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400 Jahre später

von

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Die Weißen

Natürlich fand er Shinda nicht in der Bibliothek. Das hätte ihn auch gewundert. Dennoch ging er hinein und lieh sich noch schnell alle Bücher über Hexerei aus, derer er habhaft werden konnte, bevor er weiterzog. Es waren nicht allzu viele, aber diese waren dafür ziemlich fiese Wälzer. Unter seinem schweren Rucksack ächzend schleppte sich Maya die Gänge der Uni entlang und überlegte, wo er Shinda wohl am ehesten finden würde. An sich war er ganz froh darüber, den Dämon erst suchen zu müssen. Umso mehr Zeit hatte er, sich wieder zu beruhigen und sich im Klaren darüber zu werden, was er von nun an mit dem Kerl anstellen wollte. Professor Undo hatte ihn letztlich nicht als abgrundtief böse hingestellt, sondern doch irgendwie als klar denkendes Wesen, das wieder zur Einsicht gekommen war. Und so richtig blutrünstig kam Shinda ihm eigentlich auch nicht vor, wenn er nicht gerade von Duncan Prügel angeboten bekam.

„Na, was hat der Professor erzählt?“, wollte in diesem Moment jemand wie aus dem Nichts wissen und tackelte ihn kameradschaftlich zur Seite. Maya strauchelte unter dem rüden Rempler und dem Gewicht seiner Bücher und taumelte haltlos gegen die Wand des Korridors.

„Shinda!“, protestierte er tadelnd.

„Sorry. Komm, gib den Rucksack her, du Weichei, ich trag ihn für dich.“

„Wo kommst du her?“, wollte Maya wissen und hievte dankbar die schwere Tasche von seinem Rücken, um sie dem Schwarzhaarigen zu geben, der sie sich lässig über eine Schulter warf.

„Aus dem Chemie-Labor.“

„Hast du dort irgendwas angefasst?“, wollte er alarmiert wissen.

„Nein, ich wurde ja von dem Lehrer gleich wieder rausgeschmissen. ... Also, was ist nun mit deinem Lokalprofessor?“

Maya seufzte. „Wir haben ein Problem.“

„Ach nein, echt?“

„Sagen wir es war klug von dir, nicht mitzukommen.“
 

Er musterte den Schwarzhaarigen neben sich nachdenklich, während sie weitergingen. War es wirklich erst 2 Tage her, daß er ihn im alten Hexenhaus gefunden hatte? Es war so viel passiert seither, zumindest kam es Maya so vor. Seine große Klappe brachte ihn manchmal um den Verstand, aber er hatte auch schon so viel Spaß mit ihm gehabt. Er fragte sich einen Moment lang ernsthaft, ob er Shinda mochte oder hasste oder ob es tatsächlich möglich war, beides gleichzeitig für ihn zu empfinden. Er hatte den Dämon nicht absichtlich geweckt, und hatte anfangs auch nichts über ihn gewusst. Aber langsam fügten sich alle Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen und es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen, denn so wie sich gerade alles entwickelte, würde er schon bald einen klaren Standpunkt brauchen. Er überlegte, wieviel er dem Dämon erzählen sollte. Und wie er am besten anfangen sollte. „Shinda, egal was passiert, ich werde immer zu dir halten.“, fand er ruhig. Und das meinte er ernst.

„Solche Versprechen solltest du mir lieber nicht machen. Wer weis, ob du sie dann noch einhalten willst.“, erwiderte Shinda kühl, blieb stehen und sah säuerlich den langen Korridor hinunter.

Maya schaute ihn kurz verdutzt an, angesichts dieser unerwartet herzlosen Antwort, und folgte dann seinem Blick. Weiter unten im Gang standen zwei Frauen in langen, weißen Kleidern, ganz offensichtlich mit dem Ziel, ihnen den Weg zu versperren. Erschrocken sah Maya zurück. Auch von dort wurde ihnen der Weg von einer Frau im weißen Kleid und einem älteren Mann im weißen Gehrock abgeschnitten. „Shinda, wer sind die?“, hauchte er leise, als hätte er Angst, zu laute Geräusche könnten einen Angriff der Weißen provozieren.

