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Unverhoffte Nachbarn

Wenn Nachbarn interessant werden
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Loyalität

Zwei Monate später war Catherine auf dem Heimweg von einem anstrengenden Tag in ihrem Labor. Ihre Bachelorarbeit war mittlerweile in den letzten Zügen. Nachdem sie ihr achtwöchiges Projektpraktikum unter Professor Niels Leitung absolviert hatte, hatte sie direkt mit ihrer Arbeit beginnen dürfen und nächsten Monat lief ihre Abgabefrist ab.

Da Sherlock und John sie auch noch weiterhin komplett ignorierten, egal wo sie sich zufällig über den Weg liefen, verbrachte sie quasi ihre gesamte Zeit im Labor um zu Schreiben oder Daten auszuwerten. Sie wusste ohnehin nichts anderes mehr mit ihrer Zeit anzufangen und ging nur nach Hause um zu Duschen und sich etwas anderes anzuziehen.

Natürlich wusste sie mittlerweile, dass Moriarty wieder da war. Sie war nicht blind. An dem Tag, an dem sie Sherlock im Eiscafé getroffen hatte, war auf wundersame Art und Weise ihr Wlan wieder verfügbar gewesen und auch ihr Satellitenempfang. Mochte Sherlock doch denken von ihr, was er wollte, Catherine war nicht so dumm, als dass ihr entging, dass er dahinter gesteckt hatte. Clever von ihm. Sie las keine Zeitung und da sie auch nie mit ihren Mitarbeitern sprach, hatte er sie so von sämtlichen medialen Informationsquellen abgeschnitten. Bis zu jenem Tag hatte sie wirklich nichts von Moriartys Einbrüchen in den Tower, Pentonville Gefängnis oder der Bank of London mitbekommen. Ahnungslos und taub war sie durch London gestreift und hatte nichts von dem riesen Wirbel mitbekommen, der geherrscht hatte.

Allmählich begann sie auch begreifen, warum Sherlock sie verstoßen hatte. Sie war ihm nur ein Klotz am Bein, eine Last, eine Bürde, die er zuvor noch hatte ertragen können, doch nun würde sie ihn behindern und deshalb hatte er sie verstoßen. Im Kampf gegen Moriartys war sie zu nichts nütze. Sherlock hatte sie aus dem Grund verstoßen, den er ihr damals genannt hatte, er brauchte sie nicht mehr, sie war lästig. Sie war schlicht und ergreifend ein Störfaktor.

Ein Ruck ging durch den Wagon, als die U-Bahn an der Haltestelle Bakerstreet stehen blieb und einige der Reisenden stiegen aus. Auch Catherine war von ihnen und sie ging die Treppe hinauf. Ihre Umhängetasche schlug immer wieder unangenehm gegen ihren Oberschenkel. Eine kleine, feine Narbe zog sich dort über die Haut, wo sie einst die Kugel abgefangen hatte, doch diese würde verblassen nach einiger Zeit.

Es war bereits dämmrig geworden und Catherines Magen knurrte, doch ihr war momentan nicht nach Essen zumute. Generell verspürte sie in letzter Zeit für gar nichts so richtig Motivation. Alles erschien ihr fad, langweilig, unnütz.

Sie ging die Straße entlang an diesem späten Abend. Die Sonne war bereits untergegangen und die Bakerstreet lag im schwummrigen der Straßenlaternen vor. Einige Menschen liefen in ihre Mäntel gehüllt durch die Straße, doch an sich war es ruhig. Catherine zog ihren Kragen hoch und schlang die Jacke enger um sich. Obwohl es mittlerweile Mitte Juni war, waren die Abende ungewöhnlich mild und frisch.

