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Very Little Talks

von

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1

„Michiya?“

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, blinzelte und warf einen Blick nach links. Karyus Silhouette hob sich vom tokyoter Nachtlicht ab, das durch die Fenster in meine Wohnung fiel. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es schon dunkel geworden war.

„Geht es dir gut?“, fragte er.

Ich betrachtete ihn eine Weile, zuckte mit den Achseln, bevor ich einen Schluck Bier nahm. „Klar.“

Als ich die Flasche erneut ansetzen wollte, überlegte ich, ob ich dem noch etwas hinzufügen sollte. So etwas wie Mir ging es echt nie besser oder Seh ich etwa nicht so aus?. Doch Ersteres wäre gelogen, und Zweiteres klang wahrscheinlich sarkastisch. Stattdessen beugte ich mich zu einer Lampe hinüber und schaltete sie ein. Karyu nickte knapp, dann starrten wir wieder gemeinsam an die gegenüberliegende Wand.

Das war uns noch nie passiert. Noch nie, in diesem ganzen, wirren, unglaublichen und vor allem unvergesslichen Haufen der letzten Jahre. Wir wussten nicht, worüber wir reden sollten.

Wir könnten darüber reden, wie es bei uns läuft. Wie wir mit unseren neuen Bands zurecht und vorankommen. Doch das Thema war längst abgehakt, und ich wusste nicht wieso, aber irgendwie hatte es sich immer verdammt eigenartig angefühlt, darüber zu sprechen. Es fühlte sich falsch an, wie in irgendeinem beschissenen Traum, bei dem man froh ist, aufzuwachen und festzustellen, dass es so nie geschehen war.

In Wahrheit hatten wir wohl viel zu bereden. Wie viel, darüber wollte ich nicht nachdenken, denn nur bei dem bloßen Gedanken an diverse Passagen, die mir auf den Herzen lagen, schnürte sich bereits meine Kehle zu. Wahrscheinlich wollten wir nicht mit so etwas anfangen. Schweigen und eine Wand anzustarren war da definitiv einfacher.

„Und dir?“, fragte ich.

„Gut.“ Karyu warf einen Blick auf die Uhr und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. „Genauso wie vor zehn Minuten.“

Wir hätten weggehen sollen. Wir hätten uns mit Freunden einen schönen Abend in irgendeiner Bar machen müssen. Stattdessen saßen wir hier herum, wussten genau wieso, aber unternahmen nichts.

Nach einer halben Ewigkeit stellte Karyu seine leere Flasche auf dem Couchtisch ab und streckte sich. Ich sah ihm dabei zu, schwang das restliche Bier in meiner eigen herum, bis ich austrank und sie ebenfalls zur Seite stellte.

„Ich denke, ich gehe besser.“

Das hatte ich erwartet. Immerhin war das hier bereits der dritte Anlauf zum Reden, den wir glorreich verschissen hatten. Mein Mund wurde trocken, und ohne es wirklich zu merken knetete ich an meinen Händen herum.

„Das konnten wir mal“, sagte ich und sah dabei zu, wie Karyu sich erhob und dann inne hielt. Sein Blick fiel auf mich herab, und im Lampenlicht konnte ich erkennen, wie kränklich er aussah.

„Wieso geht es nicht mehr?“, fragte ich.

„Was meinst du?“

Er machte Anstalten, sich wieder zu setzen, doch er tat es nicht. Stattdessen griff er zögerlich nach

seiner Jacke, die er über die Sofalehne gelegt hatte.

„Das weißt du genau. Wieso können wir nicht einfach reden?“

Karyu wandte langsam seinen Blick von mir ab und schien sich furchtbar hartnäckig darauf zu konzentrieren, die Jacke anzuziehen.

„Anscheinend haben wir schon alles Nötige gesagt“, scherzte er trocken, doch ich konnte genau sehen, wie sich seine Mundwinkel flüchtig nach unten zogen.

Nichts von dem, was wir bisher gesagt hatten, war etwas Nötiges gewesen.Es war nicht einmal nötig gewesen, uns gegenseitig zu fragen, wie es uns geht. Wir logen uns ohnehin nur an.

„Nein“, brachte ich nur heraus.Und dann, nach einigem Zögern: „Du siehst nicht gut aus.“

Für einen kurzen Moment legte sich eine Stille über uns, die noch viel schlimmer war als die während des An-die-Wand-Starrens. Ich wischte mit meinen Handflächen einmal über meine Hose, um irgendetwas zu tun, bis ich mich schließlich ebenfalls erhob. Karyu folgte mir aufmerksam mit den Augen, und in seinem Blick konnte ich erkennen, was ich gerade getan hatte – das hier war der Startschuss.

„Ich habe mich erkältet“, erklärte er dann kurz angebunden, und als er sich darauf von mir abwandte wusste ich, dass er sich das selbst nicht glaubte.

„Wieso gehst du?“, fragte ich und ging um das Sofa herum, als er dazu ansetzte in den Flur zu gehen.

„Weil es spät ist.“ Er pfriemelte an seinen Ärmeln herum. „Ist das Gespräch jetzt beendet?“

„Es hat gerade erst angefangen.“

Ich merkte, dass mir das Herz in der Kehle pochte, als er sich langsam wieder zu mir umdrehte. Allerdings wirkte er nicht bedrohlich, sondern angespannt, vielleicht sogar ein bisschen hilflos.

„Du siehst auch nicht gut aus“, sagte er dann.

„Ich weiß.“ Ich versuchte verzweifelt, ein Lächeln zustande zu bringen. „Ich seh richtig scheiße aus.“

„Ach was. Nur ein bisschen, vielleicht.“

„Deine Augenringe reichen bis zur Südhalbkugel.“

„Du könntest ungeschminkt in einem Horrorfilm mitspielen.“

Ich winkte ab.

„Der ist zu alt. Denk dir mal was Neues aus.“

Karyu lächelte flüchtig, senkte seinen Blick dann wieder auf seine Ärmel und zupfte erneut daran herum. Anscheinend hatte er noch weniger Ahnung, wie wir das hier veranstalten sollten, als ich.

„Was ist los?“, wollte ich wissen.

„Viel Arbeit. Stress. Außerdem ist die Katze fett geworden.“

Ich musterte ihn einmal von oben bis unten.

„Das wäre kompatibel mit deinem Erscheinungsbild. Anscheinend klaut sie dir sämtliche Mahlzeiten.“

Ehe er dazu ansetzen konnte, zu antworten, schüttelte ich den Kopf.

„Ich will nicht wieder abschweifen. Wieso sagst du es nicht einfach?“

„Anscheinend bin ich nicht betrunken genug für solche Sachen.“

„Kein Problem.“ Ich nickte meiner Küche zu. „Ich hab noch was da.“

Er schien eine Weile nachzudenken, ob über mein Angebot oder etwas Anderes, konnte ich nicht sagen.

„Wieso fangen wir nicht einfach mit dir an?“, meinte er dann ein wenig säuerlich. „Was ist mit dir los?“

„Wann hast du eigentlich einmal ehrlich über dich geredet?“, hielt ich nun ebenfalls ein wenig wütend dagegen. „Immer wenn du in Gefahr bist, es einmal tun zu müssen – dann kommt irgendein Scheiß. Schon immer.“

Er antwortete nicht, sog stattdessen die Luft ein und ließ seine Hände in den Jackentaschen verschwinden, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Ich versteh das nicht, Yoshitaka. Ich meine, gut, bis vor einer Weile warst du zwar noch offener aber-“

„Nie offen genug?“, fragte er verstimmt.

„Nie offen genug“, bestätige ich auf dieselbe Weise. „Ich hatte nie auch nur irgendwie das Gefühl gehabt, dass es ausnahmsweise NICHTS gab, was du zurückhältst, nicht einmal als wir-“

Ich brach ab, als ich merkte, wohin mich mein Gerede noch bringen würde. Wütend auf mich selbst winkte ich einmal ab, doch ich hörte Karyu nur bitter schnauben.

„Ich meine mich daran zu erinnern, dass du das sehr wohl respektiert hast.“

„Respektiert. Ja. Aber mehr nicht, und was blieb mir auch anderes übrig? Und allem Anschein nach war es sowieso ein Fehler gewesen, wenn ich mir nur ansehe was daraus-“

„Hey, wenn das jetzt auf die Sache in Paris hinausläuft-“

„Es sollte auf GAR nichts hinauslaufen! Ich wollte damit nur sagen-“

„Wie oft soll ich noch sagen, dass es mir leidtut? Das ist jetzt gute zehn Jahre her! Soll ich mich auf den Kopf stellen oder von irgendeiner Klippe stürzen oder-“

„Ich wollte damit nur sagen, dass es wahrscheinlich dazu prädestiniert war nicht zu-“

„Sag mir, WAS ich tun soll!“

„-FUNKTIONIEREN!“

„Schrei mich nicht an!“

„Ich schreie soviel ich will, immerhin sind wir hier in meiner Wohnung! Wahrscheinlich war diese französische Schlampe genau das Richtige, um uns unsere Grenzen aufzuzeigen, also musst du ABSOLUT nichts tun um irgendetwas gutzumachen, weil es nämlich nichts gutzumachen gibt!“

Wir starrten uns eine Weile an, ehe wir uns beinahe gleichzeitig mit den Händen über unsere Gesichter fuhren.

„Tut mir leid“, sagte ich nach einer Ewigkeit der Stille. „Darauf wollte ich gar nicht hinaus.“

Er nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick lag auf dem Boden und er wippte leicht vor und zurück.

„Sag doch irgendwas“, verlangte ich leise und sah ihm verzweifelt dabei zu. „Du vermisst dein Kind, nicht wahr?“

„Ich habe kein Kind.“

„D'espairsRay ist dein Kind.“

Karyu hielt in seinen Bewegungen inne und seine Haltung versteifte sich.

„Ist es denn so verwunderlich, dass es dir so scheiße geht?“, wollte ich wissen. „Du hast etwas aus dem Boden gestampft, das kaputt gegangen ist. Man konnte dabei zusehen.“

Ich hörte ein langes, verbittertes Seufzen, ehe Karyu mir seinen Blick wieder entgegen hob. Seine Augen waren so glasig, dass ich mich in ihnen spiegeln konnte.

„Vermisst du es nicht?“, fragte er leise.

„Ich vermisse es. Genauso sehr wie du.“

Ich zögerte einen Moment, ging dann jedoch näher an ihn heran, bis ich direkt vor ihm stand. Er musterte mich und schluckte einmal hart, ehe er sich flüchtig die Augen rieb.

„Scheiße“, sagte er flüsternd. Ich nickte nur.

„Hast du überhaupt nachgedacht?“, fragte ich irgendwann leise. „Bevor du dich da rein gestürzt hast?“

Er wusste ganz genau, was ich meinte. Seine Haltung wurde erneut starr, doch dann entspannte er sich wieder ein wenig. Scheinbar war eine dauernde Hab-Acht-Stellung anstrengend.

„Du bist der Beste, Yoshitaka. Du musst niemandem irgendwas beweisen.“

„Wer sagt, dass ich irgendwem was beweisen wollte?“

„Was ist mit dir selbst?“

Daraufhin schwieg er. Ich wusste nicht, warum zur Hölle mein innerer Impuls das von mir verlangte, aber wie von allein legte ich meine Arme um ihn und drückte mein Gesicht gegen seine Schulter. Und ich kam mir dabei unheimlich bescheuert vor.

„Es war nicht deine Schuld“, sagte ich dumpf. „Okay?“

„Und wessen war es dann?“

„Keine Ahnung. Nicht einmal Hiroshis, denke ich.“

Er schnaubte leise, dann spürte ich jedoch wie er die Umarmung erwiderte. Ich kam mir noch bescheuerter vor.

„Michiya, du heulst.“

„Lass mich.“

Meine Schultern zuckten, und ich konnte mich nur mit aller Mühe davon abhalten eine Hand zu heben, und über meine Augen zu wischen. Die Blöße würde ich mir nicht geben.

„Nein. Weil... wenn du heulst... scheiße, ich mache schon mit“, sagte er erstickt.

Karyu legte seine Stirn auf meiner Schulter ab, und beinahe sofort spürte ich, wie sich etwas Feuchtes seinen Weg in den Kragen meines T-Shirts bahnte.

„Ih“, schluchzte ich kläglich.

„Ach. Klappe.“

Irgendwo im Hintergrund hörte ich meine Wohnzimmeruhr ticken. Tick, tack. Die ganze Zeit, während wir um die Wette weinten. Ich hatte absolut keine Ahnung, woher ich auf einmal diese Menge an Körperflüssigkeit nahm.

Als wir uns irgendwann wieder beruhigt hatten, fand ich auch wieder die Gelegenheit dazu, unsere momentane Ausgangsposition irgendwie eigenartig zu finden. Ich ließ von Karyu ab und wischte mir so elegant es ging über die Augen, während ich jegliche Blickkontakt vermied. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er das gleiche tat.

„Das bleibt unter uns“, sagte ich trocken.

„Ich hatte nicht vor nach Hause zu rennen und meiner Frau zu sagen, dass wir uns wie zwei kleine Mädchen heulend in den Armen gelegen haben.“

„Gütig“, erwiderte ich, jetzt jedoch etwas verstimmt. „Echt. Gütig.“

Ich sah wieder zu ihm auf und starrte ihn wahrscheinlich so an , als wäre ich gerade aus irgendeiner Traumwelt gerissen worden. Mit Unwohlsein dachte ich an die ganzen anderen Dinge, über die ich seit Tagen nachdachte. Seit Wochen. Seit Monaten. Wahrscheinlich seit Jahren.

„Noch ein Bier?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Ich wollte doch gehen.“

Er sagte es halbherzig, ganz so, als würde er tatsächlich darüber nachdenken. Doch dann schüttelte noch einmal mit Nachdruck den Kopf.

„Außerdem bin ich mit dem Auto hier.“

„Betrunken fährt es sich ganz witzig.“

Karyu glotzte mich verständnislos an, grinste dann aber. Ich versuchte, es ihm gleichzutun. Dann seufzte ich leise und nickte.

„Okay.“

„Okay.“

„Aber du weißt schon, dass dieses Gespräch... naja. Nicht zu ende ist?“

Er verdrehte die noch immer vom Weinen geröteten Augen, sah aber nur ein bisschen genervt aus.

Es hat gerade erst angefangen“, rezitierte er dann. „Stimmts?“

„Ja.“

Wir betrachteten uns kurz und gingen dann in Richtung Wohnungstür. Ich legte meine Hand auf die Klinke, zögerte einen Moment, drückte sie dann jedoch hinunter und zog sie auf. Karyu streckte eine Hand in den dunklen Gebäudeflur und wischte an der nächstbesten Wand herum, bis er einen Lichtschalter fand. Der grelle Schein ließ uns beide die Augen zusammenkneifen.

„Ich ruf dich an“, sagte er.

„Ich weiß.“ Meine Mundwinkel zuckten. „Wie immer.“

Er lächelte und schaute mich nachdenklich an, drehte sich dann jedoch weg und trat in den Flur hinaus. Das Hallen seiner auf dem Boden schleifenden Schuhe klang unangenehm laut in meinen Ohren.

„Vergiss es nicht“, sagte ich, als er sich dem Aufzug zu wandte.

„Ich sags keinem. Versprochen.“

„Das meinte ich nicht.“

„Was dann?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich in den Türrahmen, sah dabei zu wie Karyu blind nach dem Knopf neben den dicken Stahltüren suchte.

„Dass du der Beste bist.“

Er lächelte schwach, als die Türen mit einem leisen Pling aufgingen.

„Ich versuchs.“

Tief Luft holend sah ich dabei zu, wie er im Aufzug verschwand, noch einmal flüchtig die Hand zum Gruß hob. Die Türen schoben sich wieder zu, und ohne mich zu rühren verfolgte ich die Anzeige bis ins Erdgeschoss. Erst als ich mir sicher sein konnte, dass Karyu wirklich weg war, schob ich mich an der Wand entlang wieder in meinen Flur und schloss die Tür.
 

Mein Handy begrüßte mich mit einem Vibrieren, als ich wieder ins Wohnzimmer kam. Ich ließ mir Zeit dabei, mich wieder hinzusetzen und es mir zu nehmen. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht war ich gerade auch nur ein bisschen wirr im Kopf.

Mit gehobenen Augenbrauen öffnete ich die SMS. Karyu.
 

'Du bist aber auch nicht grad schlecht.'

23:56, 20 Sep.
 

Ich starrte die Nachricht eine Weile an, ehe ich seufzte, mit dem Handy im Gepäck in die Küche ging und mir eher automatisch als gewollt ein Bier aus dem Kühlschrank holte.
 

'Schön, dass dir nach ner halben ewigkeit einfällt so ein kompliment mal zurückzugeben. Und in was bin ich nicht schlecht?'

23:59, 20 Sep.
 

'Im bass spielen. Unter anderem.'

0:02, 21 Sep.
 

'Vielleicht könntest du deine zweideutigen späßchen mal unterlassen und beim fahren auf die straße gucken.'

0:03, 21 Sep.
 

'Entspann dich. Hab alles unter kontrolle.'

0:04, 21 Sep.
 

'Handy weglegen oder es knallt.'

0:04, 21 Sep.
 

'Du kannst mir grad keine knallen.'

0:05, 21 Sep.
 

'Ich hab auch vom nächstbesten gegenstand geredet, gegen den du fährst.'

0:06, 21 Sep.
 

'Steh im stau. Das einzige gegen das ich fahr ist... achja, es gibt nichts.'

0:07, 21 Sep.
 

'Wenn du noch so ein großes bedürfnis hast mit mir zu kommunizieren, hättest du noch bleiben können.'

0:08, 21 Sep.
 

'Du hättest mich sowas von abgefüllt.'

0:09, 21 Sep.
 

'Gerücht.'

0.09, 21 Sep.
 

'Pure wahrheit.'

0:10, 21 Sep.
 

'Abfüllen macht bei dir keinen spaß. Du bist immer so schnell voll.'

0:10, 21 Sep.
 

'Ich fasse dich.'

0:11, 21 Sep.
 

'*hasse'

0:11, 21 Sep.
 

Ich musste grinsen.
 

