Gladshem
Obwohl der Weg eben war, was dafür sprach, dass bereits viele Leute auf dieser Route gereist waren, ruckelte die Kutsche immer wieder heftig. Da half auch die am Fenster vorbeiziehende, angenehme Gegend nichts, um die Nerven der zwei Reisenden zu schonen. Sie starrten durch die Scheibe hinaus, betrachteten Bäume, deren Blätter so tiefgrün waren, wie keiner von ihnen es bislang je zuvor gesehen hatte. Vögel saßen auf den Ästen und sangen ihre Lieder, aber die Kutsche hielt nicht lange genug inne, damit sie diesen hätten lauschen können.
Das alles ließ zumindest einen der beiden Reisenden gut gelaunt sein.
„Nun schau doch nicht so böse.“
Daraghs Mundwinkel zuckten nach diesem gutgemeinten Rat seines Kollegen. „Ich kann nichts dafür, meine Laune ist eben im Keller.“
Fahrig schob er seine randlose Brille auf ihren angestammten Platz zurück. Jede seiner Bewegungen verriet, wie aufgewühlt er in seinem Inneren war.
„Ich bin nicht böse“, stellte er mit fester Stimme klar. „Aber normalerweise gehe ich ohne dieses Buch nirgendwohin – und ausgerechnet dieses Mal habe ich es zu Hause vergessen.“
Zashi, dessen dunkle Augen wie so oft gelangweilt dreinblickten, als könne ihn absolut gar nichts überraschen, lächelte und hob die Hand, um Daragh auf die Schulter zu klopfen, ließ es dann aber doch, als er wieder einmal feststellte, dass sein Partner wesentlich größer als er selbst war und es nur lächerlich aussehen würde, selbst wenn sie beide saßen.
„Mach dir doch keine Gedanken deswegen“, riet Zashi. „Du kennst das Buch doch inzwischen auswendig, wie wir alle wissen.“
Einmal hatte Zashi ihn aus Langeweile Zitate abgefragt und Daragh war tatsächlich nicht einmal ins Stottern gekommen. Aber dennoch hielt er weiter die Stirn gerunzelt. „Es macht mich trotzdem sicherer, wenn ich es bei mir habe – auch wenn es ohnehin bald auseinanderfällt.“
Bei Gelegenheit würde er sich ein neues Exemplar kaufen müssen, aber er hing einfach an diesem einen, deswegen fiel es ihm schwer, ein anderes an dessen Stelle treten zu lassen. Es kam ihm nicht fair vor, gegenüber der Person, die ihm das Buch damals geschenkt hatte, auch wenn es sie schon lange nicht mehr gab.
„Freu dich doch lieber, dass wir nach Gladshem kommen“, schlug Zashi vor. „Nicht jeder hat das Glück an einem Urlaubsort arbeiten zu dürfen.“
Daragh rollte mit seinen Augen – das einzige, worauf er an sich wirklich stolz war, denn niemand sonst, den er kannte, besaß lilafarbene Augen – und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bei der Arbeit, die wir zu erledigen haben, werden wir kaum dazu kommen, Urlaub zu genießen.“
„Jetzt sei doch nicht so.“ Zashi verzog das Gesicht. „Bist du wegen dem Buch echt so schlecht gelaunt? Das ist ja unheimlich.“
Daragh schüttelte mit dem Kopf. „Das ist es nicht. Es ist diese Kutschfahrt...“
Es dauerte einen kurzen Moment, aber dann ereilte seinen Gegenüber die Erkenntnis. „Oh ja, du fährst nicht gerne mit Kutschen.“
Und doch machte es die Mitgliedschaft in seiner Gilde immer wieder notwendig. Am liebsten wäre er einfach ausgetreten – aber die Lazari mochten es nicht, wenn jemand ihre Gilde lebend verließ, es führte immer und ohne jede Ausnahme zu Problemen. Man munkelte sogar, dass die Gilde für den Tod der Lebensgefährtin eines ehemaligen Mitglieds verantwortlich sei und ein solches Risiko wollte man lieber gar nicht erst eingehen.
