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Blue Sky

von

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Blue Sky

Nach der unzufriedenstellenden Zeit in der Schule und der anschließenden Suche nach einem Beruf, brachte mich meine Mutter in einer Boutique ihrer Freundin unter, wo ich allerlei Arbeiten verrichten musste, die ich eigentlich nicht tun wollte. Meine Arbeitstage waren gespickt vom Kaffeekochen, Türenaufhalten und alten Damen vorlügen, was gut zu ihnen passte. Dabei immer höflich zu bleiben, fiel mir erstaunlich schwer, wobei ich eigentlich eine gute Erziehung genossen hatte, die beinhaltete, seinen Unmut nicht in der Öffentlichkeit an Fremden oder Kollegen auszulassen.

Einige alte Damen brachten ihre alten Freundinnen mit oder Rotzlöffel, die sie als „liebenswert und höflich“ bezeichneten. Solche Kinder zu beaufsichtigen, fiel - wie sollte es auch anders sein? - in meinen Aufgabenbereich. Ich war nicht besonders sicher, was ich davon halten sollte, als eine alte Dame die Boutique mit einem Jungen meines Alters betrat. Würde es wieder meine Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich dieser Junge nicht langweilte oder war er genügsam genug, einfach auf dem Sofa zu sitzen und zu warten?

Mit übertriebener Freundlichkeit und Höflichkeit begrüßte die Freundin meiner Mutter die Dame und bot ihr alles von Kaffee bis Kuchen an. Es kam nie vor, dass Kaffee und Kuchen abgelehnt wurden, daher wurde ich losgeschickt, um frischen Kuchen zu kaufen. Ich wollte gerade das Geschäft verlassen, als die Dame ihrem Begleiter vorschlug, mir auf dem Weg Gesellschaft zu leisten; er sagte, es wäre ihm eine große Freude.

Nun war ich also in der ungewohnten Situation, mich mit einem Kunden unterhalten zu müssen und dabei die ganze Zeit über nicht durchsickern zu lassen, dass mein derzeitiges Leben einfach furchtbar unbefriedigend war. Noch bevor ich mir zurechtlegen konnte, was ich am besten sagte, sprach er plötzlich mit mir: „Wie ist es so, in einer Boutique zu arbeiten?“

„Sehr interessant. Ich begegne den faszinierendsten Personen.“

„Du kannst vielleicht die alten, tauben Schachteln in die Irre führen, aber ich habe den Sarkasmus gehört…Ich darf doch du sagen? Ich meine, wenn du dich nicht besser gehalten hast als ich, dürften wir etwa gleich alt sein.“

Ich blieb stehen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Hatte er gerade „alte, taube Schachteln“ gesagt? „Du blockierst den Weg, wenn du da Wurzeln schlägst, wobei ein hübscher Baum mitten auf dem Fußgängerweg in einer Schickimickigegend bestimmt spannend aussieht. Guck doch nicht so verwirrt! Ich versuche das Eis zu brechen und das geht doch am besten, wenn man zeigt, dass man sich völlig normal ausdrücken kann, ohne die Worte fabulös und ästhetisch zu verwenden. Oder hab ich mir jetzt selbst ins Knie geschossen und dir das Gefühl gegeben, ich könnte mich nur ausdrücken wie ein ungebildeter Spinner?“

Rehe kippen um und stellen sich tot oder bleiben stocksteif und mucksmäuschenstill stehen, wenn sie sich erschrecken. Zweiteres Verhalten legte auch ich an den Tag, wenn etwas Unerwartetes passierte. So kam es, dass ich seine Worte zwar hörte, aber meine Antwort in meinem Hals stecken blieb.