„Sag du es mir. Das hier ist deine Welt und dein Zeitalter.“

„Los, ins Treppenhaus!“, entschied Maya und zog seinen Freund am Ärmel durch eine Seitentür. Hinter ihnen wurde wütender Protest laut. Dann rannten sie um ihr Leben.
 


 

Völlig außer Puste spähte Maya aus dem Rückfenster der Straßenbahn und ließ sich dann ermattet auf einen Sitz fallen. Die weißen Gestalten wurden draußen in der Ferne immer kleiner. „Wir haben sie abgehängt.“, seufzte er erleichtert und sah sich nun in der Bahn um. Sie waren die einzigen im ganzen Wagon. Die Weißen hatten sie von der Uni aus durch die halbe Innenstadt gehetzt, bis sie schließlich in diese Straßenbahn und damit in Sicherheit gesprungen waren. Maya war sich jetzt im Nachhinein gar nicht mehr so sicher, ob die wirklich Menschen gewesen waren. Ihre Bewegungen waren abnormal schnell und fahrig gewesen und sie waren immer wieder willkürlich hinter irgendwelchen Ecken aufgetaucht, ohne daß Maya gewusst hätte, wann und wie sie ihn überholt hatten. Gespenstige Typen!

„Die waren hinter mir her, oder?“, wollte Shinda ernst wissen und ließ sich ebenfalls langsam auf einen Sitz sinken. Er war nichtmal ansatzweise außer Atem. „Willst du reden, oder gibt es da Dinge, die ich besser gar nicht wissen sollte?“

Maya fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich kenne diese Burschen auch nicht. Wenn die nicht so freaky drauf wären, hätte ich ja vermutet, die sind von dem Hexenzirkel, der dich damals in den Kälteschlaf geschickt hat. Aber dann hätten die uns wirklich verdammt schnell gefunden. ... Ich hätte dich nicht mit zur Uni nehmen sollen, wo dich jeder sieht.“

„Diesen Hexenzirkel gibt es noch?“, hakte Shinda ungläubig nach.

„Nach allem was Professor Undo erzählt hat, ja.“

Der Schwarzhaarige schaute ihn nur abwartend an. Sein Blick verlangte stumm nach mehr Informationen, also begann Maya langsam zu erzählen, wenn auch nur in Kurzfassung. Von Gottlieb Wilhelms, der erschlagen worden war. Von Shinjudai auf seinem hundertjährigen Rachefeldzug. Vom Hexenzirkel, der Generation um Generation weitergeführt wurde. Von der japanischen Novizin, die überlebte. „Das ist alles 400 Jahre her.“, schloss er letztlich kopfschüttelnd.

„Mir kommt nichts davon bekannt vor.“

„Vermutlich nicht, nein. Deswegen trägst du ja die Tätowierung am Auge. Sie haben dein Gedächtnis zensiert und deine Kräfte eingeschränkt. Professor Undo gehört sicher auch zu diesem Hexenzirkel, wenn ich mir das so recht überlege. Wenn er ein Urenkel dieser Novizin ist ...“

„Na bravo. Hast du ihm gesagt, daß du mit mir zu tun hast?“

„Nein, ich habe ihm gesagt, daß ich eine Semesterarbeit über das Hexenhaus schreiben will. Aber er wird es sich sicher denken können.“

Shinda seufzte. „Wir können also davon ausgehen, daß der Hexenzirkel weis, daß ich wieder wach bin. Dann steht mir jetzt ein Krieg bevor.“