'Gerücht.'

0:12, 21 Sep.
 

'Ausnahmsweise.'

0:12, 21 Sep.
 

'Da das geklärt ist: handy weg.'

0:13, 21 Sep.
 

'Stau.'

0:13, 21 Sep.
 

'Scheiß auf stau. Kann trotzdem was passieren.'

0:13, 21 Sep.
 

'Wenn wir uns das nächste mal sehen, liebe ich dich'

0:14, 21 Sep.
 

Ich blinzelte, spuckte dann das Bier über den Tisch, ehe ich die letzte Nachricht noch einmal las. Mein Gesicht wurde auf einmal unangenehm heiß, und ich meinte zu fühlen, dass der Stuhl unter meinem Hintern auf einmal verschwand. Was zur Hölle sollte das?
 

'Zu früh abgeschickt. Wenn wir uns das nächste mal sehen, LEHRE ich dich wie man sms in einem fahrenden auto schreibt.'

0:16, 21 Sep.
 

Ich starrte erneut auf mein Handy. Dann seufzte ich entnervt und schlug mir versehentlich die Flasche gegen den Kopf, als ihn auf die Tischplatte sinken ließ.
 

'Idiot.'

0:17, 21 Sep.
 

'Der beste idiot, soweit ich mich erinner.'

0:18, 21 Sep.
 

'Trotzdem ein idiot.'

0:18, 21 Sep.
 

Ich versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, drehte mich zur Seit und angelte nach einem Lappen, um damit die Sauerei auf dem Tisch zu beseitigen.
 

'Bin zuhause. Sehen wir uns morgen?'

0:23, 21 Sep.
 

'Standest du nicht im stau?'

0:24, 21 Sep.
 

'Welcher stau?'

0:24, 21 Sep.
 

Ich schloss die Augen einen Moment lang und seufzte, ehe ich einen tiefen Zug aus meiner Flasche nahm. Das Schlimme an dieser Sache war, dass ich mir genau vorstellen konnte, wie breit er gerade grinste. Aber hatte ich das nicht gewollt? Dass es irgendwie wieder normaler wurde?
 

'Wir sehen uns morgen. Idiot.'

0:26, 21 Sep.
 

Es folgte keine Antwort mehr, und ich glaubte im Augenblick auch, das gut zu finden. Ich musste ihn wohl früher oder später ohnehin mit monströsen Tatsachen und Meinungen und wusste Gott noch was belasten. Da war es vielleicht ganz praktisch, wenn wir solche Konversationen eher kurz hielten.

Ehrlich gesagt hatte ich absolut keine Ahnung, wohin das alles noch führen sollte. Was machten wir? Warum und wofür dieses zwingende 'Wir müssen reden'-Gehabe? Irgendwas war mit uns nicht in Ordnung, das wussten wir wohl beide, aber wieso hatte ich so plötzlich den Drang, alles zu bereinigen? Ich konnte nicht einmal sagen, ob es überhaupt eine gute Idee war. Vielleicht war es die mit Abstand schlechteste, die ich in meinem bisherigen Leben gehabt hatte.

2

Das bestätigte sich mir irgendwie, als am nächsten Morgen in aller Frühe mein Handy klingelte. Ich saß sofort in meinem Bett, fuhr mir einmal durch Gesicht und Haare, ehe ich mit zusammengekniffenen Augen unter der Decke nach diesem Mistding wühlte. Meine Finger erwischten etwas Kühles, und ich zog es hervor.

„Hallo?“, lallte ich wütend.

„Du hast dein Handy mit ins Bett genommen.“

Ich starrte schläfrig auf meine Decke hinab, ehe ich mir mit einer Hand die Stirn massierte, um aufkommende Kopfschmerzen zurückzudrängen.

„Yoshitaka, wenn du nichts Anderes vorhattest als mir zu sagen-“

„Ich mein ja nur“, unterbrach er mich schon viel wacher, als ich mich wohl an diesem Tag jemals fühlen würde.

„Hätte es auf deinem Nachttisch gelegen, dann wärst du erstmal wie ein frisch auferstandener Zombie quer durch dein Bett gekrochen, an der einen Seite runter gefallen und hättest erst nach einer halben Ewigkeit abgenommen. Wie geht es dir?“

„Wie es mir geht?“, fragte ich, den Teil mit dem Zombie großzügig ignorierend. Vielleicht auch nur vor Müdigkeit. Ich senkte mein Handy kurz, um auf die Uhr zu schauen.

„Alter, wir haben halb Sechs! Wie soll es mir da gehen?!“

„Ich bin schon seit einer halben Stunde auf den Beinen.“

„Schön für dich!“

Mit einer wütenden Bewegung warf ich meine Decke zur Seite und wankte in Richtung Badezimmer, um meinem Gesicht wenigstens einen Schub kalten Wassers zu gönnen.

„Jetzt nenn mir den Grund dafür, nicht einfach aufzulegen und weiterzuschlafen.“

„Du bist doch eh schon aufgestanden“, entgegnete er gut gelaunt. „So, wie du da gerade durch deine Bude trampelst ist das auch schwer zu überhören.“

Ich atmete einmal tief durch und schluckte gerade noch eine fahrige Antwort hinunter. Statt mich über diesen Kommentar aufzuregen, legte ich einfach das Handy beiseite und schippte mir gefühlte 100 Liter Wasser ins Gesicht.

„Hallo?“ hörte ich es neben mir aus dem Hörer kommen. „Haaallooo!“

Ich blickte grimmig auf das Gerät ab, während ich mich abtrocknete. Dann griff ich wieder danach.

„Was hast du eigentlich genommen? Hat dir deine Frau Drogen unter dein Frühstück gemischt?“

Als meine Worte verklungen waren, bekam ich noch schlechtere Laune, torkelte zurück ins Schlafzimmer und ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Mein Blick legte sich auf die Lampe direkt über mir.

„Speed vom Feinsten“, flüsterte Karyu dann, und ich konnte ihn grinsen hören. „Aber Pscht.“

„Idiot.“

„Deine liebevolle Art kann so unglaublich sein.“

„Könnte ich jetzt bitte erfahren, wieso du mich zu so einer gottlosen Zeit anrufst?“

„So gottlos ist sie gar nicht.“

Es raschelte einmal am anderen Ende, und es klang so, als würde er eine Jalousie hochziehen.

„Da ganz weit hinten sehe ich schon, wie der Himmel anfängt zu strahlen.“

„Du siehst bestimmt nur das Atomkraftwerk.“

„Ein Witz aus deinem Mund! Um diese Zeit!“

„Klärst du mich jetzt endlich auf?“

„Ich wollte mich einfach nett unterhalten. Außerdem habe ich doch gesagt, ich rufe dich an.“

Ich fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht, das sich längst nicht mehr so wach anfühlte wie nach der Bearbeitung mit dem Wasser.

„Und das konnte nicht noch warten?“

„Bis zum Abend haben wir sonst sowieso keine Zeit, denke ich.“

Ein bitteres Seufzen befreite sich aus meiner Kehle. Proben. Merchandise Design. Ein Interview, Planung, Planung, Planung. Das würde ein langer Tag werden.

„Und um das zu feiern, hast du mich um eine gute Stunde wohlverdienten Schlafes gebracht.“

„Den kannst du nachholen.“

„Ich frage mich gerade, was ich da gestern losgetreten habe.“

Darauf antwortete er erst einmal gar nicht. Ich konnte ihm eine ganze Weile dabei zuhören, wie er scheinbar in der Küche herumhantierte. Geschirr klapperte, im Hintergrund blubberte ein Wasserkocher, und als ich das Rascheln von Papier, Ryuutarous Maunzen und schließlich Karyus 'Autsch!' hörte, musste ich sogar einen Moment lang lächeln.

„Das Mistvieh gibt mir meine Zeitung nicht“, beklagte er sich bei mir.

„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“

Wieder reagierte er nicht, und ich nutzte das Schweigen, um mich wieder aufzuraffen. Ich streckte mich einmal ausgiebig, bis meine Wirbel knackten. Perverser Weise liebte ich dieses Gefühl.

Noch immer ein wenig wackelig auf den Beinen bahnte ich mir meinen Weg durch die Wohnung, schirmte in der Küche meine Augen ab, während ich mit dem Ellenbogen nach dem Lichtschalter suchte. Als es brannte blieb ich eine ganze Weile so stehen, um mich daran zu gewöhnen.

„Wahrscheinlich was Gutes“, sagte Karyu.

Ich machte ein verständnisloses Gesicht und schlurfte zu meiner Kaffeemaschine.

„Was?“

„Das, was du losgetreten hast.“

„Oh.“

Ich riss ein wenig grobmotorisch eine Tasse aus einem Hängeschrank und stieß mir den Kopf an der Tür.

„Was war das?“, fragte er. Ich rieb mir die Stirn und kniff die Augen zusammen.

„Nichts.“

„Vielleicht brauchen wir das wirklich“, fuhr er fort.

„Ja“, antwortete ich schlicht. Dann: „Wahrscheinlich hätte ichs sonst nicht gemacht.“

„Guter Junge.“

Ich schnaubte mit verzogenem Mund und hantierte einhändig an der Maschine herum. Auf der anderen Seite der Leitung versuchte Karyu erneut, die Zeitung für sich zu gewinnen. Anscheinend vergebens, wie ich aus seinem Seufzer schloss.

„Ich hasse Katzen.“

„Wenn das so wäre, hättest du deine in dieser Kiste liegen lassen.“

„Sowas macht man doch nicht.“

Ich musste daran zurückdenken, wie ich ihn einmal besuchen wollte, und er mir auf einmal mit einem schwarzen Fellbüschel im Arm die Tür aufgemacht hatte. Während ich dabei gewesen war, nonstop auf das Tier zu glotzen, erklärte er mir, dass er mit einem Freund eine ganze Kiste Katzenwelpen gefunden und in einem Tierheim abgegeben hatte. Bis auf die eine.

„Die Verehrung für dieses Ding geht zu weit“, erklärte Karyu und rührte klingelnd in einer Tasse herum. „Kenji hat es mit diesem einen Lied echt übertrieben.“

„Ich fands ganz witzig.“

Ich kniff die Augen zusammen, als die Kaffeemaschine mir mit einigen letzten und ziemlich nervtötenden Geräuschen mitteilte, dass sie ihre Arbeit verrichtet hatte. Zusammen mit der dampfenden Tasse setzte ich mich an den Tisch, auf dem noch meine Flasche von letzter Nacht stand. Blitzartig musste ich an Karyus Vertipper denken und wischte mir seufzend übers sich rötende Gesicht.

„Was machst du so?“, fragte Karyu.

„Du meinst, außer hundemüde zu sein?“

„Ja.“

„Kaffee trinken.“

„Dann haben wir ja was gemeinsam.“

„Wir sitzen echt morgens um kurz vor Sechs Kaffee trinkend herum und telefonieren.“

„Ein bisschen krank ist das schon, oder?“

„Du hast mich angerufen.“ Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und biss mir auf die Zunge, als sie zu brennen anfing. „Solltest du nicht lieber deine ehelichen Pflichten erfüllen, statt dein Frühstück mit mir zu verbringen?“

„Was?“, hakte er ein wenig verdattert nach. „Du willst, dass ich jetzt-“

„Nicht so.“ In meinem Magen bildete sich ein Knoten. „Ich meine in puncto Gesellschaft leisten.“

Karyu schwieg und schien darüber nachzudenken, und ich konnte absolut nicht sagen, ob das jetzt gut oder schlecht war. Ich konnte nicht einmal sagen, wieso für mich überhaupt gut oder schlecht zur Debatte standen.

„Ich habe die ganze Nacht neben ihr gelegen“, scherzte er schließlich trocken. „Das muss an Gesellschaft fürs Erste reichen.“

„Du scheinst ein scheiß Ehemann zu sein“, scherzte ich mit, doch merkte wie sich der Knoten wieder löste.
 

Ich wusste nicht wie, aber dieser Mann schaffte es, dass der einzige Moment, in dem ich an diesem Morgen nicht mit ihm kommunizierte, eine kurze Dusche war. Ich hatte nicht einmal wirklich mitbekommen, dass wir immer noch redeten, als ich mich längst auf dem Weg zur Arbeit befand – eingequetscht in der Yamanote.

„Mist!“, hörte ich am anderen Ende.

„Was?“

„Hier bewegt sich GAR nichts!“

Ich wich ein paar Leuten aus, die sich an mir vorbei drückten, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen.

„Du bist doch nicht etwa echt mit dem Auto unterwegs?“

Karyu antwortete nicht, doch als ich im Hintergrund Gehupe hörte, hatte sich eine Antwort ohnehin erübrigt.

„Manchmal glaube ich, du bist erst vor ein paar Tagen nach Japan eingewandert.“

„Sehr witzig.“ Er kramte irgendwo herum, während ich beim Anfahren der Bahn mit einem Haufen anderer Leute herum geschmissen wurde. „Ich habe zu viel Zeug dabei.“

„Lass mich raten, du kannst dich nicht dazu erweichen, mal eine Gitarre in eurem Proberaum zu lassen?“

„Was?! Spinnst du? Doch nicht meine Gitarren!“

Ich rollte mit den Augen, sah dann schließlich an mir herunter und schob die Laptoptasche zurecht, die dank der Unmengen an Leuten, die an mir vorbei gingen, vor meinen Bauch gerutscht war.

„Das ist gar nicht so dumm, wie es sich anhört“, sagte ich dann säuerlich. „Ich habe immer einen Ersatzbass vor Ort.“

„Du bist echt ökologisch, Michiya.“ Ich hörte seinen Motor röhren, als er anfuhr. „Manchmal.“

„Was hat das bitte mit ökologisch zu tun?“

„Ich meine, dass du mit dem Zug fährst.“

„Ich für meinen Teil möchte auch rechtzeitig da sein, wo ich hin will. Wetten, du bist in der bisherigen Zeit kaum von der Stelle gekommen? Und wieso telefonierst du überhaupt beim Fahren?“

„Du klingst wie meine Mutter.“

Gerade als ich mich ärgern wollte, wurde ich von einigen Leuten zur Seite geschoben, die mir so die Zeit dazu nahmen.

„Du hättest längst auflegen können“, feixte Karyu.

„Wenn das hier so ne Art Wettkampf wird, dann kannst du das vergessen.“

„Das ist dein Problem“, sagte er, schimpfte einmal kurz wüst herum und fügte dann hinzu: „Du lässt dich ziemlich leicht anstacheln.“

„Ich lasse mich nicht anstacheln!“, entgegnete ich wütend und erntete damit diverse Blicke.

„Ohja, du hast mir eben wunderbar das Gegenteil bewiesen.“

„Dafür bist du besessen!“, hielt ich dagegen. Das war für ein Telefongespräch vielleicht das falsche Stichwort gewesen.

„Von was bin ich bitte besessen?“, fragte er angespannt.

Ich antwortete nicht, und er hakte auch nicht noch einmal nach. Das Einzige was ich hörte, war der tokyoter Verkehr. In mir rumorte es, und schließlich tastete ich mich zu einem frei gewordenen Platz durch und ließ mich fallen.

„Weißt du was?“, sagte ich dann zerknirscht. „Falsche Location für das Thema.“

„Mhm“, machte er nur.

Danach hatten wir aufgelegt. Und ich war mit einem ziemlich schlechten Gefühl in der Magengegend aus der Bahn gestiegen und in meinen viel zu langen Tag gestartet.
 

„Und?“, fragte Karyu, als ich ihm öffnete und er an mir vorbei herein gestolpert kam. Ich glotzte ihn verständnislos an, schloss die Tür wieder und musterte ihn einmal von oben bis unten. Er sah aus, wie einmal frisch durchs Wasser gezogen.

„Regnet es?“

„Nein es regnet nicht, ich habe nur eine Abkürzung durch das nächstbeste Schwimmbad genommen, NATÜRLICH regnet es! Würdest du nicht ständig über deinem Apple-Gedöns hängen, würdest du das wissen!“

„Guten Abend, übrigens“, merkte ich verstimmt an.

Er starrte mich einen Moment lang an, winkte dann ab und schnaubte. Ich verstand die Welt nicht mehr.

„Was zur Hölle ist jetzt wieder los? Und was Und?

„Ich kann dir gern sagen, was los ist.“ Er wischte sich einmal übers Gesicht und schüttelte seine Hand aus. Ich sah einige Wassertropfen auf meinem Boden landen. „Ich habe einen Zwölf-Stunden-Tag hinter mir, davon habe ich mir gute vier Stunden den Kopf über irgendwelche Lieder zerbrochen und bin sowas von NULL voran gekommen, und deine Anmerkung, dass ich angeblich von irgendwas besessen bin, hat mir die Konzentration natürlich enorm erleichtert! Und außerdem-!“

Er rang mit den Händen in der Luft.

„Ich stinke total von der Probe!“

„Willst du duschen?“, fragte ich hilflos. Er deutete mit einer ausschweifenden Geste an sich herab und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Das habe ich schon!“

„Ich gehe stark davon aus, dass du nicht nackt hierher-...“ Ich stockte. „Du bist also direkt-“

„Sonst wäre ich ja in tausend Jahren noch nicht dagewesen!“

Ich starrte ihn ungläubig an und zuckte zusammen, als er sich auf einmal eine Hand vor die Stirn schlug.

„Die Katze! Die Katze muss gefüttert werden!“

„Ich bin mir fast sicher, deine Frau hat das erledigt.“

„Oh. Ja. Wahrscheinlich.“

„Komm“, seufzte ich, schob ihn ins Wohnzimmer und zog ihm dabei die Jacke aus. „Du stinkst ja wirklich.“

„Danke für die Blumen.“

Ich zuckte mit den Schultern, musste ihn beinahe zwingen sich zu setzen und verschwand mit seiner triefenden Jacke im Bad, um sie ins Waschbecken zu legen. Als ich mich umdrehte um zurückzugehen, schrie ich einmal auf und machte einen Satz zurück, doch ehe ich in die Dusche stürzen konnte, hielt ich mich krampfhaft an den Türen fest.

„Was zum Teufel machst du da?“, fragte Karyu mit verzogenem Mund. Er stand in der Badezimmertür, die er mit seiner Größe voll ausfüllte und sah wie ein verregneter Verbrecher aus.