Es gab nur einen einzigen Weg, diese Gilde wirklich hinter sich zu lassen.
„Vielleicht habe ich ja Glück und sterbe bald“, murmelte er, was bei Zashi zu einem unglücklichen Seufzen führte.
„Sag doch nicht immer so etwas. Es ist gut, dass du lebst. Das wirst du auch noch erkennen.“ Zashi lächelte, um seine Worte zu unterstreichen, aber Daragh stieß nur Luft durch seine geschlossenen Lippen.
Er nahm eine Strähne seines Haars und begann, diese zu zwirbeln, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass er jegliches Interesse am Gespräch verloren hatte und er sich ohnehin nicht umstimmen lassen würde.
Zu seinem Glück kannte Zashi ihn bereits lange genug, um das zu wissen und ihn für den Rest der Fahrt in Ruhe zu lassen.
Erst als sie am Stadteingang aus der Kutsche stiegen und ihre Taschen aus dem Gepäckträger holten, wurde das Schweigen zwischen ihnen wieder gebrochen. Zashi blickte interessiert auf den Boden, der mit hellen Steinfliesen bedeckt war, was sich durch die ganze Stadt zu ziehen schien.
„Wow~“, gab er begeistert von sich.
„Das ist nur der Boden“, erwiderte Daragh, während er seinen braunen Leinenrucksack aus dem Träger hievte. „Tust du das jetzt bei allem, was wir hier zu sehen bekommen werden?“
„Ich bin immerhin das erste Mal hier, da darf ich doch ein wenig fasziniert sein, oder?“
Daragh zuckte mit den Schultern. „Wenn du unbedingt willst, aber dann verliert es doch irgendwann seinen Zauber.“
Er sah, wie Zashi seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber ein drohender Blick von Daragh verriet ihm, dass es in diesem Moment besser wäre, zu schweigen.
Kaum war die Kutsche um das Gepäck erleichtert, begann sie wieder fortzufahren. Die beiden blickten ihr erst gar nicht hinterher, sondern fuhren herum, um das Gasthaus aufzusuchen.
Gladshem galt nicht nicht nur als beliebter Touristenort, sondern auch als Quelle der Inspiration für Künstler, weswegen es Daragh nicht überraschte, dass viele Statuen – manche mehr, manche weniger realistisch – vor Gebäuden standen und dort von Besuchern bewundert und teilweise auch auf Papier gebannt wurden.
Sogar der Springbrunnen auf dem Hauptplatz der Stadt war ein einziges Meisterwerk. Drei Statuen, die Frauen darstellten, standen, knieten und saßen, Rücken an Rücken und hielten Vasen in ihren Händen aus denen Wasserfontänen kamen und in ein tiefergelegtes Becken trafen. In alle vier Himmelsrichtungen gingen in den Boden vertiefte Rinnen vom Brunnen ab, um das Wasser überall hinzutragen. Wozu genau das dienen sollte, wusste Daragh zwar nicht, aber er vermutete auch, dass es dem Macher eher darauf angekommen war, dass es hübsch aussah und nicht, dass es praktisch war.
Wie er erwartet hatte, blieb Zashi vor dem Brunnen stehen, um diesen ausgiebig zu bewundern. Selbst dabei schaffte er es überraschenderweise, gelangweilt auszusehen.
Daragh ließ den Blick währendessen ein wenig schweifen und betrachtete die derzeit anwesenden Touristen, in der Hoffnung, den Auftrag damit so schnell wie möglich zu erledigen. Aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht, denn jeder der Anwesenden war eindeutig ein Mensch, egal wie seltsam einige von ihnen aussahen. Einer trug sogar zahlreiche Federn, die in sein Haar geflochten waren, was Daragh doch sehr faszinierend fand. Ihm schien, dass es sich bei ihnen allen um Künstler mit den verschiedensten Stilrichtungen und Talenten handelte – und diese waren seiner Erfahrung nach immer reichlich seltsam. Er war selbst einmal so gewesen, lange vor seinem Tod und seiner Wiederauferstehung als Lazarus.