„Uns, Shinda! Uns! Ich sagte, ich stehe zu dir.“

Shinda warf ihm einen halb amüsierten, halb mitleidigen Blick zu und schüttelte dann langsam den Kopf. „Das solltest du lassen, Maya. Mich zu wecken, war sicher ein Versehen, ein Missgeschick. Aber wenn du mich jetzt auch noch verteidigst, nach allem was du mir über meine Vergangenheit erzählst, werden sie dich umbringen. Dem bist du nicht gewachsen.“

„Das ist mir egal. Du bist mein Freund, man. Ich lasse dich nicht gehen. Schon gar nicht so.“

Shinda rollte kurz mit den Augen und er überlegte sichtlich, ob er <Danke> oder <Dummkopf> sagen sollte. Er entschied sich für keines von beiden, sondern seufzte nur ergeben.
 

„Nagut. Und wie sieht dein toller Plan aus?“

„Ich weis es nicht. Vielleicht sollte ich nochmal mit Professor Undo reden.“

„Ich dachte, der ist auch ein Hexer.“

„Ja, aber er schien vernünftig zu sein. Er hat die Geschichte ziemlich objektiv erzählt. Sicher kann man sich mit ihm gewaltlos einigen.“

„Indem ich mich freiwillig ausliefere, zum Beispiel.“, schlug Shinda zynisch vor.

„Hör auf, sowas zu sagen!“

„Mal ehrlich, selbst wenn ich von diesem Hexenklan widersinnigerweise tatsächlich in Ruhe gelassen werden sollte, wo soll ich denn hin? Das hier ist eine Welt, in der Magie so gut wie ausgestorben ist. Ein Zeitalter der Technik. Die Menschen glauben ja gar nicht mehr an Dämonen und Zauberei, viele nicht mal mehr an Gott. Also wo soll ich hin? Einhörner, Harpyen, Zentauren, Trolle, all die großen magiebegabten Zivilisationen der Geschichte sind von der Erde verschwunden und leben nur noch in euren Legenden. Ich bin ein Dämon, für mich gibt es keinen Platz mehr hier. Denkst du denn, ich könnte hier sehr lange existieren?“

„Ja, denke ich! Du brauchst bloß einen Grund dazu!“, fuhr Maya ihn lauter als nötig an.

„Na dann gib mir einen!“, verlangte Shinda ungehalten.

Dem Student stiegen Tränen in die Augen. Ein Grund zu leben, was sollte er darauf sagen? Er schluckte schwer. „Den musst du selber finden, Shinda.“, gab er ruhig zurück. Dämpfend. Zum Nachdenken zwingend. Er konnte ja schlecht <lebe für mich!> sagen, so sehr er es sich auch wünschte. Es wäre maßlos arrogant gewesen, so etwas von einem anderen zu verlangen.

Shinda schaute ihn in einem wahren Wechselbad von Emotionen an. Erstaunen, Ärger, Verzweiflung, Trotz, in seinem Gesicht war alles eins. Endlose Sekunden herrschte drückendes Schweigen zwischen ihnen. Nur unterbrochen von der Haltestellendurchsage der Straßenbahn.

Maya schüttelte den Kopf. „Warum nur sagst du sowas?“, brachte er schließlich hervor, obwohl er es eigentlich wusste. Wenn er erzählt bekommen hätte, daß er ein blutrünstiger Massenmörder war, der sich über etliche Jahrzehnte hinweg brutal und wahllos durch die Welt geschlachtet hatte, hätte er auch so abweisend, verzweifelt und lebensüberdrüssig reagiert. Wahrscheinlich hätte er sich direkt am nächsten Baum aufgeknüpft, um so mehr, da er wusste, daß nun solche weißen, konfliktbereiten Scherzbolde und demnächst wahrscheinlich auch ein stinksaurer Hexenklan hinter ihm her waren.

„Komm schon, wir müssen hier aussteigen.“, gab der Schwarzhaarige bloß zurück und erhob sich von seinem Sitzplatz.
 