„Sprichst du nicht mit mir?“, fragte mein Begleiter und sah mich besorgt an. „Oder geht es dir nicht gut? Musst du dich hinlegen? Hinsetzen? Essen? Trinken? Schlafen? Ich kann dir einen Hotdog kaufen. Dafür reicht mein Geld in den Hosentaschen sogar. Oh! Ich hab’s! Du willst Zuckerwatte! Jeder will Zuckerwatte und niemand ist unglücklich oder krank, wenn er Zuckerwatte isst, also müssen wir einen Stand mit Zuckerwatte finden. Ist der Zirkus in der Stadt? Oder ein Jahrmarkt?“

„Wieso verhältst du dich so?“, sagte ich und hoffte, dass es nicht zu unhöflich klang, da seine Großmutter schließlich mitverantwortlich für die Bezahlung meines Gehaltes war. Er machte große Augen und fragte: „Wie verhalte ich mich denn? Magst du keine Zuckerwatte?“

„Wie kannst du so … so … so unbeschwert sein?“

„Ich weiß es nicht. Mach Limonade aus Zitronen, die man dir gibt oder so. Wieso eigentlich Zitronen? Sollen die etwas Schlechtes darstellen? Ich finde die lecker. Sauer, aber lecker. Wieso bist du so missmutig? Du bist jung, gut aussehend und vermutlich auch noch klug! Du solltest eigentlich der zufriedenste Mensch des Planeten sein.“

„Ich bin arm und nicht erfolgreich.“

„Sehe ich erfolgreich und reich aus?“

„Deine Großmutter kauft sich vermutlich gerade ein Paar Socken im Wert eines Geländewagens.“

„Ja, aber das ist doch nicht mein Geld. Von meinem Geld kann ich dir - wie bereits gesagt - einen Hotdog kaufen.“

„Aber dein Taschengeld übersteigt bestimmt mein Gehalt.“

„Nur, wenn dein Gehalt im Minusbereich liegt. Ich bekomme kein Taschengeld.“

Jetzt war ich mir sicher, dass er wirklich seltsam war. Inwiefern dies allerdings schlimm sein sollte, wusste ich noch nicht. Ich setzte mich wieder in Bewegung, da mir doch eine Aufgabe gegeben wurde, die ich gefälligst erfüllen musste. „Das bedeutet also, dass du kein Geld von deiner wohlhabenden Familie bekommst?“

„Korrekt.“

„Wo kommt dann dein Hosentaschengeld her?“

„Zeitungen austragen, Blut spenden. So ein Krams eben, wo man mal solche Kleckerbeträge bekommt.“

„Sparst du nicht für ein eigenes Haus oder eine Wohnung oder hoffst du darauf, das Anwesen deiner Eltern zu erben?“

„Großeltern.“

„Wieso nicht Eltern?“

„Weil meine Großeltern das Anwesen meiner Eltern geerbt haben.“

„Tut mir Leid.“

„Kein Problem.“

Nachdem ich so geschickt in dieses Fettnäpfchen getreten war, hielt ich es für klüger, zunächst den Mund zu halten. „Wie heißt du und wie alt bist du?“, fragte mich mein blonder Begleiter. „Jin und 20.“

„Ich hatte also Recht: Wir sind ähnlich alt. Mein Name ist Ray und ich bin 21.“ Wir hatten endlich die Konditorei erreicht und standen nun vor der Qual der Wahl, da alle Backwaren so herrlich schmackhaft aussahen, dass es schwer fiel, einen Favoriten herauszupicken…für mich zumindest. Ray hingegen legte den Zeigefinger nach knapp 10 Sekunden auf das Glas der Vitrine und sagte: „Den da.“ Es war ein Zitronenkuchen. „Wenn wir vorhin schon beim Thema Zitronen waren, die in dem Spruch ja irgendwie böse sein sollen, sollten wir themengemäß auch einen Zitronenkuchen nehmen. Was hältst du davon, Jin?“

„Der Gast ist König.“

„Magst du keine Zitronen?“

„Wieso?“

„Dir muss der Kuchen doch auch gefallen.“

„Ich werde ihn aber nicht essen, sondern du und deine Großmutter.“

„Magst du keinen Kuchen?“

„Doch, aber er ist für die Kunden.“ Ray sah den Kuchen an und zog die Augenbrauen zusammen. „Gast ist König, richtig? Was wäre, wenn der Gast sagt, dass der Angestellte mit ihm Kuchen essen soll?“

„Das würde man vermutlich als akzeptierte Bestechung ansehen und ihn feuern.“

Ich kaufte also den Zitronenkuchen und auf dem gesamten Rückweg atmete Ray immer tief ein, wenn der Wind sich drehte und ihm den süßen Geruch des Kuchens herüberwehte. Er war nett. Seltsam, aber nett. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, den Kuchenduft einzusaugen, plapperte er fröhlich vor sich hin.

