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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Das halbe Quartett

Die alabasterweißen Strähnen sanken allmählich über jene himmelblauen Iriden, die nur die seinen sein konnten. Ein durch ihr Gedächtnis schießender Name sprengte den Riegel ihrer gefangenen Gefühle, und Jessica warf sich ihm entgegen, jauchzend um seinen Hals, dass es ihn fast aus dem Stand riss.

„Oh, Angelo! So viel Zeit ist vergangen! Wie konntet Ihr? Warum habt Ihr nichts gesagt?“

Der einstmalige Templer lachte, und anders denn während ihrer allerersten Begegnung in der Taverne von Simpleton vor beinahe zwei Dritteln eines Jahres schien ihr dieser Klang gerade das Wunderschönste zu sein, was sie zu hören vermochte. „Dann wäre doch das ganze Vergnügen auf der Strecke geblieben!“

„Ihr seid unfassbar!“ Einmal noch drückte sie ihn fest, bevor sie sich zügeln und ihn loslassen konnte, um ihm das Atmen wieder zu ermöglichen. Ihn zu sehen war, als befänden sie sich just wieder auf der Reise, welche sie über jegliche Kontinente ihrer ihnen damals so klein anmutenden Welt geführt hatte. „Es ist erstaunlich, dass wir uns erst jetzt wiedersehen – wo wir für dieses halbe Jahr doch unzertrennlich gewesen sind!“

„Ich vermute, wir alle hatten anschließend so einiges nachzuholen, was es uns schlichtweg nicht mehr gestattete, uns zu treffen.“

„Es ging alles so schnell. Ich habe das Gefühl, als ich mich umdrehte, wart ihr alle schon fort.“

„Bitte verzeiht mir, dass ich Euch einfach stehen gelassen habe.“

„Was macht das noch? Hier seid Ihr wieder vor mir! Ist das nicht großartig?“

„Ja, das ist es“, gluckste er, sich bereitwillig von ihrer sprudelnden Wiedersehensfreude anstecken lassend.

„Aber Angelo!“, staunte sie da.

Mit hoch erhobenen Brauen verfolgte er, wie sie ihren Oberkörper zur Seite kippte, um anscheinend auf seinen Rücken spähen zu können.

„Euer Haar!“

„Ah!“ Verstehend fuhr er sich über den Nacken, wo nicht länger ein schwarzes Seidenband einen langen, weißen Zopf zusammenhielt. „Ich hatte sie satt; ständig waren sie mir im Weg. Außerdem habt ihr ja allerhand Schabernack mit ihnen getrieben, während wir unterwegs waren. Als Yangus sie mir schließlich zu flechten versuchte, war meine Entscheidung endgültig gefallen. Nach seinem Experiment waren sie ohnehin irreparabel beschädigt.“

Jessica gefielen die Veränderungen nicht, wie sich solche in den zwei Monaten ihrer Trennung natürlich ergeben hatten. Veränderungen sind die Zeugnisse für den unaufhaltbaren Fortschritt der Zeit.

„Was denn? Mein neuer, fabelhafter Schnitt haut Euch nicht aus den Stöckelschuhen? Kein "Oh, Angelo! Ihr seht so bezaubernd aus; noch bezaubernder als früher!"? Nicht einmal ein "Sie ist so genial! Ich möchte auch solch eine tolle Frisur haben wie Ihr, Angelo!"? Ihr fallt mir nicht zu Füßen? Was ist nur los mit Euch, Jessica?“

Sie fand zu ihrem Grinsen zurück. „Was die Persönlichkeit betrifft, so seid Ihr jedenfalls immer noch der Alte!“

„Ihr allem Anschein nach ebenfalls. Ein Grund zur Freude.“

„Genug Freude, um mich auf ein Gläschen oder zwei einzuladen?“

Angelo Kukule verneigte sich schwungvoll und zog ihre Hand zu sich heran. „Aber mit meinem allergrößten Vergnügen, Miss Albert! Allerdings seien wir zur Eile angehalten. Eure Mutter ist uns wieder auf den Fersen und – wie gerne ich sie irgendwann einmal kennenlernen würde – gerade sieht sie gefährlicher aus als sämtliche Verwandlungen des Fürsten der Dragovianer zusammen.“

„JESSICA!“, kreischte die Besagte, ohne dass deren Tochter sie bereits ausmachen konnte. „Vor Lorenzos Augen wirfst du dich in die Arme eines Fremden!“

„Er ist nicht fremd!“, rief sie zurück. „Es ist Angelo, von dem ich dir erzählt habe! Erinnerst du dich nicht? Er war einer derer, die mich auf der Reise begleitet haben!“

