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Der Benu

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Der Benu


 

„Hier, ich hab noch eine gefunden!“ Mit strahlendem Lächeln und vor Anstrengung roten Backen hielt Yugi triumphierend eine große Kastanie hoch, die er eben aus einem Haufen goldfarbenen Laubs gewühlt hatte. Die braune Frucht glänzte in der späten Sonne des Oktobernachmittags wie poliert.

Atem, der ein Stückchen weiter unter einem zweiten Kastanienbaum kniete, hob den Kopf und nickte.

Yugi hätte ob seines mißtrauischen und verständnislosen Gesichtsausdrucks gerne gelacht, aber das hätte sein früherer Körper-Mitbewohner bestimmt in den falschen Hals bekommen. Er wußte nur, daß sie viele, viele Kastanien sammeln mußten. Wofür, das hatte Yugi ihm bisher nicht gesagt. Es sollte eine Überraschung werden.
 

Atem blickte wieder vor sich auf das Laub, unter dem sich bestimmt noch mehr Kastanien befinden mußten. „Ich weiß wirklich nicht, wozu das gut ist!“ rief er zurück und schob die Blätter beiseite. „Au, verdammt!“ schrie er plötzlich auf und begann dann auf Altägyptisch zu fluchen, daß Yugi hochrot anlief.
 

Auch wenn Yugi nur einen Teil verstehen konnte, reichte das vollkommen aus, um sich zusammenzureimen, daß Atem dem Verursacher seines Schmerzes eine Begegnung mit einem Elefantenrüssel wünschte und das an keiner jugendfreien Körperstelle.

Mit wenigen schnellen Schritten war Yugi bei Atem, der auf den Übeltäter starrte, als wolle er ihn Kraft seiner Gedanken in Flammen setzen. Und da Yugi wußte, daß Atem das durchaus konnte, versuchte er lieber, die Stimmung aufzulockern: „Du hast auch eine Kastanie gefunden!“
 

„Warum hast du mir nicht gleich gesagt, daß sie auch grün und stachelig sein können, Aibou?“ Atem betrachtete seine Hand, aber er konnte genauso wenig eine Wunde an ihr feststellen wie Yugi.
 

„Das ist die Schale. Warte mal.“ Vorsichtig nahm Yugi die Stachelkugel auf, bis er eine Stelle fand, wo die Schale bereits aufgeplatzt war. Mit den Daumenspitzen schob er sie noch weiter auf, bis sie sich schließlich löste und wieder auf den Blätterhaufen fiel. Yugi hielt die kleine, glänzende Kastanie Atem hin. „Hier, bitte.“

Atem nahm sie vorsichtig an und steckte sie in seine Jackentasche, die sich schon dick ausbeulte. Yugi ging es ähnlich, sie hatten eine tolle Ausbeute gehabt. Das war auch ein Grund, warum Yugi beschloß, daß sie ihren Spaziergang beenden und heimkehren sollten. Die anderen beiden waren die Gewitterwolken, die sich in der Ferne bereits türmten, und Atems ebenfalls gewittriges Gesicht.

Dieses hellte sich gleich ein Stück auf, als Yugi erklärte, sie hätten genug Kastanien. In einvernehmlichen Schweigen gingen sie zurück.
 

Über ihnen verblaßten die Sonnenstrahlen zwischen den fast kahlen Ästen der Bäume. Vor kurzem noch hatte Yugi durch das dichte Grün der Bäume kaum den Himmel sehen können. Wie doch die Zeit verging!

Und noch etwas war anders: Je mehr Straßen von rotgoldenen Blättern bedeckt wurden, desto unleidlicher war Atem geworden. Yugi fröstelte und riskierte einen Blick zu Atem. Wie immer in der letzten Zeit sah der aus, als hätte man ihn persönlich beleidigt – oder, noch schlimmer, Yugi! Man brachte es wohl nur als Pharao fertig, gleichzeitig hoheitsvoll und tödlich beleidigt auszusehen.
 

Die ersten Tropfen versickerten bereits in Yugis Haaren, als sie das Zuhause der Mutos erreichten. Großvater war für ein paar Tage verreist, allerdings nur nach Tokyo und nicht in das nächste ferne Land voller Gefahren, Schattenspiele inklusive. Aber dann wiederum war man vor denen nicht mal vor der eigenen Haustür sicher.