 

Ein markerschütternder Schrei lies Maya in dieser Nacht im Bett hochfahren. Sein Blick irrte kurz orientierungslos durch die Dunkelheit und blieb letztlich am Wecker kleben. 2:17 Uhr nachts. Ein weiteres Kreischen, dann schaurige Horrorfilmmusik. Maya sank in sich zusammen. Zur Hölle, er musste Shinda unbedingt mal die verdammte Fernbedienung wegnehmen. Müde quälte er sich aus dem Bett und schlurkste ins Wohnzimmer.

„Shinda.“

„Hm? Oh, hey, kannst du nicht schlafen?“

„Nein, bei diesem Krach nicht. Mach den Fernseher leiser, ja?“

„Komm, setz dich mit her und schau den Film mit mir. Der ist echt gut.“, meinte er und winkte einladend mit einer Colaflasche. Auf dem Bildschirm wurde gerade eine Frau in Großaufnahme ausgeweidet, das Blut tropfte beinahe aus der Bildröhre heraus.

Maya schloss angeekelt die Augen. „Kein Bedarf. Ich muss morgen wieder zur Vorlesung und will jetzt schlafen. Also mach leiser.“

„Ach was, wenn du bei sowas nicht schlafen kannst, bist du noch nicht müde genug.“, hielt Shinda voller Überzeugung dagegen und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Maya drehte sich der Magen um, als in diesem Moment die Werbepause einsetzte und sich eine nackte Nutte stöhnend unter einer 0190-Nummer räkelte. Er machte sich akut Sorgen um seine nächste Telefonrechnung. Ob Shinda schon eine dieser Nummern ausprobiert hatte, wenn er sich hier jede Nacht diese Horror- und Metzelfilme reinzog? Er war sich sicher, daß Shinda schon gelernt hatte, mit einem Telefon umzugehen. Und seine unersättliche Neugier auf alles <moderne> trieb ihn zu so ziemlich jeder vorstellbaren und unvorstellbaren Handlung. Maya angelte schnell nach der Fernbedienung und drückte fest auf den großen, roten Powerknopf.

„Hey!“, protestierte Shinda empört, als der Bildschirm mit einem letzten Aufblitzen schwarz wurde.

„Leiser oder gar nicht, such´s dir aus!“

„Man, den Sender find ich doch nie wieder!“, gab Shinda halbhysterisch zurück.

Der Geschichte-Student schloss kurz die Augen und holte tief Luft, um nicht etwas sehr unhöfliches zu entgegnen. Shindas elende große Klappe, gekoppelt mit seiner bisweilen selbstverständlichen Uneinsichtigkeit machten ihn noch fertig. Kommentarlos drehte er sich um und ging, die Fernbedienung noch in der Hand, wieder ins Bett, wo er sie unter sein Kopfkissen stopfte.
 

Keine 30 Sekunden später dröhnte eine lästige Klaviermusik durch die ganze Wohnung, dann begann jemand durch die Sender zu schalten. Das war eindeutig wieder der Fernseher. Aber die Fernbedienung hatte er doch noch hier. Verständnislos strampelte Maya erneut die Bettdecke weg und stand sauer auf, um nachzusehen. Da kniete Shinda vor der Bildröhre auf dem Boden, hatte die Frontabdeckung heruntergelöst und fingerte an den Hilfsknöpfen herum.

„Was zur Hölle ... Shinda, leiser!“

„Ja wie denn, ohne Fernbedienung?“, nörgelte der genervt zurück und schaltete ungestört weiter durch das Programm. „Hier sind nur Pfeile zum Weiterschalten, für die Helligkeit und für die Farbtöne.“

„Mach mich doch nicht alle.“, stöhnte der Student, holte die Fernbedienung aus dem Schlafzimmer und sorgte selbst für eine angemessene Lautstärke. Er fragte sich, woher Shinda von diesen dämlichen Hilfsknöpfen wusste.