„Ich befürchte, Eure Anstrengungen werden nichts bewirken. Kommt! Wir fliehen an einen Ort, an dem sie Euch nicht einmal in ihrem kühnsten Albtraum vermutet!“
 

Der schwüle Gestank von Bier und Besoffenen schlug Jessica beinahe nieder, einer Faust gleich, die hinter der Tür zur Kneipe nur auf sie gelauert hatte. Kühne Klavierklänge, grölendes Gelächter und das Klirren gefüllter Glaskrüge bestimmten hier die Atmosphäre. Erfährt man diese so gegensätzlichen Szenerien in einem dergestalt kurzen Abstand wie die Albert-Tochter, so mag man womöglich nicht gleich glauben, dass in dieser Spelunke zur selben Zeit und in derselben Stadt gefeiert wurde wie in der Burg des Königs. In ihrer Aufmachung fühlte sie sich jedenfalls fehl am Platz.

Angelo winkte sie an einen freien Tisch. Pfiffe und Rufe begleiteten sie auf ihrem Weg zu ihm. Auch manch eifersüchtiger Blick der knapp bekleideten Kellnerinnen entging ihr nicht.

„Keine Angst“, wollte ihr gefundener Gefährte sie beruhigen. „Die kommen Euch nicht zu nahe. Ich kenne die Leute hier, alles ganz anständige Typen.“

„Es scheint mir, als seid Ihr mit jeder Kneipengesellschaft dieser Welt bestens bekannt, Angelo. Wie kommt Ihr darauf, dass ich Angst hätte? Ich habe keine. Im Gegenteil: Ich genieße die unverfälschte Stimmung hier. Die andere dagegen war das reinste Theater. Eine Tragödie.“

„Nun sagt mir nicht, dass der Tanz nicht Euer Gefallen erweckt hätte.“

Angelo hatte sich hinter der Schwarzen Maske verborgen, und somit war er bei allem zugegen gewesen, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte. So ganz wurde ihr dies erst jetzt bewusst. „Ihr hättet mir sofort verraten sollen, dass Ihr es wart! Wenn ich Euch nicht nachgelaufen wäre…!“

„Jessica. Es gibt keine Frau, die mir nicht nachläuft.“

„Ihr wart und seid ein Blödmann.“

Seine Gesichtszüge wirkten ihr etwas maskuliner geworden zu sein, doch in seinen Augen loderte noch immer die eroberungslustige Jugend. Als seine nun unverhüllte Hand das Weinglas an seine Lippen setzte, fiel ihr der blitzende Ring daran auf – es war der Templeroffiziersring.

„Sagtet Ihr nicht, dass Ihr aus dem Templer-Orden aussteigen wollet, sobald alles vorüber sei?“ Sie erinnerte sich, dass er während seines Besuches der Maella-Abtei kurz vor dem Kampf gegen Dhoulmagus etwas Derartiges von sich gegeben hatte.

„Auf unserer Reise haben wir viele Visionen für das Danach entworfen, aber nicht alle wurden wahr. Dass alte Ketten nicht so einfach zu knacken sind, wisst Ihr selbst, sonst wäret Ihr nicht länger in den Fängen Eurer militanten Mutter. Ich habe noch einmal über alles nachgedacht. Letztlich bin ich von der Abtei nicht losgekommen. Sie war mein Zuhause. Ich konnte sie nicht verkommen lassen. Und außerdem…“ Er blickte auf seine gespreizte Hand. „Nach dem Auftauchen der Schwarzen Zitadelle haben viele Kinder ihre Familien verloren. Meine Abtei soll ihnen allen ein neues Heim bieten, so wie sie mir damals eines geworden ist.“

Jessica musterte ihn aufmerksam.

„Acht Monate“, sinnierte er dann. „Vor bald acht Monaten haben wir uns auf die Reise begeben.“

„Ich möchte die anderen wiedersehen“, fuhr es da aus ihr. „Ich möchte das, zu dem wir nicht gekommen sind, nachholen. Es ist zu viel passiert, als dass wir uns für immer trennen sollten. Das sind wir uns gegenseitig schuldig.“

„Ich befürchte, das wird nicht so einfach sein.“

Die Verwirrung stand ihr unverhohlen in den Augen geschrieben.