Yugi schloß auf und ließ Atem ein. Es war ruhig, denn auch Yugis Mutter hatte beschlossen, noch zu verreisen. Ein Wochenende in einem Wellnessbad mit ihren Freundinnen vom Aerobic-Club.

So waren Yugi und Atem über das Wochenende ganz alleine zuhause.
 

Während Atem sich die Schuhe abstreifte, holte Yugi ein Eimerchen aus dem Flurschrank, in das er danach mit lautem Gepolter alle Kastanien fallen ließ. Atem machte es ihm nach, dann beäugte er mißtrauisch die Tasche, ob sie auch keinen Riß hatte.

Yugi seufzte kopfschüttelnd und, nachdem er auch Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, trug die Kastanien ins Wohnzimmer. „Machst du uns bitte was zu trinken?“ rief er Atem zu, der zustimmend antwortete.

Yugi konnte Atem in der Küche fuhrwerken hören, während er nach oben in sein Zimmer lief und eine kleine Pappschachtel holte. Wenig später stand sie neben dem Eimer und Yugi streckte vor Konzentration die Zunge heraus, als er mehrere kleine Löcher in eine große Kastanie bohrte.

Aus der Küche duftete es angenehm nach Schokolade und Zimt und Yugis Bauch rumorte hungrig.
 

Als hätte Atem das gehört kam er mit zwei großen, dampfenden Tassen ins Zimmer, welche er auf den Couchtisch stellte. Stirnrunzelnd betrachtete er die Holzstäbchen in der Schachtel und dann Yugis Tun. „Warum bohrst du Löcher in Kastanien?“ erkundigte er sich.
 

Yugi nahm in aller Ruhe einen Schluck von Atems Heißer Schokolade, wie immer verfeinert mit einem Hauch wärmenden Zimt. „Um Kastanientiere zu basteln“, erklärte er schließlich als sei es das Normalste der Welt.
 

„Aha.“ Atem nahm neben ihm auf der Couch platz und trank nun seinerseits, während seine scharfen Augen jede Bewegung Yugis genau verfolgten. Keine fünf Minuten später hatte er angefangen, ebenfalls in eine Kastanie Löcher zu bohren.
 

Während der Dampf aus den Bechern ebenso wie der Inhalt dieser immer mehr abnahmen, füllte der Couchtisch sich mit den verschiedensten Tieren: Rehen, Vögeln, Affen, Gazellen, Rindern, Hasen, Füchsen und noch einigen mehr.

Yugi arbeitete inzwischen langsamer, während er neugierig Atem zusah. Manchmal wünschte er sich, er hätte auch eine so schnelle Auffassungsgabe wie sein anderes Ich.
 

Gerade arbeitete Atem an einem weiteren Vogel, der allerdings weitaus komplizierter ausfiel. Drei Stäbchen saßen wie eine Krone auf dessen Kopf und mehrere andere deuteten ein mächtiges Schweifgefieder an. Der Vogel erinnerte Yugi etwas an einen Pfau, aber dafür waren die Beine viel zu lang. „Was ist das für ein Vogel?“ erkundigte er sich also nach einer Weile.
 

„Hm?“ Atem hob den Kopf und sah Yugi an, als würde er diesen gerade erst bemerken. „Oh, das... Das ist ein Benu“, erklärte er und verpaßte dem Vogel noch mehr Schweiffedern.
 

„Ein Benu? Oh, du meinst einen Phönix“, erinnerte Yugi sich. „Das Zeichen für Werden und Vergehen.“
 

Atem nickte kurz, dann betrachtete er sein Werk noch einmal, bevor er es zu den anderen Tieren stellte. „So ist es. Alles stirbt, um wieder geboren zu werden, auf die eine oder andere Art.“ Er wurde immer leiser, bis er schließlich schwieg, die Augen allein auf den Benu gerichtet.
 

Yugi spürte direkt, wie Atems Stimmung kippte. Zwei Jahre lang waren ihre Seelen verbunden gewesen und Yugi konnte Atems Gefühle inzwischen besser als seine eigenen bestimmen, selbst jetzt noch, wo sie bereits ein halbes Jahr getrennt waren.

„Ich... sollte uns was zu essen machen“, suchte er nach Ablenkung und Atem nickte.
 

So trottete Yugi in die Küche und während er den Reiskocher befüllte, fragte er sich, wann der Punkt gekommen war, an dem Atem ihn plötzlich und ohne Vorwarnung ausgesperrt hatte.