Nur noch wenige Schritte trennten sie von ihrer Wohnung, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch hörte. Catherine hielt inne, als sie dumpfes Flüstern und ein Klackern hörte. Irritiert runzelte sie die Stirn und überquerte kurz die Straße. Es kam von der Seitengasse neben 221b, wo die Mülltonnen standen. Catherine hatte ein seltsames Gefühl dabei und wollte mal nachsehen. Je näher sie kamen, desto besser vernahm sie jugendliche Stimmen, die gedämpft mit einander flüsterten. Auch konnte sie im Schatten drei Gestalten ausmachen, die sich ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten.

„Hey…was macht ihr da?“, rief sie ihnen zu und lief auf die Jungen zu. Sie drehten sich um. Drei waren es an der Zahl und offensichtlich Teenager, um die 15, die einen auf dicke Hose machen wollten.

Die Gruppe drehte sich überrascht zu ihr um. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass Jemand sich um sie scheren würde. London war ja bekannt dafür, sich nur für seine eigenen Belange interessieren- obwohl das wohl für so ziemlich jede Großstadt zutraf. Man kannte sich nicht mehr und man scherte sich auch nicht mehr um das, was um einen rum geschah oder einen nicht direkt betraf.

„Verdammt, wir sind aufgeflogen!“, fluchte wohl der Größte von ihnen- Catherine konnte es nicht so genau sagen. „Rückzug, Leute!“

Die Gruppe wirbelte herum und wollte in die andere Richtung fliehen. Catherine rollte mit den Augen. Dummköpfe. Das war schließlich eine Sackgasse. Sie seufzte und trat in die Seitengasse um sich diesen dämlichen Jungenstreich anzusehen, den die Jungs an der Hauswand von 221b vollführen wollten. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt geahnt, was passieren würde, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt. Obwohl, nein. Selbst dann hätte sie sich eingemischt, denn was die Jungen versucht hatten, war wirklich an Feigheit und Dummheit nicht zu überbieten.
 

~*~
 

Eine halbe Stunde später trat John mit geschocktem Gesichtsausdruck in die Küche seiner Wohnung und stellte die Einkaufstaschen etwas ruppig ab. Sherlock lag in seiner üblichen Haltung auf der Couch und hatte die Augen geschlossen. Vermutlich überlegte er, was Moriarty planen könnte, schließlich hatte sich dieser seit zwei Monaten nicht mehr gerührt. Vielleicht versuchte er sie ja in Sicherheit zu wiegen? John schüttelte kurz den Kopf und verstaute lieblos die verderblichen Nahrungsmittel im Kühlschrank, denn seine Gedanken kreisten um etwas, was er soeben auf der Straße beobachtet hatte und er wollte darüber sprechen.

Er ging ins Wohnzimmer zu seinem besten Freund und ließ sich in einen der Sessel fallen, legte eine Ausgabe der Sun neben sich auf den Tisch und räusperte sich laut, doch Sherlock nahm keine Notiz von ihm.

„Wie lange soll dieser Wahnsinn eigentlich noch weitergehen?“, fragte er schließlich in die Stille hinein. Sherlock blinzelte und sah ihn aus weit entfernten Augen an.

„Was?“

„Wie lange soll dieses dämliche Spiel weitergehen? Wie lange müssen wir diese Spannung noch aushalten, Sherlock?“

„Keine Ahnung…“, erwiderte Sherlock schlicht und war dabei sich umzudrehen, als er innehielt. Er drehte sich wieder zu John zurück und setzte sich diesmal aufrecht hin. Seine Augen betrachteten ihn kurz nachdenklich, dann runzelte er die Stirn.

„Was ist auf der Straße vorgefallen?“ Wieder kam dieser suchende Blick und er neigte den Kopf. „Sie haben doch nicht mit Catherine gesprochen, oder? Wir waren uns doch schließlich einig, dass…“

„Nein, habe ich nicht.“, fuhr John augenrollend dazwischen, als Sherlock wieder anfangen wollte sämtliche Argumente aufzuzählen. Sherlock runzelte seine Stirn noch mehr und blickte John fragend an.