„Ihr habt den König doch gehört: Trodain braucht seinen Helden jetzt – und wo Yangus ist, können wir nur spekulieren.“

„Dann lasst uns nach Trodain gehen! Man wird uns kaum vor verschlossenem Tor stehen lassen, zumal jeder, der dort etwas zu melden hat, über unsere Taten Bescheid weiß!“

Eines der prall bestückten Barhäschen schenkte ihnen nach. Angelo hielt Jessicas Blick allein mit seinem eigenen aus jenen hellblau gefassten Pupillen gefangen. „Ich bin der Idee nicht grundsätzlich abgeneigt. Zu meinem Bedauern aber bin auch ich seit meiner Rückkehr zur Maella-Abtei nicht mehr so entbehrlich wie damals, als ich förmlich aus ihr hinausgeschmissen wurde.“

„Soll das heißen, Ihr…?“

„Inzwischen sind wir alle fest in unsere neuen Lebensaufgaben eingespannt. Wir können es uns nicht mehr erlauben, wie Vagabunden umherzuziehen. Unsere Reise hat mit Rhapthorne geendet.“

Sie wurden erwachsen. Die grenzenlose Freiheit ist in diesem Abschnitt lediglich ein Traum.

„Aber Jessica! Verzagt Ihr etwa gerade?“

Sie sah auf.

Angelo Kukule grinste und steckte sie bald damit an: „Nicht mehr um die ganze Erde pilgern zu können bedeutet doch nicht, dass in einem oder zwei Tagen ohne uns gleich alles mit Knall und Getöse untergeht! Ich werde Euch begleiten. Täte ich es nicht, würdet Ihr auch ohne mich gehen, habe ich nicht Recht?“

„Zumindest bin ich nicht abhängig von Euren lächerlichen Säuselzaubern.“

„Ich warne Euch: Begebt Euch niemals ohne Heilmagier in die große, weite Welt, Fräulein Jessica; wisst Ihr das denn nicht?“

Bescheidenheit schien ihm weiterhin ein Wort einer Sprache zu sein, die er wohl nie beherrschen würde. Er war nun einmal ein Spieler, Frauenheld und Schönling, und Jessica war heilfroh darüber, weil sie nur den Spieler, Frauenhelden und Schönling kannte und um nichts und niemanden in der Welt diesen noch einmal hergeben würde.
 

*
 

„Laudamus te, benedicimus te, adoramus te…“

In gleißenden Gewändern trugen die Jungen das Loblied an die Große Mutter vor. Angelo, gekleidet in die elegante Engelsrobe, war unter den überschaubaren Zuhörern und spähte dann und wann zu Abt Francisco hinüber in der Hoffnung, der vollkommene Gesang würde den letzten Prälaten von Maella auch dort, wo er jetzt ruhen mochte, erreichen. Der Geist des Greises war still geworden; seine Anwesenheit kaum noch zu spüren. Die Friedhofsatmosphäre in der Kapelle, wenn die Knaben nicht ein paar Leute aus der nahen Siedlung Simpleton betörten, wirkte bedrückend.

„Quae tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram...”

Das Lied näherte sich seinem Finale. Angelo schauderte, als es soweit war, allerdings nicht aufgrund der eine Schiefertafel schleifenden Stimmchen, sondern wegen des ausnahmsweise ganz irdischen Geräusches einer während des In gloria Deae Matris ohrenfällig falsch erwischten Klaviertaste. Der dissonante Ton kämpfte wacker gegen jene der Kinder an, die inzwischen fast schrien und auf diese Weise den hartnäckig harmonisch werden wollenden Fehler einigermaßen kaschierten. Immerhin schien keiner der Gäste aus seiner Benebelung gerissen zu werden, die ihnen noch die Pupillen verschleierte, da sie sich mit dröhnenden Ohren auf den Heimweg begaben.

„Es muss unbedingt etwas gegen die Schallempfindlichkeit dieses Raumes unternommen werden“, ächzte Angelo. „Oder ich verlege die künftigen Messen auf den Innenhof!“

Er ließ den Blick durch das sich leerende Gemäuer schweifen und blieb schließlich am alten Cembalo in einer der Apsiden hängen. Bis zum nächsten Lidschlag sah er auf den steifgeraden Rücken eines schwarzhaarigen Jungen, dann ein zusammensackendes Häufchen Elend da sitzen und leise vor sich hin weinen, während die Chorknaben nebenan das Lob der Mönche empfingen. Er legte die Hand auf seine Schulter, die unter den Schluchzern wackelte wie gelierter Pudding.