Kurz vor dem Eingang meiner Arbeitsstätte, blieb Ray plötzlich stehen und zeigte grinsend in den Himmel. „Vorhin war der Himmel voller Wolken. Wenn du jetzt hinsiehst, wirst du feststellen, dass er ein wunderschönes Blau angenommen hat. Blau beruhigt. Blau macht glücklich. Zumindest das helle. Vielleicht hast du noch nie nach oben gesehen und bist deshalb unglücklich. Was meinst du, Jin?“ Ich schaute ebenfalls noch oben, dachte darüber nach, ob Ray sich etwas zusammengesponnen hatte oder ob Blautöne wirklich beruhigend wirkten, und stellte fest, dass sich der Himmel über den grauen Gebäuden ins Unendliche erstreckte und nirgends auch nur eine Wolke zu sehen war.

„Es ist schöner, als du dachtest oder? Du hast bestimmt noch nie in den Himmel geschaut, als er blau war, sondern nur, wenn er voller dicker grauer Wolken gewesen ist, die dir Regen und Schnee ankündigen.“

„Dein Glücksgefühl beziehst du also aus dem Himmel?“

„Nein, eigentlich eher aus verschiedenen Dingen. Natürlich auch aus materiellen Dingen. Aber es ist erstaunlich schwer, die natürlichen Dinge erheiternd zu finden, wenn du sie als selbstverständlich hinnimmst. Es gibt viele schöne Dinge, die wir nicht sehen, weil unser Kopf so angeschraubt ist, dass er immer nach vorne und meistens nach unten sieht. Es braucht viel mehr Anstrengung, den Kopf zu heben und in einer Stadt mit so vielen hohen Gebäuden, den Himmel zu finden.“

„Du bist seltsam.“

„Ist das ein Kompliment?“

„Wir sollten den Kuchen hineinbringen.“

Der restliche Besuch fiel wesentlich förmlicher aus. Ich war extrem höflich, Ray sehr ruhig und seine Großmutter quatsche so viel, dass ich mir sicher sein konnte, von wem er sich diese Angewohnheit abgeschaut hatte.

Sie verließen den Laden und ich ging meiner Arbeit nach, allerdings immer mit den Gedanken bei diesem eigenartigen Ray, der meinen Arbeitstag in der Hinsicht versüßt hatte, dass ich mich nicht gelangweilt hatte.
 

Als ich dann endlich Feierabend hatte, verließ ich die Boutique und machte mich gerade zu Fuß auf den Weg nach Hause, als mir jemand auffiel, der in der Nähe an einem Gebäude lehnte und mir heftig zuwinkte. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich Ray, also ging ich zu ihm. „Hast du gewartet?“

„Klar.“

„Vier Stunden?“

„Zwischendurch habe ich gegessen. Vier mal. Ich bin ein Fresssack.“

„Wieso wartest du?“

„Wir müssen noch Kuchen essen. Es gab da so viele Kuchen und immer wenn ich vorhin an der Konditorei vorbeigegangen bin, habe ich mich zusammenreißen müssen, nicht hineinzulaufen und alles zu fressen wie ein Schwein.“ Er machte dabei so ein verrücktes Gesicht, dass ich mir das Lachen nur schwer verkneifen konnte, sodass ich eher in einen Hustenanfall verfiel.

Ich ließ mich also breitschlagen, noch Süßes essen zu gehen und Ray bestand darauf, von absolut jedem Kuchen und jeder Torte zwei Stücke zu kaufen und so lange mit mir dort sitzen zu bleiben, bis wir alle aufgegessen und einen Favoriten gekrönt hatten. Da fiel ihm wieder ein, dass er ja kaum Geld dabei hatte, also mussten wir gleich zu Anfang einen optischen Favoriten aussuchen, der dann hoffentlich auch der geschmackliche werden konnte. Die Schokoladentorte sah am allerbesten aus und bei der kann man kaum etwas falsch machen, daher bestellten wir uns zwei Stücke davon, gaben Rays ganzes Geld damit aus und setzten uns hin.