„Was ist dann passiert?“, fragte Sherlock. John zögerte kurz, bis sich auf die Lippen und schloss die Augen.

„Catherine ist verprügelt worden.“, flüsterte er leise. Er hatte da gestanden und gesehen wie sie dafür verprügelt worden war, weil sie selbst jetzt noch an Sherlock glaubte und für ihn einstand. Er hatte gewusst, dass er sich nicht einmischen könnte, denn sonst würde er sie in Moriartys Schusslinie bringen, aber es war so schwer gewesen mit anzusehen wie die Jungen auf sie eingetreten hatten und sie sich noch nicht einmal gewährt hatten.

Überraschenderweise weitete selbst Sherlock für einen kurzen Augenblick seine Augen, doch es verschwand schnell und er tat bewusst desinteressiert.

„Und warum sollte mich das dann interessieren?“

„Sie wissen ja das Beste noch gar nicht.“, erwiderte John in etwas grimmigen Ton und imitierte dabei den Taxifahrer. Sherlock zog beide Augenbrauen hoch und sah ihn fragend an. Ihm war natürlich entgangen worauf er sich mit diesem Satz bezogen hatte.

„Catherine ist wegen Ihnen verprügelt worden.“, sagte er nüchtern und seine Miene zeigte Besorgnis und Missmut zu gleich. Der ganze Krieg, die Ungewissheit und das Warten zerrten an Johns Nerven und er hatte das Gefühl kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. Er wusste wozu Moriarty fähig war, schließlich hatte er es selbst miterlebt, am eigenen Leib erfahren, und wenn Moriarty sich Zeit ließ, dann stand etwas Schreckliches an und die ersten Auswirkungen mochten sie vielleicht schon erreicht haben.

Sherlock sah ihn nun ernsthaft überrascht und verwirrt an. Eine Augenbraue war hochgehoben und er hatte diesen typischen: ‚Und?‘ Blick. Er zuckte sogar leicht mit den Achseln.

„Warum sollte sie wegen mir verprügelt worden sein?“ John seufzte und rieb sich über die Augenbrauen.

„Ja, warum wohl…ich frage mich wirklich warum? Sie haben es also noch nicht mitbekommen?“

„Was habe ich nicht mitbekommen?“ Sherlock sah ihn genervt an. Er mochte es nicht, wenn man nicht mit der Sprache rausrückte. John rollte kurz mit den Augen, griff nach der Sun Ausgabe und rollte sie ein wenig, sodass er in der Lage war sie zu werfen. Sherlock fing sie auf und entrollte sie mit gerunzelter Stirn.

„Großer Exklusivbericht: Die Wahrheit über Sherlock Holmes…der von ihn bezahlte Schauspieler Richard Brooke packt aus.“, zitierte John die Schlagzeile und warf ihm einem seltsamen Blick zu.

„Wie war der Name?“, fragte Sherlock, der plötzlich selbst einen seltsamen Blick bekam.

„Richard Brooke.“, wiederholte er und sah Sherlock fragend an. Dieser Ausdruck in den graublauen sagte deutlich, dass Sherlock etwas entdeckt hatte, etwas wichtiges, doch wie so oft hatte er keine Ahnung, warum der Name wichtig war.

„Sagt der Name Ihnen etwas?“

„Nein…“, flüsterte er leise und schloss die Augen. „Nein, nicht wirklich.“

„Aha…“, sagte John nur leise, der wusste, dass er keine Antwort erhalten würde, selbst wenn er fragte. Dann öffnete Sherlock doch die Augen und begann kurz den Bericht zu lesen, der über ihn bald veröffentlich werden sollte. Natürlich entging das seinem überlegenen Verstand nicht, was John eigentlich damit hatte sagen wollen.

„Und was soll das mit Catherine zu tun haben?“

„Sie verstehen es nicht? Wirklich nicht? Der großartige Sherlock Holmes sieht die Verbindung nicht.“, sagte John spöttisch und erntete ein frustriertes Schnauben.

