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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Gold in den Augen

Knurrend öffneten sich die beiden Türflügel, und der Spalt warf frisches Licht in die zwei Räume der Kapelle. Er blieb im Eingang stehen und schwenkte die Holzblätter noch einmal hin und her, um festzustellen, dass sie ihre besten Tage weit hinter sich gelassen hatten, unter den Türflügeln so etwas wie Greise sein mussten, bei denen man nicht vorhersehen kann, wann es mit ihnen zu Ende geht – bloß, dass es damit nicht mehr so lange hin ist. Er sollte Maria vor diesem Zeitpunkt warnen, doch da er um die Ecke in den Wohnbereich spähte, registrierte er, dass er allein war. Ein bisschen Staub hatte sich bereits auf den glatten Oberflächen abgesetzt, als wäre dieses Haus verdammt dazu, alt und verlassen auszusehen. Maria bemühte sich, etwas daran zu ändern, doch alle Blumen, die sie mitbrachte und die in einer Gegend, in der die Blätter an den Bäumen nur zum Fallen geboren werden, rasch eingingen, täuschten nicht darüber hinweg, dass der Norden Arcadias eine Region des Abschieds war.

Auch gerade jetzt wählte sie wahrscheinlich wieder eine andere Gattung Blumen aus, von der sie sich erhoffte, sie würde ein paar Tage länger leben. Das taten sie nun häufiger, sie und Jo: Einkaufen. Eine beiläufige Folge seines Trainings stellte die komplette Befreiung der Wegesränder von Monstern dar, denn den wenigen, die noch übrig waren, graute es vermutlich davor, ihn dort entlangkommen zu sehen.

Wie gewohnt ruhte das Innere der ehemaligen Raststätte in ihrer für Maria charakteristischen Ordnung – nur eine Sache brach mit dem Stil: Auf dem Tisch lag ein Buch, aufgeschlagen, als hätte es jemand sehr eilig gehabt, die Kapelle zu verlassen. Wohl hätte er es mit keiner weiteren Aufmerksamkeit bedacht – doch nachdem er die ächzenden Türen geschlossen hatte, dauerte es nicht lang, da nahm sich ein Duft der leicht verstaubten Luft an, welcher ihn schließlich vor jenem Buch stoppen ließ.

Er kannte diesen Duft.

Sollte Maria gnädig geworden sein und ihm den rätselhaften Schlüssel zu seiner Vergangenheit offen dargelegt haben?

Er setzte sich und begann, durch die Seiten zu blättern. Jedes Mal, wenn eine Seite gewendet wurde, schien der ihm vertraute Duft aus dem Buch zu atmen. Was war es für ein Duft? Es war das Odeur der Farbe Weiß; weiß wie die Wäsche des Bettes, wie die warme Wäsche; das Odeur von Weiß und Wärme, einer Umarmung…

Von Geborgenheit.

Zurück auf jenen Seiten, die aufgeschlagen gewesen waren, las er. Die Geschichte handelte von einem menschlichen Wesen, das aus den Wolken stürzt. Vollkommen überfordert mit dem fehlerhaften Verhalten der Erdbewohner, sucht es einen Weg nach Hause, bis ihm ein weiser Greis erklärt, dass man, um zu leben, die sichere Wiege seiner Kindheit irgendwann verlassen muss.

Das Odeur einer wunderschönen Frau mit einem traurigen Lächeln, die ihm das Knie verbindet. „Hör auf zu weinen, Angelo“, tröstet sie ihn. „Du darfst nicht mehr weinen, hörst du?“

Es war das Odeur… einer Mutter.

Die Tür knurrte. Maria und ein Junge mit schneeweißem Schopf trugen das Licht des Tages mit hinein. Staubpartikel – wie um sie zu begrüßen – schwirrten umher. Maria nahm ihn wahr. „Oh! Bitte verzeiht. Es lag nicht in unserer Absicht, Euch zu erschrecken, jedoch so früh haben wir Euch nicht erwartet. Seid Ihr in Ordnung?“

„Ich hab’ ein Holzschwert bekommen!“, schien Jo erst jetzt festzustellen und wirbelte seine Errungenschaft stolz durch die Räumlichkeiten gegen nur für ihn sichtbare Feinde.

Wie aus einem Reflex fuhr er sich über das rechte Knie. Obzwar der Eingang halb offen stand, verflüchtigte der Duft sich nicht. Und als Maria die Taschen mit ihren Erwerben aus der Stadt abgestellt hatte und die Tür zuschob, wurde er nunmehr intensiv. Mit einer seltsamen Hitzewallung erkannte er, dass er den Duft nicht etwa aus seinem verschleierten Leben kannte, sondern von der Ordensschwester, die ihn wochenlang gepflegt hatte.