Aber das Leben zuvor war etwas über das er nicht mehr sonderlich gern nachdachte, denn es war vorbei, endgültig verloren und er hing nicht gern derartigen Dingen nach. Es genügte, dass er beständig seiner Kreativität hinterhertrauerte.
Nachdem Zashi den Brunnen schließlich genug bewundert hatte, setzten sie ihren Weg fort und kamen bald darauf am Gasthaus an. Dieses war im Vergleich zum Rest der Stadt reichlich schlicht, keine Statue war davor aufgebaut und auch der Innenraum des Eingangsbereichs war eher trist, abgesehen von der Wand direkt neben der Tür. Dort war ein Gemälde angebracht, das vom Boden bis zur Decke reichte und die verschiedensten kleinen Kunstwerke von reisenden Malern trug, jedes mit einer einmaligen Signatur versehen, damit der Betrachter sofort wusste, von wem welches Werk stammte. Beim letzten Mal hatte Daragh lange innegehalten, um es zu betrachten, aber dieses Mal entdeckte er kein neues, weswegen er keine weitere Zeit damit verbrachte.
Eine freundliche Frau hinter dem Tresen hieß sie beide willkommen und wies ihnen ein Zimmer zu, das sie auch sofort aufsuchten.
Daragh seufzte, während er den Rucksack ablegte. „Ich hasse es, wenn sie uns nicht direkt sagen, wo sich der Dämon befindet. Die Angabe in der Gegend von ist nicht unbedingt hilfreich.“
„Du kannst auch immer nur meckern, oder?“, fragte Zashi, der es sich auf seinem Bett bequem machte. „Sei doch lieber froh, dass wir mal von den anderen Lazari wegkommen.“
Daragh mochte die anderen genausowenig wie sein Partner, viele von ihnen waren entweder am Rand der Verzweiflung oder sie waren bereits derart zerstört, dass sie sich in den Zynismus retteten und niemanden außer sich selbst ernstnahmen – wenn sie überhaupt noch an sich glaubten.
Daragh war selbst als zynisch verschrien, aber er wusste, wann und bei wem er so sein konnte und bei wem er sich lieber am Riemen riss. Die anderen dagegen...
„Ich bin ja auch froh. Aber es nervt ziemlich. Die Suche nach dem Dämon ist immer so eine langwierige Angelegenheit, wenn wir nicht wissen, wo genau er ist.“
Manchmal waren sie offensichtlich, sie waren riesige Monster, die sämtliche Menschen in der Gegend ihrer Wahlheimat terrorisierten – und andere, wie ihr derzeitiges Ziel, blieben für sich, versuchten versteckt zu leben und Menschen unmerklich die Energie zu rauben.
Diese Monster gehörten zu den gefährlichsten, denn sie waren clever und nutzten das in vollen Zügen aus, um sich so lange es nur möglich war, vor den Lazari zu verstecken. Woher diese allerdings von ihnen wussten, war Daragh nach wie vor schleierhaft.
„He, was kann man hier eigentlich noch tun?“, fragte Zashi plötzlich und griff nach einem dünnen Buch, das auf seinem Nachttisch lag und in dem verschiedene Sehenswürdigkeiten der Stadt hervorgehoben wurden.
„Während du Tourist spielst, werde ich mich nach einem Anzeichen für den hiesigen Dämon umsehen. Falls etwas Dringendes ansteht, schick mir einfach einen Orb, ja?“
„Klar, du auch.“ Zashi wirkte allerdings derart abwesend, dass er sich nicht sicher war, ob er es wirklich verstanden hatte.