„John! Reizen Sie mich nicht. Nicht heute.“ Er seufzte.

„Sie kennen Catherine.“

„Ein bisschen.“, erwiderte Sherlock in seinem typischen Ton und wog den Kopf hin und her.

„Ist sie der Typ, der sich prügelt oder der verprügelt wird?“, sagte John ruhig und sah Sherlock an. Etwas lag in seinem Blick, dass Sherlock nicht beurteilen konnte. Etwas wütendes, brüskiertes, doch seine Stimme war vollkommen ruhig geblieben. Dieser zögerte kurz, dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf.

„Wohl kaum…und? Worauf wollen Sie hinaus? Was soll das mit mir zu tun haben?“ Er verstand es wirklich nicht. Sherlock Holmes verstand wirklich nicht, wie all das zusammenhing.

„Sie haben den Artikel gelesen.“

„Ja, hab ich. Unwichtig.“

„Nicht unwichtig.“, fuhr John genervt dazwischen. „Alles hängt zusammen.“

„Sie genießen das.“, sagte Sherlock gereizt.

„Ein bisschen.“

„Worauf wollen Sie hinaus, John? Wie hängen die Tatsache, dass Catherine verprügelt wurde und der Zeitungsartikel zusammen?“, fragte der Dunkelhaarige und sah seinen Mitbewohner nachdenklich an.

„Als ich vom Einkaufen zurückkam, hörte ich ein aufgebrachtes Gespräch von der Seitenstraße.“, begann John ruhig und er beobachtete Sherlock genau. Er war angespannt. Seine Hände waren stark verschränkt und seine Lippen zusammengepresst. Ihm war es nicht egal, es hatte ihn getroffen. Das war nicht zu übersehen. Vermutlich hatte er längst selbst erkannt, was der Zusammenhang war, doch er versuchte durch Desinteresse die Sorge zu überspielen.

„Und? Kommen Sie endlich zur Sache.“

„Ich wollte nachsehen, ob alles in Ordnung war und ich sah wie Catherine von drei Teenagern bedrängt wurde. Sie hatten sie gegen die Wand gedrückt. Ich änderte meine Position um einen besseren Überblick zu bekommen, weil natürlich ich mich nicht einmischen konnte. Sonst würd ich ja wieder eine Verbindung zwischen uns ziehen. Ich hörte wie die Jungen sie anschrien, beschimpften und provozierten, doch sie blieb zu ruhig, was die Wut steigerte. Sie wollten Sherlock Holmes ist ein Lügner auf unsere Häuserwand sprühen und Catherine hat sie aufgehalten und Sie verteidigt, Sherlock.“

Sherlock sah ihn überrascht, aus großen Augen an. Damit hatte er nicht gerechnet, noch nicht einmal im Entferntesten. Sogar sein Mund stand leicht offen. Ungläubig sah er John an, der seinen Blick ernst erwiderte.

„Was hat sie?“

„Sie verteidigt. Die Jungs haben den Schwachsinn geglaubt, der in der Zeitung stand.“ John schüttelte den Kopf. „Und Catherine hatte alles versucht um Sie zu verteidigen. Egal was ihr entgegengeworfen wurde, egal wie sehr sie beleidigten, Catherine hielt zu Ihnen und argumentierte sachlich…ok, manchmal mit ihrem typisch sarkastischen Unterton. Als dann der Anführer meinte, dass Niemand zu Ihren Deduktionen in der Lage wäre, meinte sie nur schlicht: Sherlock kann. Erst da verstanden sie, dass Catherine uns kennt und warfen ihr vor, mit einem Lügner unter einer Decke zu stecken, doch sie ließ sich nicht abbringen und sie deduzierte die Jungen um zu zeigen, dass es möglich ist. Natürlich nicht so gut wie Sie, eher Kleinigkeiten, aber es reichte wohl, denn statt ein weiteres Argument anzubringen, wurde der Anführer wütend und schlug sie so fest ins Gesicht, dass sie Blut spuckte. Nachdem Catherine dann noch immer nicht bereit alles zurückzunehmen und Sie weiterhin verteidigte, wissen Sie, was dann geschah? Sie haben sie zu Boden gestoßen, auf sie eingetreten und sie bespuckt. Bespuckt, Sherlock!“