„Lest Ihr gerne?“, fragte Maria ihn hinsichtlich des Buches, vor welchem er noch saß. „Da haben wir beide etwas gemeinsam. Ich überlasse es Euch gerne, sofern Ihr mögt.“

Sie leerte die Taschen. Darauf, dass ein frischer kleiner Blumenstrauß zum Vorschein kam, wartete er erfolglos. Aber einen Wandteppich zog sie heraus, der, da sie ihn auf den Altar legte, mittels seiner tiefroten Farbe klar demonstrierte, wie erbleicht die alten Stoffe auf sowie unter dem Altar waren. Danach begab sich Maria zum einstigen Tresen des Inn-Habers, aus welchem sie eine ziemlich provisorische Küche gemacht hatte, und ordnete die bunte Vielfalt an Nahrungsmitteln.

„Gedenkt Ihr, uns heute ferner Gesellschaft zu leisten? So könnten wir gemeinsam zu Mittag speisen. Würdet Ihr mir wohl behilflich sein?“

Ohne seine Antwort zu brauchen, legte sie ihm das Gemüse und ein Messer hin. Kurz darauf war das leise Schneiden zwischen dem Aneinanderreiben der Küchenutensilien und Jos triumphalem Kampfgeschrei auszumachen.

„Ihr wirkt konfus. Ist etwas vorgefallen?“

„Nein.“

„Aber etwas beschäftigt Euch. Etwas Neues.“

Mangels unmissverständlicher Erkennbarkeit einer Frage fühlte er sich nicht verpflichtet, zu antworten.

„Warum zieht Ihr es stets vor zu schweigen?“

Er hielt inne. „Ist das hier oben eine ungeschriebene Regel, dass man ständig von sich erzählen muss?“

„Ihr sprecht von "ständig", wo Ihr es doch nicht einmal hin und wieder tut. Ihr tut es überhaupt nicht.“

„Womöglich wäre ich des Redens freudiger, wenn ich mich an etwas erinnern würde, über das ich reden kann. Doch ich erinnere mich nun einmal nicht.“

„Ihr gebt vor, seit Eurem Erwachen des Erfahrens nicht mehr fähig zu sein. Aber Ihr habt etwas unternommen und empfunden; Ihr tut es seither jeden Tag, wie sich kein Mensch, der lebt, täglichen Eindrücken zu entziehen vermag. Und dennoch lasst Ihr niemanden an Euren Gedanken und Gefühlen Anteil haben. Ihr seid sehr verschlossen.“

„Ist das eine Sünde?“

„Ich erachte es als bedauerlich und einen Verlust.“

Das Messer landete grob auf dem Tisch. „Bevor Ihr über mich urteilt, solltet Ihr Euch erst einmal selbst einer vergleichbar profunden Prüfung unterziehen!“

Marias Antlitz war das eines Jemanden, der mit allen Reaktionen gerechnet hat und auch zurechtgekommen wäre, außer mit dieser. Auch Jo war mittlerweile auf die Diskussion aufmerksam geworden.

„Ihr verbergt Euch in Eurer strengen Kukulle und hinter Euren gestellten Sätzen, doch obgleich Ihr derer mehr gebraucht als ich, erfährt man über Euch ebenso wenig! Ihr spielt anderen ein Theater und ahnt nicht, wie simpel es zu durchschauen ist! Allein Euer affektiertes Sprechen ist lächerlich!“ Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder und hob das Messer auf.

„"Affektiertes Sprechen"?“

„Wagt es nicht, mir weismachen zu wollen, Ihr würdet reden, wie Euch der Mund gewachsen ist. Ihr schätzt jeden Satz fünfmal ab, ehe Ihr ihn aussprecht, ist es nicht…?“

Ein scharfer Schmerz gebot seiner rücksichtslosen Tirade Einhalt. Ein Rinnsal kraftroter Flüssigkeit schlich seine Fingerkuppe hinab. Ehe er den letzten Satz wieder aufnehmen konnte, war Maria an seiner Seite – mit einem blassblauen Taschentuch, in das sie die unbedeutende Wunde hüllte. Sie seufzte wie über ein unbelehrbares Kind. „Ihr müsst vorsichtig sein. Auch ein kleines Messer kann großen Schaden verursachen. Tut es sehr weh?“

Er schaute zu Jo, der sein Holzschwert wie ein Böses abwendendes Kreuz vor der Brust trug und mit geweiteten Augen zu ihnen hinüberstarrte. Ob der Junge den Anblick von Blut nicht vertragen konnte?