„Ich hab’s vermasselt, oder? Ich hab’s schon wieder vermasselt!“

„Aber nein, du hast es toll gemacht! Dieser Schluss ist wahrlich schwer zu meistern; ich kenne kaum jemanden, dem es gelungen ist!“

Ein Paar düsterer Augen visierte ihn aus dem Tal roter Pauspacken. „Wie viele?“

Verblüfft über den bitteren Ton wich der Templer zurück in die Gerade. „Ähm… Nur einen, um genau zu sein!“

„Nur einen? Wer ist er?“

„Nun, er… er weilt nicht mehr unter uns.“

„Oh! Entschuldigt bitte…“

Er musste lächeln. „Du bist zu streng mit dir selbst, Celino. Lass dir Zeit! Wenn du nur nicht müde wirst, es zu versuchen, wirst du dieses schwierige Stück meistern – darauf wette ich meinen Shamshir und meine Ehre und überhaupt die gesamte Abtei!“

Die Aussicht, sich von den anderen Waisen endlich durch etwas anderes abheben zu können denn durch seine korpulente Konstitution, ließ den Jungen strahlen.

„Nun geh zu den anderen und hole dir etwas vom verdienten Kuchen ab, bevor sie alles weggemampft haben!“

„Müsst Ihr schon gehen?“

Auf der Stelle meldete sich sein Gewissen. Er war sich darüber im Klaren, dass die Zeit seiner Abwesenheit für Celino eine Herausforderung sein würde. Dass er die Abtei lediglich verließ, um sich mit Jessica und den anderen zu treffen, ließ die Bisse noch schmerzhafter werden. „Wenn du nicht möchtest, dass ich gehe, bleibe ich.“

„Nein, nein! Geht nur! Ich komm’ klar!“ Celino schob sich vom Schemel und war verschwunden, ehe Angelo entschieden hatte, wie er antworten sollte. Mit einem unwohlen Empfinden begab er sich ins Freie, wo ein Templer seinen Schimmel für die Reise angeschirrt hatte. Die stolze Morgensonne sandte ihren Segen gleich einer Armee von goldenen Feen durch das Mosaikfenster der Maella-Abtei, welches ziemlich exakt in den Westen zeigte, und ließ den schwertziehenden Ritter auf seinem Ross rot leuchten, genauso wie die Glatze von Templer Gladio.

„Ihr seid über alles informiert?“

„Selbstverständlich. Eine gute Reise, Hauptmann.“

„Lasst den Schreibkram einfach liegen, ich kümmere mich unverzüglich nach meiner Rückkehr darum. Und… achtet ein wenig auf Celino, ja? Dass er nicht wieder schikaniert wird. Ach, und vergesst keinesfalls…!“

„Gute Reise, Hauptmann.“ Damit gab Gladio dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe, woraufhin es sich aufbäumte und sofort in einen Galopp fiel, der seinem Reiter einen Laut der Überraschung entlockte.
 

„Wiesoooo, Jessicaaaa?“

Wie befürchtet zogen Bangers und Mash im Schatten des kolossalen Bauwerks Schnuten. Die beiden Kinder waren von Jessica gebeten worden, sie zu Alexandrias Turm zu begleiten, in welchem sie Alistairs Segen für die Reise beschworen hatte. Sie hatten ihr Bescheid gegeben, nachdem Angelo gekommen war, und bereuten es nun sicherlich.

„Wir besuchen ein paar Freunde. Ihr kennt sie kaum. Der Weg würde sich für euch also gar nicht rentieren.“

„Aber wann dürfen wir denn dann mal richtig mit Euch gehen?“

„Die Zeit kommt auch noch, ihr beiden – wenn es jemanden gibt, der dann auf Alexandria aufpassen kann. Momentan seid ihr unsere einzigen Beschützer, und wir wollen das Dorf doch nicht unbewacht zurücklassen, oder?“

„Neeeein…“

„Seht ihr? Es dauert ja auch nicht lange, das verspreche ich euch. Verratet nur meiner Mutter nichts! Wenn sie fragt: Ihr habt keine Ahnung!“

Angelo bemerkte, dass ihr Blick noch lange an den schrumpfenden Kindern haftete, als sie davonritten, und war dabei selbst gezwungen, an den kleinen Celino zu denken.