Gerade wollte ich meinen Geldbeutel herausholen, um Ray das Geld für mein Stück zurückzugeben, als er schon den Kopf schüttelte und darauf bestand, dass es ein Geschenk sei. Für mein vorbildliches Verhalten einem Kunden gegenüber.

Die Torte war die leckerste, die ich je gegessen hatte und war so füllend, dass ich mir sicher war, kein Abendessen mehr zu benötigen. Meine Mutter kochte abends sowieso nie.

Ray bestand sogar darauf, mich zu einem Taxi, einem Bus, meinem Fahrrad oder sogar ganz nach Hause zu bringen, doch das ging mir doch etwas zu weit und so bat ich ihn, einfach nach Hause zu gehen.

Zu Hause angekommen hatte ich - wie breits erwartet - immer noch keinen Hunger. Stattdessen fiel mir auf, dass ich mich hatte bestechen lassen. Zumindest hätte es so für meine Chefin ausgesehen. Beim Überdenken des ganzen Verlauf dieses Tages, fiel mir außerdem auf, was für kitschiges Zeug Ray eigentlich von sich gegeben hatte. Man solle auch mal auf die Kleinigkeiten achten, die einem selbstverständlich vorkommen... Dieser Ratschlag kommt in jedem zweiten Film vor, indem versucht wird, jemanden aufzuheitern. Was ich vorher als irgendwie niedlich angesehen hatte, nahm plötzlich die Züge von ganz gewöhnlichem Quatsch an. Ray war also doch bloß ein viel redender Spinner. Schade. Ich hatte fast gedacht, endlich jemanden mögen zu können.
 

In den nächsten Tagen bekam ich weder Ray noch seine Großmutter zu sehen, deshalb festigte sich der Gedanke, dass er wohl wirklich einfach nur gesponnen hatte. So verfiel ich wieder in meine Grundstimmung, die nicht gerade positiv war. Ich tat so, als wäre ich freundlich, hasste meinen Job und schaute immer wieder auf die Uhr, wann ich diesen Mistladen endlich verlassen konnte.

Kurz vor meinem Feierabend war ich gerade dabei in der Küche den kalten Kaffee wegzugießen, als ich hörte, wie meine Chefin einen Kunden begrüßte und Kaffee anbot, der natürlich angenommen wurde. Also setzte ich seufzend eine neue Kanne auf, die wohl sowieso nur angetrunken wurde und deren Restinhalt ich dann der Spüle schenken durfte.

Ich wurde herbeigerufen, um der Kundin Kuchen zu kaufen. So kurz vor Feierabend! Aber mir blieb nichts anderes übrig, da ich meinen Job schließlich machen musste. Ich sammelte mich kurz, um nicht durchsickern zu lassen, dass ich partout keine Lust hatte, und trat dann in den Verkaufsraum, wo mir die Kinnlade herunterklappte. Da das aber ausgesprochen blöd aussah und der Begleiter der Kundin mich schon grinsend ansah, machte ich den Mund schnell wieder zu. Die alte Dame lächelte mich freundlich an und sagte dann zu ihrem Begleiter gewandt: „Du wirst den Jungen doch sicherlich begleiten, oder Ray?“

„Aber selbstverständlich!“

Mir wurde Geld in die Hand gedrückt und ich verließ mit Ray die Boutique. „Schön dich zu sehen, Jin. Lange nicht gesehen. Wie lange war das? Eine Woche? Meine Oma hatte so extrem viel zu tun, dass sie nicht einkaufen gehen konnte und sie hat von deiner Chefin geschwärmt und ich habe von unserer Unterhaltung geschwärmt, also haben wir beschlossen, dass das jetzt die Stammboutique meiner Oma wird. Was hältst du davon?“

„Auch wenn es etwas länger als eine Woche war, wundert mich doch, dass ich vergessen konnte, dass du so furchtbar viel redest.“

„Stört das?“ Gute Frage. Störte mich das? Ich war immer umgeben von Leuten, die kaum sprachen oder nur Müll von sich gaben. Ray sagte nie etwas, was mich in dem Moment wirklich störte oder mir sehr dämlich vorkam. Also störte es mich oder nicht? Ich hatte schließlich beschlossen, dass er nur Dinge wiederholte, die er wohl in irgendeinem Film gesehen hatte. Oder irrte ich mich?

