging mir immer schlechter. Meine Konzentration ließ nach, sobald Justin Sieler in meine Nähe kam. Mir wurde regelrecht schlecht, wenn er morgens neben mir ins Auto stieg und sein frischer Duft meine Nase erreichte. Sobald er neben mir stand, begannen meine Hände fahrig nach irgendwelchen vollkommen unnötigen Unterlagen, Stiften, Ordnern oder sonst etwas zu suchen und immer wieder ertappte ich mich dabei, dass meine Blicke seiner Gestalt folgten, egal wo er sich aufhielt. Für mich wurde es ein Leichtes, ihn überall zu finden. Ich fühlte regelrecht, wo er sich befand.
 

Unsere Gespräche morgens, wenn wir alleine auf dem Weg zur Schule waren, wurden persönlicher. Ich erfuhr von ihm, dass er nur noch eine verwitwete Mutter hatte, dass sie und sein Vater noch vor seinem Kindergartenalter angefangen hatten Geld für sein Studium zur Seite zu legen, anzusparen, mit sicheren Anlagen diese geringen Beträge weiter gut anzulegen, damit das Ersparte auch möglichst hohe Erträge einbrachte.
 

Justin erzählte viel von seiner Mutter, aber nie von einer Freundin oder einer ehemaligen Freundin. Von seinen Streichen mit seinen Freunden erzählte er, von seinem kleinen Hund, der früh verstorben war, ihm aber über den Tod seines Vaters geholfen hatte. Nur nie über Frauen oder Mädchen.
 

'Fast wie bei mir früher', dachte ich bei mir. 'Mich hatten auch alle immer verwundert angesehen, warum ich kein Mädchen hatte. Bis Carola eines Abends meinte, sie könnte doch meine Freundin spielen. Von da an waren wir zusammen. Waren ein Paar. Irgendwie. Früher war es mir nie komisch vorgekommen, dass ich außer für Carola für keine Frau überhaupt ein Interesse hatte. Für gut gebaute Sportler schon eher, besonders Schwimmer hatten es mir angetan. Von ihnen konnte man auch am meisten Körper sehen. Aber mehr, als ihren Körper bewundern, war damals auch nicht.'
 

Durch mein In-mich-gehen war es ruhig im Auto geworden. Plötzlich sprachen wir beide gleichzeitig.
 

„Wie lange seid ihr beide schon zusammen, du und deine Frau?“ fragte Justin.
 

Wir hatten uns vor Wochen schon darauf geeinigt, dass wir uns duzten. Fast alle im Kollegium sprachen sich mit Vornamen an, warum nicht auch wir?
 

„Lass mal rechnen, das müssen jetzt so etwa, hm, ja, etwa 14 Jahre sein. Warum fragst du?“ Ich drehte kurz meinen Kopf zur Seite, verlor aber die Straße nicht aus den Augen.
 

„Hm, nichts. Ich war nur neugierig. Das ist eine ganz schön lange Zeit“, antwortete Justin.
 

„Ja, wenn ich das so bedenke, hast du sicherlich Recht. Sie war schon längst im Studium, als ich gerade an mein Abitur dachte. Wir kennen uns schon ewig. Ganz früher hat sie auf mich aufgepasst. Es hat sich einfach so ergeben...“ meine Stimme versiegte.
 

Ich wollte mir gerade nicht eingestehen, welche Erkenntnis mich traf. Doch dann schob ich all die unsinnigen Gedanken schnell wieder beiseite. Was nicht sein konnte, war auch nicht so. Erst, wenn ich sagte, es war so, dann war es so.
 

„Dann kennt ihr euch bestimmt in- und auswendig. Beneidenswert. Die beiden Jungen sind auch süß, so aufgeweckt und neugierig. Euch geht es offensichtlich sehr gut in eurer Beziehung...“ jetzt war es Justins Stimme, die an Volumen verlor.
 

„Ach, wer kann das schon sagen“, äußerte ich leichthin, zuckte aber doch zusammen.
 

Innerlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob wir eine gute Beziehung führten. Wir sprachen über die Kinder, die Schule, andere Eltern, Sport. Früher über die Wohnung, dann das Haus, ob wir genug Geld hatten. Nie, irgendwie nie über uns. In Gedanken ging ich die Jahre zurück. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ob ich jemals zu Carola gesagt hatte, „Ich liebe dich“. Beim besten Willen, ich glaubte nicht. Nie.
 

Diese Erkenntnis ließ mich zusammenzucken und eine Flut der unterschiedlichsten Gefühle überrollte mich. Das konnte doch nicht sein. Ich musste es doch bestimmt vor unserer Hochzeit einmal gesagt haben. Aber nein, nichts. Alles blieb leer und schwarz in meinem Kopf. Als wäre mir mein Gehirn davongeflogen, so steuerte ich den Wagen bis an die mir schon zu gut bekannte Straßenecke.
 

„Du, Morten“, zögerte Justin. „Ich, hm, ich dachte mir, weil ich doch immer von euch im Auto mitgenommen werde… Hm… Was hältst du davon, wenn wir uns heute - oder sogar gleich - bei mir in der Wohnung auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen treffen. Du, hm, kommst einfach mit zu mir. Ich habe gestern gebacken.“
 

Von der Seite sah ich, wie ihm ein leichtes Rot in die Wangen stieg und ich musste schmunzeln.
 

„Cool. Ich kann leider gar nicht kochen oder backen. Das macht Carola. Aber dafür bin ich ein guter Handwerker, kann so ziemlich alles reparieren, wenn ich mir die Zeit dafür nehme. Klar komme ich zu dir, wenn du mich mit solch einer Verlockung bittest“, war meine spontane Erwiderung.
 

„Ja, und? Kommst du nun heute mit hoch? Oder doch lieber an einem anderen Tag?“
 

Justins Blick war ruhig, als er mich ansah. Ganz hinten in seinen Augen konnte ich ein warmes Glänzen sehen, das mich tief innen berührte. Unwillkürlich nickte ich und so parkte ich nicht sehr viel später vor dem Haus, in dem er eine Einliegerwohnung gemietet hatte.
 

„Herein in die gute Stube“, meinte Justin und öffnete schwungvoll die Haustür.
 

Etwas zu schwungvoll für die kleine silberne Glocke, die ihm direkt vor die Füße fiel.
 

„Oh, Mist. Dabei habe ich sie doch erst gestern wieder festgemacht“, brummelte er.
 

„Lass mich mal sehen. Ich sagte doch, ich kann so ziemlich alles reparieren.“
 

Ich nahm ihm die Glocke aus der Hand. Nachdem ich sie eingehend betrachtet hatte, fragte ich Justin, wo er sie denn genau hinhängen wollte. Als er mir die Stelle zeigte, musste ich mir das Lachen verkneifen.
 

„Dort kannst du besser ein Gummiband anbringen. Die Glocke würde immer wieder herunterfallen“, war mein fachmännischer Rat.
 

Enttäuscht sah Justin auf meine Hand. Dann seufzte er tief und nahm mir die Glocke aus der Hand.
 

„Schade. Dabei hatte ich das in Asien gesehen. An deren Türen hängt auch immer eine kleine Glocke, die jeden mit ihrem zarten Klang unaufdringlich willkommen heißt. Das hat mir so gefallen, dass ich das auch gerne für mich haben wollte.“
 

Ich legte eine Hand auf seine Schulter, drehte ihn wieder zu mir hin, nahm ihm die Glocke ab und meinte sanft:
 

„Bring mir doch bitte einen Zollstock und einen Hammer, wenn du das im Haus hast. Ansonsten hole ich alles, was ich brauche schnell von Zuhause. Lass mich mal ein wenig nachdenken, aber ich meine, ich bekomme das hin. Gib mir ein wenig Zeit.“
 

In Justins Gesicht ging die Sonne auf. Er strahlte, als hätte ich ihn vor seinen ersten, hell erleuchteten Weihnachtsbaum gestellt. Schnell nickte er begeistert, ging in seine Küche und kam mit dem Gewünschten und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht zurück.
 