Auch wenn Yugi noch die Gefühle zu deuten vermochte, die Gedanken, die sie auslösten, konnte er nicht mehr sehen. Und als Herrscher hatte Atem gelernt, seine Gedanken für sich zu behalten. Es war frustrierend, vor einer Mauer zu stehen und nicht mehr hinüber klettern zu können.

Während der Reis kochte, schnitt Yugi Gemüse zurecht. Manchmal fragte er sich, ob Atem damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die goldglänzende Präsenz, die sie alle vor Ehrfurcht in die Knie gezwungen hatte, hatte Atem eine Wahl gelassen: Sofort ins Totenreich eingehen oder vorher noch ein Leben als normaler Mensch zu führen.

Yugi war überglücklich gewesen, als Atem sich für das Bleiben entschieden hatte, doch die Dinge hatten sich seit damals geändert.

Yugi mußte das Messer loslassen, denn durch den feuchten Schleier konnte er nichts mehr sehen.
 

***

Eine halbe Stunde später saßen sie über ihrem Abendessen: Reis mit gegrilltem Gemüse und Fisch. Yugis Gesicht war sauber und trocken und er bemühte sich, seine Mundwinkel oben zu halten.

Atem aß mit sichtlichem Genuß, doch er wirkte auf eine unbeschreibliche Art nicht ganz da, als würde Yugi nur einem Körper gegenüber sitzen, keinem beseelten Wesen.

„Anzu meint, wir sollten uns nächstes Wochenende alle mal wieder treffen. Sie wird uns ja bald nicht mehr sooft sehen können“, versuchte Yugi ein Gespräch in Gang zu bringen.
 

„M-hm“, war die wortkarge Antwort.
 

Unbeirrt fuhr Yugi fort: „Wir sollten uns so langsam ein Abschiedsgeschenk für sie überlegen. Vielleicht ein Spiel oder ein Puzzle?“
 

„Klingt gut.“
 

Yugi faßte seine Stäbchen fester und zerdrückte fast das dazwischengeklemmte Stück Fisch. „Hast du keinen konkreteren Vorschlag?“
 

„Sie ist deine beste Freundin.“
 

Yugi blinzelte verwirrt, ob der reichlich schroffen Antwort. Dann seufzte er und wandte sich wieder seinem Essen zu. Er hatte acht Jahre gebraucht, um das Millenniumspuzzle zu lösen. Er würde grau wie ein Esel sein, bevor er Atems Verhalten entschlüsselt hätte.

Nach einigen Minuten entschied er sich für den direkten Weg. „Atem, gibt es etwas, was du mir sagen willst? Du bist in letzter Zeit so... seltsam.“
 

Ein Augenpaar richtete sich auf Yugi und jetzt war die Seele dahinter scharf zu erkennen. Der Blick eines Falken, das Feuer eines grimmigen Löwen.

„Bin ich das? Nun, dann vergib mir, Aibou. Auch ich bin am Ende des Tages nur ein Mensch, trotz allen göttlichen Blutes.“
 

„Du mußt dich nicht entschuldigen. Ich will wissen, ob ich dir helfen kann.“ Fast wäre Yugi vor dem Blick seines Gegenübers zurückgezuckt, als dieser ihn schier durchbohrte.
 

„Yugi, du bist ein guter, ein sehr guter Mensch. Aber manche Dinge liegen nicht in deiner Macht. Du kannst mir nicht helfen.“ Atem steckte sich den letzten Reis in den Mund, dann trug er sein Geschirr zur Spüle, bevor er ohne ein weiteres Wort die Küche verließ.

Nur zu deutlich nahm Yugi wahr, daß Atem das Gespräch als beendet ansah. Für immer.
 

***

Als Yugi später aus dem Bad stieg, hörte er draußen bereits das Grollen der nahenden Gewitterwolken. Gleich würde es mächtig krachen und er schauderte bei diesem Gedanken.

Er beeilte sich, das Wasser abzulassen und sich abzutrocknen, um dann schnell in sein Zimmer zu kommen.

Hier hatte sich im letzten halben Jahr nur wenig verändert. Noch immer waren Spiele Yugis Lieblingshobby und noch immer stand sein Schreibtisch unter dem Dachfenster, nur daß das Chaos von Schulbüchern und -heften einer fast schon spartanischen Leere gewichen waren. Jetzt fehlte nur noch die Antwort einer Universität.