„Jin? Huhuuuu?!“ Ray sah mich fragend an und fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Wo kommt das ernste Gesicht her? Wenn es dich stört, dass ich viel rede, kann ich damit aufhören.“

„Naja... es stört irgendwie... oder auch nicht... Ich bin nicht sicher. Solange du mir keine Lügen erzählst oder Dinge, die mich eigentlich nicht interessieren sollten, wie zum Beispiel Krankheitsverläufe, dann kannst du ruhig reden... denke ich.“

„Du kannst dich nicht entscheiden? Das ist witzig und eigenartig. Irgendwie sympathisch. Sag mal, du bist nicht zufällig an der Knüpfung von Kontakten mit alten reichen Menschen interessiert?“

„Wie bitte?“

„Meine Oma gibt eine Grillparty und alle wichtigen und unsympathischen Leute sind eingeladen. Willst du auch kommen? Dann hätte ich jemanden, mit dem ich mich über Dinge unterhalten kann, die nicht mit Politik, Wirtschaft oder Geld zu tun haben. Warte mal.“ Er blieb stehen, kramte in seinen Taschen und zog einen winzigen Bleistift und einen zerknitterten Zettel heraus. Er kritzelte etwas auf den Zettel und gab ihn mir. „Das ist meine Handynummer. Wenn du kommen willst, dann kannst du mich anrufen oder mir schreiben.“

Ich wusste nicht, was ich von der Einladung halten sollte, geschweige denn, ob ich sie annehmen oder ablehnen sollte. Ob Ray das gemerkt hatte oder schlichtweg über ein anderes Thema sprechen wollte, wusste ich nicht, aber mit der Übergabe seiner Telefonnummer war das Thema „Grillparty“ vorerst beendet und auf dem Weg zu der Konditorei redete er über alles mögliche, fragte mich Dinge, auf die ich keine Antwort wusste, weil ich nie darüber nachgedacht hatte und teilte mir über alles seine Meinung mit. Es war für mich ein wenig anstrengend, ihm zuzuhören, aber weghören konnte ich auch nicht, da es doch ein bisschen interessant war, was er zu sagen hatte.

Ich ließ ihn den Kuchen aussuchen. Er würde schließlich besser wissen, was seiner Großmutter gefiel. Als wir uns auf den Rückweg machten, sagte Ray: „Jetzt bist du an der Reihe, mir alles zu erzählen, was in deinem hübschen Kopf vorgeht. So viel wie ich eben geredet habe, muss ich erstmal Luft schnappen, außerdem läuft mir der Sabber im Mund zusammen, wenn der Wind mir diesen köstlichen Duft zuweht. Ich weiß ja gar nichts von dir. Verrate mir, was in deinem Leben so vor sich geht.“

Was sollte ich ihm erzählen? Viel konnte ich ihm nicht verraten und schon gar nicht, dass ich meine momentane Situation nicht leiden konnte. Das würde er seiner Großmutter erzählen, die würde das meiner Chefin erzählen und diese wiederum würde mich feuern. Also beließ ich es dabei, ihm unschädliche Fakten zu erzählen: mein Alter, dass ich noch bei meiner Mutter wohnte, dass ich nicht wirklich gut in der Schule war und alles, was so in diese Richtung ging. Er nickte immer und gab Ahs und Ohs von sich.