„Ich würde doch gerne duschen, denke ich“, fügte er dann höflicher hinzu.

Ich nickte, atmete einmal durch und befreite mich aus meiner verwickelten Position.

„Klar.“

„Hast du... hast du Sachen für mich?“

„Sicher.“

Während er hereinkam zog ich wahllos ein paar Handtücher aus einem Fach, legte sie ihm hin und verschwand, um irgendwas zum Anziehen zu suchen. Ich griff einfach in meinen Schrank hinein, nahm von jedem etwas und ging zurück zum Bad.

„Ich habe keine Ahnung, ob dir das passt“, sagte ich, während ich die Tür öffnete. „Aber dir bleibt wohl nichts Anderes als es- Herrgott, was MACHST du da?!“

Ich schmiss ihm die Sachen hin und schlug mir beide Hände vor die Augen. Es rumpelte, er fluchte und schließlich landete irgendwas ziemlich laut auf meine Toilette.

„Was ich mache?!“, fragte er erhitzt. „Ich zieh mich aus! Sowas macht man normalerweise, wenn man duscht! Und jetzt stell dich nicht so an, als hättest du noch nie meinen-“

Er brach ab und es herrschte eine ziemlich seltsame Stille.

„Den Satz nicht zu ende führen?“

„Den Satz nicht zu ende führen“, bestätigte ich.

„Okay. Du bist übrigens außer Gefahr.“

Ich traute mich vorsichtig, zwischen meinen Fingern hervor zu schielen und nahm meine Hände schließlich ganz herunter. Karyu saß oben ohne auf dem Toilettendeckel und hatte die Sachen, die ich ihm gebracht hatte, scheinbar aufgefangen und sich in den Schritt gepresst. Auf Höhe seiner Waden hing immer noch seine klitschnasse Hose, dank der er wohl herumgestolpert war. Auf seiner Nase und der Stirn hatte er rote Striemen, die wahrscheinlich Überbleibsel des Kampfes mit seinen Oberteilen waren. Seine Haare standen ihm halbtrocken und wüst vom Kopf ab.

„Das...“, setzte ich langsam an und suchte nach Worten. „Das ist... ein Bild für die Götter.“

Er zeigte mir den Mittelfinger.

„Wenn du jetzt mit deinem iPhone kommst, bist du tot.“

„Jaja.“

Ich erwiderte die Geste und verschwand.
 

Während ich nur einige Meter weiter die Dusche penetrant prasseln hörte, saß ich einfach auf der Couch und starrte die Wand an. Und bestimmt nicht weniger erfolgreich als am vorigen Abend. Das war auch genau der Moment, in dem mir wieder einfiel, dass ich mir ja die Zeit damit vertreiben könnte, mir den Kopf zu zerbrechen.

Über Karyu.

Über mich.

Über das, was aus uns geworden war, und vor Allem wieso.

Darüber, wieso ich mir über diesen ganzen Scheiß überhaupt den Kopf zerbrechen musste.

Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder hervor, rollte dabei die Bierflasche in meinen Händen hin und her und hielt sie ins Lampenlicht, um sie zu betrachten.

War ich vielleicht ein totales Weichei? War ich der einzige Mensch auf dieser Erde, der sich dachte, es muss irgendwas geklärt werden, obwohl es auf den ersten Blick nichts zu klären gab? Wieso versuchte ich überhaupt, in irgendwas herumzugraben?

Ich führte die Flasche näher an mein Gesicht und schielte auf das grüne, durchleuchtete Glas.

Wahrscheinlich war das nur diese absolut beschissene Stimmung am Vorabend gewesen. Man hätte ja beinahe glauben können, irgendjemand wäre gestorben.

Ich entfernte die Flasche wieder ganz langsam von meinem Gesicht, wandte aber meinen Blick nicht ab. Dann ließ ich sie wieder näher kommen.

Karyu und ich sahen scheiße aus, weil Umstellungen nicht innerhalb eines Jahres zu bewältigen sind. Wir sahen scheiße aus, weil wir viel Stress hatten, weil wir uns erst an die neuen Umstände gewöhnen mussten, weil das alles eine völlig andere Welt war als die vor dem Disbanding. Es musste schließlich weiter gehen. Ich übertrieb es einfach nur.

„Sag mal, was wird das, wenns fertig ist?“

Mein Blick schreckte hoch und ich stellte die Flasche auf dem Tisch ab. Karyu hatte eine Augenbraue gehoben und sah zwischen ihr und mir hin und her.

„Was?“

„Du wolltest gerade dein Bier hypnotisieren.“

Ich schloss einmal die Augen und rieb mir übers Gesicht.

„Wie lange bist du schon hier?“

„Lange genug, ums eigenartig zu finden.“

Er ließ sich neben mich fallen und verschränkte die Hände im Schoss. Die Ärmel des Pullovers, den ich ihm gegeben hatte, hörten weit über den Handgelenken auf, als er sich vorbeugte, um nach seiner Flasche zu greifen, wurde sein halber Rücken entblößt. Mein Blick wanderte zu seinen Beinen – die Hose hörte irgendwo auf der Hälfte der Schienbeine auf.

„Du siehst toll aus“, sagte ich, um meinen Ernst bemüht.

„Ja, oder?“ Er zupfte an seinen Sachen herum und warf sich in ein paar lächerliche Posen. „Ich wollte dich sowieso fragen, ob ich alles behalten darf.“

Er grinste kurz und ich ließ mich anstecken, doch dann musterte er mich durchdringend.

„Also“, setzte er schließlich gefasst an und nahm einen Schluck Bier. „Von was bin ich besessen?“

Ich schluckte unmerklich und tastete blind nach meiner Flasche. Über diese Badezimmer-Episode hatte ich vergessen, mit was für einer Laune er mir die Tür eingerannt hatte, an der ich scheinbar nicht wenig Mitschuld trug. Seine Augen flogen abwartend über mein Gesicht, und er machte irgendwie einen entrüsteten Eindruck. Einen verständnislosen. Ich hatte es doch nicht übertrieben.

„Du musst immer der Erste sein“, fing ich leise an und klammerte mich an mein Getränk. „Du musst immer alles selbst machen. In deinem Leben hast du noch nie Arbeit an andere abgegeben.“

Ich hatte damit gerechnet, dass er mir vielleicht seine Flasche über den Kopf zog oder wenigstens wütend wurde. Stattdessen saß er einfach nur da und musterte mich.

„Ich glaube, ich weiß wieso“, redete ich mutig weiter. „Du willst nicht, dass man vergessen könnte, dass etwas von dir ist. Hab ich recht? Jeder soll wissen, was du geschafft hast.“

„Früher hat es dich nicht gestört. Es hat euch alle nicht gestört.“

Es dauerte einen Moment, bis ich mir darüber bewusst wurde, dass er mir gar nicht widersprach. War ich gerade dabei, diesen Mann zu knacken?

„Du zelebrierst diese Eigenschaft viel exzessiver als früher. Abgesehen von unserer Anfangszeit, aber auch die übersteigst du.“

Er fixierte mich, senkte dann seinen Blick auf das Bier und nahm einen Schluck.

„Irgendwie muss man schließlich Fuß fassen.“

„Fuß fassen?“ Ich schnaubte und schüttelte Augen verdrehend den Kopf. „Bei Angelo musst du nicht Fuß fassen Du bist ein Schwergewicht in der Musikbranche hier, und sie haben dich ausgesucht. Wenn sich irgendwer irgendwo einen Namen machen muss, dann eher sie bei dir.“

Ich redete Scheiße. Absolute Scheiße. Das alles klang ja beinahe so, als hätten sie ihn von der Straße weggefangen und gezwungen bei ihnen mitzumachen. Er tat es freiwillig.

„Yoshitaka“, setzte ich an, nur um irgendwas zu sagen. Ich wusste im Augenblick nicht weiter.

Er musterte mich noch immer und wog dabei die Bierflasche in den Händen hin und her. Es begann mich mit einem Mal unheimlich aufzuregen, dass er gar nichts sagte. Könnte er mich nicht wenigstens anpöbeln? Mir auf seine eigene nicht selten eher derbere Weise mitteilen, dass ich wahrscheinlich total abdrehte? Ich atmete einmal tief durch und schloss für einen Moment die Augen.

„Du-“

„Ich bin nicht besessen.“

Ich stutzte und sah ihn verdattert an. Seine Augen lagen auf der Flasche, die er immer noch hin und her schwang, schließlich mehrere große Züge nahm. Erst dann sah er wieder auf.

„Du hingegen schon.“

„Ich-“, setzte ich an. „Ich-... was?!“

„Eine Tatsache.“

„Und von was bitte?“

„Von Apple, zum Beispiel“, kam es postwendend.

Ich hob meine Hände, um wild zu gestikulieren, doch mir fiel nichts ein, das ich dabei sagen könnte.

„Von Alkohol“, fuhr er ruhig fort.

„Von Alkohol?“

„Manchmal habe ich hier das Gefühl, dass du die Nächte damit verbringst, Bars auszurauben.“

„Das sind doch nur-“

„Hundert Flaschen? Neunundneunzig?“

Ich könnte mich nur mit Mühe davon abhalten, im Kopf nachzuzählen.

„Achtundneunzig?“, fragte er weiter.

„Weit drunter!“

Er prostete mir zu und nahm einen weiteren Schluck Bier, während ich meine eigene Flasche lustlos viel zu laut auf dem Tisch abstellte.

„Ich würde mich ja liebend gerne darüber aufregen“, erklärte ich schließlich so ruhig wie möglich, „aber erstens lasse ich mich ja bekanntlich nicht anstacheln und zweitens hätte ich Besseres erwartet, wenn du schon von der eigentlichen Sache ablenken willst.“

„Ablenken?“, wiederholte er unschuldig, und ich merkte wie ich meine Zähne zusammenbiss.

Warum?“

Als er erneut die Flasche ansetzen wollte, hielt er inne und betrachtete sie nur. Es wirkte auf einmal so, als wäre es ihm unangenehm mich anzusehen, und das bekräftige mich in meiner Meinung, dass ich anscheinend auf dem richtigen Weg war. Er wusste genau, wovon ich redete.

„Ich dachte, das wäre gestern geklärt worden. War das nicht eine Art Abmachung, dass wir darüber-“

„Nein.“

Ich sah dabei zu wie er seine Flasche neben die meine knallte und mich angespannt anfunkelte. Mein Mund öffnete und schloss sich einige Male.

„Es gab nie eine Abmachung. Es ist auch nie etwas geklärt worden. Weißt du was wir gestern gemacht haben?“

Er stand so rasant auf, dass ich leicht zusammenzuckte und ihm verwirrt mit meinen Blicken folgte. Er ging einmal um das Sofa herum und stellte sich direkt vor die Tür, die in den Flur führte. In den viel zu kurzen Sachen und mit den Schatten, die er warf, sah er aus wie ein surreales, verzogenes Abbild von Slenderman, der gerade seinen Anzug in der Reinigung hatte.

„Hier haben wir gestanden“, sagte er und drehte sich zu mir um. „Genau hier. Wir haben uns gestritten, dabei gegenseitig unterbrochen, dann habe ich mich unglaublich scheiße gefühlt, du dich auch und dann-...“ Er ging einen Schritt weiter. „Dann haben wir uns genau hier heulend in den Armen gelegen, weil uns das Leben so heftig in den Arsch getreten hat, dass wir beide jetzt aussehen wie wandelnde Leichen. Das ist die traurige Wahrheit darüber, was sich gestern hier geklärt hat. Nicht mehr, und nicht weniger. Im Grunde also nichts.“

Ich starrte ihn an und er starrte zurück. Aus irgendeinem Grund pumpte sich Adrenalin in so einer Geschwindigkeit durch meinen Körper, dass ich dachte, ich würde mich auf einem Lauf um mein Leben befinden.

„Und heute morgen fandest du meine Idee komischerweise noch ziemlich gut.“

„Morgens ist alles besser!“

„Also lassen wirs?“

Sein Blick driftete ins Verwirrte, als er realisiert hatte, was ich damit sagte.

„Sollen wir es lassen?“, fragte ich nochmal, während ich mich ebenfalls erhob. „Das scheinst du ja zu wollen.“

Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Von mir aus können wir so weiter machen, wie bisher“, log ich und kam ihm entgegen. „Wir können herum sitzen, uns irgendetwas in die Taschen lügen und dabei trinken ohne Ende. Und – oh! - ich bekomme gerade ein Déja Vue!“ Mit einem fahrigen Nicken deutete ich zwischen uns und ahmte seine Haltung nach. „Das ist die beste Ausgangsposition überhaupt! Vorausgesetzt, wir wollen wieder streiten und irgendetwas nicht klären, weil du ja offensichtlich zu nichts Anderem in der Lage bist!“

Die Hand kam schneller auf mich zugeflogen, als ich reagieren konnte. Wie angewurzelt blieb ich an Ort und stelle stehen, sah dabei zu, wie Karyu einen Satz auf mich zumachte und zum Schlag ausholte. Direkt vor meinem Gesicht stoppte er ab und ich wurde bleich. Wunder Punkt.

„Das“, setzte ich an, konnte aber nicht verhindern, dass mir die Stimme versagte. „Wäre sowas von unter deinem Niveau gewesen.“

Karyu antwortete nicht. Selbst blass geworden, ließ er seine Hand wieder sinken, während seine Augen über mein Gesicht flogen.

„Ist es das?“, fragte ich schließlich bitter und versuchte mir meinen Schock nicht ansehen zu lassen. „Das Einzige, was du nicht kannst?“

„Wer sagt, dass ich so etwas nicht kann?“, fragte er leise.

„Du tust es nie. Haben wir das nicht schon gestern-“

„HERRGOTT, wieso interessiert dich das alles so sehr?! Hast du nichts Anderes zu tun, als mir zu sagen, dass ich reden muss, dass ich besessen bin oder nicht über mich reden kann?! „

„Weil ich dir helfen will!“

„Wieso willst du mir helfen?!“

„Weil ich dich liebe, du beknackter Vollidiot!“, brüllte ich ihm entrüstet ins Gesicht, und merkte, wie der Boden unter meinen Füßen verschwand. „Du bist so ziemlich das dämlichste, das sturste, das-“ Ich gestikulierte und suchte nach Worten, während ich vor Scham und Wut hochrot im Gesicht wurde. „Das undankbarste Stück... japanischer, genialer Scheiße, das ich je kennengelernt habe, aber ich LIEBE dich!“

Er starrte mich an und Schweigen breitete sich aus. Vielleicht würde er die Ohrfeige ja noch nachholen.

„DAS“, sagte er dann und hob dabei einen Arm, sodass ich zusammenzuckte und mich vorsichtshalber von ihm weg lehnte.

„Das war-“ Er begann wie ich zu gestikulieren. „Die lausigste Liebeserklärung, die ich je bekommen habe! Scheiße!“

Beim letzten Wort stampfte er so kräftig auf den Boden, dass sogar ich die Vibration spüren konnte. Doch eigentlich war mir das egal. Mir war gerade alles egal. Ich Idiot hatte ihm gerade aus einer gefühlten Ein-Millimeter-Entfernung ins Gesicht geschrien, dass ich ihm nicht ganz abgeneigt war. Hatte ich dabei gespuckt? Hatte er dabei auf meiner Haut irgendwo einen Pickel entdeckt, der ihn erst zu diesem Scheiße-Ausruf verleitet hatte? Ich wollte nichts lieber, als die Zeit zurückdrehen zu können. Am besten genau zu dem Moment, bevor ich meine Klappe aufgerissen hatte.

„Und außerdem!“, fuhr ich einfach fort, um ihm gar nicht erst die Möglichkeit zu geben, richtig auf Gehörtes zu reagieren. „Außerdem! Du- DU! Du treibst mich in den Wahnsinn mit deinem kryptischen Gehabe, WANN in deinem Leben hast du jemals-“

„Cut!“

„- irgendwem WIRKLICH einmal die ganze Wahrheit-“

„CUT!“

„-gesagt?! Hast du noch nie davon gehört, dass es auch mal ganz gut tut, sich jemandem-“

„MICHIYA! CUT, CUT, CUT!“

Ich wollte weiter reden, doch er presste mir eine Hand auf den Mund, die ich wütend versuchte wieder loszuwerden. Mit einem schrillen, dumpfen Geräusch machte ich meinem Unmut darüber Luft.

„Könnten wir bitte ein wenig zurück rudern? Zum Beispiel zu der Stelle, wo du eindeutig so etwas wie Ich liebe dich gesagt hast?“

Ich musste ihn anstarren. Das, was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht. Er war blass. Er war versteift. Er konnte und wollte wahrscheinlich gar nicht glauben, in was das eskaliert war.

„Nein!“, rief ich, als er mich endlich losließ. „Können wir nicht! Vergiss es einfach, okay? Das ist mir so rausgerutscht!“

„Ich finde wirklich, wir sollten-“

„WIESO kannst du diese Tatsache nicht einfach hinnehmen und es einfach gut sein lassen?!“

„Kennst du irgendeine Person, die so etwas könnte?!“, fragte er laut und ballte die Hände zu Fäusten. Er wurde immer blasser. „Und außerdem – der Teil mit der japanischen Scheiße macht mir schon verdammte Sorgen!“

„Ich verstehe einfach nicht, wieso man über so etwas reden muss!“

„Du hättest es nicht sagen müssen!“

„Du hättest mich ja davon abhalten können! Du hättest darauf vorbereitet sein können!“

„Wie zur Hölle DAS denn?!“

„Heilige Scheiße, Yoshitaka, war das wirklich SO unoffensichtlich?!“

Karyu öffnete seinen Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Sein verdatterter Blick scannte mich von oben bis unten ab, und ich kam mir unheimlich nackt vor.

„Hast du es die ganzen Jahre echt nicht geschnallt?“, fragte ich erhitzt weiter. „Und dann wunderst du dich noch, dass ich dich ein Stück dämlicher-“

„Könnten wir diese Bezeichnung bitte überspringen?!“

„Hast du dich nie gewundert, wieso deine Frau mich wie die Pest meidet?!“

Ich griff mir wüst in die Haare und zog unterbewusst an ihnen, wahrscheinlich um irgendwie wieder zur Besinnung zu kommen. Dann traf es mich wie ein Schlag. Ich hatte quasi das Stichwort gegeben. Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass Karyu sich rührte, vermied es aber ihn anzusehen.