Müßig schlüpfte Yugi in seinen mit Sternen bedeckten Pyjama, während er sich umsah. Ja, alles war so wie immer... Nur die schemenhafte Gestalt, die auf seinem Bett saß, fehlte.
 

Yugi blickte zur Tür. Atem hatte jetzt ein eigenes Zimmer, das ehemalige Arbeitszimmer von Yugis Vater. Es war ungefähr so groß wie Yugis eigenes und verfügte genauso über ein Dachfenster. Dort verbrachte Atem auch die meiste Zeit.

Yugi hatte keine Ahnung, was er dort drin trieb. Anfangs hatte er noch gedacht, daß Atem einfach etwas Zeit für sich brauchte, nachdem er zwei Jahre lang einen Körper hatte teilen müssen. Inzwischen schien die Tür Yugi als symptomatisch für das Problem, was auch immer es sein mochte, das zwischen ihnen herrschte.

„Warum nur läßt er nicht mit sich reden?“ Yugi plumpste aufs Bett und rubbelte seine Haare, bis sie elektrisiert in alle Richtungen abstanden. Er ließ das Handtuch fallen und bürstete seine Mähne mit einer feuchten Bürste aus.

Es war angenehm, aber ihm fehlte es, dabei Gesellschaft zu haben. Atem sah das offenbar inzwischen anders.
 

Draußen rumpelte es so laut, daß Yugi glaubte, das Haus um ihn herum würde einstürzen. Er sprang auf, als es daraufhin laut und vernehmlich klirrte. Besorgt stürzte er aus seinem zimmer und zu der Tür gegenüber der seinen. Er riß sie auf und starrte in die Dunkelheit, nur durchbrochen von einer kleinen Nachttischlampe.

Yugi blinzelte, als seine Augen sich umgewöhnten und er konnte die langbeinige, schlanke Gestalt im Bett erkennen, die auf dem Bauch lag und bis eben die Nase noch in ein Buch gesteckt hatte.

Atem blickte ihn stirnrunzelnd über die Schulter an. Eine sehr nackte Schulter, die in einen ebenso nackten Rücken überging. Yugin war auf einmal froh, daß Atem die Decke soweit hochgezogen hatte.
 

„Was ist los? Hast du dich erschreckt?“ erkundigte Atem sich und er drehte sich so, daß er Yugi besser ansehen konnte.
 

„Da war ein Klirren und ich dachte...“ Gedacht hatte Yugi nicht wirklich, er hatte nur Angst gehabt. Angst um Atem... Doch der hatte vor lauter Lesen offenbar alles nur am Rande gehört. „Nicht so wichtig. Ich gehe jetzt ins Bett. Schlaf gut.“ Sorgfältig vermied er den Blick auf Atems nackte Brust, als er sich umdrehte.
 

„Aibou? Danke.“
 

Die zwei kleinen Wörter, so leise und sanft ausgesprochen ließen Yugis Herz schmerzhaft klopfen. „Schon gut“, wehrte er rauh ab und schloß die Tür. Für einen Moment stand er auf dem dunklen Flur, der nur für einen Sekundenbruchteil von geisterhaft weißem Licht erleuchtet wurde.

Dann trottete er in sein eigenes Schlafzimmer und versuchte, Atem für eine Weile zu vergessen.
 

***

Irgendwann mußte Yugi doch noch eingeschlafen sein, denn sonst hätte ihn auch nichts wieder aufwecken können. Schlaftrunken hob er den Kopf und lauschte auf das grausige Getöse von nebenan. Für einen Moment glaubte er, es sei nur der um sie tosende Sturm, dann hörte er einen Schmerzensschrei und ein wütendes Geschnatter.

Plötzlich hellwach fuhr Yugi in seine Pantoffeln und eilte hinüber in Atems Zimmer.

Das Bild, das sich ihm bot, wäre eins für die Götter gewesen: Bücher und Papier hatten sich vom Schreibtisch auf den Boden ergoßen. In der Mitte des Chaos stand Atem auf einem Bein, den hochgehobenen Fuß umklammerte er fluchend mit beiden Händen. Vor ihm, auf einem faltenreichzen Notizblock, saß eine graue Kreatur, die zornig schnatterte.

Fast wäre es zum Lachen gewesen, wäre nicht zwischen Atems Händen Blut hervorgequollen.

„Was ist passiert?“ erkundigte Yugi sich und eilte zu Atem. Dieser ließ seinen Fuß los und schob Yugi beiseite. Weg von dem Tier am Boden, das sich nun bei näherer Betrachtung als ein Vogel herausstellte, der sie mißtrauisch anstarrte. Ein großer, grauer, flauschiger Vogel.