„Geht doch! Jetzt rück schon die Fernbedienung wieder raus!“

„Wenn du mich jetzt nicht schlafen lässt, gibt´s hier richtig Ärger!“, stellte Maya klar und drückte ihm das Technikteil in die Hand. Shinda sah ihn noch einen Moment lang übertrieben beleidigt an, dann machte sich langsam ein gutgelauntes Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Schon gut. Waffenruhe. ... Dich kann man aber auch immer so schön ärgern. Selber Schuld.“

Maya funkelte ihn noch sauer an, verzichtete aber darauf, ihn mit einem kreativen Schimpfwort zu betiteln. Damit hätte er Shinda nur noch mehr Spaß bereitet, was am Ende bloß wieder dazu geführt hätte, daß sie beide gemeinsam lachten. Und dann wäre jeglicher erzieherischer Resteffekt endgültig im Eimer gewesen.
 


 

Am nächsten Morgen ging Maya allein zur Uni. Da Shinda erst irgendwann kurz vor dem Weckerklingeln ins Bett gegangen war, hatte er ihn schlafen lassen. Inzwischen traute er dem Schwarzhaarigen zu, mal ein paar Stunden auf sich selbst aufzupassen und nicht aus Unwissenheit mit dem Herd die ganze Wohnung anzuzünden, oder etwas in der Art. Außerdem hatte er heute nur Vorlesung bis 13 Uhr und würde ja zeitig wieder zurück sein. Eigentlich war es sinnlos, heute überhaupt zur Uni zu gehen, das merkte Maya schon, als er seine Wohnung verließ. Er fühlte sich furchtbar zerstreut und abgelenkt. Die Frauen in den langen, weißen Kleidern, von denen er gestern gejagt worden war, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte die ganze Nacht Alpträume von ihnen gehabt und grübelte auch jetzt im Wachzustand unaufhörlich über sie und ihre Absichten nach. Sicher würde er sich heute nichtmal ansatzweise auf irgendeine Vorlesung konzentrieren können. Aber aus irgendeinem Grund hatte er keine Bedenken, ihnen nochmal zu begegnen. Er war sich sicher, selbst wenn sie ihn fänden, daß sie ihn gar nicht beachten würden, solange er nicht in Begleitung seines dämonischen Kameraden war. Noch so ein Punkt, warum er Shinda zu Hause gelassen hatte. Auf dem Kampus war Shinda einfach zu auffällig und daher ständig in Gefahr, von irgendwem erkannt und verfolgt zu werden.
 

„Wo ist denn dein Kumpel heute?“

„Wie?“ Maya schreckte aus seinen Gedanken hoch und musste erstmal kurz realisieren, wo er überhaupt war. Ach ja, in der Mensa. Vor ihm stand ein Mädchen mit schwarzen Haaren, sonnengelbem T-Shirt und einem Tablett in der Hand und musterte ihn besorgt. Er fröstelte schon bei dem bloßen Anblick. T-Shirt. Im Herbst. Er selbst saß im Rollkragenpulli hier. „Rubiko.“, seufzte er.

„Du siehst schlecht aus. Ist alles okay mit dir?“

„Hm. Hatte eine unruhige Nacht.“

„Ist hier noch frei?“, wollte sie wissen und deutete mit den Augen auf einen Stuhl, da sie beide Hände zum Halten ihres Tablettes brauchte. Trotz seines wenig begeisterten Blickes stellte sie ihr Essen ungefragt ab und setzte sich. „Also wo ist er?“

„Wer?“

„Na dein Freund.“, hakte Rubiko ungeduldig nach.

„Nicht hier.“, gab Maya knapp zurück.

Sie zog eine halb nachdenkliche, halb beleidigte Schnute und sah ihn mit ihren dick kajal-umrandeten Katzenaugen fest an. „Er ist ein Dämon, dein Kumpel.“, stellte sie voller Überzeugung in den Raum.