„Sagt… Verfolgt es eigentlich eine bestimmte Intention, dass Ihr mich gerade auf einem Schimmel abholen kommt?“

„Ganz und gar nicht. Er passt nur so unwiderstehlich zu meiner Haarfarbe.“

„In der Tat steht seine Physiognomie der Euren in nichts nach. Und ich dachte immer, Ihr würdet keine Konkurrenz im Kampf um die Gunst einer Frau neben Euch dulden.“

„Konkurrenz? Mein einziger Konkurrent ist, wie mir scheint, dieser aufgeblasene Lorenzo.“

„Der ist keine Konkurrenz, Angelo, nicht einmal für Euch.“

„"Nicht einmal"?“

„Ich bin noch unentschlossen, ob ich Euch für das unfaire Spiel auf dem Ball in meiner Bewerberskala steigen oder stürzen lasse.“

„Wenn ich Euch dabei beraten darf: Es war Euch eindeutig anzusehen, dass Ihr es genossen habt.“

„Auch nur, weil mir nicht klar war, auf wen ich mich da einlasse. Unsere Begegnung wäre anders verlaufen, und das wusstet Ihr, sonst hättet Ihr Euch die alberne Kostümierung erspart.“

„Fakt ist, dass Ihr diesen Mann hinter der Maske nicht abgewiesen habt. Und alles, was Euch an ihm angezogen hat, war und bin noch immer ich.“

„Es war nur Koketterie. Ich hatte nicht ernsthaft vor, etwas Längerfristiges mit ihm anzufangen. Geschweige denn mit Euch!“

Spornstreichs riss er das Pferd vom Pfad und steuerte es direkt einer hohen Bruchkantenwand entgegen.

„Was tut Ihr?!“, kreischte Jessica, mehr aus Zorn denn vor Angst, und er spürte, wie sie sich instinktiv an ihn krallte, ihn beinahe umarmte. „Seid Ihr verrückt?!“

Sie kniff die Augen zu und stellte sich auf den Knall ein – da fühlte sie sich bereits himmlisch leicht, als der Reiter das Ross in letzter Sekunde über die steile Erhebung springen ließ und es sicher landete.

„Ja“, stöhnte sie. „Ihr seid verrückt.“

„Aber Jessica! Es war nur Koketterie! Ich hatte nicht ernsthaft vor…“

„Ich lache! Haha! Seht Ihr mich lachen? …Wisst Ihr was? Ihr habt eine ganz eigene Art von Humor, Angelo, und ich bewundere den, der sie nachvollziehen kann.“

„Nicht etwa mein überzeugender Humor ist es, der Euch die Mundwinkel hemmt, sondern Eure zunehmende Distanzierung.“

„Stimmt. Ich bin mir tatsächlich zu fein, um mich mit Euch gemeinsam im Schlamm Eurer bemitleidenswerten Komik zu wühlen.“

„Es muss ja nicht gleich Schlamm sein. Ich hätte da auch ein Bett anzubieten, in der Maella-Abtei. Ihr solltet sie Euch unbedingt anschauen, wir haben niedliche Kinder…“

„…die Ihr gerade als Lockmittel nutzt. Wie viele Frauen habt Ihr so schon in Euer Bett oder Euren Schlamm bekommen, hm?“

„Jessica. Ich habe mich geändert. Ich bin nicht mehr der Herzensbrecher von früher.“

„Aus Eurem Mund klingen Worte wie diese wie ein beinahe guter Scherz.“

„Und wenn es die Wahrheit ist?“

„Dass Ihr Euch in zwei Monaten um hundertachtzig Grad gegenüber dem, wie ich Euch in den sechs Monaten davor ertragen habe, gewendet habt? So etwas passiert nur im Märchen oder unter Einfluss eines Wirrwarr-Zaubers, und Euer bisheriges Gehaben bestätigt meine Überzeugung übrigens nur noch!“

„So macht es Euch gewiss nichts aus, dass ich offen frage.“

„Was? Fragt!“

„Könnt Ihr Euch ein Leben mit mir vorstellen?“

Jessica fiel fast vom Pferd. Entgegen aller Anmachen des weißhaarigen Casanovas, die sie eiskalt abserviert hatte, trafen sie ausgerechnet jene simplen, unverschönten, direkten Worte wie ein Seraphenpfeil.

„Eine rein theoretische Frage. Könnt Ihr?“

Er hielt an, stieg ab und wollte ihr hinunterhelfen, da stand sie bereits neben ihm.

„Inzwischen müssten wir weit genug entfernt sein. Eure Mutter, die Abtei – alles liegt jetzt hinter uns. Hier ist niemand, der uns Vorschriften macht oder an Verpflichtungen erinnert. Dies erachte ich als den geeigneten Zeitpunkt, Euch zu fragen, ob Ihr bereit wäret, meine Hand zu nehmen, mit mir in irgendeine Richtung zu rennen, bis wir nicht mehr können, und an jenem Ort, wo immer wir angekommen sind, ein Haus zu errichten.“