„Ich bin verheiratet“, sagte er schließlich mit einer erschreckend festen Stimme. Sie nahm mir sofort die Kraft dazu so etwas wie Oh, das wusste ich nicht! zu entgegnen. Schließlich traute ich mich ihm ins Gesicht zu blicken. Und da bekam ich Angst.

„Warum?“, fragte ich leise, als ich mir zutraute unter seinem distanziertem Blick überhaupt etwas zu sagen.

Er reagierte darauf nicht. Stattdessen warf er einen vagen Blick in Richtung Badezimmer, in dem er seine Jacke wusste. Übelkeit stieg in mir auf.

Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass Karyu sie längst holen gegangen war. Hinter mir raschelte es im Bad, dann kam er angezogen wieder heraus und stellte sich an die gleiche Stelle wie zuvor.

„Ich gehe jetzt“, sagte er.

„Warum?“, fragte ich wieder wie von selbst. Er schaute mich hilflos an.

„Weil ich eben besser-“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum? Weil du es nicht willst oder weil du es nicht packst?“

Ich betrachtete ihn mit verzogenen Mund und wartete vergeblich auf eine Antwort. Und als er mit einem leisen „Man sieht sich.“ durch die Tür verschwand, hatte ich das unheimliche Bedürfnis, mir die Kugel zu geben.

3

'Sie haben 5 verpasste Anrufe. Von: Gitarrenbratze. Bitte fragen Sie Ihre Mailbox ab.'

11:23, 27 Sep.
 

„Nein“, sagte ich.

Es dauerte einen Moment, bis ich es lächerlich fand, dass ich mit meinem Handy redete. Dabei war es das vielleicht gar nicht. Vielleicht hörte es dann endlich damit auf, mich so penetrant daran zu erinnern, dass ich nicht abnahm.

Seit diesem mehr oder weniger ziemlich frustrierenden Treffen mit Karyu hatte ich nicht mehr mit ihm geredet. Und obwohl ich gedacht hätte, nach ein paar Tagen genug Kraft getankt zu haben, um das zu tun, war das absolut nicht der Fall. Statt nämlich das zu tun, bin ich geistig vollkommen abwesend durch die Gegend geeiert und hatte mich gefragt wie dumm ich sein musste. Sehr dumm, wahrscheinlich. Mit nur einem Satz hatte ich womöglich unsere Freundschaft zerstört.

Mein Blick flog wieder zu meinem Handy, als es zu klingeln begann, doch ich konnte es nur erstarrt dabei beobachten. Karyu. Ich konnte nicht abnehmen.

Es hörte auf zu klingeln. Und das Vibrieren der Mitteilung ließ nicht lange auf sich warten.
 

'Sie haben 6 verpasste Anrufe. Von: Gitarrenbratze. Bitte fragen Sie Ihre Mailbox ab.'

11:25, 27 Sep.
 

„Nein!“, wiederholte ich eindringlich. Dann wieder ein Vibrieren. Ich biss die Zähne aufeinander und öffnete die SMS.
 

'michiya, ich kann mir gut vorstellen dass du wie ein bekloppter vor deinem handy sitzt. Wie wäre es mal mit rangehen?'

11:26, 27 Sep.
 

'immerhin können wir uns ja nicht ewig anschweigen. Aber wenn das dein plan ist, bitte.'

11:27, 27 Sep.
 

'würdest du rangehen, wenn ich GENAU JETZT nochmal anrufe?'

11:27, 27 Sep.
 

'...bitte?'

11:28, 27 Sep.
 

Mein Blick verschwamm langsam, während ich auf mein Handy starrte. Ich wusste nicht einmal, wie lange ich es tat. Aber irgendwann atmete ich einmal tief und zitternd durch. Und antwortete.
 

'nein.'

11:34, 27 Sep.
 

'…gut. Immerhin irgendein lebenszeichen. Findest du das witzig?'

11:35, 27 Sep.
 

'nein.'

11:36, 27 Sep.
 

'wieso machst du das dann?'

11:36, 27 Sep.
 

'weil ichs kann. Und weil ich nicht reden will.'

11:36, 27 Sep.
 

'ich erinner mich dunkel daran, dass du vor ein paar tagen vor lauter WIR MÜSSEN REDEN schon fast ne latte bekommen hast. Du kannst mir nicht einfach ein ich liebe dich an den kopf knallen und dich dann verziehen.'

11:40, 27 Sep.
 

'du hast dich verzogen.'

11:44, 27 Sep.
 

Es kam eine ganze Weile keine Antwort, woraus ich schloss, dass er ziemlich genau über diese Worte nachdachte. Es stimmte doch. Er war einfach abgehauen, obwohl er genauso gut hätte bleiben können, um mich zu einer Aufklärung zu zwingen.
 

'irgendwann muss man mal nen schlussstrich ziehen. Und der war erreicht.'

11:51, 27 Sep.
 

'ist dir aufgefallen, dass schlussstriche immer kommen, wenns mal ernst wird?'

11:53, 27 Sep.
 

'willst du jetzt endlich doch reden, oder was?'

11:55, 27 Sep.
 

'ohja, per sms ist das auch super persönlich.'

11:56, 27 Sep.
 

'dann, verdammte kacke, geh an dein handy!'

11:57, 27 Sep.
 

'ich will nicht.'

11:58, 27 Sep.
 

'michiya, ich schrei gleich.'

12:00, 27 Sep.
 

'und außerdem ist telefonieren ja auch nicht gerade der beste weg. Wenn du so dringend mit mir reden willst, musst du schon herkommen'

12:02, 27 Sep.
 

'ich arbeite, weil ich im gegensatz zu manch anderem hier nicht meinen freien tag habe. Aber vielleicht sollte ich hiermit ja auch nicht meine zeit verschwenden, wenn du so eine riesen lust hast rumzubocken.'

12:06, 27 Sep.
 

'ich bocke nicht. Ich sage dir nur wies aussieht.'

12:08, 27 Sep.
 

Darauf antwortete er nicht mehr. In meinem Magen bildete sich ein dicker Knoten, ich warf das Handy rücksichtslos aufs Bett und stand auf.

Auf meinem ziellosen Weg durch die Wohnung fragte mich, was ich da alles getan hatte. Was ich da angerichtet hatte. Erst jetzt wurde mir schleichend bewusst, dass das Verhältnis zwischen Karyu und mir nie wieder dasselbe sein würde. Egal, wie die Sache ausging.

Ich wusste nicht im geringsten, wieso ich auf diese Idee gekommen war, ihm meine Gefühle zu unterbreiten. Wahrscheinlich war ich in diesem Moment sowohl kopf- als auch hirnlos gewesen. Auf was hatte ich gehofft? Hatte ich überhaupt auf etwas gehofft? Dass Karyu schon eine Weile verheiratet war wusste ich wohl am allerbesten, und die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Frau aufgab, nur weil ich mal eben mit einem 'Hey Karyu, übrigens liebe ich dich!' daherkam, war verschwindend gering. Das hatte er mir mit seinem Abtritt vor ein paar Tagen bereits bestens bewiesen.

Als ich mich erstmalig wieder bewusst umsah, bemerkte ich, dass ich herrenlos mitten im Wohnzimmer herumstand. Unschlüssig darüber, was ich machen sollte, ließ ich mich irgendwann lustlos aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein.

Vielleicht hatte ich es ja doch absichtlich getan. Wenn das so war, war es ne ziemlich beschissene Idee gewesen. Vielleicht war ich aus irgendeinem Grund der Meinung gewesen, dass die derzeitigen Umstände gerade nur danach schrien, so etwas in den Raum zu werfen.

Mit einem tiefen Seufzen erinnerte ich mich an das, was ich gedacht hatte, kurz bevor wir den ersten kleinen Schritt in unsere ziemlich kleinen Unterhaltungen getan hatten. Dann wurde mir klar, dass ich es tatsächlich von Anfang an vorgehabt hatte. Übelkeit stieg in mir auf.

Mit leerem Blick zappte ich durch die Kanäle, während mich dieser Gedanke nicht losließ. Mir wurde klar, dass ich mit dieser ganzen Sache irgendwie mein Seelenheil befriedigen wollte. Ich wollte Klarheiten. Ich wollte, dass Karyu wieder so war wie früher. Ich wollte, das alles wieder so war wie früher.

Natürlich war mir klar, dass vieles einfach ein Ende gefunden hatte. Ob vorläufig oder endgültig, das kann niemand sagen. Wahrscheinlich war das auch besser so. Und trotzdem hatte ich diesen furchtbaren Drang dazu, soviel zu reparieren, wie es mir möglich war. Auch, wenn ich dafür Dinge kaputt machen musste. Sei es nun eine Ehe oder meine minimalen Hoffnungen. Keine besonders rosigen Aussichten.

Ich ließ die Fernbedienung sinken, als ich bei irgendeiner Dokumentation angekommen war. Um was genau es ging wusste ich nicht, aber zu sehen war irgendein Küstengebiet. Eine ganze Weile wurden nur Bilder vom Meer gezeigt, das in großen Wellen an die Ufer schlug. An Sandstränden, an Steinstränden, an Felsklippen.

Ich schaute eine ganze Weile einfach zu. Dann traf mich eine Erinnerung wie ein Schlag ins Gesicht.

Bis ich allerdings realisierte, wie essenziell sie sein konnte, brauchte ich eine Weile. Und schon im nächsten Moment war ich auf den Beinen, um zurück ins Schlafzimmer zu gehen. Dort angekommen wühlte ich in meinem Schrank nach irgendetwas, das ich auf der Straße anziehen konnte, ohne dämlich von allen Seiten beobachtet zu werden. Mein derzeitiger Auftritt in Jogginghose und schlabbrigem T-Shirt waren da wohl nicht die besten Voraussetzungen.

Mit fliegenden Fingern durchforstete ich mein Bett nach meinem Handy, fand es und steckte es mir in die Hosentasche. Alles drehte sich in mir. War ich vielleicht doch bescheuert?

Beim Durchqueren des Wohnzimmers griff ich nach der Fernbedienung um auszuschalten, ehe ich mir Wohnungs- und Autoschlüssel schnappte und schon beinahe hektisch die Wohnung verließ. Erst bei der Aufzugfahrt in den Keller, hatte ich wieder erstmalig Zeit darüber nachzudenken, was ich hier gerade tat.

Bilder flogen mir durch den Kopf. Ein nicht allzu großer Raum, ich glaube, es war in einem Backstagebereich. Flimmernde LED-Leuchten im Hintergrund, Stühle, voll gestellte Tische mit Taschen, Rucksäcken und Tüten.

Der Aufzug machte leise Pling und entließ mich in die Tiefgarage, die ich mit langen Schritten bis zu meinem Auto durchquerte. Ich schloss auf, stieg ein und fuhr hinaus.

Draußen erwartete mich der Grund, aus dem ich es meistens pflegte, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Ich hatte mich kaum zehn Meter von meiner Wohnung wegbewegt und stand im Stau. Mein Blick wanderte zur Uhr am Armaturenbrett. Mittagszeit.

Mit einem Seufzen rieb ich mir die Stirn und versuchte mich zu entspannen.

„Contenance“, sagte ich mir. Ich dachte daran, wie oft Karyu das kurz vor einem Auftritt gesagt hatte. Contenance. Ob er das bei Angelo auch tat?

Der Raum tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf. Staff lief ab und zu vorbei und von Tür zu Tür, während Karyu, Tsukasa, Hizumi und ich einem Mann gegenübersaßen. Er hatte Stift und Block in den Händen, und neben sich auf einem weiteren Stuhl lag ein Haufen mit Zeitschriften, allesamt mit Artikeln über uns. Ein Interview.

Ich brachte den Stau schneller hinter mich, als ich es für möglich gehalten hätte. Mein Weg führte mich bei der baldmöglichsten Abbiegung aus Tokyo hinaus. Und als ich mich nach geraumer Zeit tatsächlich außerhalb der Stadt befand, merkte ich, dass es sich über mir zuzog.

„Scheiße.“

Ich beugte mich vor, um die dunklen Wolken zu betrachten, doch im nächsten Moment schüttelte ich den Kopf. Egal. Scheißegal. Ich zog das jetzt durch. Karyu war nicht der einzige, der was an sich zu machen hatte. Wann war ich das letzte Mal klar im Kopf gewesen?

Unser Interviewer fragte irgendwas, doch ich konnte nur sehen, wie er seine Lippen bewegte. Er beugte sich einmal vor und wieder zurück und überschlug schließlich die Beine. Wir warfen uns Blicke untereinander zu. Ich glaube, sie waren ein bisschen unschlüssig gewesen. Nur Karyu streckte sich und drückte seinen Rücken gegen die Stuhllehne. Seine Schultern kreisten kurz.

Die ersten Tropfen fielen auf die Windschutzscheibe und ich stellte nach einer Weile mit verzogenem Mund die Scheibenwischer an. Es dauerte nicht lange, bis der Regen vor mir auf die Straße prasselte. Der Himmel war so dunkel, als hätten wir längst Abend, und einige Male musste ich tatsächlich mit mir ringen, nicht einfach wieder zurück in meine warme Wohnung zu fahren und mein Vorhaben zu verschieben. Aber ich schaffte es, nicht umzudrehen.

Karyu musterte den Mann vor uns ohne etwas zu sagen. Ich weiß noch, das meine Augen gespannt auf ihm gelegen haben, weil er so selbstverständlich ausgesehen hatte. Irgendwann hatte er sogar gelächelt, und das flimmrige LED-Licht hatte seine Haut dabei in einen gelblichen Ton getaucht. Ein eigenartiges Bild, von dem ich nicht wirklich wusste, ob ich es sich in meinem Kopf nicht verwandelte.

Sein Mund öffnete sich. Ich erinnerte mich an seine Worte, als hätte er es erst gerade eben zu mir gesagt.

“Sind Sie jemals ins Meer hinaus gewatet und haben einfach geschrien, weil Sie jung, schön und absolut unbesiegbar sind?“

Es folgte keine Antwort, nur ein langsames Nicken. Dann wurde etwas notiert. Anscheinend hatte dieser Mann das nicht. Aber das tat ohnehin nichts zur Sache. Hizumi und Tsukasa sagten leise etwas zueinander. Ich betrachtete Karyu immer noch. Das was er gesagt hatte, machte mehr Sinn als man glauben mochte. Wenn ich mich doch nur an die Frage erinnern könnte.

Karyus Worte hallten in mir nach, während ich stetig der Straße zur Küste hinunter folgte. Der Regen peitschte mittlerweile seitlich gegen mein Auto und ich musste gegen den Wind lenken. Schreien. Wieder merken, dass man lebte. Sich wieder unbesiegbar fühlen. Ich brauchte das.

Es verging noch eine ganze Weile, bis ich bereits das Rauschen der Wellen hören konnte. Hinter der nächsten Kurve tauchte das Meer direkt vor mir auf. Das Wasser spritzte die Klippen am Straßenrand empor und ich sah dabei wie gebannt zu, bis ich eine Stelle mit einem flachen Strand fand.

Ohne lange zu überlegen, bog ich auf den sandigen und buschigen Weg, der mich holpernd bis ans Wasser führte. Schließlich hielt ich unter ein paar Bäumen an und stellte den Motor ab. Jetzt war das Wellenrauschen beinahe ohrenbetäubend.

Ich lehnte mich zurück und sah dem Regen dabei zu, wie er mein Auto bombardierte. Ich wollte jetzt vieles, aber im Grunde auf keinen Fall aussteigen.

“Sind Sie jemals ins Meer hinaus gewatet und haben einfach geschrien, weil Sie jung, schön und absolut unbesiegbar sind?“

Mein Mund verzog sich, und ich betrachtete die weißen Wellenkämme durch die vom Regen verschmierte Scheibe. Nein. Noch nie. Wieso nicht?

Ich zählte bis drei, öffnete die Tür und stieg aus. Sofort schlug mir der Wind in den Nacken, rauschte mir in den Ohren und presste mich gegen das Auto. Innerhalb von Sekunden war ich durchnässt. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch, zog die Schultern ein und machte mich mit gesenktem Kopf auf den Weg ans Wasser.

Auf dem Weg dorthin fielen mir eigenartige Spuren im Sand auf, vom Regen schon wieder halb weggeschwemmt. Flache Furchen schlängelten sich neben mir entlang und begleiteten mich, bis sie irgendwann rechts verschwanden. Ich blieb wie erstarrt stehen, als ich erkannte, dass es Reifenspuren waren. Mein Kopf hob sich blitzartig, ein Schwall Regen klatsche mir ins Gesicht und aus zusammengekniffenen Augen nahm ich unweit von mir ein Auto wahr. Scheiße.

Ich ging erschrocken ein paar Schritte rückwärts und suchte nach irgendeiner Person. Wenn ich hier fremde Gesellschaft hatte, dann konnte ich direkt wieder verschwinden. Hinter dem Wagen kam jemand hervor, besser gesagt, er schien wieder aufzustehen, weil sein Kopf jetzt über das Dach ragte. Ich kniff die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können.

Er ging wie ich mit gesenktem Kopf in Richtung Wasser. Als er nun tatsächlich hervortrat starrte ich verdattert auf die leuchtend roten Badeshorts. Ein schlaksiger, großer Mann, etwa so lange Haare wie ich, blond. Das konnte doch nicht wahr sein.

Perplex beobachtete ich, wie Karyu mit den Füßen ins Wasser ging, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Augen lagen auf den Wellen, die ans Ufer rauschten, und als eine besonders große auf ihn zukam, entschied er sich lieber dazu, wieder ein paar Schritte rückwärts zu machen. Er hob seinen Kopf, sah einmal nach rechts, dann nach links. Und erstarrte. Anscheinend hatte er mich gesehen.

Ich stand wie angewurzelt da. Sollte ich umdrehen und einfach wieder wegfahren? Sollte ich bleiben? Sollte ich ihm sagen, was für ein verdammter Angsthase er war?