Maya zuckte leicht zusammen und hörte auf, zu kauen. Das Mädchen durchbohrte ihn fast mit ihren Blicken, jede seiner Reaktionen genau beobachtend und analysierend. Sie strahlte eine lästige Entschlossenheit aus. Einen Moment herrschte abschätzendes Schweigen zwischen ihnen. „Unsinn.“, gab Maya nach kurzer Erwägung ruhig zurück und spickte ein Stück Kartoffel auf seine Gabel, um weiter zu essen. Er glaubte nicht, daß Rubiko das ernst meinte. Sie studierte Politik und Sprachen, zwei Jahrgänge unter ihm, war die Freundin seines Hausnachbarn und soweit er wusste, hatte sie keinerlei Kenntnisse oder Interessen auf dem Gebiet der Magie oder Dämonologie. Also woher sollte sie irgendeine Ahnung davon haben?

„Du bist gestern von den Weißen verfolgt worden!“

Verdutzt sah Maya doch wieder auf. „Kennst du die?“

„Sie waren Treiber. Das sind projezierte Abbilder von realen Menschen. Geisterbilder, wenn du so willst.“

„Warte mal. Das versteh ich nicht.“

„Sie sind Fata Morganas!“, erklärte sie in einem ungeduldigen kapierst-du´s-nicht?-Tonfall. „Spiegelungen von Menschen, die sich eigentlich gerade ganz wo anders aufhalten. Erzeugen kann man sie mit Magie, aber sie haben an sich keine Macht. Die können dir nichts tun, können dich nichtmal berühren, sie haben keinen stofflichen Körper. Sie werden nur eingesetzt um jemanden zu erschrecken oder Botschaften zu übermitteln.“

„Na, eine Botschaft hatten die wohl nicht, sonst hätten sie mich angerufen oder mir einen Brief geschrieben, statt mir diese Dinger auf den Hals zu hetzen. Woher zur Hölle weist du sowas überhaupt?“

Rubiko wurde schlagartig kleinlaut und eine gewisse Verlegenheitsröte trat auf ihre Wangen. Nun hatte sie sich in ihrer hitzigen Art selbst verraten. „Dein Freund ist ein Dämon! Du solltest dich von ihm fernhalten!“, betonte sie nur nochmal und stand auf, als hätte sie schon fertig gegessen. Hastig eilte sie davon und lies ihr volles Tablett einfach stehen.

Seufzend schüttelte Maya den Kopf und schob auch sein Essen von sich. Der Appetit war ihm vergangen. Egal ob Rubiko nun wirklich wusste oder nur vermutete, daß Shinda ein Dämon war, es war in beiden Fällen ein schlechtes Zeichen. Und was noch schlimmer war, sie schien sich tatsächlich mit Magie auszukennen. Ob sie ihm vielleicht mehr erzählte, wenn er sie nett fragte? Zum Beispiel, wer diese Dinger geschickt hatte und ob die wiederkommen würden? Immerhin hatte sie ihn warnen wollen, also war sie zumindest nicht perse sein Feind. Andererseits, wenn sie doch nicht soviel wusste wie sie vorgab, sondern sich nur wichtig tat, würde er damit schlafende Hunde wecken. Verdammt, der Kreis zog sich immer enger. Professor Undo hatte wohlmöglich schon Wind davon bekommen, daß der Dämon wieder wach war. Irgendwer hetzte ihm magische Trugbilder auf den Hals. Duncan und seine Schläger waren sicher auch nicht blöd genug um zu übersehen von wem sie da zusammengeschlagen worden waren. Und nun fing seine Quasi-Nachbarin auch schon damit an, Shinda als Dämon hinzustellen. Maya beschloss, die letze Vorlesung sausen zu lassen und stattdessen noch eine Runde durch den Wald zu spazieren. Er musste wieder einen klaren Kopf kriegen und sich was einfallen lassen.
 