Vor der Tür blieben Ray und ich stehen und er sagte zu mir gewandt: „Dieses Mal kann ich leider nicht abends auf dich warten und zum Kuchen einladen, aber die Grillparty ist morgen, also schreib mir, wenn du kommen willst. Wenn du nicht grillen willst, können wir beide auch etwas trinken oder essen gehen. Ansonsten habe ich noch Konsolen in meinem Zimmer mit haufenweise Spielen, die wir spielen können. Je nach dem was du magst, werden wir schon eine Beschäftigung für uns beide finden. Oder hast du morgen grundsätzlich schon etwas vor?“

„Ich weiß es nicht. Ich muss in meinem Terminkalender nachsehen und schreibe dir dann.“

„Okay.“ Er hatte bestimmt meine Lüge bemerkt. Zwar hatte ich einen Terminkalender, der wies aber nur gähnende Leere auf und ein paar Eintragungen von Geburtstagen, die ich nicht vergessen durfte.

Wieder bei Rays Großmutter angekommen, stellte sich heraus, dass sie bereits gekauft hatte, was sie wollte und nur noch auf ihren Enkel wartete, um gehen zu können. Den Kuchen schenkte sie mir für meine Bemühungen.

Endlich zu Hause sah ich vorsichtshalber in meinen Terminkalender, in dem tatsächlich nichts stand und fragt mich, ob ich Rays Einladung annehmen sollte oder nicht. Ob nun der geschenkte Kuchen meine Entscheidung beeinflusste, weil er wirklich himmlisch schmeckte, oder ich einfach so gelangweilt war, dass ich irgendetwas unternehmen wollte, jedenfalls schrieb ich Ray eine SMS mit der Zusage und der Frage, wann und wohin ich denn kommen solle.

Wir machten einen Treffpunkt aus, zu dem ich mich viel zu früh begab und trotzdem schon von Ray erwartet wurde. „Halloooo~! Sieh dir den strahlend blauen Himmel an, Jin-chan! Ist das nicht spitzenmäßig? Das Grillen fällt übrigens aus für uns beide, weil es dir bestimmt unangenehm wäre, wenn du die ganzen alten Knacker mit ihren Geldscheinen wedeln siehst und mir ist das sowieso immer unangenehm, da ich nicht einmal Markenklamotten besitze. Also? Drehst du wieder um und gehst nach Hause oder lässt du dich von mir zum Essen oder Eisessen einladen?“ Da ich ohnehin den ganzen Morgen fast panisch daran gedacht hatte, wie ich mich bei pikfeinen Leuten benehmen sollte, fiel mir ein gewaltiger Stein vom Herzen als ich hörte, dass mir dieses Problem erspart blieb. Da das Wetter wirklich gut war und ich eh nichts vor hatte, willigte ich ein, irgendwas zu essen.

„Ich dache, du bekommst kein Taschengeld? Wo kommt dann das Geld her, mit dem du mich einladen willst?“, fragte ich, als wir zum Eiskaufen anstanden. „Ich habe heute Morgen Zeitungen ausgetragen und Bargeld bekommen. Mit diesem Geld lade ich dich ein. Wenn ich schon sonst keine Ausgaben habe, dann sollte ich mein bescheidenes Einkommen dafür verwenden, jemanden ein bisschen fröhlich zu machen, der sonst immer so mürrisch und traurig guckt, dass es einem das Herz zerreißt. Wie viele Kugeln muss ich zahlen, damit du richtig fröhlich bist?“

„Eine.“ Viel mehr konnte ich doch nicht verlangen, wenn ich mehr Bargeld dabei hatte als er. Mein Entschluss stand auch fest, ihn später auf eine Pizza oder ähnliches einzuladen, um mich quasi zu revanchieren.

„Eine!? Dann kaufe ich zwei, damit du so einen Zuckerschock bekommst, dass du heute nur am Lachen bist.“ Mit unserem Eis setzten wir uns im Park auf eine Bank. Ich hatte mein Eis noch nie so schnell aufessen müssen. Da es warm war und Ray mir doch drei statt nur zwei Kugeln gekauft hatte, schmolz und floss es auf allein Seiten herunter, klebte an meinen Fingern und hatte einmal beinahe meine Hose erwischt.