„Ok, dann tüftele du und ich mache inzwischen den Kaffeetisch fertig. Magst du lieber Marmor- oder Herrenkuchen? Den schneide ich dann für uns auf. Den anderen nehme ich morgen mit zur Schule.“
 

Justins Blick war fragend geworden und mir lief ein eisiger und doch heißer Schauer über den Rücken. Mich würde im Augenblick niemand vermissen. Carola war mit den Jungs zu ihren Eltern gefahren und würde erst heute Abend wieder zurück sein. Es kam mir gerade vor, als würden wir etwas Verbotenes machen, obwohl wir ganz normal hier in Justins Flur standen.
 

Aber auch Justin musste die gleiche Idee angeflogen sein, denn wie bei mir färbten sich seine Wangen ein wenig rot. Schnell drehte er sich um und ging in seine Küche zurück. Kurz darauf vernahm ich das Geräusch von laufendem Wasser, Schubladen, die auf und zu gemacht wurden, Porzellan, das leicht aneinander schlug.
 

Ich riss mich aus dieser leicht unwirklichen Starre heraus und machte mich an meine Überlegungen. Nicht lange danach betrachtete ich das Ergebnis. In meiner Aktentasche führte ich immer ein paar schmale Klappleisten mit, damit meine Hände beschäftigt waren, wenn es mal nichts zu tun oder zu korrigieren gab. An einem schon an dieser Stelle vorhandenen Doppelhaken, den ich herauszog, brachte ich mit wenigen Handgriffen eine der Leisten in einem passenden Winkel oberhalb der Tür an. Dann drückte ich das zweite Stück der Klappleiste umgedreht wieder an, drehte einen der Haken am Ende der zweiten Leiste ein, fertig. Soeben hing ich das Glöckchen daran, als Justin rief, dass der Kaffee durchgelaufen wäre.
 

Zufrieden schaute ich mir das Ganze an, öffnete die Haustür und es erklang ein feines, zartes Bimmeln, das sofort Justin auf den Platz rief.
 

„Mann, das ging aber schnell. Gut sieht das aus. Ich hätte das Glöckchen jeden Tag wieder am Haken befestigt und mich täglich darüber geärgert, dass es mir bei jedem Öffnen der Tür entgegen fällt. So sieht das sogar professionell aus“, machte er mir ein Kompliment.
 

Ich wehrte ab, fühlte mich aber doch mehr als nur ein wenig geschmeichelt. Zusammen gingen wir in seinen Wohnraum hinüber, wo er schon den Tisch liebevoll gedeckt hatte. Sogar ein kleiner Strauß Gartenblumen stand dort und vervollkommnete alles. Es sah sehr häuslich aus, sehr einladend. Noch nicht einmal Carola bekam das so hin. Sie war eher die „schmeiß schnell was in die Pfanne, ich hab Hunger“ Köchin und nicht eine, die sich lange Gedanken über die nächste Mahlzeit machte. Und genauso deckte sie auch unseren Tisch. Nett, aber normal.
 

Ich zuckte zusammen, als ich mich bei diesen Gedanken ertappte. Carola war eine liebe Person, aber niemand konnte sagen, dass sie nicht ihren Anteil an Ungeduld mit sich herumtrug. Und diese Ungeduld hatte ich ihr angekreidet. Und Justin hochgelobt. Zum Glück nur innerlich. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich Carola verraten.
 

* * *
 

Dieser Kaffeebesuch blieb nicht der einzige. Wir hatten immer etwas zu erzählen, immer fiel uns etwas ein, ein Thema, ein Bild, ein Musikstück, der Wald vor der Tür, die Schule, früher, irgendetwas. Mittlerweile freute ich mich auf die Tage, an denen ich alleine mit Justin zur Schule fuhr. Jeden Morgen machte ich mich sorgfältiger zurecht, hatte mir ebenfalls verschiedene Sorten Aftershave besorgt, damit ich austesten konnte, was mir am besten gefiel. - Oder wohl doch eher Justin.
 