Johns Tonfall war fassungslos und er schüttelte erneut den Kopf. Es war ihm anzusehen wie gerne er Catherine zu Hilfe geeilt wäre, doch er hatte es nicht gekonnt. Hätte er gezeigt, dass Catherine doch noch eine Rolle in ihrem Leben spielte, hätte er Moriartys Aufmerksamkeit wecken können und das war das Letzte, was die junge Frau gebrauchen konnte. Das Einzige, was er hatte tun können, war das Geschehen zu beobachten und, wenn nötig, einen Krankenwagen anonym zu rufen. Zum Glück hatte sich Catherine zwei Minuten nachdem die Jungen verschwunden waren, wieder aufgerappelt und war stöhnend in ihrer Wohnung verschwunden. Allzu schlimm hatte sie also nicht verletzt sein können. Dennoch hatte es vollkommen seinem hippokratischen Eid und dem Arzt in sich widersprochen sie liegen zu lassen, aber er hätte es nur noch schlimmer gemacht, wenn er ihm nachgegeben hätte.

„Ich…“ Sherlock wusste nicht was er sagen sollte. Er hätte nie gedacht, dass Catherine so etwas für ihn tun würde, vor allem nicht nachdem was er ihr angetan hatte. Er sah hilflos zu John, der ihn nur mit steinerner Miene beobachtete.

„Ich frage also nochmal, Sherlock. Wie lange soll das noch weiter gehen? Wie lange müssen selbst die darunter leiden, die Sie eigentlich verbannt haben? Selbst jetzt muss sie noch leiden.“, sagte John ruhig nach einigen Minuten, wo nur Stille wie eine Decke über dem Wohnzimmer geherrscht hatte. Sherlock blieb verwirrt und die Gedanken rasten durch seinen Kopf und er versuchte all das, was er erkannt hatte zu verarbeiten, als er bemerkte wie John in die Küche gehen wollte.

„John…“, rief er ihn leise zurück und überlegte kurz, ob er die Frage wirklich stellen sollte, auf die er einfach keine Antwort fand. „Warum tut sie das?“

Sein Freund blieb stehen und sah ihn an.

„Warum tut sie das, obwohl ich ihr allen Grund geliefert habe, um mich zu hassen? Warum verteidigt sie mich trotz allem?“ Hilflos blickte er zu ihm auf und seine Augen funkelten kurz verzweifelt. Genau das hatte er gewollt. Catherine sollte ihn hassen, für immer vergessen, denn so würde sie nicht mehr leiden.

John seufzte und kam zurück, ließ sich in den Sessel fallen. Ruhig, schon fast mitfühlend, sah er den überforderten Consulting Detective an.

„Weil das ist nicht so einfach ist…Hass und Liebe…sind die stärksten Emotionen, die ein Mensch empfinden kann. Diese kann man nicht einfach hervorrufen oder durch Manipulation erreichen, Sherlock. Menschen benutzten das Wort Hass sehr schnell, viel zu schnell. Hass empfindet man erst, wenn man jeglicher Menschlichkeit, Würde oder Ähnlichem beraubt wird. Erst dann, empfindet man vielleicht dieses Gefühl. Da der Mensch aber eigentlich sozial veranlagt ist und der Hass sehr destruktiv ist, ist er eher kontraproduktiv und wird meist gemieden.“

„Aber…“ Sherlock blinzelte und seufzte leise. „Genau das hab ich doch getan. Ich habe ihr alles unterstellt, was für mich schrecklich ist. Dass sie unwürdig ist, dass sie dumm, nervig und langweilig sei. Ich habe sie bedroht, verstoßen und angegriffen und dennoch…“