Karyu und ich musterten uns minutenlang, ohne dass sich einer von uns auch nur irgendwie rührte. Ich wüsste gerne, was in seinem Kopf vorging. Vielleicht Ähnliches wie in meinem.

Schließlich schaffte ich es irgendwie, mich aus meiner Starre zu lösen. Ohne es wirklich steuern zu können, stapfte ich durch den Sand auf ihn zu. Der Regen platschte mir unaufhörlich ins Gesicht, und ich wollte lieber nicht wissen, wie ich wohl schaute, als ich gute vier Meter von ihm entfernt wieder stehen blieb.

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?!“, brüllte ich dann gegen den heulenden Wind an.

Er musterte mich hin und hergerissen, und der Wind wehte ihm seine nassen Haare ins Gesicht. Mit einer wüsten Bewegung befreite er sich davon.

„Was soll nicht mein Ernst sein?!“, brüllte er zurück.

„Na, das hier!“

„Das ist ein freies Land, weißt du?!“ Sein Blick wanderte kurz zu meinem Wagen, der halb verdeckt in den Büschen stand. „Es wundert mich, dass du nicht mit dem Zug gekommen bist!“

„Sehr witzig!“, schrie ich.

„Ja, oder?!“

„Ja, total!“

„Was zur Hölle MACHST du hier?!“

„Was ich hier mache?!“ Ich deutete wüst auf seine Aufmachung. „Scheiße Yoshitaka, ich komme an und sehe, wie du in roten Badehosen bei einem verdammten Mistwetter am Strand rumtänzelst! Und da fragst du MICH was ich hier mache?! Musst du nicht arbeiten?!“

„Ich hab gesagt, ich fühl mich krank!“

Er machte eine Pause, in der er kurz mit seinen Händen rang. Einen Moment lang machte er einen verzweifelten Eindruck.

„Und so gelogen war das nicht!“

„Solltest du dann nicht lieber im Bett liegen?!“

„HERRGOTT, Michiya, du weißt genau, was ich meine!“

Ich antwortete nicht, sondern musterte ihn nur grimmig. Dann fragte ich mich, wie zur Hölle ich es bitte geschafft hatte, an einem entlegenen Strand und beim schlimmsten Wetter überhaupt genau den Menschen zu treffen, den ich Augenblick absolut gar nicht sehen wollte.

„Deine blöde Hose sieht man meterweit!“, rief ich schließlich verzweifelt. „Die sticht einem ja fast die Augen aus!“

„Ach, halt doch die Klappe!“

„Halt du doch die Klappe!“

„Nein!“

Er stampfte ein paar Schritte auf mich zu, sodass der schlammige Sand nach links und rechts spritzte. Sein Gesicht war von der Kälte gerötet, und irgendwie hatte ich das Gefühl, er wolle mir jeden Moment den Hals umdrehen.

„Also gut!“, sagte er dann ein wenig leiser. „Ich würde fast behaupten, dass es KEIN verdammter Zufall ist, dass wir beide jetzt hier herumlungern. Oder?!“

„Das weiß ich doch nicht, du-“

„Und deshalb würde ich sagen, wir tun jetzt einfach erst einmal das, weshalb wir hier sind!“

„Woher willst du wissen, weshalb ICH-“

„Oh Michiya, als ob du jetzt angeln wollen würdest!“ Er deutete in den Himmel. „Oder willst du dich vielleicht lieber in die Sonne legen?! Pack die Badehosen aus!“

Ich starrte ihn an und verschränkte langsam die Arme vor der Brust. Badehose. Oh.

„Was denn?!“ fragte er und verengte die Augen zu schlitzen, als ihm der Wind ins Gesicht peitschte. „Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du SO ins Wasser gehen willst?!“

„Wieso sollte ich es nicht wollen?!“, versuchte ich mich spitz zu verteidigen. Ich drehte mich in Richtung Meer und wollte bereits darauf zugehen, als Karyu seinen Arm ausstreckte und mich an der Schulter wieder zu sich herumdrehte. Er glotzte mich sprachlos an, ehe er zu grinsen begann.

„Du hast sie vergessen!“, rief er freudestrahlend. Dass wir uns kurz zuvor noch angeschrien hatten, war auf einmal unvorstellbar.

„Ich HABE sie nicht-“

„JAJAJA, natürlich nicht!“

Ich schnappte nach Luft, aber sagte nichts mehr. Wie konnte ich die ganze Zeit vorgehabt haben, mich blindlings ins Wasser zu stürzen und nicht dabei daran gedacht haben, dass man dazu vielleicht auch was anderes außer den Sachen an seinem Körper brauchte?

„Ich wette, Handtücher hast du auch nicht!“, stichelte Karyu weiter.

„Jetzt sei doch endlich mal still!“

„Nein! Ich bin nicht still! Schließlich willst du doch, dass ich mit dir rede, oder etwa nicht?!“

Wir starrten uns an, und neben uns rollte eine riesige Welle ans Ufer. Ihre Ausläufer erreichten unsere Füße und füllten meine Schuhe mit Wasser. Ich gab einen japsenden Laut von mir.

„Das ist was ganz anderes, und das weißt du auch!“, rief ich dann wütend. „Du machst dich über mich lustig!“

„Wann habe ich mich jemals über dich lustig gemacht?!“ Er gestikulierte wild, und ich lehnte mich zurück, um nicht getroffen zu werden. „Habe ich vielleicht gelacht, als du gesagt hast, dass du mich liebst?! Habe ich irgendeinen Witz drüber gemacht?!“

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Mein Kopf wanderte zwischen Meer und Karyu hin und her, und ich hatte auf einmal das unheimliche Bedürfnis, mich vor ihm in Sicherheit zu bringen.

„Idiot!“, sagte ich kraftlos.

„Der beste Idiot! Vergiss das nicht!“

Ich ging einen Schritt zurück, doch er hielt mich wieder fest. Seine Augen musterten mich eindringlich.

„Ich schlag dir was vor! Okay?!“

Mein Blick driftete ins Verwirrte, und ich versuchte mich von ihm loszumachen. Aber ich schaffte es nicht.

„Und was, bitteschön?!“

„Ich rede mit dir! Also so richtig! Du weißt schon! Und dafür unterhalten wir uns auch über das, was dir rausgerutscht ist! Aber erst einmal gehen wir in dieses scheiß Meer, bevor uns der Wind noch gegen den nächsten Baum klatscht!“

Wir schirmten gleichzeitig unsere Gesichter vor einer starken Bö ab, die den Regen wie kleine Steine auf uns schleuderte. Dann streckte er mir eine Hand hin.

„Deal?!“

„Deal!“, bestätigte ich nach einer halben Ewigkeit. Ich schlug ein, bekam aber gleichzeitig ein mulmiges Gefühl. Jetzt gab es kein zurück mehr.

„Na, dann runter mit den Klamotten!“

Ich wurde rot und war versucht ihm den Mittelfinger zu zeigen, ging stattdessen jedoch nur ein paar Meter von ihm weg und schälte mich aus meinen Sachen, die ich nach gewonnenem Kampf in den brackigen Sand fallen ließ. Die Shorts behielt ich an.

„Schade!“, rief Karyu scherzhaft hinter mir. Nun drehte ich mich doch um und vollführte eine wüste Geste.

Er winkte bloß ab und ging einige Schritte in Richtung Wellen. Ich rieb mir die Arme und tat es ihm zitternd gleich. Plötzlich fragte ich mich, wie er es solange halbnackt am Ufer ausgehalten hatte, ohne wie das Leiden Christi auszusehen.

Wir standen beide bis zu den Knöcheln im Wasser. Mein Blick lag auf den riesigen Wellen, die gemächlich auf uns zurollten und ich zweifelte wieder einen Moment an meinem grandiosen Einfall. Hätte ich nicht zuhause bleiben können? Meine Augen wanderten zu Karyu, der mich beobachtete. Nein. Es war schon irgendwie alles gut so.

„Fertig?!“, brüllte er.

„Ja, verdammt!“

„Auf drei!“

„Können wir nicht jeder für sich entscheiden, wann wir-“

„EINS!“

„Ich meine, das ist doch um einiges entspannender, wenn-“

„ZWEI!“

„Yoshitaka!“

„DREI!“

Karyu rannte los. Und während mir mein Herz in die Hosen rutschte, sah ich wieder nach geradeaus und tat es ihm gleich.

Mir blieb die Luft weg, als das eiskalte Meerwasser gegen mich klatschte. Mit wüsten Bewegungen versuchte ich mir meinen Weg freizurudern, strauchelte, wenn mir eine Welle ein Bein wegriss. Aber irgendwie schaffte ich es, nicht umgespült zu werden. Mein Herz klopfte mir im Hals, und genau den streckte ich mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe, wenn eine Welle auf mich zu rauschte.

Als ich bis zur Brust im Meer stand drehte ich mich um mich selbst und hielt nach Karyu Ausschau, ruderte mit den Armen und grub meine Zehen in den Sand, um möglichst an Ort und Stelle zu bleiben. Weiter hinten sah ich seinen Kopf aus dem Wasser stoßen. Anscheinend hatte er weniger Glück gehabt, als ich.

Ich hüpfte einer Welle davon und ruderte mich so gut es ging auf ihn zu. Das kalte Wasser hatte mich so wach bekommen, dass ich im Augenblick das Gefühl hatte, ich könnte einmal um die ganze Hauptinsel schwimmen. Aber vermutlich versuchte ich das lieber nicht.

Karyu schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht, und ich schirmte mit einer Hand mein Gesicht vor ihnen ab. Er drehte sich zu mir um, grinste, und gerade als ich etwas sagen wollte, packte er mich an den Schultern und drückte mich unter Wasser. Erschrocken schlug ich wild um mich. Irgendwann bekam ich gurgelnd seinen Kopf zu fassen und zog ihn ebenfalls hinab. Dann tauchte ich japsend wieder auf und rieb mir das Gesicht.

„Gehts noch?!“, fuhr ich ihn an, als er lachend wieder nach oben kam. „Wie wäre es, wenn du mir vorher-“

Er versuchte es noch einmal, und ich stemmte mich rechtzeitig von ihm ab und schwamm ein Stück davon.

„Ha! Damit hast du nicht- Yoshitaka?“

Ich starrte auf die Stelle, an der er sich eben noch geschüttelt hatte. Meine Augen flogen über die Wasseroberfläche. Wahrscheinlich hatte ihn eine Welle mitgerissen. Er würde jeden Moment wieder auftauchen.

„... Yoshitaka! Glaubst du vielleicht, das ist komisch?!“

Ich drehte mich um mich selbst und suchte die Wellen nach ihm ab, und gerade als ich Panik bekommen wollte, zerrte mich etwas an den Beinen unter Wasser. Ich landete fast mit meinem ganzen Körper auf dem Grund und sah gerade noch durch den aufgewirbelten Sand, dass Karyu wieder auftauchte. Wütend folgte ich ihm nach oben und stemmte mich auf seine Schultern, ehe er reagieren konnte. Es blubberte, und er verschwand wieder.

„Sonst nichts zu tun?!“, fragte ich, als er wieder hochkam und nach Luft japste. Er lachte jedoch nur, und als eine hohe Welle kam griff er nach meinem Arm und zog mich ein wenig nach oben, damit ich nicht erwischt wurde.

„Michiya!“

„Ja?!“

„Sind wir unbesiegbar, oder was?!“

“Wie kommst du jetzt-“

Ich hielt inne, als mir einfiel, auf was er sich berief. Natürlich. Immerhin waren das seine eigenen Worte gewesen.

„Keine Ahnung!“, antwortete ich irgendwie verunsichert.

„Falsche Antwort!“

„Woher willst du wissen, ob wir unbesiegbar sind?!“

„Ich weiß es einfach!“

Ich betrachtete ihn. Erst jetzt schien mir sein Lachen aufzufallen. Sein echtes, gelöstes und erleichtertes Lachen. Ich hatte es schon fast vergessen.

„... na gut!“

„Sag es!“

„JA!“

„SAG ES GANZ!“

„WIR SIND UNBESIEGBAR, VERDAMMTE SCHEISSE!“

„JA, UND WIE WIR DAS SIND!“

Zwei Wellen trafen direkt hinter uns aufeinander, klatschen über unseren Köpfen zusammen und strudelten uns unter Wasser. Ich wusste einen Moment lang nicht, wo Oben und Unten war, bis ich es schaffte mich wieder aufzustellen. Karyu war schneller als ich gewesen, griff nach meinen Schultern und zog mich wieder an die Oberfläche.

„Das ist ja totaler Selbstmord hier!“, rief ich.

„Ach was! Das ist Nervenkitzel!“

„Ich wette, wir werden total krank!“

Karyus Augen leuchteten und sein Grinsen wurde so breit, dass es schon einen Moment lang unnormal wirkte. Er atmete flach und etwas angestrengt und stemmte sich wie ich gegen das Wasser, das uns ständig von den Füßen heben wollte.

„Wir sind krank!“

Ich öffnete den Mund und hustete, als mir eine ganze Ladung Wasser ins Gesicht schwappte, gefolgt von einer weiteren Welle. Doch ehe ich irgendwie hätte untergehen können legte Karyu die Arme um mich und hob mich so hoch er konnte. Ich suchte Halt an ihm und beobachtete, wie das Wasser nur an meinem Bauch vorbei schwappte und Karyu dafür gurgelnd verschwinden ließ. Ehe ich etwas hätte tun können tauchte er wieder auf, schüttelte sich und ließ mich wieder runter.

„Idiot!“ sagte ich, musste aber lachen.

Er grinste mich an. Wir hatten uns nicht losgelassen und ich schob es auf die Erwartung einer weiteren Welle, bei der sich diese Szenerie wohl wiederholen würde. Ohne Vorwarnung wurden wir wieder herumgestrudelt, blieben aber oben. Nichtsdestotrotz hatten wir die Arme umeinander geschlungen und Karyu hob mich wieder an. Ehe ich mich versah schwebte mein Gesicht über seinem. Der kalte Regen klatschte mir in den Nacken, und ich versuchte mich mit diesem Gefühl irgendwie abzulenken, doch es gelang mir nicht. Wir betrachteten uns still, und als uns die nächste Welle herumschubste küssten wir uns.

Er drückte mich fest an sich und meine Hände verschwanden irgendwo zwischen seinen nassen, verklebten Haaren. Was ich eben noch an Kälte empfunden hatte, machte jetzt die aufsteigende Hitze in mir wett, mein Herz konnte sich nicht entscheiden, ob es mir in der Brust oder in der Kehle pochen wollte. Ich konnte nicht denken. Aber das war garantiert verdammt gut so.

Ohne voneinander abzulassen ließen wir uns schwer atmend durchs Wasser schieben und bemerkten die Wellen scheinbar nicht einmal mehr. Ich hatte meine Beine um Karyu geschlungen, und mich fest im Griff setzte er sich irgendwann in Bewegung, langsam, weil er nicht recht einordnen konnte, wohin er ging. Das Wasser wurde allmählich flacher, doch ich wollte mich nicht von ihm lösen um mich umzusehen.

Seine Schritte platschten im flachen Wasser stetig in Richtung Ufer, und irgendwann wirbelte er einmal mit mir herum und stellte mich so rasant ab, dass ich einmal kurz umher taumelte. Wie im Traum ließ ich es zu, dass er mich an der Hand hinter sich her zog, in Richtung seines Autos. Mein Herz klopfte mir immer noch wie wild irgendwo in meinem Körper. Ich musste träumen.

Er bückte sich nach seinem Kleiderhaufen und wühlte darin herum, zog schließlich die Wagenschlüssel hervor. Noch während er aufschloss schlang ich wieder die Arme um ihn, und irgendwie schafften wir es schließlich uns küssend auf der Rückbank zu landen.

Er hatte mich unter sich begraben, und die Hitze seiner Haut lullte mich ein. Ich konnte ihn nur verschwommen betrachten, während seine Hände über mich hinweg fuhren. Meine Schenkel hinauf bis zum Hosenbund, wo sich die Finger einhakten. Ich hielt die Luft an und wachte so plötzlich auf, dass mir ein unerträglicher, eisiger Schauer durch den Körper fuhr. Nicht so .

„Warte“, sagte ich bestimmt, als Karyu bereits in Begriff war, mich um mein letztes Stück Stoff zu erleichtern. Er hob den Kopf und blickte mich an.

„Das wäre ne scheiß Idee“, wisperte ich. „Wir- wir sollten nicht-“

Sein verklärter Blick wurde von Sekunde zu Sekunde normaler. Dann wurden seine Augen groß.

„Oh Gott.“ Er rieb sich einmal übers Gesicht, richtete sich schließlich auf. „Also-... oh Gott!“

Ich musterte ihn missmutig und zog meine Beine unter ihm hervor.

„Wir sollten...“

„... ja.“ Er machte eine Pause und musterte mich unschlüssig. „Wir... setzen uns am besten nach vorne. Ich mach die Klimaanlage an.“

Ohne ein weiteres Wort öffneten wir synchron die Autotüren. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich meine Sachen, die noch immer im Ufersand lagen. Mit großen Schritten lief ich hin, um sie zu holen, und drückte sie mir wie einen Schutzschild vor die Brust. Sand schmirgelte mir über die Haut. Was würde passieren, wenn wir jetzt einfach so beieinandersaßen?

Ohne ihn anzusehen ließ ich mich neben Karyu auf den Beifahrersitz fallen. Die Scheiben hatten sich bereits beschlagen, doch ich tat trotzdem so, als würde ich nach draußen blicken. Wortlos reichte er mir ein Handtuch, und ich nahm es mit einem leisen Dank entgegen.

„Falls du wieder über mich herfallen willst, ist jetzt wenigstens die Gangschaltung im Weg“, witzelte ich irgendwann trocken. Er grunzte nur.

Das war für eine lange, beinahe unerträgliche Weile das einzige, das gesagt wurde. Wir hatten uns in aller Stille so gut es ging abgetrocknet und schließlich auf die Handtücher gesetzt. Je mehr Zeit ich dazu bekam, über alles nachzudenken, desto weniger konnte ich fassen, was da überhaupt passiert war. Ich bekam eine unheimliche Angst davor, dass nur irgendein Affekt daran Schuld gewesen sein könnte. Vielleicht bereute Karyu alles zutiefst. Bei dem Gedanken wurde ich immer kleiner neben ihm, und ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, mein Gesicht abzuschirmen.