„Das ging mir jetzt etwas zu schnell… Ihr meint… wir sollen durchbrennen?“

„Nennt es, wie Ihr mögt.“

„Aber… die Kinder! Ihr…!“

„Gut. Wollen wir weiter?“ Erquickt wie nach einer ausgiebigen Rast hüpfte das Oberhaupt der Maella-Abtei zurück auf seinen Schimmel. „Worauf wartet Ihr, Jessica?“

„Aber ich habe Euch doch noch gar nicht geantwortet!“

„Nicht? Da sind wir unterschiedlicher Meinung! Ich meine nämlich, Ihr habt es sehr wohl getan.“

Es wirkte ihr allein für die Dauer jener Frage ein anderer an die Stelle des verruchten Verführers getreten zu sein, und es konnte bloß einen Grund für diesen jähen Wandel geben: „Ihr scherzt.“

„Nicht doch! Hört Ihr Euch selbst nicht mehr sprechen?“

„Ich meine nicht die Frage, ob ich geantwortet habe oder nicht!“ Sie saß hinter ihm auf und drückte ihre Faust gegen seine Wirbelsäule.

Er hatte sie mit seinem Angebot aufs Glatteis führen wollen. Und es war ihm – zu ihrem Verdruss – hervorragend gelungen.
 

Mit dem Aufstieg der Schwarzen Zitadelle – als der Himmel sich blutrot verfärbte – war eine Flut von Monstern über die Erde hereingebrochen. Nach der Niederlage des Fürsten der Finsternis hatte man begonnen, ihren Bestand zu beaufsichtigen, und so begegneten den beiden Reisenden auf ihrem Weg kaum Feinde. Weil auch der damals unverzichtbar gewordene Teleportation-Zauber nicht mehr funktionierte – was, wie Angelo spekulierte, auf den verdienten Rückzug des Göttervogels Empyrea zurückzuführen war, durch welchen die Magie, zu jener die Menschen befähigt waren, offenbar an Wirkung eingebüßt hatte – war Trodain nicht mehr mit einem Stiefelhopsersprung zu erreichen, und so finden wir unsere fernwehlustigen Freunde in Farebury wieder, wo sie die Nacht zu verweilen gedachten.

„Wenn ich mir die Stadt und ihre Leute so anschaue“, sinnierte Jessica, „kann ich nicht glauben, dass König Trode hier Steine und üble Beschimpfungen an den Kopf geworfen wurden.“

„Hm? Wovon sprecht Ihr?“

„Bevor sie nach Alexandria kamen, waren sie hier gewesen, um Meister Rylus um Rat zu fragen – wegen des Zepters! Er wurde leider kurz zuvor von Dhoulmagus umgebracht… Wir haben in den Ruinen seines Hauses die purpurne Kugel für Empyrea gefunden, erinnert Ihr Euch nicht?“

„Ah! Selbstverständlich!“ In der Tat hatte er keinen Schimmer. Angelo hatte oft unhöflich wenig Aufmerksamkeit in die übermäßigen Gruppenkonversationen gesteckt. Dennoch war ihm Meister Rylus durchaus ein bekannter Begriff. Das herausragende Können des Zauberers hatte seinen Namen hinüber auf die anderen Kontinente getragen. Wahrscheinlich war dieses sein Spezialgebiet auch der Grund, weshalb die ambitionierte Magierin Jessica ein "leider" für sein allzu frühes Abdanken erübrigen konnte.

„Seht nur! Sein Haus wurde wieder aufgebaut!“ Trotz ihres ehemaligen, schier legendären Bewohners unterschied sich die Hütte nur unwesentlich von den anderen. „Ich frage mich, ob jemand darin eingezogen ist oder ob es jetzt vielleicht eine Art Kultstätte darstellt.“

„Stattdessen hätten sie besser ihr Angebot an Freizeitaktivitäten erweitern sollen“, meinte er. „Nun, wo durch die Welt wandernde Helden nicht länger das Böse zu bekämpfen haben, bedürfen sie anderer Beschäftigungen, um in den Herbergen, Itemläden und Kirchen ihr Geld zu lassen. Das erinnert mich übrigens daran, dass ich mich für ein Casino in Simpleton stark machen werde. Die Golding-Geschwister können da doch sicher etwas drehen, oder? Sie sind uns schließlich noch etwas schuldig, für diese Angelegenheit um den Drachenfriedhof. Ich hätte nie gedacht, dass sich mir all diese lästigen Wohltaten irgendwann einmal auszahlen würden.“

„Schlagt Euch das aus Eurer Birne. Es gibt plausiblere Orte, in die Cash und Carrie investieren könnten, als Eure Dreihäusersiedlung. Und außerdem wird ihnen – so wie ich sie kenne – dieser Gefallen, den sie uns schulden, gar nicht mehr einfallen.“