„Atem?“
 

„Ich hatte was am Fenster gehört und dachte, einer der Ziegel wäre vom Dach geweht worden“, erklärte dieser. „Aber als ich nachsehen wollte, kam stattdessen dieses kleine Biest reingepurzelt.“ Dabei sah er den Vogel böse an, der, Yugi würde jeden Eid darauf schwören, genauso böse zurücksah.
 

Yugi riß sich von dem Anblick los und sah auf Atems Fuß. In der großen Zehe waren rechts und links je eine halbmondförmige Wunde, aus denen noch Blut floß. „Er hat dich gebissen!“ stellte er fest. Das erklärte alles!

Ohne Atems Wenn und Aber zu beachten schob er diesen auf das Bett. „Ich hole den Verbandskasten.“
 

„Und der Vogel?“ Atems Blick war ungläubig.
 

„Der braucht keinen. Außerdem sieh ihn dir an: Mit dem Stummeln kann er nicht wegfliegen“, antwortete Yugi resolut. Während Atem also den Vogel und der Vogel Atem feindselig anstarrte, schlitterte Yugi aus dem Zimmer, rannte den Gang hinunter und rutschte fast auf den Badezimmerfliesen aus. Der Rückweg war ähnlich abenteuerlich, aber Yugi brachte seine Beute, fest an seine Brust gedrückt, sicher ans Ziel.

Atem und der Vogel hatten sich nicht gerührt.
 

Während Yugi sich vor Atem kniete und den Kasten öffnete, dachte er laut nach: „So einen Vogel habe ich auch noch nie gesehen. Er hat noch gar keine richtigen Federn, aber er ist schon größer als die meisten erwachsenen Vögel hierzulande.“

Vorsichtig reinigte er die kleinen Wunden und desinfizierte sie. Atem gab keinen Laut von sich, doch als Yugi hochsah, war es deutlich, daß Atem die Zähne aufeinanderpreßte, so verkniffen sah dieser drein.

„Dein Zeh ist in Ordnung, es ist nicht tief.“
 

„Wie beruhigend“, antwortete Atem und blickte den Vogel erneut böse an. „Ich verstehe überhaupt nicht, warum er das getan hat.“
 

„Er hat sich wohl erschreckt“, meinte Yugi und klebte zwei große Pflaster um Atems Zeh, um die Wunden gut abzudecken und zu polstern. „So, fertig. In ein paar Tagen bist du wieder so gut wie neu.“ Er grinste nach oben und Atem blickte zu ihm herunter. Dessen Mundwinkel zuckten, dann nickte er.

„Ich bring das mal hier weg... Rupf unseren ungebeten Gast derweil nicht gleich.“

Atems Gelächter folgte Yugi bis ins Badezimmer. Er lächelte leicht. Es tat so gut, zu hören, daß sein Freund auch noch lachen konnte.

Als er schließlich in Atems Zimmer zurückkehrte, saß Atem im Schneidersitz auf dem Boden – seine Füße steckten inzwischen in dicken Socken, wie Yugi bemerkte – und versuchte, den Vogel mit Nüßen aus einer Tüte Studentenfutter zu füttern.

Der Vogel war nicht interessiert, aber hatte sich offenbar von seinem Schreck erholt, denn er saß direkt vor Atem.
 

„Na komm, du mußt doch irgendwas essen wollen.“ Atem versuchte es mit einer aqnderen Nuß, doch der Vogel drehte den Kopf weg.
 

„Vielleicht will er lieber einen Wurm?“ Yugi trat zu den beiden, dann ging er langsam in die Hocke. Der Vogel flüchtete nicht, im Gegenteil. Er drehte sich zu Yugi, sperrte den Schnabel auf und... quakte.
 

„Gibt es sowas wie Froschvögel?“ überlegte Atem und faltete die Tüte wieder zusammen. „Mit Würmern kann ich jedenfalls nicht dienen.“
 

„Glaubst du ich? Und ich kenne mich mit Vögeln auch nicht groß aus. Vielleicht ist er ja ein Grauer Quaker.“ Yugi grinste, dann streckte er vorsichtig einen Finger nach dem Vogel aus und strich über dessen weiches Köpfchen.
 