Es war ruhig. Doch es war keine friedliche Ruhe, wie für die Kapelle üblich. Da Maria seinem Blick begegnete und sich dessen bewusst wurde, bat sie ihn, das Tuch zu halten, und glitt anschließend zurück an ihren Kochplatz, wo sie die Töpfe sonderbar laut scheppern ließ, als hätte sie just die Lust gepackt, eine heitere Badinerie zu komponieren. Es war eine ziemlich miserable, wie er fand.

Bald erwachte Jo aus seiner Paralyse und tollte wieder schwertschwingend zwischen den Betten umher. In dem Moment legte er das Tuch ab und trat an die Seite der verwunderten Maria, die das übrige Gemüse schnitt. „Lasst nur. Ich übernehme wieder.“

Sie bewilligte, dass er ihr das Messer aus der Hand nahm. Das Pinken des Geschirrs beruhigte sich, sobald das sanfte Schälen es wieder begleitete.

„Ihr spracht von einer Tätigkeit, die Ihr für mich finden wolltet.“

„Bitte übt Euch noch in Geduld. Der einsame Norden Arcadias ist etwas arm an Stellenangeboten – schließlich gibt es hier nicht allzu oft tüchtige Menschen, die derart hilfsbereit sind wie Ihr es seid.“

„"Hilfsbereit"?!“, wiederholte er, und allein in diesem einen Wort steckte so viel Protest und Trotz, dass die Ordensschwester nicht anders konnte, als darauf zu reagieren – jedoch vollkommen unerwartet.

Es kündigte sich an wie Wasser, das einen Damm bricht: Mit einer Ahnung. Ein Zittern geht durch den Leib, und man fragt sich nach dessen Ursache. Noch ist nicht einmal klar, ob es bloß im eigenen Körper stattgefunden hat; man sieht sich um und sieht in die anderen Gesichter wie in Spiegel. Ein wenig heftigeres Zittern zieht sich durch den Boden, als würde die gesamte Erde frösteln – nun ist es eindeutig: Etwas wird geschehen, und man rätselt fieberhaft, was. Dann: Ein aufstoßendes, leises Zischen, das nicht mehr verebbt. Man sieht durchsichtige Fontänen, zart wie Zweige, zwischen den starken Steinen hervorbrechen. Wie im Zeitraffer florierende Pflanzen in einem fast vertikalen Garten sprießen immer weitere dieser wässrigen Lianen, und wo sie sich nahe sind, vereinen sie sich, werden breiter. Das Bollwerk knirscht und grollt. Das Zischen schwillt an. Der Boden bebt und das Wasser wird mutiger. Ein ganzer Stein wird aus der Mauer gesprengt, ein dicker Strahl schießt freudesprudelnd hinterher glitzernd ins Licht und nur Sekunden später brach Maria in ein kristallklares Lachen aus.

„Schwester…“ Doch dieses Mal machte nicht nur Jo große Augen. Sogar ihn hatte diese Reaktion der sonst so gefassten Frau völlig verdutzt. Der Anblick der erstmals entspannten Maria löste etwas Eigenartiges in ihm aus. Er beobachtete, wie sie sich unter Einsatz sämtlicher Kräfte ihrer sich heftig schüttelnden Gestalt darum bemühte, sich zu disziplinieren, und da es ihr gerade drohte zu gelingen, fiel ihr Blick auf ihn, was ihr erneut jegliche Beherrschung gänzlich entriss.

Jo, obwohl er den Anlass kaum begriffen hatte, beschloss, in das helle Gelächter seiner Erzieherin einzustimmen.

„Was!“, bellte er, ein Glühen unmittelbar hinter seiner Mimik zur Kenntnis nehmend. „Bin ich es?!“

„Ihr seid“, hechelte Maria, und als sie ihre Augen öffnete, zeigten sich diese feucht verschwommen, „ein wahrlich widerständiger, komplizierter Mensch, jedoch…“ Atemlos und mit einer auf die Brust gepressten Hand schritt sie zum Altar, wo sie Halt fand. Es bedurfte einiger Zeit, bis sie und Jo sich ganz beruhigt hatten. Die gemütliche Behausung driftete zurück in ihren Schlaf, und außerhalb zwitscherten die Vögel die Tonleitern hinauf. Maria breitete den Gobelin aus, den sie aus Arcadia mitgebracht hatte, und strich über das gestickte Bild der Großen Mutter. „…auch dieser Wandteppich besteht aus einem ebenso resistenten, komplexen Gewebe. Und ist er nicht wunderschön? Schaut nur! Gold ist sehr wertvoll und wird aus diesem Grund sparsam verarbeitet, doch wenn man genau hinschaut, dann sieht man es deutlich glänzen.“