„Hach… Ich wusste ja schon immer, dass selbstlose Hingabe sich nicht lohnt.“

„Kopf hoch, Angelo! Wenn Ihr Euch schon nicht mehr an Meister Rylus erinnert, möchte ich Euch doch gleich mal mit jemandem bekannt machen, dem wir einiges zu verdanken haben!“
 

Der Besagte war ihm mitnichten fremd. Kalderasha hieß sie mit weit gespreizten Armen willkommen, nachdem er sie über seine Kristallkugel hinweg erkannt hatte. Seine adoptierte Tochter Valentina bereitete umgehend Tee für die Gäste zu, derweil der Wahrsager ihnen vorschlug, einen Blick in ihre Zukunft zu werfen. Kurz darauf mystifizierten exotisch duftende Nebelschwaden die Séance.

„Ich… ich beginne, etwas zu sehen…!“

Angelo seufzte ganz offen und verdiente sich damit einen Knöcheltritt aus Jessicas Richtung. Ihr wolltet doch unbedingt, warfen ihm ihre Augen vor. Sie selbst hatte ablehnen wollen. Die merkwürdige Frage des Templers war ihr in den Sinn gekommen, und sie wollte die Zukunft auf keinen Fall sehen, bevor sie geschehen war. Es graute ihr davor, plötzlich Lorenzos Visage in der Kugel zu erblicken. Allein die Darstellung Alexandrias hätte sie geschockt, und während sie starrte und harrte, stellte sie fest, dass es eigentlich überhaupt nichts gab, was sie gerne gesehen hätte.

„Geduld… Geduld… Ja! Jaaaa! Es wird klarer…!“

Unter den Händen des Großen Kalderashas erstrahlte die Kugel, dass die Gäste ihre Augen zukneifen mussten. Überall spiegelten sich die Kerben des alten Kristalls an den obskur dekorierten Wänden, und irgendwo dort war auch ein noch nicht verjährtes "Trottel" zu lesen.

„Hui. Wie nach einem ordentlichen Saufgelage!“

Erneuter Tritt, der Angelo um ein Haar hätte hochspringen lassen.

„Ja! Der Nebel lichtet sich!“ Kalderasha lehnte sich vor, bis seine markante Nase beinahe das Glas berührte. „Doch was ist das?!“

Die beiden Besucher, die einsehen mussten, dass das Innenleben dieser Reliquie jenen vorbehalten war, die es zu schätzen wussten und fest daran glaubten, schraken auf und klammerten ihr komplettes Interesse an den Mund ihres Gegenübers.

„Ich sehe einen Mann, der in der Dunkelheit wandert… Er ist zuhause… Viele, sehr viele Monster umgeben ihn…“

„Ein Mann, der in der Dunkelheit zuhause ist?“, echote Angelo. „Ihr sprecht nicht etwa von Dhoulmagus? Oder gar… von Rhapthorne?“

„So genau kann ich es nicht sehen, junger Freund. Ich kann Euch nur versichern, dass es ein ziemlich menschliches Wesen ist.“

„Das kann unmöglich Rhapthorne sein!“, warf Jessica ein. „Er selbst hat nie ein menschliches Erscheinungsbild besessen!“

„Was ist mit den Monstern?“

„Es sind viele, wirklich außergewöhnlich viele Monster… Sie treten aus einem riesigen, schwarzen Schlund hervor. Und da ist noch etwas!“

„Und was?“, hakte er nach. „Hört zu: Wenn dieses andauernde Hinhalten zu Euren Stilmitteln gehört, so sind diese jetzt reichlich unangebracht!“

„Eine Gruppe von Menschen, die wächst“, murmelte der Hellseher, in die Kugel versunken. „Sie zerbrechen die Kreuze auf den Kirchen, um gleich wieder neue aufzustellen.“

„Na, das nenne ich doch mal logisch! Vielleicht haben die einfach nur Langeweile?“

„Die Frage ist doch, was all das mit uns zu tun hat“, interessierte es Jessica.