„Also“, sagte er irgendwann. Ich starrte auf dem Fenster. „Ich nehme an, wir haben beide nicht erwartet, was da eben... halt.“

„Nein“, entgegnete ich verkniffen.

Es wurde wieder still und ich lauschte dem Rauschen der Klimaanlage, die uns stetig Wärme entgegen pustete. Wenn ich mir vorstellte, dass wir noch vor Kurzem im Meer gestanden und rumgemacht hatten, dann konnte ich es nur mit Mühe fassen. Es wunderte mich, dass ich überhaupt noch etwas fassen konnte.

„Und?“, fragte ich nach geraumer Zeit. Meine Stimme klang viel lauter, als ich es erwartet hätte, und als wäre das ein Zeichen gewesen, stieg wieder eine ungeheure Nervosität in mir auf, die sich während des stetigem Ratterns des Autos wieder gelegt hatte. Mein Blick flog flüchtig nach rechts zu Karyu, dann richtete ich ihn jedoch schnell wieder auf die Frontscheibe. Wenn ich in diesem kurzen Moment etwas richtig hatte erkennen können, dann sah er gerade so aus wie ich mich fühlte. Perverserweise befriedigte mich das ein wenig.

„Keine Ahnung.“ Aus dem Augenwinkeln sah ich eine flüchtige Bewegung, als er sich ein paar Haare aus der Stirn strich. „Du... küsst gut. Immer noch.“

Ich wurde rot und rollte mit den Augen.

„Du kannst echt nicht gut reden.“

Karyu schnaubte verärgert, und als er einmal harsch seinen rechten Arm bewegte, bekam ich Angst davor, dass er zu mir herüber langen würde. Bilder tanzten vor meinem inneren Auge, wie er auf mich zusprang, die geballte Faust ausgestreckt. Doch sie verebbten wieder, als er lediglich zum Handschuhfach griff und vor meiner Nase seine Zigaretten raus holte.

„Auch eine?“

Ich nickte nur stumm und er drückte mir eine in die Hand, bevor er nach dem Zipper kramte und mit ihm meine und seine entzündete. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er es normalerweise nicht erlaubte, wenn in seinem Wagen geraucht wurde, aber ich ließ es bleiben. Vielleicht verlangten die Umstände das ja.

„Premiere“, brummte er. Damit war das geklärt.

„Den Geruch kriegst du nie mehr raus“, merkte ich trotzdem mürbe an. Mit einer Hand angelte ich nach dem Knopf an meiner Tür und öffnete das Fenster ein Stück. Sofort klatschte ein horizontaler Regenerguss zu uns herein und machte schnell wieder zu.

„Es regnet noch“, sagte Karyu. Ich verkniff es mir darauf zu antworten und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht.

Es drohte sich wieder eine unangenehme Stille auszubreiten, während der wir beide frustriert an unseren Zigaretten zogen und uns nicht ansahen. Stetig breitete sich der Rauch im Wagen aus und brannte mir bereits leicht in den Augen, bis ich mich dazu erbarmte mein Fenster wenigstens für einen Schlitz zu öffnen. Karyu tat es mir kurz darauf nach.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Und dann wurde mir plötzlich klar, dass wir noch in einem Jahr hier sitzen würden, wenn ich jetzt nicht meine Klappe auf bekam, so ungern ich auch derjenige sein wollte, der mit diesem heiklen Thema beginnen musste. Karyu jedenfalls würde wohl so schnell kein ernsthaftes Wort mehr herausbekommen. Man kannte die Umstände ja.

„Ich habe gelogen“, sagte ich dann einfach und nahm einen tiefen Zug ohne Karyu anzusehen. Nichtsdestotrotz merkte ich, dass er seinen Kopf zu mir gewandt hatte.

„Das mit der Französin, meine ich. Sie war nicht genau das Richtige. Sie war mit Abstand das Schlimmste, was passieren konnte.“

In meinen Augenwinkeln sackte Karyu ein wenig in sich zusammen und schien sich in den Sitz zu drücken.

„Oh“, machte er dann leise.

„Ich habe mich noch nie so elend gefühlt“, fuhr ich fort. Ein unsichtbares Gewicht legte sich mir auf die Brust und drückte auch mich hinunter. „Damit es nicht noch zum Problem in der Band werden würde, habe ich versucht es zu überspielen, so gut es ging.“

„Es tut mir leid“, sagte er hilflos. Der Ton, in dem er sprach, besänftigte mich ein wenig.

„Ich weiß. Ich will auch gar nicht wissen, wieso du das gemacht hast. Vielleicht wollte ich das vor zehn Jahren, aber da habe ich eisern meine Klappe gehalten. Jetzt denke ich mir: Wir waren gerade einmal vierundzwanzig. Eigentlich noch Kinder, jung und bescheuert. Wir hatten keine Ahnung von gar nichts, und da sollte einer von uns wissen, wieso er so einen Scheiß anstellt?“

Ich machte eine Pause, während der ich geistesabwesend die Regentropfen verfolgte, die sich die Frontscheibe hinunter kämpften und schon Dutzende kleine Bäche gebildet hatten.

„Das Traurige an der Sache ist... naja. Dass ich bis heute nonstop in dich verliebt war. Mal mehr und mal weniger, und ich habe keine Ahnung ob du es irgendwann noch einmal gemerkt hast. Und... ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe mich ab und an nur liiert um mich abzulenken. Aber hat das geklappt?“

Ich machte eine ausschweifende Geste.

„Sieht für mich nicht so aus.“ Mit einem bitteren Seufzen winkte ich einmal ab, als es so aussah, als wolle Karyu etwas sagen. „Und als du geheiratet hast... war die Sache sowieso gegessen. Hatte ich jedenfalls gedacht.“

Einen Moment überlegte ich, ob ich dem etwas hinzufügen sollte, doch stattdessen wischte ich mir einmal flüchtig über die Augen und zog an der Zigarette. Auch wenn ich ihn nicht offen ansah, konnte ich sehen, dass Karyu stocksteif neben mir saß und sich mindestens genauso unwohl fühlte, wie ich. Es glühte, als er ebenfalls seine Zigarette ansetzte und schier zu inhalieren schien. Dann warf er mir einen Blick zu, doch ich starrte bewusst nach vorne.

„Wie war es für dich?“, fragte er irgendwann gedehnt und vorsichtig. „Als ich es... euch gesagt habe.“

„Wie drei Flaschen Tequila am Vorabend und ein Schlag in die Fresse.“

Ich war ihm dankbar dafür, dass er darauf nichts sagte, sondern sich wie ich der Frontscheibe widmete. Mit verzogenem Mund erinnerte ich mich. Es war vor einer Probe gewesen, und er hatte penibel lange seine Gitarre gestimmt. Irgendwann war es ihm einfach rausgerutscht, und wir hatten ihn alle angestarrt. Hizumi und Tsukasa gratulierten ihm, nachdem sie mir einen Blick zugeworfen hatten. Da war mir klar geworden, dass es den beiden die ganze Zeit bewusst gewesen war. Es wurde spätestens offensichtlich, als Tsukasa mir in der Pause auf die Schulter geklopft und mich gefragt hatte, ob ich nicht später Lust auf ein Bier hätte.

„Ich hätte etwas sagen können“, sagte ich dann. „Ich hätte es die ganze Zeit tun können. Aber dann fiel mir immer die Sache in Paris ein, und ich bekam unheimlich Schiss davor, dass sich so etwas wiederholen könnte. Und dass es dann noch die Band kaputt macht.“

Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und wischte mir wieder übers Gesicht. Karyu reichte mir wortlos eine neue, die ich hochkonzentriert zwischen meinen Fingern herumdrehte.

„Jetzt nach dem Disbanding... keine Ahnung. Ich glaube, mir kam die dämliche Idee, dass die Voraussetzungen jetzt besser wären, oder so etwas. Ohne daran zu denken, dass du verheiratet bist. Oder gerade deswegen. Ich weiß es nicht. Es tut mir leid.“

Ich atmete einmal verbittert aus und zog die Beine hoch. Sie mit einem Arm umschlingend sah ich wieder nach draußen, an den Regenbächen auf der Scheibe vorbei zum Meer, wo sich immer noch die weißen Wellenkämme rasant aufs Ufer zubewegten. Was, wenn das alles auf nichts hinauslief? Was, wenn auf einmal ich die Französin war?

„Bereust du es?“, fragte ich schließlich ängstlich.

Er antwortete nicht. Stattdessen stieß er die Luft gedehnt hervor, was klang, als würde man Luft aus einem Reifen lassen. Dann beugte er sich nach vorne zum Aschenbecher und drückte auch seine Zigarette aus. Schließlich schüttelte er mit dem Kopf, und das Gewicht auf meiner Brust wurde so plötzlich von mir fortgeschleudert, dass ich mich im Schwung beinahe mit nach vorne reißen ließ. Trotzdem versuchte ich mich so ruhig wie möglich zu verhalten, griff nach dem Zipper und zündete meine zweite Zigarette an.

„Was sagst du dazu?“, wollte ich irgendwann vorsichtig wissen. Statt einmal harsch mit den Schultern zu zucken straffte er sie und änderte immer wieder seine Sitzposition, spielt dabei an der Zigarettenschachtel herum. Mir ging auf, dass er durch und durch nervös war. Um ihn in seinen Überlegungen in Ruhe zu lassen sah ich wieder hinaus und tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Schließlich fuhr er sich einmal mit beiden Händen übers Gesicht und seufzte.

„Ich...“, setzte er dann langsam an, und schien nach Worten zu suchen. „Ich hole mir jedes Mal auf deine Kosten einen runter.“

Mein Kopf flog nach rechts und ich starrte ihn an. Er war ganz plötzlich rot im Gesicht geworden und drehte die Schachtel noch schneller herum, scheinbar um sich irgendwie wieder runterzubringen. Mit aller Mühe hielt er sich davon ab, mich anzusehen.

Ich musste seine Worte noch einige Male im Kopf durchgehen, bis ich mir wirklich sicher war, mich nicht verhört zu haben. Ungläubig musterte ich ihn.

„Und meine Liebeserklärung soll lausig gewesen sein, ja?“

Als er abfällig grunzte und mir die Zigarettenschachtel an die Stirn warf, stahl sich sogar ein Grinsen auf mein Gesicht, das in einen kleinen Lacher mündete. Ich bemerkte, wie sich auch seine Mundwinkel flüchtig hoben, das erleichterte mich mehr als alles andere. Ich gewinne, dachte ich. Ich gewinne.

Dann wurde er jedoch wieder ernst und griff nach der Schachtel in meinem Schoß, um sich ebenfalls eine weitere Zigarette anzuzünden. Ich hatte mir schon gedacht, dass die Anmerkung mit dem Runterholen nicht alles gewesen sein konnte.

„Du hast mich gefragt, ob ich mich nie gewundert habe, wieso meine Frau dich meidet“, sagte er schließlich.

„Wie die Pest meidet.“

„Jaja.“ Er winkte ab und schien nachzudenken. „Die Antwort ist: nein.“

Ich verstand nicht und wartete mit fragendem Blick auf eine Erläuterung. Vielleicht wollte ich es auch nicht verstehen, weil ich das alles hier noch nicht glauben konnte.

„Ich habe mich nie gewundert“, fuhr er zögernd fort und begann nun damit, seine Worte genau abzuwägen. „Weil ich es weiß.“

Er gestikulierte eigenartig und vorsichtig und ich konnte es hinter seiner Stirn arbeiten sehen. Anscheinend tat er sich genauso schwer an solchen Dingen, wie ich es immer vermutet hatte.

„Sie... musste es mir nicht einmal sagen. Ich habe es von allein bemerkt, und ich glaube, das will etwas heißen. Du weißt sicher, dass ich... naja. Generell immer noch mehr Zeit mit dir als mit ihr verbracht habe.“

„Natürlich. Ich war dabei, weißt du?“

„Hat es dich nie gewundert?“, fragte er auf einmal überrascht.

„Mich-... was? Ich meine-...“ Ich hielt inne und glotzte ihn an. „Ich weiß nicht. Also-... oh.“

Mein Mund öffnete und schloss sich immer wieder. Jetzt wo er es sagte wurde mir diese Tatsache scheinbar erst wirklich bewusst. Zuvor schien ich mir tatsächlich nichts dabei gedacht zu haben, vielleicht wegen meiner eigenen Sperre, vielleicht hatte ich es auf die viele bandinterne Arbeit geschoben.

Karyu winkte neben mir einmal ab und holte mich damit wieder in die Gegenwart zurück.

„Das zum einen.“ Er atmete einmal tief durch. „Zum anderen wären da... meine Blicke. Also. Auf dich und auf sie. Ich konnte selbst schon spüren, wie unterschiedlich sie waren, wen wundert es dann, dass sie es gemerkt hat?“

Ich erinnerte mich daran, wie er nur ungern gegangen war, als wir mit diesen hirnrissigen Gesprächen angefangen hatten. Und daran, wie er gemeint hatte, es müsse auch einmal an Gesellschaft ausreichend sein, wenn er neben ihr geschlafen hat. Es dämmerte mir.

„Ich liebe dich“, sagte er plötzlich, und ich hustete. Er klopfte mir erschrocken auf den Rücken, redete dabei aber weiter: „Sie wusste das wohl von Anfang an, während ich Jahrhunderte dafür gebraucht habe, um mir darüber bewusst zu werden.“

Das war der Overkill.

Ich klopfte mir noch ein paar Mal auf die Brust und keuchte, während ich ihn anstarrte.

„Immer noch?“, fragte ich dann nach geraumer Zeit. „Schon wieder?“

„Immer noch. Glaube ich.“

Ich lehnte mich zurück und er tat es mir gleich, wir ließen uns dabei jedoch nicht aus den Augen. Vielleicht dachten wir gerade sogar dasselbe. Hatten wir wirklich jahrelang nebeneinander hergelebt und es einfach nicht kapiert? Hätte ich mich getraut doch etwas zu sagen, wenn ich das gewusst hätte? Mir wurde schwindelig bei dem Gedanken daran, dass alles hätte anders kommen können. Ob besser oder schlimmer, so weit wollte ich gar nicht denken.

„Und wann hast du diesen Geistesblitz gehabt?“, fragte ich ein wenig ernüchtert.

Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und wandte sich wieder von mir ab.

„Nicht bevor ich geheiratet habe“, sagte er dann trocken. „Aber ich glaube, ich hätte ihn viel früher haben müssen. Ich bin ein totaler Idiot.“

„Der beste Idiot“, verbesserte ich.

Statt mir noch einmal irgendwas gegen den Kopf zu werfen nickte er träge.

„Es tut mir leid.“ Er machte eine Pause. „Ich glaube... ich habe es vielleicht schon geahnt.“

Seine letzten Worte hingen ganz plötzlich schwer zwischen uns. Wo sich gerade in mir das Verlangen danach breit machen wollte, ihm den ganzen Mist nachzusehen, baute sich wieder eine Blockade auf. Ich spürte eine verletzte Wut in mir aufwallen.

„Warum hast du sie dann geheiratet?“, wollte ich wissen. Ich konnte nicht verhindern, frustriert zu klingen. Jetzt konnte ich nicht noch einmal die Klappe halten und in weiteren zehn Jahren sagen, dass ich es sowieso nicht mehr erfahren wollte.

Karyu schüttelte den Kopf und rieb sich wieder übers Gesicht. Seine Augen flogen von links nach rechts und zurück. Scheinbar fragte er sich das selbst.

„Ich hatte mich an sie gewöhnt“, sagte er schließlich, als wäre das eine Rechtfertigung. Sich an sie gewöhnt. Ich war plötzlich froh, nicht an ihrer Stelle zu sein, obwohl ich mir das schon oft gewünscht hatte.

„Das klingt ziemlich scheiße, ich weiß“, fuhr Karyu fort. Er aschte in den Becher, und ich meinte, bis jetzt hatte er noch kein einziges Mal an seiner Zigarette gezogen. „Und es ist auch scheiße. Und dumm. Total dumm. Vielleicht... hatte ich dieselben Befürchtungen wie du.“

„Du meinst, dass du mich aus Versehen wieder betrügst?“ fragte ich spitz.

„Das mit der Band“, entgegnete er mit einem Hauch von Hilflosigkeit und Wut. „Und dass... Michiya! Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass es so ziemlich das Dämlichste war, was ich je getan habe. Und ich habe schon viele dämliche Sachen gemacht!“

„Kann ich bezeugen“, sagte ich. Natürlich konnte ich das. Ich kannte ihn lange genug um zu wissen, dass er nicht selten schneller handelte als er denken konnte, egal um was es ging. Meine Wut ebbte wieder ab. „Tut mir leid.“

„Mhm.“

„Und... was machen wir jetzt?“

„Ich weiß es nicht.“

Ich dachte mir, dass ich schon etwas wüsste, aber ich wagte es nicht meinen Mund aufzumachen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihm diese Entscheidung überlassen zu müssen. Theoretisch gab es Unmengen an Dingen, die er oder ich oder wir beide jetzt tun oder lassen konnten. Was das Praktische betraf, wollte ich lieber nicht daran denken, was da noch alles nach hinten losgehen konnte.

Karyu drückte seine Zigarette aus. Ganz plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf meine eigene und tat es ihm gleich.

„Ne Ehe zu beenden ist ne ziemlich harte Sache“, sagte er schließlich. Alles in mir spannte sich an.

Klang er zweifelnd? Wollte er es lieber doch so belassen?

„Aber da werde ich wohl durch müssen.“

Ich entspannte mich wieder und fragte mich inständig, was ich erwartet hatte. Ohne es wirklich zu wollen drifteten meine Gedanken zu seiner Frau ab. Ich fragte mich, wieso sie diesen Schritt noch nicht getan hatte, obwohl sie offensichtlich wusste, was vor sich ging. Wieso sie sich nicht versucht hatte irgendwie an ihn zu binden, mit einer Schwangerschaft oder was auch immer. Ich war unheimlich froh, dass sie das nicht getan hatte.