Allerdings kümmerte es Daragh vorerst nicht weiter, weswegen er sich umdrehte und mit schnellen Schritten das Gasthaus wieder verließ. Vor dem Gebäude blieb er wieder stehen und sah sich in alle Richtungen um. Zu seinem Unverständnis gab es in der Gilde keinerlei Gerätschaft oder auch nur einen Zauber, irgendetwas, das ihm helfen könnte, diesen Dämon aufzutreiben. Manchmal fragte er sich, wie die anderen es schaffen konnten, die Feinde zu finden, aber keiner von ihnen hatte ihm auf sein Nachhaken geantwortet.
Also wählte er ziellos irgendeine Richtung und lief los, in der Hoffnung zumindest einen Hinweis zu finden, der ihm weiterhelfen könnte. Jene Künstler, denen er unterwegs begegnete, beachteten ihn nicht im Mindesten und wenn, dann nur um einen kurzen Kommentar zu seinem kastanienfarbenen Haar oder seinen Augen zu verfassen, ehe sie sich wieder den weitaus interessanteren Dingen widmeten. Keiner von ihnen wirkte so als wäre er das Opfer eines Angriffs geworden, ob nun bewusst oder unbewusst.
Erst in einer Seitengasse fand er schließlich Einsamkeit, die er benötigte, um sich auf die Aura eines Dämons zu konzentrieren. Es war gut möglich, dass er eine schwache Spur fand, wenn sich seine Gedanken von nichts ablenken ließen.
Doch während er noch versuchte, sich erst einmal zu sammeln, fiel sein Blick auf ein ausladendes Schaufenster, das in dieser verlassenen Gasse geradezu fehl am Platz wirkte, da wohl kaum jemand einfach so vorbeikommen würde. Normalerweise hätte es ihn auch nicht weiter interessiert, wenn irgendein Mensch mit viel zu viel Geld hier versuchte, alles zu verlieren, weil er keine Einnahmen erzielte, aber schon nach wenigen Sekunden erkannte er im dunklen Raum hinter dem Schaufenster etwas, das ihm sagte, um was für einen Laden es sich handelte.
Sofort spürte er ein freudig-aufgeregtes Kribbeln in seinem Inneren, das sich verstärkte, als er feststellte, dass die Tür offen war und er eintreten konnte. Der Geruch von frisch gedruckten Büchern umfing ihn sofort und ließ ihn sich wie zu Hause fühlen. An den Wänden reihten sich vollgestellte Regale mit Büchern, die alle nur darauf warteten, dass er sie hervorzog, um in ihre Welten einzutauchen. Es waren so viele, dass er sich nicht entscheiden konnte und sein Blick deswegen unentschlossen über sämtliche Titel flogen, bis er schließlich bei einem bestimmten wieder innehielt. Egal, was er tat, er kam nicht an diesem vorbei, seine Augen blieben wie magnetisiert auf diesen Folianten gerichtet, so dass er ihn aus dem Regal hervorzog.
Kein Zweifel...
Es war eindeutig jenes Buch, das er ebenfalls besaß, das ein Schatz für ihn war und das er gerade bei dieser Mission zu Hause vergessen hatte. Diese Ausgabe in seinen Händen war allerdings nicht alt und zerfallen, sie war neu, nicht frisch gedruckt, aber auch nicht älter als einige Monate.
Er war mehr als nur versucht, sich dieses Buch zuzulegen, einfach nur um es zu haben und es immer mit sich zu führen, damit er seine alte Ausgabe schonen könnte.
Noch während er darüber nachdachte, ob er es wirklich tun sollte oder ob es möglicherweise nur eine Verschwendung von Geld wäre, hörte er Schritte hinter sich. Er fuhr herum und erblickte eine junge Frau, die einen Stapel Bücher in den Armen trug. Direkt nach diesen fiel ihm ihr rotes Haar auf, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, ihre blauen Augen erinnerten ihn sofort an den Himmel – aber das war fast sofort wieder vergessen, als er ihre Stimme hörte, die sein Herz zu berühren schien: „Herzlich Willkommen. Wie kann ich dir helfen?“