Ray war schneller als ich und lachte darüber, wie ich meinen Kampf mit dem Eis und der Waffel führte. „Du ahnst gar nicht, wie leid es mir tut, dass ich dir so viel gekauft habe. Jetzt hättest du dich beinahe eingesaut, aber du hast das Unglück geschickt abgewehrt. Ach Jin, sieh dir bloß mal an, wie wunderbar wolkenlos es heute ist. Nirgends ist ein Schäfchen zu sehen und die Sonne scheint und der Wind ist kühl. Das Wetter ist perfekt! Wo gehen wir jetzt hin? Weiteressen?“

„Ich bin pappsatt. Drei Kugeln sind wirklich zu viel für mich. Ich muss erst einmal hier sitzen bleiben und hoffen, dass ich nicht platze.“

„Wie wäre es, wenn du mir so lange erzählst, was dich so beschäftigt, was du gerne magst, was du gar nicht leiden kannst und all solchen Krams? Ich meine, müsste ich einen sachlichen Steckbrief von dir verfassen, könnte ich das vermutlich, aber wenn du noch häufiger mit mir Eis essen willst, dann müsste ich doch wissen, womit ich voll ins Fettnäpfchen treten würde oder womit ich dir eine riesige Freude machen könnte.“

„Ich bin nicht interessant genug. Ich habe keine Hobbys, kein besonderes Lieblingsessen oder -getränk. Zusammenfassend ist zu sagen, dass ich alles hasse und nichts liebe.“

Auf meine Aussage verfiel Ray in einen Vortrag darüber, wieso ich mich eigentlich fantastisch finden müsste und was ich alles verpasse, wenn ich nichts mag. Er redete viel, machte mir dabei - bewusst oder unbewusst - massenhaft Komplimente, gab mir Recht, dass einige Menschen Idioten seien und zeigte mir auf, wieso man ihn aber mögen sollte. Im Großen und Ganzen amüsierte es mich ein wenig und gab mir wieder das Gefühl, dass Ray doch irgendwie eigenartig und niedlich war und nicht eigenartig und oberflächlich.

Er schloss seine Rede: „Ich hab gelesen, dass Nettigkeit oft mit Flirten verwechselt wird, also verrate mir etwas: Bin ich nett zu dir oder flirte ich?“ Mein Rehreflex setzte wieder ein, sodass ich ihn bloß blinzelnd ansah und seine Frage in meinem Kopf widerhallte ohne, dass ich eine Antwort finden, geschweige denn aussprechen konnte. „Wenn du es nämlich als Nettigkeit ansiehst, dann ist das völlig in Ordnung und es wäre klasse, wenn wir gute Freunde sein könnten, weil ich dich wirklich interessant finde. Allerdings sollte es flirten sein, weil ich dich schlichtweg zu interessant finde. Aber jetzt weißt du es und es ist deine Entscheidung ob es nun Nettigkeit war oder nicht. Ansonsten hättest du noch die Möglichkeit, mich als widerlich und dämlich zu bezeichnen und mich nie wieder sehen zu wollen. Das würde dann nach sich ziehen, dass ich deine Boutique nie wieder betreten und dich niemals wieder in irgendeiner Form ansprechen würde. Also?“

„Du bist wirklich, wirklich, wirklich sehr seltsam. Du flirtest schlecht, allerdings lasse ich mich vielleicht breitschlagen, heute Abend etwas richtigen essen zu gehen, was ich dann aber ausgebe. Weißt du, wie man richtig flirtet? Man lädt jemanden zum Abendessen ein.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  _Cross_
2012-06-24T10:40:38+00:00 24.06.2012 12:40
Ich will auch mit den beiden abendessen XD
Von: abgemeldet
2012-06-23T21:12:08+00:00 23.06.2012 23:12
das ist ja mal ne süße sache ^-^
..besonders der schlusssatz ist toll!! ^///^


(auch wenn es iwie unlogisch is, dass Ray sich ja eigentlich mit seiner oma gut zu verstehen scheint, aber gleichzeitig trotzdem nich wirklich von ihr unterstützt wird? ô_O *verwirrt*)


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