„Rauslassen können wir ihn jedenfalls nicht. Draußen tobt noch immer das Unwetter.“

Wie um Atems Worte zu untermauern, donnerte es, daß die Fensterscheiben nur so klirrten.
 

Yugi fröstelte es und er nickte. „Dann sollten wir sehen, ob vielleicht in der Küche was für ihn ist.“ Vorsichtig formte er mit den Händen eine Schale, die er dem Vogelküken dann ermunternd hinhielt. „Willst du was essen, ja? Dann mußt du mit mir kommen.“

Der Vogel beäugte zuerst die Hände mißtrauisch, stupste sie sogar leicht mit dem Schnabel an. Nach einem Moment, in dem Yugi den Atem angehalten hatte, kletterte der Vogel auf seine Hände und machte es sich dort gemütlich.

Yugi stand vorsichtig auf. Lächelnd, die Augen immer auf seinen kleinen Begleiter gerichtet, tappte er durch den Flur, die Treppe hinunter und in die Küche.

Atem war ihm gefolgt. Er nahm zwei Handtücher und baute auf dem Küchentisch ein kleines Nest.

„Oh, danke!“ Yugi setzte das Vögelchen hinein.
 

„Naja, es ist ein Vogel und bevor er noch auf den Tisch...“ Atem hob eine Augenbraue, als Yugi ihn strafend ansah. „Was? Du willst doch keinen Ärger mit deiner Mutter, oder?“

Yugis blickte entsetzt drein und er schüttelte den Kopf.

„Na siehst du!“ Atem blickte auf den Vogel, der seinen Kopf unter einen Handtuchzipfel gesteckt hatte und nun so aussah, als trüge er eine blau-weiße Mütze. „Eigentlich ist er ja doch ganz niedlich.“
 

Yugi nickte schmunzelnd. „Aber jetzt müssen wir was für ihn finden“, erinnerte er Atem, bevor er in den Kühlschrank sah. Wenig später standen diverse Reste auf dem Küchentisch und Yugi hielt dem Vogel mit Eßstäbchen der Reihe nach verschiedene Speisen hin. „Kein Obst oder Gemüse, keine Körner oder Nüße... Ich glaube, er will wirklich einen Wurm“, meinte er schließlich reasigniert, nachdem er die Auswahl fast durch hatte.
 

„Oder vielleicht auch...“ Atem nahm mit seinen Eßstäbchen etwas rohen Fisch auf, den sie morgen eigentlich für Sushi geplant hatten, und hielt den Bissen ihrem daunigen Gast vor den Schnabel. Der machte ein hartes Geräusch auf dem Holz der Stäbchen, als der Vogel den Fisch begeistert an sich riß und verschlang. „Er mag Fisch!“
 

„Oh ja, und wie!“ Yugi mußte lachen. „Dabei sieht er gar nicht aus, als würde er am Wasser wohnen.“ Er warf einen Blick auf die kleinen Vogelfüße ohne Schwimmhäute.
 

„Nicht alle Vögel, die Fisch fressen, können schwimmen“, meinte Atem nur und hielt dem Vogel noch ein Stück Fisch hin, das dieser sofort verschwinden ließ. Skeptisch hob Atem dann die Eßstäbchen und selbst Yugi konnte die Einkerbungen an den Spitzen sehen.
 

„Ich glaube, du hast nochmal Glück gehabt“, meinte er und schauderte leicht bei dem Gedanken, der Vogel hätte Atem so fest beißen können.

Atem nickte wortlos und während er den Vogel weiter fütterte, fragte Yugi sich, woher dieser eigentlich gekommen war. Die Stummel an seinen Seiten waren nicht nur zu klein, sie ließen auch ordentliche Federn vermissen. Er konnte nicht geflogen sein. Aber ebenso wenig konnte er einfach vom Himmel gefallen sein. Yugi kratzte sich am Kopf, dann fing er an, die nicht mehr benötigten Reste wieder in den Kühlschrank zu räumen.

Natürlich war er ungewöhnliche Geschehnisse gewöhnt, seit er damals das Puzzle gelöst hatte, aber sie so einfach abtun, das konnte er auch wieder nicht. Nachdem er die Kühlschranktür geschlossen und sich wieder umgedreht hatte, bemerkte er das kleine Lächeln Atems, dessen konzentrierten Blick.

Atem schien es gut zu tun, sich um etwas kümmern zu können, das ihn brauchte. Das war gut!

Nach einer Weile drehte der Vogel den Kopf von dem Fisch weg.