„Lasst mich schauen… Hmmm… Jaaaa! Ich sehe… ich sehe ein goldenes Portal, Angelo, das zwei Räume miteinander verbindet. In einem der Räume steht Ihr gerade; in dem anderen befindet sich nichts… Ihr werdet entscheiden müssen, in welchen Ihr geht, wenn sich das Portal für alle Zeiten schließt…“

„Motivierend, wirklich. Folglich werde ich eingesperrt.“

„Ein goldenes Portal?“

„Vielleicht ein gigantischer Ehering. Ich wusste immer, dass ich auf gar keinen Fall heiraten sollte. Was seht Ihr für Jessica?“

„Hmmmm… Ja… Der Nebel lichtet sich… Dort ist…“

Nein!“, rief die Betroffene da aus. „Nein… Ist schon in Ordnung. Ich möchte meine Zukunft nicht wissen.“

„Nehmt Ihr das etwa so ernst?“ Angelo schmunzelte. „Ich bitte Euch: Dhoulmagus, umgeben von Monsterhorden. Dieser Glasball da ist alt, er leidet an Gedächtnisschwund. Vermutlich hat ihm nur noch niemand erzählt, dass Dhoulmagus längst das Zepter abgegeben hat.“

„Ihr wart seit jeher jemand, der den Glauben an etwas sehr eigen definiert“, brummte Kalderasha und legte seine Hände auf die Kristallkugel, als wollte er ein Kind vor weiterer Schikane behüten.

„Und wie erklärt Ihr Euch dann seine Prophezeiung für Euch?“

„Das ganze mystische Parlando zusammengefasst, hat er nichts weiter vorhergesehen als dass ich eine bedeutende Entscheidung treffen werde. Ich habe davon bereits einige getroffen – sowohl vor unserer Reise als auch danach. Und ich bin sicher, dass die vergangene nicht meine letzte gewesen ist. Dafür brauche ich nicht hellzusehen.“

„Ich möchte es trotzdem nicht erfahren.“

„Ja“, pflichtete Kalderasha ihr bei. „Die Zukunft nicht zu kennen, ehe sie geschieht, beugt dem Verlust der Gegenwart vor.“

Die Kugel erblasste, und auf einmal wirkte es ihnen stockfinster im Haus zu sein.

„Aber vielleicht mögt Ihr noch zum Abendessen bleiben. Valentina! Lass uns ein lukullisches Mahl auftischen! Letscho, Fleisch und guten Wein – nur das Beste für die Gäste! Síjas!“

Nachdem sie in die Nacht entlassen wurden, waren sie leidlich wiederzuerkennen. Zwei Zombies gleich torkelten sie ins Gasthaus, stürzten in ihre Betten und kurierten schlafend den Spezereienrausch aus.
 

Am folgenden Tag, bevor sie aufbrachen, kauften sie Proviant ein. Angelo hatte sich über die auf einem schlichten Tuch ausgestellte Ware gebeugt. „Ihren Itembestand könnten die aber auch mal aufstocken.“

„Und Ihr könntet mal aufhören, Euch zu beschweren“, erwiderte Jessica, die soeben ein paar Heilkräuter in ihre Tasche verstaute. „Die Zeiten sind friedlich. Man braucht kaum noch Waffen oder schweres Gepäck, und wir sollten froh darüber sein.“

Der Hauptmann der Templer hörte ihr nicht zu. Eine Kette hing von seinen Fingern hinab, und an ihr baumelte ein goldener Kranz.

Der Krämer – ein runder, gutmütiger Mann mit einem auffälligen blauen Schnauzbart – nahm ihn zur Notiz. „Ein sonderbarer Anhänger, nicht wahr? So einfach, und doch zieht er einen irgendwie in seinen Bann.“

„Fürwahr… Ein interessantes Geschmeide. Woher habt Ihr es, wenn ich das fragen darf?“

„Dem Windigen Willi abgekauft. Der hat immer solches Zeug im Angebot. Besonders, seitdem er von Yangus beliefert wird.“

Jessica gesellte sich zu ihnen. „Yangus!“

„Ihr kennt ihn? Na ja – ich kann Euch nicht verraten, wo er sich momentan aufhält. Denn das weiß ich selbst nicht.“

„Das macht nichts. Es reicht mir zu wissen, dass sein Geschäft anscheinend Umschlag macht. Das bedeutet wohl, es geht ihm gut. Angelo! Machen wir uns auf den Weg! Wir haben noch eine weite Reise vor uns!“

„Sofort!“, rief er den Zöpfen nach, die zu seinem Schimmel wippten. „Mein Herr? Ich nehme den Anhänger hier.“
 

Der Tag war jung, und sie legten die Strecke im Galopp zurück. Erst, da sie an die Hängebrücke gelangten, die das Königreich Trodain mit der Farebury-Region verband, waren sie zum Anhalten gezwungen. Trodainische Soldaten patrouillierten auf beiden Hängen und erweckten nicht den Anschein, irgendjemanden passieren zu lassen, gleichgültig dessen, wer er war oder mit welcher Absicht er kam.



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