So langsam fiel es auch Carola auf, dass ich mich nicht so richtig unter Kontrolle hatte, doch sie sagte nichts, beobachtete mich nur. Wenn sie nicht bei mir war, musste ich mich deutlich am Riemen reißen, um nicht dem Schatten von Justin Sieler zu folgen. Ich fühlte mich wie ein Stalker, kam aber nicht dagegen an.
 

Es erschien mir so, als würden die unabsichtlichen Berührungen immer zahlreicher. Hier mal ein Vorbeistreifen an meinem Rücken; da mal eine Berührung des Unterarms; sein Arm glitt über meinen Bauch; ein Anlehnen oder über meine Schulter sehen, wobei er sich auf meiner aufstützte, wenn ich an einem Pult oder im Sekretariat an einem leeren Schreibtisch saß. Immer wieder ein nah aneinander vorübergehen, wenn wir uns in den Fluren begegneten, wir durch einen Türrahmen traten, zusammen an der Tafel standen. Inzwischen konnte ich das nicht mehr für reine Imagination oder für unabsichtlich halten. Mein Kopf und meine Gefühle wurden immer konfuser. Ich war doch mit meiner Frau zusammen...
 

Parallel dazu begannen in mir Überlegungen aufzusteigen, die ich nie vorher angestellt hatte. Mein Körper brannte, wenn ich an Justin dachte. Und gar erst in seinen Sportsachen - der Sabber lief mir regelrecht am Kinn herab, wenn ich daran dachte. Es war noch warm genug, um nicht in den längeren Jogginghosen in der Turnhalle herum zu springen. Dieser schlanke, sehnige junge Mann machte in seiner kurzen Sporthose eine sehr gute Figur oder ließ, wenn er sich bewegte, viel von seiner Haut sehen, wenn er mit den Kindern Völkerball oder ähnliches spielte. Wenn sich wieder einmal sein kurzes Shirt etwas verzog oder über den Bach nach oben rutschte, wenn er einen Wurf machte oder zeigte, zitterten mir die Knie. Das alles war für mich unverständlich.
 

Mir hatte es nie etwas ausgemacht, wenn Carola und ich wochenlang keinen Sex hatten. Es reichte uns, dass wir uns freundschaftlich nah waren, wir uns verstanden, da musste es nicht unbedingt zu heißem Sex kommen. Ich konnte mir meine Frau auch gar nicht in einer geilen Sexszene vor Augen führen oder mir auf sie meinen Schwanz wichsen. Alleine die Vorstellung von Carola, die sich wild unter mir wand, brachte einen Schauder über meinen Rücken.
 

Käme es aber zu Justin Sieler, dann hatte ich ihn in den letzten Wochen in so ziemlich allen Situationen überfallen, befriedigt, mich befriedigen lassen, die ich mir nur mit ihm zusammenträumen konnte. Aber nur in der Phantasie - leider. Alleine das vom Sport leicht erhitzte Gesicht Justins vor meinen Augen genügte, um meine Hose auszubeulen. Das war so langsam kein Spaß mehr, auch keine wilde Träumerei. Bei mir ging es schon an die Substanz - und bei Justin, wie ich es sah, auch.
 

Während der letzten Fahrten war er immer stiller geworden, zog sich immer mehr in sich zurück. Seine Referendarzeit war bald abgelaufen. Wo seine nächste stattfand, stand noch in den Sternen. Die Vorstellung, Justin Sieler in Kürze nicht mehr zu sehen, ihn nicht mehr neben mir zu spüren, zu riechen, machte mich kirre. Ich gestand mir endlich ein, dass ich mich wohl in diesen jungen Mann verliebt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte mich dieses Gefühl erwischt und ich war alles andere als glücklich darüber.



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