„Er ist wohl satt...“ Yugi wagte sich wieder näher und streichelte dem Küken wieder über den Kopf. Ja, es mußte ein Küken sein. Ein sehr dickes und ungewöhnlich großes Küken... War es vorhin nicht etwas kleiner gewesen? Er runzelte die Stirn. Dieser rötliche Schimmer auf den Daunen war vorhin noch nicht da gewesen.
 

„Ja. Er hat auch fast ein Drittel des Fischs verputzt. Er muß verdammt hungrig gewesen sein.“ Atem warf die Stäbchen in die Spüle und räumte nun seinerseits den restlichen Fisch in den Kühlschrank. Er schien nichts bemerkt zu haben.
 

Yugi blickte wieder zu dem Vogel und er hätte schwören können, daß der grinste, aber das war nun wirklich lächerlich! Vögel hatten keine Lippen, also konnten sie auch nicht grinsen.
 

„Ist was, Aibou? Du siehst so nachdenklich aus.“
 

Der Angesprochene schreckte aus seinen Gedanken und er bemerkte, wie Atem ihn genau musterte. Röte kroch in seine Wangen. „Ach... Ich frage mich nur, wo er herkommt.“
 

„Gute Frage. Aber das werden wir wohl nicht rausfinden. Wir rufen morgen früh eine dieser Tierstationen an...“
 

„Du meinst ein Tierheim.“
 

Atem nickte auf Yugis Berichtigung und fuhr dann fort: „Die werden schon wissen, was das für ein Vogel ist und sie werden auch herausfinden, wo er herkommt.“
 

„Gute Idee!“ stimmte Yugi erleichtert zu, der Vogel quakte daraufhin und für Yugi hörte es sich empört an. „Die kümmern sich dort gut um dich“, versicherte er also dem Vogelküken, das ihn nun beleidigt ansah.
 

Atem trat hinzu und strich mit einer Fingerkuppe über das Köpfchen ihres Findelvogels. „Du hast ihn ja schon richtig lieb gewonnen.“
 

Yugi machte gerade den Mund auf, um sich zu erklären, als er für einen Moment Traurigkeit in Atems Augen sah. So wechselte er das Thema. „Alles in Ordnung?“
 

„Mein Zeh wird wieder.“
 

Und da war sie wieder, die Mauer. „Das war nicht das, was ich meinte! Du sahst eben traurig aus. Bitte, Atem, laß mich dir doch...“
 

„Helfen?“ beendete der den Satz müde und schüttelte den Kopf. „Das fragst du mich in letzter Zeit sehr oft.“
 

„Du gibst mir auch genügend Anlässe.“ Yugi seufzte und fuhr sich durch sein inzwischen trockenes Haar. „Früher konnten wir doch auch über alles sprechen. Warum jetzt nicht mehr? Was ist seit unserem Duell so anders?“

Er merkte, daß Atem seinem Blick auswich. Das war wirklich beunruhigend.

„Bitte sieh mich an. Sonst scheust du doch auch vor nichts zurück.“
 

Atem stieß seine Atemluft aus, dann begegnete er Yugis Blick voller Sorge und... Angst.

„Es gab immer etwas, was ich gescheut habe: Dich zu verlieren. Jetzt, wo ich weiß, wie das ist, ohne dich sein zu müssen... Ich wollte bleiben, wegen dir, für dich. Aber mir ist klar geworden, daß ich niemals die Zeit... aufhalten kann. Eines Tages muß und werde ich dich verlieren. Einer von uns wird sterben und ganz gleich, wen von uns es als Erstes treffen wird, wir werden uns trennen müssen. Auch wenn du jetzt sagst, daß wir uns spätestens im Duat wiedersehen werden, ich weiß, daß ich es nicht ertragen werde. Deine Abwesenheit genauso wenig wie deinen Schmerz. Du denkst an solche Dinge nicht, noch nicht, und das ist gut. Du sollst sorglos und glücklich sein und nur daran denken, was du Anzu schenkst und mit welchem hübschen Mädchen du ausgehen wirst.“
 

Yugi war wie angewurzelt dagestanden und hatte Atems Worten mit Sorge und Anspannung gelauscht. „Du vermißt es auch, nicht wahr?“ erkundigte er sich leise. „Unsere Nähe und Verbundenheit und das quält dich bereits jetzt. Ich dachte die ganze Zeit, du würdest mich ausschließen... Doch die Wahrheit ist, du fühlst dich auch von mir ausgeschlossen. Deshalb machst du dir schon jetzt über all diese Dinge Sorgen, dabei haben wir endlich den Frieden erreicht.“ Langsam trat er näher und er scheute nicht wie sonst vor dem Anblick Atems nackter, dunkler Haut zurück.
 