Er brach ab. Und dennoch kämpfte sie für ihn. So etwas hatte Sherlock noch nie erlebt. Niemals war er in solch einer Situation gewesen und erst recht nicht, hatte Jemand trotz all seiner bewussten Abweisung darüber hinweg gesehen. Niemand war jemals bereit gewesen für ihn zu kämpfen, niemand hätte sich früher darum geschert, was andere von ihm dachten. Schließlich hatte er es selbst auch nie. Warum also tat es ausgerechnet Catherine es? Nachdem er sie so sehr verletzt hatte?

Sherlock hatte John nichts von seinem Gespräch mit Catherine erzählt, dass sie vor zwei Monaten geführt hatten. Einerseits, weil er ihm nicht hatte eingestehen wollen, dass er sein eigene Logik nicht hatte durchziehen können, andererseits, weil er ihn nicht weiter beunruhigen wollte. Ja, er war ein Risiko damit eingegangen, dessen war er sich bewusst gewesen. Wieder einmal hatten in Bezug auf Catherine seine Gefühle über die Rationalität gesiegt und das machte ihn nervös, unruhig und auch im gewissen Maß wütend. Andererseits gingen ihm ihre Worte im Eiscafé nicht aus dem Kopf. Er hatte sie wirklich um ein Versprechen gebeten…er hatte noch nie jemanden ein Versprechen abgenommen. Was ging hier nur vor?

„Catherine ist ein sehr loyaler Mensch…“, erklärte John ruhig um Sherlock Verwirrung zu zerstreuen und machte dabei eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. „…und egal was sie sagt, sie mag Sie, Sherlock.“

Der Dunkelhaarige sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an, versuchte sich zu kontrollieren und die ruhige Maske wieder aufzusetzen, doch Johns Statement schien so lächerlich, absurd, ungläubig, dass er gar nicht wusste wie er reagieren sollte. Er fühlte sich wie vor dem Kopf geschlagen.

„Unsinn…“, sagte er schließlich, als er seine Stimme wieder gefunden hatte. „Catherine mag mich nicht…“

„Doch, tut sie.“, unterbrach sein Mitbewohner ihn und seufzte. „Und Sie mögen sie auch, sonst würden Sie nicht all das hier auf sich nehmen, aber Sie beide sind zu stur um das einzugestehen. Ich beobachte das schon eine ganze Weile.“

Sherlock sah ihn nur sprachlos an.

„Das erklärt aber noch nicht…“

„Doch, tut es. Wenn man Jemanden mag, dann verteidigt man diesen gegenüber übler Nachrede, besonders, wenn diese falsch ist. Man steht für seine Freunde ein und kämpft für sie. Als Catherine hierher herüber kam um mich zu fragen, warum Sie sie verbannt haben, da sagte sie mir wie sehr sie alles vermisst. Wie sehr sie uns vermisst, Sherlock. Sie ist völlig fertig und wenn ich nicht wüsste, dass Sie einen verdammt guten Grund dafür haben, würde ich wütend sein.“

John stand auf und sagte, während er nun wirklich in die Küche ging:

„Deshalb betone ich noch einmal, bitte überlegen Sie sich genau wie weit Sie dieses Spiel spielen wollen, Sherlock. Es hängt längst nicht mehr nur Ihr Glück davon ab. Einige Menschen leiden bereits jetzt schon darunter, obwohl es noch nicht einmal angefangen hat. Ist das die Zerstreuung wert?“
 

~*~
 

Catherine ließ sich stöhnend und ächzend aufs Bett fallen.