„Sie ist ganz schön verschossen in dich, oder?“, fragte ich und versuchte ein bisschen lockerer zu klingen.

„Mhm.“ Sein Mund verzog sich. „Das wird eine Scheiße.“

Unweigerlich musste ich mich in sie hineinversetzen, und meine Brust schnürte sich wieder zu. Und auch wenn sie mich ziemlich offensichtlich nicht ausstehen konnte kam Mitleid in mir auf. Aber was sollte er machen? Was sollten wir machen? Die Sache offen zu klären beraubte sie immerhin nicht ihrer Würde, und das war auch nur ein geringer Trost.

„Ich würde dir das gerne abnehmen“, sagte ich irgendwann ehrlich.

Er drehte mir wieder seinen Kopf zu. Und das erste Mal seit meiner Fahrt ans Meer begann sich alles wieder irgendwie richtig anzufühlen. Seine Mundwinkel hoben sich langsam, bis er lächelte. Dann stieß etwas gegen meine Hand, und ohne meinen Augen von ihm abzuwenden umfasste ich seine Finger. Ich fühlte mich mit einem Mal viel leichter.

„Ich weiß“, sagte er leise. Danach waren wir wieder für eine Ewigkeit still.

4

Wie man sieht, ist es noch pünktlich im November fertig geworden! (HUSTKEUCHKRÄCHZHUST)

Unglaublich, dass mich ein so kurzes Kapitel solange aufhalten konnte. Ich könnte jetzt hier das Sprichwort mit der Kunst und dem Pupsen ablassen aber... nein. Viel Spaß!
 


 

Die Erkältung stellte sich nur zwei Tage später ein. Innerlich verfluchte ich mich halbherzig dafür, dass ich mir für diese Aktion keinen Taucheranzug gekauft hatte. Wahrscheinlich wäre dann das Aufeinandertreffen mit Karyu schlicht und ergreifend peinlich geworden. Aber ich würde dann auch nicht mit gefühlten zwanzigtausend benutzten Taschentüchern neben mir auf meiner Couch vor mich hin leiden.

Ich wischte mir übers Gesicht, zog hoch und tastete blind nach einer neuen Packung. Immerhin war ich nicht der Einzige, den es erwischt hatte. Dass Karyu die totale Breitseite abbekommen hatte, war mir allerdings der einzige Trost. Hey, hatte er mir gestern geschrieben. Ich würde ja anrufen, aber dann hättest du vermutlich gedacht, ein Hahn auf Crack hat mir das Handy geklaut und so lange drauf rumgehackt, bis er versehentlich deine Nummer gewählt hat. Naja. Ich nehme an, dich hats auch erwischt. Gute Besserung. Ich hatte mich sofort gefragt, wie ein Hahn bitte an Crack kommen sollte.

Natürlich war das nicht das einzige gewesen, woran ich gedacht hatte. Seine Nachricht hatte mich schlagartig zurück in sein Auto versetzt, indem wir uns mehr oder weniger füreinander ausgesprochen hatten, wenn man es gelinde sagte. Eigentlich hatten wir es jetzt schwarz auf weiß – wir liebten uns, verdammte Scheiße. Wir waren beide ein bisschen zu dumm gewesen um den perfekten Moment für dieses Statement abzupassen, aber jetzt war es raus. Seitdem hatte ich durchgängig ein inneres Hochgefühl, das ich lange nicht mehr gespürt hatte.

Wir hatten nach den paar Anmerkungen, die Karyu und seine Frau betrafen, das Thema nicht weiter fortgeführt. Wir hatten im Nachhinein generell nicht mehr viel geredet. Das Einzige, was mich deswegen nicht hatte nervös werden lassen, war, dass er meine Hand währenddessen nicht losgelassen hatte. Und als sich das Wetter beruhigt hatte, war jeder wieder seines Weges gegangen. Mit den Worten, es wäre besser, alles erst einmal sacken zu lassen.

Als wir das gesagt hatten, war mir das noch äußerst logisch vorgekommen. Jetzt fragte ich mich allerdings, ob zehn verdammte Jahre sacken lassen nicht schon genug gewesen war, auch wenn sich das nicht direkt vergleichen ließ. Machte ich mich vielleicht verrückt?

Ich warf das nächste Taschentuch auf den Haufen und befühlte meine wunde Nase. Meine Gedanken schweiften wild umher. Was machte Karyu? Wo war er gerade? Wo war seine Frau gerade?

Ich seufzte frustriert, zog meine Beine aufs Sofa und legte mich hin. Meine Augen hefteten sich an die Decke, die nach einer Weile auf mich zuzukommen schien. Karyus Frau. Wusste sie schon davon? Hatte er es fürs Erste für sich behalten? Ich konnte nicht sagen, ob ich es wissen wollte oder nicht. Ich wollte nicht einmal an sie denken. Je mehr ich es tat, desto stärker wurde meine Angst vor ihr, und ich konnte nicht einmal genau benennen, worin sie begründet lag. Vielleicht aber darin, dass sie der einzige Mensch auf der Erde war, der mich jetzt noch von meinem Glück trennte.

Als mir das bewusst wurde, zog sich mein Magen zusammen. Ich hatte unbewusst angenommen, dass sie das alles einfach hinnehmen würde. Aber wieso sollte sie, wenn sie doch bis jetzt mit der Gewissheit über Karyus Gefühle gelebt hatte ohne irgendwie nachgiebig zu werden? Übelkeit stieg in mir auf und mir wurde schwindelig, und ich konnte nicht sagen ob es an meiner Erkältung oder an der Erkenntnis lag, dass es nicht ausreichend war, halbnackt und bei gefühlten minus zwanzig Grad im Meer zu baden, um alles gut werden zu lassen.

Es war ein erster Schritt. Wir packen das.
 

Später an diesem Tag hatte ich mich erfolgreich in die Küche gekämpft, einen Kaffee gekocht und ihn direkt weggekippt, als ich in die Tasse gesehen hatte. Stattdessen saß ich jetzt mit einem Glas Wasser am Tisch und regte mich innerlich allmählich darüber auf, was für abgefahren-apokalyptisch-philosophische Gedankengänge ich hatte. Ich brauchte keine Angst mehr zu haben. Wovor auch? Zu einer Beziehung gehörten schließlich zwei, und Karyus Frau konnte ihn schlecht im Keller festketten und einsperren, ohne dass es irgendwann jemand merken würde. Herrgott, ich würde der Frau die Tür eintreten!

Mit einer viel zu wüsten Bewegung griff ich nach meinem Handy, kickte es damit vom Tisch und sog die Luft scharf ein, als es auf dem Boden auftraf. Ich bückte mich stöhnend und hatte das dringende Bedürfnis mir mit einer Hand den schweren Kopf zu halten, als ich es aufklaubte. Ich hasste es, krank zu sein.

Etwas grobmotorisch legte ich es wieder vor mich, stützte meinen Kopf nun wirklich ab und suchte schniefend und mit halb geschlossenen Augen nach Karyus Nachrichtenverlauf.
 

'Hey, dir auch gute besssreung. Chi woltle mich nur mla melnd... wie gehts vroan?'

17:25, 29 Sep.
 

Ich fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht und massierte mir die Schläfen, zuckte schließlich zusammen, als mein Handy beinahe sofort vibrierte.
 

'Gesundheit.'

17:25, 29 Sep.
 

'Was?'

17:26, 29 Sep.
 

'Ich dachte du hättest beim tippen vielleicht geniest. Sah jedenfalls so aus. Oder du hast bei einem handstand mit deiner nase geschrieben.'

17:27, 29 Sep.
 

Mit müden Augen überflog ich noch einmal meine erste Nachricht und seufzte.
 

'Hab kaum hingsehen.'

17:28, 29 Sep.
 

'Bist du betrunken?'

17:28, 29 Sep.
 

'Ich bin krank. Reden wri?'

17:29, 29 Sep.
 

'Ich auch. Und ich schaffe es noch hinzusehen, wenn ich tippe.'

17:30, 29 Sep.
 

'Reden wir denn?

17:31, 29 Sep.
 

Es folgte eine Weile keine Antwort. Dann:
 

'Meinst du, dein zartes gemüt packt das? Solltest du dich nicht lieber gesund schlafen, oder sowas?'

17:35, 29 Sep.
 

'Ich bekomm bestimmt kein auge zu.'

17:36, 29 Sep.
 

'Du wirst kein wort von mir verstehen.'

17:37, 29 Sep.
 

'Ich könnt schnell einen gebärdensprachencrashkurs belegen.'

17:38, 29 Sep.
 

Ich wartete einen Moment und fügte dann hinzu:
 

'Ich kann vorbeikommen.'

17:40, 29 Sep.
 

'Nein.'

17:40, 29 Sep.
 

Das kam beinahe sofort zurück. Dann:
 

'Ich meinte... nein, lieber nicht. Ich komm vorbei.'

17:40, 29 Sep.
 


 

„Du siehst beschissen aus.“

Karyu bedachte mich mit einem ironischen Blick und nickte dankend. Um seinen Hals schlang sich ein dicker Schal, hinter dem noch sein halbes Gesicht verschwand. Und dieses Mal reichten seine Augenringe wirklich zur Südhalbkugel.

Er zog einmal hoch und sah in den Tee hinab, an dem er sich die Hände wärmte. Ab und an kniff er die Augen zusammen, wenn die Rauchschwaden bis in sie hinein stiegen.

Er hatte mir nicht mehr gesagt, wieso er es für besser befand, wenn ich nicht bei ihm auftauchte, sondern umgekehrt. Im Grunde konnte ich mir verschiedene Begründungen dafür denken, doch ich wagte es nicht mich näher damit zu beschäftigen. Wie ich mich kannte, würden simple Erklärungen ohnehin wieder in Horrorvorstellungen münden.

„Du kannst von Glück reden, dass ich nicht vor Schreck die Flucht ergriffen habe, als du mir aufgemacht hast“, schnarrte er zurück. Eine Beschreibung meines Aussehens ersparte er mir Gott sei Dank.

Seine Stimme klang nicht ganz so nach 'Hahn auf Crack', wie er mir versichert hatte. Das ungute Gefühl, dass er damit Zeit schinden hatte wollen, überkam mich jäh, und beinahe genauso jäh verdrängte ich diesen dämlichen Gedanken wieder.

„Ich fühl mich nicht gut“, sagte er irgendwann. Ich hob nach einigem Zögern eine Augenbraue.

„Du bist auch-“ Ich unterbrach mich selbst, als mir klar wurde, was er meinte. „Oh.“

Karyu rührte eine Weile mit seinem Löffel im Tee herum, und das monotone Klingeln erfüllte einen Moment lang die Stille.

„Ich weiß, dass es klar ist, dass man sich erst einmal- keine Ahnung. Umgewöhnen muss, schätze ich.“

„Und eingewöhnen“, ergänzte ich und kam mir sofort dämlich vor.

„Und eingewöhnen“, wiederholte er gedehnt. Er schob die Tasse hin und her und ich konnte dabei zusehen, wie er nach den richtigen Worten suchte.

„Vielleicht hattest du recht.“

„Womit?“

„Mit... allem, eigentlich.“

„Oh.“

Ich sah auf mein leeres Wasserglas hinab, mit dem ich noch zuvor eine Tablette hinuntergespült hatte. Das erste Mal dachte ich wirklich darüber nach, was ich alles gesagt hatte und fragte mich einen Moment, ob ich davon auch wirklich überzeugt gewesen war oder ob ich ihn nur zum Reden hatte bringen wollen.

„Wahrscheinlich bin ich wirklich davon besessen, sowas wie der Erste zu sein.“ Seine eigenen Worte schienen ihm noch einmal im Kopf nachzuhallen, und er zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Okay, eigentlich... mit ziemlicher Sicherheit.“

Ich habe es gesagt, dachte ich. Aber ich hielt mich davon ab, es auch auszusprechen. Am besten rührte ich mich so weit es ging gar nicht, bevor Karyu noch vor Schreck aufsprang und die Flucht ergriff.

Er schob die Teetasse an ihrem Henkel hin und her und schien den Faden zu verlieren. Schließlich seufzte er einmal leise und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht, das auf einmal viel bleicher als vorher war.

„In D'espairsRay hat viel Arbeit gesteckt“, sagte er dann langsam und schaute dabei so, als müsse er jedes Wort konzentriert in einen sinnvollen Satz einfügen. Mein Magen fühlte sich auf einmal hohl an.

Ich nickte nur. Aber er schien es gut zu heißen, dass ich nichts weiter tat.

„Ich meine, wir haben alles mehr oder weniger aus dem Boden gestampft. Mit nichts. Und es war teilweise so scheiße schwer, du willst gar nicht wissen, wie oft ich ans Hinschmeißen gedacht habe.“

„Wir alle“, warf ich knapp ein, schenkte ihm aber einen verständnisvollen Blick.

„Mhm“, machte er. Erst setzte er dazu an fortzufahren, doch er blieb still und musterte mich. Ich sog langsam die Luft ein und betrachtete mich in seinen Augen, die bekümmert glänzten.

„Weißt du noch, wie du mich unter den Tisch getrunken hast?“, fragte er dann leise.

Ein wenig überrascht brauchte ich einen Moment, um mir bewusst darüber zu werden, was er da gesagt hatte. Während ich ihn betrachtete dachte ich an unsere erste Begegnung zurück, daran wie er sich Bier für Bier bestellt, während ich noch an meinem ersten getrunken hatte.

„Du hast dich selbst unter den Tisch getrunken“, entgegnete ich genauso leise. Er lächelte flüchtig und fuhr sich noch einmal über die Augen.

„Egal“, raunte er dann. Er schien sich an irgendetwas zu erinnern, denn er begann damit durch mich hindurchzusehen. Erst als ich mich zurückhaltend bemerkbar machte, blinzelte er.

„Uns wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Könntest du das bestreiten?“

„Nein“, sagte ich. Dann: „Aber irgendwie hatte es sich angedeutet.“

„Er wurde uns Stück für Stück weggerissen“, verbesserte er sich missmutig. „Und dann mit einem Ruck.“

Karyu schien das erste Mal mit dem Gedanken zu spielen, sich an seinem Tee zu verköstigen. Mit skeptischem Blick beugte er sich tief über die Tasse, roch daran, bis er schließlich einen kleinen Schluck zu sich nahm.

„Ich weiß gar nicht, wie ich das alles sagen soll“, gestand er schließlich. Sein Blick hob sich und richtete sich auf mich, ganz so, als erhoffte er sich irgendeine Hilfe von mir.

„Was ich da gedacht habe, meine ich. Oder wie ich mich gefühlt hab. Vielleicht hatte ich da die drei Flaschen Tequila und einen Schlag in die Fresse.“

Ich verzieh es ihm, dass er wie der einzige Leidtragende klang. Am Ende hatte er schließlich überhaupt dafür gesorgt, dass es D'espairsRay gegeben hatte.

„Ich hatte Angst, dass es nie wieder bergauf geht“, sagte er dann. Mit kreisenden Bewegungen schwenkte er seinen Tee wild herum, bis eine kleine Pfütze auf dem Tisch landete. Wir starrten beide so auf sie hinab, als ob wir erwarteten, dass sie unsere Probleme lösen könnte.

„Ich habe mir gesagt: Das wars jetzt. Zwölf Jahre, das ist eine lange Zeit, und es kam mir wie mein ganzes Leben vor.“

Karyu hob eine Hand, gestikulierte schwach und fuhr sich schließlich mit ihr einmal durchs Gesicht.

„Ganz kurz dachte ich wohl auch, ich könnte mir genauso gut die Kugel geben.“

Mein Körper spannte sich an, als er das sagte. Ohne mich dagegen wehren zu können stellte ich mir wieder diesen surrealen Backstagebereich vor, und anstatt dieses unvergesslichen Satzes sagte Karyu nichts, saß nur da, kippte auf einmal zur Seite um und blieb regungslos am Boden liegen. Mehrere Schauer flossen durch meinen Körper, klatschten in meiner Magengegend aufeinander und verursachten Übelkeit.

„Aber...“, sagte er. Dann schwieg er sich lange aus und sein Blick flog über mich hinweg.

Seine Augen kamen mir mit einem Mal viel wärmer vor. Auch wenn mir immer noch danach war, das wenige Essen, das ich heute zu mir genommen hatte, wieder loszuwerden, ebbte das Gefühl nach und nach ab. Wo zur Hölle waren wir, wenn wir schon übers sterben reden mussten?

Dem Aber fügte er nichts mehr hinzu. Und je länger er mich so eingehend betrachtete, desto sicherer war ich mir zu wissen, was er mir damit sagen wollte. Meine Lunge füllte sich langsam mit Luft, während ich zurück schaute und mein Mundwinkel nach oben zuckte.

„Ich hoffe, das war nicht der einzige Grund, der dich abgehalten hat.“

Ich hatte so leise gesprochen, dass mir die Stimme beinahe versagt hatte, und was einen aufbauenden Ton haben sollte, endete in einem kränklichen Krächzen. Jetzt stellte sich auch noch Heiserkeit ein.

„Seh ich suizidgefährdet aus?“, fragte er ein wenig überrascht.

„Willst du eine ehrliche Antwort?“

Ehe ich mich versah, hatte er sich zu mir über den Tisch gebeugt und unsere Köpfe prallten in einer eher unsanften Kopfnuss aufeinander. Ich meinte sogar ein flüchtiges Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, als ich aufstöhnte und mich mir die Stirn reibend zurücklehnte.

„Warum machst du sowas?“

„Weil ichs kann.“

Ich hasste seine Totschlag-Argumente.

„Ich musste etwas machen, um nicht durchzudrehen“, fuhr er vollkommen unvermittelt fort. „Ich musste mich irgendwie... naja. Nützlich fühlen. Da kam mir Angelo genau richtig. Ich gebe zu, ich habe nicht wirklich über das nachgedacht, was ich gemacht habe. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt irgendwie gedacht habe. Aber ich fühle mich jetzt nicht, als hätte ich die schlimmste Entscheidung meines Lebens getroffen. Es ist... irgendwie schon gut so. Verstehst du, was ich meine?“

Natürlich verstand ich, was er meinte. Er hatte jetzt etwas zu tun, hatte vor lauter Arbeit kaum Zeit, sich lange mit dem Disbanding zu beschäftigen. Das war genau das, was er gewollt hatte.