Wie von einer plötzlichen Eingebung erfasst, eilte sie zu den Flügeltüren und zog sie auf. Sie knurrten. Es ignorierend, hob Maria den Gobelin empor und drehte ihn behutsam im Tageslicht, welches die im Zenit thronende Sonne durch den Eingang befahl und in dem die junge Frau nun stand. Und tatsächlich: Die Konturen der Göttin schimmerten und blitzten, sobald Maria mit dem Textil den richtigen Winkel traf.

„Die Große Hirtin schenkt jedem Ihrer Schafe einen goldenen Faden“, offenbarte ihm die Stimme der hinter dem roten Stoff Verborgenen überzeugt.

Sein Blick wandte sich ab von ihr und blieb an der steinernen Statue einer makellosen Göttinnendienerin hinter dem Altar haften, die Maria verblüffend ähnlich sah. „Nicht jedes Werk gelingt dem Knüpfer, und er wird sich hüten, das kostbare Gold in die gescheiterten Arbeiten zu verschwenden.“

„Ich sah ihn bereits“, raunte Maria, hinter dem Teppich hervorlugend. „Es hat gedauert, bis die Sonne der stillen Hoffnung ihr Licht auf ihn geworfen hat, doch nun glänzt der Goldfaden unübersehbar in Euren jadegrünen Augen.“
 

*
 

Jo brummte. Die kleinen Fäuste bebten; eine von ihnen hielt das hölzerne Schwert wie ein Banner, das in der Schlacht auf gar keinen Fall losgelassen werden darf. Die Anspannung des kurzen Körpers hatte auch Maria ergriffen, die hinter seinem Rücken stand und die Hände zum Gebet verschränkt hatte. Sie tat dies mit solch unbewusster Intensität, dass ihre Fingerkuppen ganz gerötet waren.

„Es wird dir gelingen! Du schaffst das, Jo!“

Die düster dreinblickenden Augen des Jungen wollten das Türblatt durchbohren. Dann stieß er einen Schrei aus, stürmte auf die Tür zu und riss sie auf.

Licht, japste er in Gedanken. Licht. Hinter dem Gebirge bettete die Sonne sich zum Schlummer. Bronzen leuchtete das Herbstlaub in ihren letzten Boten. Dampfdrosseln flatterten über ihn hinweg, und in der Ferne stapfte ein Greif über die Ebene.

Er lugte auf den Boden unter sich. Kein Weg. Er hatte den sicheren Pfad verlassen, und doch blieb alles friedlich.

Sein Glück war schwer zu fassen.

„Ich hab’s geschafft“, flüsterte er.

„Du hast es geschafft!“

„Mama. Papa. Ich hab’s geschafft…“

Es war der Abend, ab welchem Jos Spielzeugsoldaten die Welt jenseits der Kapellenwände erkundeten.
 

*
 

Sie fand ihn nahe dem Rand einer Abbruchkante, das Gesicht gen Nordwesten gerichtet. „Ich bin hier aufgrund meines eigenen Überlebenswillens“, antwortete er ihr auf eine verstaubte Frage. „Und ich bin nicht bedauerlich. Zu bedauern ist jemand, der sich aufgibt. Ich bin gefallen“, verriet er ihr unversehens. „Tief gefallen. Daran glaube ich mich zu erinnern. Jetzt drängt mich etwas fort von hier. Stimmen. Stimmen ohne Klang. Wie leere Echos aus weiter Ferne. Heute sind sie besonders laut.“

„Was sagen sie?“

„Sie sagen nichts. Sie schreien.“

„Hört nicht auf sie. Sie werden Euch von dem lichten Weg, den Ihr momentan bestreitet, abbringen.“

„Doch hört Ihr nicht blind auf die Stimme Eurer Göttin?“

„Gerade dies bedeutet, zu glauben: Dass man seine Gottheit nicht in Frage stellt. Zweifel an der Göttin versehrt das Vertrauen in Sie, aber aus welchem Grund muss der Gläubige an Ihr zweifeln, wenn es doch die auch unbewiesene Überzeugung von Ihrer Existenz ist, welche ihm Zuversicht und Kraft verleiht?“

„Schöpft man Zuversicht und Kraft, dann glaubt man nicht an eine Gottheit, sondern an sich selbst.“