„So ein verdammter Mist!“, fluchte sie, als ein gleißender Schmerz ihre Seite durchfuhr. Sie krümmte sich und rollte sich in Embryohaltung zusammen. Ihre gesamte Seite brannte von den Tritten, die ihr die Jungs zugefügt hatten, doch es war nichts gebrochen oder geprellt, höchstens verstaucht. Andernfalls wär sie nicht in der Lage gewesen, sich zurück in ihre Wohnung zu schleppen. Direkt hatte sie sich einen Kühlakku aus dem Gefrierfach geholt, in ein Handtuch gewickelt und gegen ihre am stärksten pochenden Rippen gepresst und schloss nun die Augen.

So etwas Dummes war ihr nun wirklich noch nie unter die Augen gekommen. Argumentieren hatten die Jugendlichen wirklich noch nie gelernt. Sie zischte, als sie sich kurz leicht bewegte, um ihr Kopf auf das Kissen zu legen. Auch ihre Wange pochte immer noch schmerzhaft und eine Spur von Blut war mittlerweile dort getrocknet. Vermutlich hatte sie auch ein blaues Auge, so genau konnte sie das vor lauter Schmerzen nicht mehr ausmachen.

„Verdammtes, dummes Pack.“, fluchte sie erneut. Was hatten die denn gedacht? Dass sie mit Prügel eine Meinungsverschiedenheit lösen könnten? Es zeigte doch nur wie armselig sie waren. Es war so leicht gewesen zu erkennen, dass der Anführer von ihnen nie Zuwendung und Aufmerksamkeit in der Kindheit erfahren hatten, dass er mit sämtlichen Problemen allein gelassen worden war und vermutlich früher gehänselt worden war. Weshalb sonst sollte er so krampfhaft nach Aufmerksamkeit suchen und sich wichtigmachen? Auch seine Wortwahl, Artikulation hatte deutlich gezeigt aus welch schwierigen Verhältnissen er gekommen war. Dafür brauchte man wirklich nicht Sherlock sein, doch offensichtlich hatte sie einen wunden Punkt getroffen und hatte nun dafür die Quittung bekommen.

Warum hatte sie sich überhaupt eingemischt? Warum hatte sie wie ein Löwe Sherlock verteidigt? Sie hätte einfach weitergehen können. Zunächst hatte sie sich ja nur gewundert, was das für ein seltsames Geräusch gewesen war, als sie es dann erkannt hatte, hätte sie einfach unverrichteter Dinge in ihre Wohnung gehen können. War ja schließlich längst nicht mehr ihre Angelegenheit. Allerdings war das in diesem Moment keine Option für sie gewesen. Das hatte noch nicht einmal zur Debatte gestanden. Als sie im Dämmerlicht erkannt hatte, was die Jungen an die Häuserwand hatte schreiben wollen, da hatte sie sofort rot gesehen und sie war ohne weiter darüber nachzudenken dazwischen gegangen.

Selbst als sie sie bedroht hatten, hatte sie keinen Moment gezögert und war nicht von ihrer Meinung abgewichen. Teils aus reiner Bockigkeit, andererseits aus ehrlicher Missachtung gegenüber diesen dummen Lügen. Da lasen sie so etwas in der Sun und glaubten es ohne es auch nur im Ansatz zu hinterfragen. Grad die Sun! Catherine schnaubte. Ungebildeter Haufen. Mit dem größten Klatschblatt in England brachte eine reißerische Story, das musste einfach wahr sein. Nein, sie denken natürlich nicht an ihre Zahlen, nein, sie betrieben ehrlich Journalismus, der sich nur auf Fakten berief. Wie dumm konnte man eigentlich sein? Warum checkte denn keiner, dass die ganze Alles nur erfunden Argumentation total unschlüssig war. Wenn Sherlock wirklich all das vorgetäuscht hätte, wirklich nur hätte, und dann noch Beweise bewusst so auslegt hätte, dass seine Schlussfolgerungen schlüssig schienen, dann musste er doch intelligent sein und genug Wissen haben. Warum sollte er dann also nicht in der Lage sein, sie einfach schlicht zu lösen? Das war doch haarsträubend.