„Aber es ist trotzdem erschütternd.“ Sein Mund verzog sich und ich beobachtete, wie er mit einer ungeheuerlichen Konzentration seinen Zeigefinger immer wieder in den Tee tauchte und wieder hinauszog. „Ich fange von vorne an. Das ist ein bisschen... als müsste ich wieder laufen lernen. Und als wäre ich ein Adoptivkind.“

Adoptivkind. Das traf es irgendwie. In mir zog es sich für einen Augenblick zusammen, als ich an den Moment zurückdachte, in dem wir unsere Trennung beschlossen hatten. Als hätte ich meine Familie ins Grab getragen.

Mir war aber genauso klar, dass es nicht so war. Für Tsukasa und mich wohl ohnehin nicht, da wir das Vergnügen hatten, weiterhin miteinander unter einer Decke zu stecken. Karyu schien auch zu wissen, dass das, was er da dachte, zum Teil für Außenstehende wie ein Weltuntergang klang. Aber so war das eben, wenn man sich von dem trennen musste, was man liebte.

„Erst einmal“, setzte ich nach einer zähen Stille an, „der Tee hat auch Gefühle. Du musst ihn nicht nonstop aufspießen und zu Tode rühren.“

Karyu hielt in seiner Bewegung inne und schien erst jetzt zu realisieren, was er bis eben getan hatte. Er blinzelte und sah schließlich zu mir auf.

„Und zweitens: Du musst gar nicht laufen lernen. Du sprintest so schnell, dass du schon wieder hinter den anderen raus kommst.“

Er glotzte mich an und ich winkte einmal ab.

„Lass mich philosophisch reden! Ich glaube, das macht die Erkältung. Jedenfalls habe ich dir ja schon nicht selten vermittelt, dass du der Beste bist. Jetzt fang endlich damit an, es auch selbst zu glauben.“

Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, der Finger steckte noch immer tief in seiner Tasse. Als ich ihn so ansah, entkam mir unwillkürlich ein schnaufendes Lachen.

„Und ja, ich verstehe was du meinst“, fuhr ich dann wieder todernst fort. „Du darfst den Finger übrigens rausnehmen.“

Er zögerte einen Moment, tat dann wie ihm geheißen. Völlig unvermittelt schnipste er mir die Flüssigkeit ins Gesicht.

„Warum-“

„Weil ichs-“

„Ich weiß.“

„Okay.“

Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich mir über Augen und Wangen.

„Glaubst du das wirklich?“, fragte er irgendwann.

„Was?“

„Dass ich der Beste bin.“

„Yoshitaka, wie oft muss ich es noch sagen? Du warst schon der Beste, als wir uns das erste Mal gesehen haben, und du wirst es immer bleiben.“

Seine Augen weiteten sich einen Moment und sie flogen wild über mich hinweg. Je länger ich ihm dabei zusah, desto eigenartiger kam ich mir vor. Und dann brach er in Tränen aus.

Ich starrte ihn stutzig an und wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Hand zuckte kurz, als sie sich nach ihm ausstrecken wollte, doch ich war mit einem Mal wie festgefroren. Während ich ihm hilflos zusah, merkte ich, wie meine Augen ebenfalls feucht wurden.

„Yoshitaka-... das-... also... muss das-...“

Ich brach ab und verbarg mein Gesicht in den Händen. Die nächsten Minuten zogen ins Land, und wir hockten erkältet vor einander und heulten uns die Seele aus dem Leib.
 

Vielleicht waren aus den Minuten auch Stunden geworden. So im Nachhinein konnte ich das nicht ganz genau sagen. Was ich noch wusste war, dass wir uns irgendwann mit abgehackten Sätzen darauf geeinigt hatten ins Wohnzimmer umzuziehen. Auf Dauer wurde ein Küche für so etwas zu unwirtlich.

Und jetzt saßen wir da, dicht aneinander gedrängt. Unsere Blicke lagen auf den Fenstern, hinter denen es bereits dunkel wurde. Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht, dass so alles angefangen hatte.

„Kommt mir bekannt vor“, sagte Karyu irgendwann und zog hoch. Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu und fragte mich, ob meine Augen auch so gerötet waren.

„Mhm.“

Es raschelte, als wir beinahe gleichzeitig unsere Beine aufs Sofa zogen. Ich merkte, dass wir beide flüchtig darüber schmunzelten.

„Es geht weiter.“

Karyu wandte mir seinen Kopf zu, und nach einigem Zögern tat ich es ihm gleich. Er sah irgendwie ernüchtert aus, vielleicht sogar ein wenig resigniert. Aber nicht mehr so elend wie zuvor.

„Kommen wir zurück? Wenn es irgendwann funktioniert?“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Wer konnte schon sagen, wann das soweit war.

„Yoshitaka ich- wir können nichts versprechen, oder? Das einzige was ich sicher sagen kann ist, dass ich jetzt wohl alles dafür stehen und liegen lassen würde. Aber wir beide wissen nicht, wie wir darüber in ein paar Jahren denken.“

Seine Augen wurden trüb, während er darüber nachdachte und sich wieder von mir abwandte. Mit einem flauen Gefühl legte ich ihm eine Hand auf den Arm.

„Ich will nur nicht etwas versprechen, was ich vielleicht nicht-“

„Ich weiß schon“, unterbrach er mich. „Ich weiß.“

Zögernd zog ich meine Hand wieder zurück und es wurde still. Nach einer halben Ewigkeit seufzte er gedehnt.

„Nehmen wir an, die Möglichkeit fällt jetzt einfach vom Himmel. Wärst du jetzt wirklich dabei?“

„Ja.“

„Ganz? Also, so voll und ganz?“

„Voll und ganz. So voll und ganz, dass ich dir sogar beim Schreiben helfen würde.“

„Gut.“ Er musterte mich wieder und sein ernstes Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Das reicht mir für den Moment.“

Wir musterten uns, bis ich in stiller Übereinkunft näher an ihn heran rückte und er mir einen Arm um die Schultern legte.

„Dafür haben wir uns“, sagte ich leise und mir wurde erst im Nachhinein klar, was ich da redete. Mein Blick hob sich zu seinem Gesicht, als er eine Weile nicht reagierte. Ein Knoten drohte sich wieder in mir zu bilden. „Ich meine... also... wir haben uns doch, oder?“

Er schwieg weiter und schaute gedankenverloren hinaus. Es war unvorstellbar was ich gegeben hätte, um ihm jetzt in den Kopf zu schauen. Irgendwann sah er zögernd zu mir hinab.

„Ja“, sagte er dann. Ja „Wenn du wüsstest, wie viel Geschirr ich dafür ausgewichen bin.“

Meine Augen weiteten sich ungläubig.

„Sie wollte sogar die Katze werfen, aber damit waren weder ich noch Ryuutarou einverstanden.“

„Die Katze- also...“

„Michiya, das war ein Scherz.“

„Ja... ja, ich weiß.“

Mit einem zweifelnden Blick lehnte er sich nach vorne um nach seinem inzwischen frische Tee zu greifen, doch er hielt inne.

„Sie ist seit gestern bei ihrer Mutter. Über den ganzen offiziellen Kram will ich gar nicht nachdenken. Und... Michiya? Es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“, fragte ich verwirrt.

„Alles.“

Er sah mich über die Schulter hinweg an, ließ sich schließlich tassenlos wieder zu mir sinken. Seine Augen schnellten von links nach rechts und zurück und schienen mich nur schwer erfassen zu können. Ich konnte in ihnen mein Spiegelbild sehen, so dunkel waren sie. Karyu hatte seine Stirn faltig gezogen, den Mund leicht geöffnet und schien nach Worten zu suchen. Ich hielt den Atem an.

„Ich wollte dich nie verletzen.“

Seine Stimme hallte in mir nach und ich musterte ihn ruhig. Ich dachte zurück, ich dachte an all die Jahre die wir uns jetzt kannten. Daran, wie alles in Tokyo seinen Anfang genommen hatte. Daran, mit wie viel Herzblut wir uns um die Band gekümmert hatten, wie unser Traum in Erfüllung gegangen war. Und all die Tage und Wochen und Monate, in denen ich ihn still und heimlich vor mich hin geliebt hatte, waren diesen Moment hier wert gewesen. Es war im Grunde nie mehr als ein Warten auf das Richtige, und alle Wut und Trauer und was er mir sonst noch unbemerkt bereitet hatte, fielen von mir ab, als wären sie nie dagewesen. Ich verzieh ihm, dass er ein Idiot war. Ich verzieh ihm, dass er nie nachdachte. Ich verzieh ihm mit einem Mal alles.

„Yoshitaka.“ Ich griff nach einer seiner Hände und umschloss sie mit den meinen. Seine Augen weiteten sich nervös, doch ich schaffte es das erste Mal seit Tagen aufrichtig zu lächeln. „Du kannst mich nicht verletzen.“

Es schien eine Weile zu dauern, bis das Maß dieser Aussage zu ihm durchgedrungen war. Seine Augen begannen zu funkeln und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, es hatte sich nie etwas zwischen uns verändert.

Stillschweigend zog er mich in seine Arme und ich vergrub meine Hände in seinen Haaren. Es war ganz anders dabei nicht im arktisch kalten Meer zu stehen und sich später darüber bewusst zu werden, dass es irgendwie ein Fehler war. Aber das hier war kein Fehler. Wir hatten uns endlich wieder, auch wenn wir uns nie wirklich verloren hatten.

Als wir uns voneinander lösten schwebten unsere Lippen so dicht voreinander, dass ich jeden noch so kleinen Luftzug spüren konnte, der aus ihnen austrat. Wie gebannt starrten wir uns an.

„Musst du heute noch die Katze füttern?“, fragte ich.

Etwas schelmisches trat in seinen Blick und sein Mund verzog sich. Er grinste.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Cilia
2013-07-21T16:58:02+00:00 21.07.2013 18:58
das ist es. ich konnte den letzten absatz fast nicht lesen, weil ich nicht wollte, dass es zu Ende geht.
das ist ganz ehrlich die beste fanfic, die ich jemals gelesen habe. sie ist schreibtechnisch die beste, storymäßig die beste, und sie gibt mir ein unglaublich gutes gefühl. so eine story hab ich ganz dringend gebraucht. danke. bitte bei der kleinsten idee weitermachen und uns weiter heilen.
Antwort von:  Tricksy
21.07.2013 22:22
Jetzt fühle ich mich eine Runde monströs geehrt! :D danke!
Von:  Cilia
2013-07-21T16:45:20+00:00 21.07.2013 18:45
traumhaft...großartig. ich hab das gefühl, dieselbe erleichterung zu spüren wie zero, wenn auch aus anderen gründen.
ich frag mich immer wieder, wie weit deine überlegungen zu der zeit nach 2011 von der realität abweichen oder nicht. es hilft so sehr, zu glauben, dass gewisse gespräche stattgefunden haben könnten.
Antwort von:  Tricksy
07.08.2013 00:50
Kaum zu glauben, dass ich versäumt hab hierdrauf zu antworten! Ich gestehe, dass die FF so ne Art Verarbeitung für mich war, wobei ich in Sachen Disbanding trotzdem so realistisch wie möglich denken wollte. Das lässt sich ja nicht alles mit einem Fingerschnippen 'zurecht rücken'. Es ist alles wie es ist und es tut gut sich vorstellen zu können, dass sie vielleicht wieder kommen. Bis dahin dürfen sie sich austoben.
In diesem Sinne: nochmal lieben Dank für die mich erröten lassenden Kommentare! 8D
Von:  Phoenix_Michie
2013-03-12T19:13:11+00:00 12.03.2013 20:13
Ich bin überrascht, dass du es tatsächlich noch pünktlich geschafft hast! Der November hat zum Glück genügend Tage gehabt xDDD
So schön dieses Kapitel auch war und so sehr ich mich freue...so traurig bin ich gleichzeitig dennoch, dass alles nun bereits ein Ende hat... T_______T
So..ein Bonuskapitel oder so wäre ja schon schön xD

Einer der besten Momente ist ja, wo Karyu dann eher gegen Ende endlich mal damit rausrückt, dass er es seiner Frau schon gesagt hat. Da dachte ich mir so: Man, JETZT ERST sagst du das?! Hallo!
Und der arme Kater xD' Der kann nun wirklich nichts dafür ûu Eine Frechheit, dass das Weib ihn schmeißen wollte :<

Zero ist aber unendlich knuffig...zu sagen, dass Karyu ihn niemals verletzen würde..hach ja ♥
Mensch wie machst du das nur?! Ich liebe deinen Stil einfach..deine Ideen...ich wünschte, ich könnte sowas auch *^* Doch da ich es nicht kann, aber in den Genuss deiner wunderbaren FF kam...bin ich froh, ein weiteres Vorbild gefunden zu haben *-*

*noch ein paar Tränen vergieß*
Ich werde die beiden und deren tiefgehende Unterhaltungen vermissen :< (wobei ich deren SMS immer zum Schießen finde xD)

Liebe Grüße und alles Gute ♥
Von:  -Zero-chan-
2012-11-18T13:09:25+00:00 18.11.2012 14:09
Oh man, ich bin so hin und weg von diesem Kapitel, traurig und glücklich zugleich. Mehr aber wohl traurig.
Es hat mich so zu Tränen gerührt, was da passierte.
Es waren die passenden Worte für dieses Szenario und einmalig tolle Ideen für diese Umsetzung von dir.
Es ist schwer das Kapitel zu beschreiben. Dramatik und Romantik zu gleich, nachempfindbare Reaktionen, Charaktertreue, aufsteigende Zweifel, unendliche Liebe, Leidenschaft und Hilf- bzw. Ratlosigkeit... in einem Wort: WOW ♥
Vielen Dank für diese FF, für dieses neue Kapitel und schreib bitte weiter!
Von:  Phoenix_Michie
2012-11-18T12:44:16+00:00 18.11.2012 13:44
Ich kann gar nicht sagen, was ich zu diesem Kapitel denke. Oh man...*Gedanken sortier*
Also erstmal! bin ich sehr froh, dass es endlich ein neues Kapitel gibt! Ich LIEBE diese FF. Sie ist wundervoll, und ich hab ganz gespannt gelesen >o< (Es ist auch wieder ein wunderbar langes Kapitel *-*)
Ich musste lachen, aber habe auch das ein oder andere Tränchen verdrückt. Für mich verbindest du Ernst und Witz auf wunderbare Art und Weise. Und ich kann so gut mit Zero mitfühlen ;A;
ich hatte doch etwas Angst, als er zum Meer raus ist bei dem Wetter. Ich dachte, der bringt sich um >< Und dann war Karyu da..und ich dachte, DER bringt sich um :') Aber zum Glück sind alle mehr oder weniger wohl auf.
Man..die beiden befinden sich echt in einer blöden Situation >> Ich hoffe, zumindest scheint das Ende dieses Kapitel einen Ausblick darauf zu geben, dass Karyu das irgendwie hinbekommt..aber irgendwie zweifel ich daran, dass er sich jetzt trennen wird :o
Aber genial...machen die erstmal im eiskalten, tosenden Meer miteinander rum oO Wie romantisch 8D aber ich muss sagen, die ganze Szenerie hast du wundervoll beschrieben und ich konnte mir das richtig gut vorstellen!

So, jetzt bin ich gespannt wie ein Flitzebogen!! Lass dir nicht zu viel Zeit mit dem Hochladen, denn sonst platze ich bald vor Spannung >o<
LG
Von:  NeoStrelitzia
2012-10-14T13:33:47+00:00 14.10.2012 15:33
Ach du weh, jetzt muss ich warten? Verdammt ._.
Schreib bitte schnell weiter, auch wenn mir die beiden das Herz zerreißen sollten </3
Von:  Phoenix_Michie
2012-09-24T19:46:41+00:00 24.09.2012 21:46
...oh.. Anfänglich dachte ich, mein Kommentar zu diesem Kapitel könnte so lauten:
XDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDD
..
tja und nachdem ich aber das Ende gelesen habe, könnte mein Kommentar so lauten:
Q__________Q *Zero in Arm nehm* *schnief*

generell, mal vom Inhalt abgesehen:
Es war unglaublich toll, dieses Kapitel zu lesen ^^ Ich hab mich gefreut wie ein Schneekönig, als ich die ENS für die Freischaltung bekommen hab. Aaah wann war ich das letzte Mal aufgeregt, ne FF zu lesen? :')
Und wieder, dieser Schreibstil *verträumt die Augen verdreh & in andere Welten eintauch* Wirklich wunderbar, hat sich flüssig gelesen...authentisch :D
Inhaltlich schrecklich unterhaltsam, der Anfang und alles sehr witzig und spannend^^
Tja und gegen Ende.. :< Zero tut mir sehr leid. dass Karyu einfach abhaut..*grummel* das ist so mies. Aber dass er ihn fast geschlagen hätte, war auch böse...auch wenn er es nicht getan hat..
*seufz*
das Kapitel hat mich echt fertig gemacht :') Erst so witzig und dann so furchtbar traurig - und unbefriedigend! Ich bin jetzt (wieder einmal) schrecklich gespannt, wie es weitergeht!

*Kakao da lass*

Von:  Phoenix_Michie
2012-09-21T11:11:03+00:00 21.09.2012 13:11
oh mein Gooooooooott *____* Ich hab gar keine Worte, außer....aah ich bin so was von verdammt begeistert von diesem Kapitel!!
Also...mir gefällt dein Stil! er ist einfach, aber nicht plump. Es liest sich einfach toll hintereinander weg ^^ Ich mag es, wie die Gespräche verlaufen...und wie du die Dinge beschreibst...es klingt alles so locker und man kann sich die Situation gut vorstellen. Ich kanns leider gar nicht richtig erklären :<
Tja und richtig lachen musste ich bei dem satz: Außerdem ist der Kater fett geworden. ...XDD oh Karyu :')
Allerdings ist die Melancholie mit Händen zu fassen in diesem Kapitel QQ
Ich bin verdammt gespannt, wohin das ganze noch führt. Bitte bitte schreib weiter!!


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