 

Zufrieden klappte Maya an diesem Abend seinen dicken Wälzer aus der Uni-Bibliothek zu und überflog nochmal seinen Stichpunktzettel. Weidenholz hatte er. Bergkristall und Lapislazuli hatte er auch. Eine Kerze, okay, würde sich sicher irgendwo in seiner Wohnung finden. Eine Pfeife hatte er nicht. Aber eine Holzflöte. Er hoffte, das würde auch reichen.

„Du willst jetzt nicht ernsthaft hexen, oder?“, warf Shinda von der Seite ein und wusste nicht recht, ob er lachen oder den Kopf schütteln sollte.

„Warum nicht? Wenn es ganze Zirkel von Magiern gibt, kann ich das doch auch. Ist ja nicht so, als ob man dafür eine Erlaubnis oder besondere Fähigkeiten bräuchte.“

„Nein, aber ein bischen Ahnung würde nicht schaden. Was willst du denn machen?“

„Ich will Feuer kontrollieren.“

„In deinen eigenen vier Wänden? Sehr mutig! Hast du auch mal bedacht, daß es schiefgehen könnte? Du könntest das ganze Haus abfackeln.“

„Ach was, ich hab extra alles brennbare weit weggeräumt.“

Shinda seufzte. „Zeig mir das Buch!“, verlangte er ernst. Ihm war dieses wilde Rumgepfusche nicht geheuer, er wollte schon wissen was hier gleich losgehen würde. Er blätterte eine Weile wahllos darin herum und klappte es dann amüsiert wieder zu. „Das Ding ist totaler Nonsense. Hätte mich auch gewundert, wenn sie an einer Universität Bücher über Zauberei hätten, die auch funktionieren.“, urteilte er schließlich unbesorgt, erhob sich vom Tisch und ging zum Fenster, um hinauszusehen.

„Dann zeig mir doch mal irgendwas, was funktioniert!“, bat Maya.

„Ach, ich weis nicht. Ich erinnere mich kaum noch an etwas. Und selbst von dem, was ich noch weis, klappt vieles nicht mehr. Und glaub mir, ich hab´s wirklich versucht. Diese komische Tätowierung an meinem Auge scheint meine Macht tatsächlich ziemlich einzuschränken.“, meinte er wehmütig. „Ich habe gehört, man kann sich Tatoos weglasern lassen.“

„Nein, das wirst du schön bleiben lassen, Shinda. Du trägst das Ding nicht grundlos. Ich möchte nicht, daß du wieder zu diesem blutrünstigen, rachegetriebenen Teufel aus den Legenden wirst.“

Shinda lächelte dankend. Er hatte sich inzwischen mit seiner Situation arrangiert. Obwohl er sich immer noch nicht selbst an seine Handlungen vor dem Kälteschlaf erinnern konnte, glaubte er Mayas ausführlichen Erzählungen diesbezüglich vorbehaltlos. Mehr noch, er akzeptierte inzwischen was er war und was er getan hatte. Er hatte sich damit abgefunden, von verschiedenen Seiten gejagt zu werden, wusste aber noch nicht so recht wie er darauf reagieren wollte. Shinda war dankbar, daß Maya ihm ungeachtet all dieser Tatsachen immer noch freundschaftlich zur Seite stand. Er deutete wieder auf das Hexereilehrbuch. „Warum willst du jetzt plötzlich zaubern?“, wollte er mit sachlichem Interesse wissen. So eine Art von Interesse, die schon, unabhängig von der Antwort, im Vorab Hilfe anbot.

„Damit ich nicht wieder so unvorbereitet und hilflos dastehe, wenn wir den Weißen nochmal begegnen. Oder dem Magierzirkel. Ich will mich wehren können.“

„Abgesehen davon, daß du nicht in 3 Tagen ein so mächtiger Magier werden wirst, daß du da irgendwas ausrichten könntest; hast du nicht das Vertrauen, daß ich dich beschützen würde?“, erwiderte der Schwarzhaarige ruhig. Gar nicht vorwurfsvoll.

„Doch. Aber das kann ich ja nicht einfach als selbstverständlich voraussetzen, oder?“



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