Catherine schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken. Natürlich war es bequemer zu glauben, dass Sherlock ein Lügner war. Man fühlte sich nicht unzulänglich und genau deshalb würden so viele die Pille schlucken, gerade die Öffentlichkeit, die Sherlock nicht kannte. Genau deshalb brauchte er nun Menschen, die umso stärker, lauter für ihn kämpften und trotz allem, hatte Catherine, ohne darüber nachzudenken, beschlossen einer dieser Wächter zu sein.

Wann war es nur soweit gekommen? Wann hatte sie beschlossen ihm gegenüber loyal zu sein, egal was da kommen möge? Catherine wusste es nicht. Sherlock hatte sie verstoßen, sie verletzt und behandelt wie ein wertloser Haufen Dreck und nun verbannt, weil sie bloß ein Klotz am Bein war. Als sie das während der letzten zwei Monate erkannt hatte, war sie umso verletzter gewesen. Das war das Letzte was sie jemals hatte sein wollen. Catherine hatte niemals jemanden Umstände machen wollen und doch hatte sie es trotz aller Bemühungen nicht verhindern können. Verdammt!

Sie schloss die Augen und dachte an das Geigenspiel zurück, das sie vor fast genau drei Monaten gehört hatte. Das hätte sie besser nicht tun sollen. Die Wunden ihrer Seele begannen nun stärker zu schmerzen, als jede körperliche. Sie war schon lange verletzt, verwundet, länger, als sie es selbst hatte wahrhaben wollen und vor allem war sie es stärker, als gedacht. Bei den Erinnerungen an diese tröstliche Melodie, kamen auch all die glücklichen Erinnerungen zurück. Die Gespräche mit John bei einem Kaffee, das Herumstreiten mit Sherlock, die Diskussionen mit den beiden, die Zeit im Labor. Sie war glücklich gewesen. Obwohl gar nichts in ihrem Leben der Norm entsprochen hatte und wohl keiner verstanden hätte, warum, so war sie es gewesen.

Nun aber stand eine Bedrohung bevor, eine, die ihr gesamtes, geschätztes Leben zu zerstören schien und sie durfte noch nicht einmal dafür kämpfen. Sie musste tatenlos zusehen und hoffen, dass Sherlock gewann, doch er selbst schien sich nicht sicher zu sein. Moriarty war wirklich ein harter Gegner, ein sehr manipulativer und er wusste genau wie man am besten spiele. Catherine hatte bemerkt, dass Sherlock mit allem mittlerweile rechnete, dass seine Vorfreude und zeitgleich seine Sorge ihn zerrissen. Noch nie hatte sie ihn so gesehen wie in dem Eiscafé und dass er ihr dieses Versprechen abgerungen hatte, zeigte doch nur zu deutlich wie verzweifelt er war. Er hatte sie schließlich verbannt und doch wieder an sich gebunden, falls er diese Welt verließ. Womit er wohl stark rechnete, denn sonst hätte er nicht gefragt und auch Catherine hatte diese beschissene Ahnung bekommen, während er ihr von ihm erzählt hatte. Hoffentlich täuschte sie sich!

Catherine drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Hoffentlich würde Sherlock am Ende dieses Krieges über sie lachen und ihr sagen wie dumm sie denn gewesen wäre zu glauben, dass er solch einen Wettstreit verlieren könnte. Sie betete dafür, dass dem so sein würde.

Sie schloss die Augen und schlummerte ein. Dass das Gewitter, was sie seit Monaten spürte, sich in den nächsten zwei Tagen entladen und in einem gewaltigen Paukenschlag enden würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch Niemand in der Bakerstreet. Zwei Tage würden ihnen noch im Sonnenschein bleiben, bevor schwarze Wolken ihre Welt verhängen würden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mindpalace
2013-05-30T20:56:50+00:00 30.05.2013 22:56
Und der Showdown rückt näher...


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