„Nicht alle Menschen sind wie Ihr. Einige vermögen erst an sich selbst zu glauben, wenn sie auf eine überirdische, sie leitende und schützende Macht vertrauen können.“

„Das Vertrauen in eine unbewiesene Macht verleitet zum Leichtsinn und Übermut. Auf etwas zu bauen, das nicht da ist, ist wie eine Schlucht über eine Brücke passieren zu wollen, die man sich dahin vorstellt.“

„Verblendet mag auch jener sein, der zu sehr an sich selbst glaubt. Er verschließt seinen Blick für das ihn Umgebende.“

„Und der Glaube für die gesamte Realität!“

„Wäre ich dergestalt blind für die Realität gewesen, so wäret Ihr womöglich niemals wieder zu Euch gekommen“, trotzte Maria ihm. „Ganz gleich, ob es nun die Göttin war oder ein Zufall, der Euch in meine Obhut gab: Warum haltet Ihr an der Vergangenheit fest? Warum sehe ich Euch stets nur den Weg zurückblicken? Es wurde Euch eine weitere Chance geschenkt. Ihr könntet bleiben“, hauchte sie jäh. „Für immer.“

„Ihr verfügt knapp über die Mittel, um für Euch und den Jungen zu sorgen. Ich bin wieder gesund und Ihr habt keinen Vorteil, wenn Ihr mich hierbehaltet. Weshalb beharrt Ihr auf diese illukrative…?“

Doch Maria schmunzelte. Es war das Schmunzeln der Göttin Ihrer unzähligen irdischen Darstellungen aus Stein und Stoff – nur lebendiger. Warm. „Ihr scheint Euch dessen nicht bewusst zu sein, jedoch Jo mag Euch sehr. Seine Eltern zählen zu den Opfern der kurzen Herrschaft des Fürsten der Finsternis, und seither ängstigen ihn die Geschöpfe, die wir Monster nennen. Aber wisst Ihr? Er hat sich vorgenommen, so stark zu werden wie Ihr und keine Angst mehr zu haben. Heute ist er erstmals wieder ohne Begleitung hinausgegangen! Eure Stärke hat ihm die weite Welt außerhalb meiner winzigen Kapelle wieder zugänglich gemacht.“

„Und was ist mit Euch?“

Er spürte, wie sie innerlich zusammenzuckte. „Bitte fragt mich das nicht noch einmal.“

„Was ist mit Euch?“

Ihr Blick sank entlang seines Rückens bis zu seinen Stiefeln. „Nun, es… es ist nicht immer leicht, allein hier oben, mit einem Kind, das vieles noch nicht versteht…“

„Sprecht Euch aus, Maria.“

Ihre Augen verschwammen, ihre Pupillen zitterten. „Es… ist nicht leicht, stets für andere da zu sein… ohne jemanden zu haben, an dem… an dessen Schulter man sich selbst einmal lehnen darf.“

Er schnaubte. „Habt Ihr nie versucht, Euch an die Schulter Eurer Göttin zu lehnen?“

„Widmet man sein ganzes Dasein von Jugend an strikt der Kirche“, erklärte sie ihm oder sich selbst, „so geht das Bedürfnis nach den Annehmlichkeiten, welche die profane Welt für unentbehrlich erachtet, bald verloren. Man wird ein schickes, aber hohles Tongefäß; man vergisst, ein Individuum zu sein. "Ich bin ein Backstein der Mauer, die die Kirche in den Himmel trägt" – das haben wir schon damals, als junge Nonnen im Kloster gesungen.“

Tränen rollten ihre Wangen hinab. Es ist in der Tat nicht leicht, ein Engel zu sein, vermutete er. „Es tut mir Leid, dass ich Euch nicht trösten kann.“

Kirchen werden inzwischen so hoch gebaut, dass man den Himmel überhaupt nicht mehr sehen kann.

„Rydon.“

Er blieb stehen.

So stabil, dass es unmöglich ist, einen Backstein aus der Mauer zu brechen.

„Ihr könntet einem gewissen Rydon beim Bau des großen Turmes hier ganz in der Nähe zur Hand gehen. Er ist ein Meister im Umgang mit allerhand Materialien, ein großartiger Architekt. Er war es auch, der Jos Holzfiguren angefertigt hat. Ich bin mir gewiss, dass er Eure Unterstützung dankbar annehmen wird.“
 

Aber vielleicht muss man einfach nur einmal ganz fest dagegenschlagen, damit so ein Stein aus seiner Hypnose erwacht. Und fühlt.



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