„Das... das ist... Ja“, gab Atem schließlich zu.
 

Yugi blieb einen Schritt vor diesem stehen und er glaubte, von dessen Körperwärme umschlossen zu werden, als seien sie wieder eins. Er blickte vorsichtig hoch und sah, wie Atems Mundwinkel zuckten. Da umschlossen ihn warme, starke Arme und er mußte sich gegen Atem schmiegen. Seine Arme schlangen sich um Atems Taille, während sein Herz ihm im Kopf klopfte und das Blut in seinen Ohren rauschte. Sein Kopf war eine heiße Kugel auf seinen Schultern, doch Atem schien das nicht zu stören.
 

„Du hattest doch recht!“
 

„Was, wie?“ erkundigte Yugi sich verwirrt, als Atem sich zu ihm herunterbeugte.
 

„Du kannst mir helfen.“
 

Diese einfachen Worte, so leise gesprochen, ließen Yugi lächeln und er schloß die Augen, als er Atem noch mehr an sich drückte. Ohne darüber nachzudenken oder es bewußt entschieden zu haben, berührten sich ihre Lippen. Es war einfach das, was geschehen mußte, um ihrer beider Sehnsucht nach dem jeweils anderen zu stillen.

Yugi spürte ein Kribbeln im Bauch und eine Wärme im Herzen wie schon seit langem nicht mehr und instinktiv wußte er, daß es Atem nicht anders ging.

Immer wieder fanden ihre Lippen zueinander, um die Dinge, die von keinerlei Wort beschrieben werden konnten, auszusprechen. Irgendwann lagen sie gemeinsam in Atems Bett, das Chaos am Boden ignorierend.

Sie sahen nur noch den jeweils anderen, bis glückliche Erschöpfung sie schließlich einschlafen ließ.
 

Am nächsten Morgen erwachte Yugi, angeschmiegt an warme, seidige Haut, von einem leisen Zirpen. Nein, eher... Zwitschern. War es dafür nicht schon etwas spät im Jahr? Während er noch im Halbschlaf darüber nachdachte, hörte er ein merkwürdiges Geräusch, wie von Klauen auf Holz. Ihm fiel der Vogel ein... Mist, sie hatten ihn gestern abend in der Küche vergessen und...

Hastig setzte Yugi sich auf, was Atem leise brummeln ließ, bevor dieser weiterschlief. Auch Yugi dachte, er würde noch im Traumland weilen, als er den menschengroßen Vogel sah, der vor dem Bett stand. Ein langer, spitzer Schnabel, darüber schwarze, amüsierte Augen. Auf dem Kopf saß ein Büschel Federn und ein langer Schweif glitt über den Boden. Es war ein wirklich langer Schweif, denn der Vogel hatte lange, dünne Beine und einen langen Hals.

„Ein... Phönix...“, wisperte Yugi verblüfft.

Der Vogel zwitscherte leise und für Yugi hörte es sich zustimmend an. Der Phönix sprang mit einem Satz auf Atems Schreibtisch und vor ihm öffnete sich das Fenster wie von selbst. Die Morgensonne glänzte auf den Federn des Tieres wie Feuer, als es die weiten Flügel ausbreitete und hinaus in den Himmel flog.

Zurück blieb ein Geruch nach Fisch... und das Geräusch von einstürzenden Mauern.

Yugi lächelte, als er verstand.
 

Der König war tot. Lang lebe der König.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jyorie
2013-04-15T15:22:26+00:00 15.04.2013 17:22
Hi ^_^

du hast ja auch an dem WB teilgenommen, und da wollte ich doch mal schauen^^
Wow und ich bin total begeistert! Die Geschichte war so süß und warm wie die
beiden sind. Das ist wirklich der verdiente Platz 1, dein OS ist so niedlich. Es hat
richtig Spaß gemacht es zu lesen.

Ich freu mich, das die beiden wieder zueinander gefunden haben.

(War der Phönix eigentlich aus den Kastanien gekommen?)

CuCu Jyorie



Ich finde es total schade das du bisher noch kein einziges Kommi erhalten hast hierauf


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